14,99 €
»Wohin geht die vergessene, die nicht aufgebrauchte Zeit? Sie sammelt sich in verborgenen Kammern und bildet dort Zeitverstecke. « Diese spürt Wolfgang Hermann mit seinen poetischen und stimmungsvollen Miniaturen nach und nach auf. Der Autor nimmt seine Leserinnen und Leser mit auf eine unvergessliche Reise durch den »Garten der Zeit«. Mit lyrischen und atmosphärischen Passagen komponiert er eine Symphonie an Sprachbildern, die dem Vergänglichen standhaft trotzt. Kaum ein Autor versteht es wie er, das Wesen der Zeit und der Natur derart zu inszenieren, konzentriert, authentisch, tiefgründig und zum Nachdenken anregend. So entsteht zwischen den Zeilen eine Sehnsucht, die die Leserinnen und Leser einen Augenblick innehalten lässt. Die literarischen Sprachbilder im »Garten der Zeit« werden von den außergewöhnlichen Illustrationen von Timna Brauer gekonnt in Szene gesetzt.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 45
Wolfgang Hermann
Wolfgang Hermann
Mit Zeichnungen von Timna Brauer
Czernin Verlag, Wien
Gedruckt mit Unterstützung der Stadt Wien, Kultur und des Landes Vorarlberg
Hermann, Wolfgang: Der Garten der Zeit / Wolfgang Hermann
Wien: Czernin Verlag 2023
ISBN: 978-3-7076-0815-1
© 2023 Czernin Verlags GmbH, Wien
Coverabbildung und Zeichnungen: Timna Brauer
Druck: EuroPB, Příbram
ISBN Print: 978-3-7076-0815-1
ISBN E-Book: 978-3-7076-0816-8
Alle Rechte vorbehalten, auch das der auszugsweisen Wiedergabe in Print- oder elektronischen Medien
Zeitverstecke
Ein Zug
Trichter
Hügel
Viadukte
Menschenpflanzen
Kreis
FORMEN
Formen
Hangwärts
Schutz
Alte Formen des Lichts
Geheimnis
Vergnügen
Im Schatten
Verzweigungen
Archiv der Schatten
FENSTER ZUR ZEIT
Blätter im Wind
Altes Fenster
Durchs Fenster
Zeit dreht sich
Manchmal
Haus am Stein
Unter dem Auge der Uhr
Nach so langer Nacht
Zug im Dunkeln
AUFSTEIGENDE LEBEN
Aufsteigende Leben
Engel im Dunkeln
Geheime Sonne
Augen
Miniaturberg
WALD
Landschaft der Vergangenheit
Gebirge
Hoch oben
Muster
Das verborgene Haus
Abendschatten
Blüten der Nacht
Der Berg im Erdinneren
Flügel
Fließendes Licht
JENSEITS DER GROSSEN STILLE
Heller Stein
Grenzen des Verstandes
Jenseits der großen Stille
Masken
Nachtschrift
Regenschirme
Sie nennen ihn Berg
Stadt im Mondlicht
Die Stadt im Traum
EIN GROSSES UNSCHULDIGES GESICHT
Ein großes unschuldiges Gesicht
Das Gespenst des Genies
Abenteurerschiff
ZWEITE WELT
Im Schatten des Hauses der einsamen Männer
Lampions
Sänger
Schwarze Sonne, rote Erde
Vor einer Kastanie
WO DER WIND WOHNT
Wo der Wind wohnt
Zweite Welt
Das Herbstfenster
Die Araukarie
Ein Blick ins Gras
Die Böschung
Skulpturen
STUFE UM STUFE
Stufe um Stufe
Eine blasse Sonne
Die Felsenbucht
DIE INSEL
Gesang
Spur
Vielfarben
Wolke
Wellen
Gleißen
Suchen
Stumme Brandung
Strömen
Stein
Schein
Kapseln
Am Strand
Sprechender Stein
Zeitgewächs
Blüten
Berührung
Unmerklich langsam
Versteinerung
NACHSPIEL
Spiele des Regens
Unendlichkeit
Wolfgang Hermann
Timna Brauer
Wohin geht die vergessene, die nicht aufgebrauchte Zeit? Sie sammelt sich in verborgenen Kammern und bildet dort Zeitverstecke. Das sind die doppelten Böden des Gartens. Die verborgene Zeit kann zum Anstückeln von Wirklichkeit verwendet werden, wenn es an ihr mangelt. So zum Beispiel, wenn der Tag abreißt und eine Lücke hinterlässt.
Das Lachen einer Kinderschar öffnet ein Zeitfach, es entströmt zusätzliche, geschenkte Zeit.
Andere Zeitgeschenke: Das langsame Summen einer Hummel.
Ein Wassertropfen fällt, aber vielleicht steigt er auch.
In der kleinen Landschaft erscheint bei Sonnenaufgang das Fell eines roten Himmelstigers.
In den Zwischenräumen der großen alten Baumwurzel spannt sich ein Zelt aus Kinderzeit.
Ein Kastanienbaum an einem Sommerabend, unbeweglich, sammelt das Lachen der Kinderschar und verschenkt seine Früchte im Herbst.
Ein Zug fährt durch eine kleine Landschaft. Er passt zu ihr, denn es ist ein kleiner Zug. Die Fenster sind erleuchtet, und im Innern spiegeln Kabinette, in denen sich kleine Landschaften wiederholen. Von der langsamen Bewegung des Zuges wird jeder Baum, jeder Strauch, jeder Mast im Augenblick, da er diese passiert, angeleuchtet. Indem sie angeleuchtet werden, zeigt sich an ihrer Oberfläche etwas nur scheinbar Unsichtbares, das eine innere Treppe hinabzusteigen scheint. Indem es hinabsteigt, öffnet es verborgene Räume der aufgetürmten, gehorteten Zeit.
Es gibt große Trichter, in denen überzählige Elemente des Tages zu bunten Zylindern verdichtet werden. Diese Zylinder rollen gerne ohne Ziel umher, wobei sie freundliche Töne von sich geben.
Hügel sind die Höcker eines schlafenden Tiers. Sie steigen und sinken mit seinem Atem.
Viadukte verbinden getrennte Zeit. Sie sind zerbrechlich, da die getrennten Zeiträder aneinander reiben.
Im Schutz der Viadukte sammeln sich seltene Blumenarten, die nur im Zeitschatten gedeihen. Hier steht der Wind der Zeit still. Seit Langem träumen Menschen, unter den Viadukten eine kleine Ewigkeit lang auszuruhen.
In den Zeitschatten schmiegen sich zarte Geschöpfe, die sowohl Pflanze als auch Mensch sind. Fällt ein hartes Licht auf sie, verlieren sie ihre Farbe und verharren im Grau.
Der Garten der Zeit ist ein Kreis aus Licht. Er dreht sich unmerklich, und in der Drehung zeigen sich gefächerte Welten, wobei eine nichts von der anderen weiß.
Augen auf Blättern, Zähne auf Zweigen, Finger wie Schlingen, Flügel aus leuchtendem Regenwasser. Die Gewächse des Gartens fließen zwischen den Formen. Für sie ist Zeit ein fliehender Horizont.
Hangwärts schweben kleine Blüten so fein im Licht, es ist, als stiegen sie fortwährend himmelwärts. Auch die dunkleren Blätter zieht es nach oben ins Licht, bis sie in ihm oszillieren. Als ein Schmetterling über ihnen kreist, richten sie sich in Sternform nach ihm aus.
Der Garten bildet einen schützenden Kreis in der Zeit. Außerhalb der Zeitmauer gibt es Formen der Grausamkeit und Zerstörung. Der Garten begünstigt das Leben, doch um welchen Preis? Es gedeiht Leben, das draußen nicht bestehen kann.
Wenn die Dinge ihre Augen schließen, überwindet das Licht die Zeitmauer. Es kommt – wie Nebel aus dem Unterholz an einem Sonnentag – aus einer anderen Welt, verwandelt sich der Welt des Gartens an, doch indem es die Dinge in Unwirklichkeit taucht.
Das Geheimnis, wie aus einem biologischen Körper ein Gewächs aus zerebralen Netzen, aus Gedankenbrücken und Fantasie-Planeten wird, ist weiterhin ungeklärt. Für den Garten bedeutet der Einfall von Sonnenlicht auf biologische Bausteine die Entfaltung einer Kette von blühenden Wundern, von denen keines sich aus sich selbst erklärt. Aber welche Blüte fragt nach einer Erklärung?