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Wie kann man als Vater weitermachen, wenn das Schlimmste passiert ist, wenn das eigene Kind plötzlich nicht mehr da ist? Wie überwindet man diesen Verlust? Mit »Insel im Sommer« ist Wolfgang Hermann eine berührende Erzählung über einen Neubeginn nach einem tragischen Schicksalsschlag gelungen. Mit gebrochenem Herzen reist der Vater in den Süden Frankreichs, an all die Orte, an denen er mit seinem Sohn glücklich war. Er ist auf der Flucht vor Vergangenem, begleitet von dem immer wieder aufbrechenden Schmerz, den diese Orte in sich bergen. Doch unverhofft beginnt etwas Neues, eine Geschichte, in Bewegung gesetzt von einem neugierigen kleinen Mädchen. Wolfgang Hermann knüpft an sein international erfolgreiches Buch »Abschied ohne Ende« an und erzählt von dem Versuch, nach einem großen Verlust nicht aufzugeben. Mit seiner poetischen Sprache vermittelt er eine ganz besondere Atmosphäre, die nachhaltig berührt. Und so entdeckt der Leser inmitten all der Schatten auch neues Licht.
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Seitenzahl: 62
Wolfgang Hermann
Erzählung
Gedruckt mit Unterstützung der Stadt Wien, Kultur und des Landes Vorarlberg
Hermann, Wolfgang: Insel im Sommer / Wolfgang HermannWien: Czernin Verlag 2022ISBN: 978-3-7076-0754-3
© 2022 Czernin Verlags GmbH, WienAutorenfoto: Volker DerlathUmschlaggestaltung und Satz: Mirjam Riepl
ISBN Print: 978-3-7076-0754-3ISBN E-Book: 978-3-7076-0755-0
Alle Rechte vorbehalten, auch das der auszugsweisen Wiedergabe in Print- oder elektronischen Medien
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Man trägt seinen Namen nicht zufällig. Es ist der Name, der den Menschen formt, ihm seinen Raum, sein Schicksal gibt. Eine Frau namens Cristina war eigentlich nicht für mich vorgesehen, der Name klingt nach Höherem.
Sie sah mich an, wie mich noch nie eine Frau angesehen hatte: als würde sie eine Tür öffnen. Als würde sie mich einlassen in einen verborgenen Raum. Als würde sie mich wählen. Mich, der ich eigentlich nicht mehr existierte. Es gab mich nicht mehr. Seit jenem Morgen, als ich meinen Sohn tot in seinem Bett fand, gab es den, der ich einmal war, nicht mehr. Ich weiß nicht genau, wie viele Jahre ich in der Hölle war. Es fiel Schnee, es wurde Sommer, und es fiel Schnee, immer wieder. Meine Frau hatte mich längst verlassen, meine Freunde hatten nach und nach die Geduld mit mir verloren. Ich hörte Sätze wie: »Ja, es ist schlimm, dir ist das Schlimmste passiert, aber du musst kämpfen, bitte kämpfe!« Ich verstand nicht, wovon sie sprachen. Ich hatte keine Lust, immer dieselben Erklärungen abzugeben. Ich hatte keine Lust zu erklären, was mit mir geschah. Woher kam die schreckliche Angst? Sie überfiel mich wie ein Raubtier, sie drückte mir die Kehle zu, meine Wirbelsäule gefror von innen, mein Herz raste davon. Es ging los, wenn die Bilder mich überfielen. Der Morgen. Das Zimmer meines Sohnes.
Ich will das alles jetzt nicht wiederholen. Ich habe es meiner Therapeutin hundertmal erzählt, es hat mir nicht geholfen.
Ich verschwand. Der Mensch, der ich gewesen war, verschwand. Jeder Gedanke verschwand. Alles, was ich denken konnte, war: Er ist tot. Aber ich verstand nicht, was ich dachte. Ich begriff nur, dass nichts mehr war und werden würde, wie es einmal gewesen war.
Als junger Mann hatte ich einmal auf LSD die Hölle gesehen. Es waren die schlimmsten Stunden meines bisherigen Lebens gewesen. Das Schlimmste daran war die Gewissheit gewesen, dass dieser Zustand nie wieder aufhören würde. Ich hatte Menschen gesehen, die auf LSD psychotisch wurden und ein Leben lang Medikamente dagegen schluckten, die sie aufschwemmten und apathisch machten. Ich war mir in den Stunden des LSD-Rauschs sicher, nun einer von ihnen zu sein. Nein, ich war mir über nichts sicher: diese Stunden waren nichts als Angst und Verwirrung.
Doch der Trip war irgendwann zu Ende. Ich schlief ein und erwachte, und ich weinte vor Dankbarkeit, dass die Droge mich freigegeben, die Tür der Hölle mit ihren Fratzen und ihrer Angst hinter mir versperrt hatte.
Aus der Hölle, in die ich seit jenem Morgen, als ich Fabius tot in seinem Bett fand, eingetreten war, entkam ich nicht. Es halfen weder Schlaf noch Therapie. Es verging nur Zeit, die Furchen in meinem Gesicht wurden tiefer, doch was bedeutete das schon.
Ich hatte meinen Blick so lange nicht mehr erhoben. Doch jetzt, als ich dieses Leuchten, das auf mir ruhte, spürte, erhob ich ihn. Ich erschrak, denn ich war es nicht mehr gewohnt, gesehen zu werden. Ich war im Lauf der Jahre unsichtbar geworden. Doch nun sah mich diese Frau an, und ich spürte, dass ich da war, nicht nur ein Gerüst, über das sich Haut spannte. Ihre Augen leuchteten mich an dort beim Friseur, als ich unsicher zum Ausgang ging, den Blick gesenkt, und diese Nähe spürte, einen Wärmestrom, und meine Augen öffnete. Sie sagte etwas, das ich nicht verstand, doch im Klang ihrer Stimme erkannte ich einen feinen Akzent, dessen Herkunft ich nicht deuten konnte, ich spürte nur ihre Wärme, sah nur das Leuchten. Unsicher öffnete ich die Tür, ließ ihr den Vortritt. Sie dankte mit einem Lächeln. Nun würde sie ihrer Wege gehen, doch das Leuchten würde mich begleiten, ein paar Schritte noch, bis ich wieder in meiner Trübnis verschwände. Doch sie wandte sich mir zu und sagte etwas, ich verstand es wieder nicht. Ihr Lächeln verstand ich. Wir gingen zusammen ein paar Schritte. Es waren die ersten Schritte, die anders waren nach so langer Zeit.
Sie ging neben mir, als wäre ich ein ganzer Mensch. Und an der nächsten Ecke, als klar war, dass sich unsere Wege jetzt trennen würden, fragte sie mich, ob ich Lust hätte auf einen Kaffee. Mich durchfuhr ein warmes Staunen. Wie kam es, dass diese Frau mich sah – woher kam sie wie aus dem Nichts?
Es war eine schöne leichte Stunde im Café, und als wir von dort auf die Straße traten, wusste ich ihren Namen, Cristina, ihre Telefonnummer, wusste, dass sie Spanierin war, verheiratet, keine Kinder, und ich war mit ihr für den nächsten Tag verabredet. Ich verstand nichts, aber es war schön, zum ersten Mal war wieder etwas schön.
Ich war vor der Zeit im Park, denn ich wollte sie erwarten. Ich hatte so lange auf keine Frau mehr gewartet.
Ich erkannte sie von Weitem an ihrem kraftvollen Schritt, als würde sie jeden Augenblick loslaufen. Als sie sich näherte, war da wieder dieses Leuchten. Von Anfang an gab es eine Vertrautheit zwischen uns, eine Art Komplizentum. Es war, als wäre schon vieles gesagt und wir könnten zum Grund unseres Treffens kommen: Wir würden uns aneinander erfreuen, das wussten wir da schon. Cristinas Mann, das hatte sie mir gleich zu Beginn erklärt, lebe nur für seine Arbeit, er bewohne seine eigene Welt. Ich stellte keine Fragen, doch die Nähe, die sie mir von Anfang an schenkte, verblüffte mich. Ja, es war, als wäre alles zwischen uns selbstverständlich.
Lag es daran, dass wir beide nicht mehr jung waren? Dass sie verheiratet war und also klar, dass wir uns nur in Heimlichkeit sehen konnten? So klar war mir noch kein Beginn gewesen. Klar auch die Gewissheit: Ab jetzt geschieht etwas Neues.
Dieser Teil der Stadt war nicht gefährlich, sie wohnte mit ihrem Mann am anderen Ende im Villenviertel. Und doch verhielten wir uns wie Verschworene, fassten uns im Verborgenen an der Hand. Vielleicht lag es an mir, denn ich fühlte mich, als sei ich nach langer Dunkelhaft ans Tageslicht getreten. Ich war ein Gefangener gewesen, gefangen im Tunnel von Schmerz und Angst. Etwas war zu Ende gegangen. Etwas Neues geschah.
Mir war feierlich zumute an der Seite dieser schönen Frau. Und ich konnte noch immer nicht glauben, dass sie nun an meiner Seite war. Ich schlug einen Spaziergang am Quai vor.
Sie sagte, sie habe ein Hotelzimmer reserviert. Sie sagte es, ohne zu erröten (wir hatten die Phase des Errötens übersprungen, und nicht nur diese).
Das Hotelzimmer war ein Ort ohne Spuren. Wir waren frei. Und so geschah auch jede Berührung wie selbstverständlich. Sie war zärtlich, doch auch kundig, wie man einen Mann glücklich macht. Und auch ich gab ihr, was ich an Lust geben konnte.
Ich verließ das Hotel wie auf Wolken, und doch waren meine Füße so tief mit der Erde verbunden wie seit langer Zeit nicht. Sie sah mir tief in die Augen, als wir uns trennten. Etwas Neues hatte begonnen.