Der Gefährder - Rolf Düfelmeyer - E-Book

Der Gefährder E-Book

Rolf Düfelmeyer

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Beschreibung

Flammen schlagen aus dem Flüchtlingsheim – früher eine Pension für Feriengäste im Teutoburger Wald. Eine Antwort auf die Refugees-welcome-Demonstranten in den großen Städten. Die Polizei kommt. Zwei der Feuerteufel werden festgenommen. Einer verrät den Anführer. Doch der bekommt nur eine kleine Strafe auf Bewährung – und eine neue Identität vom Verfassungsschutz. Der V-Mann wird in die Dschihadisten-Szene eingeschleust und benutzt die neuen »Freunde« zu eigenen Zwecken ... »Kollegen, das ist ernster als alles, was wir bisher gedacht haben. Der Terror ist angekommen und das ausgerechnet in unserer ostwestfälischen Provinz«, muss Hauptkommissar Frank Sommer eingestehen. Und ahnt in diesem Moment nicht, dass er selbst ins Visier eines skrupellosen Verbrechers geraten ist.

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Inhalte

Rolf Düfelmeyer

Der Gefährder

Bielefeld Krimi

Prolibris Verlag

Der Autor

Rolf Düfelmeyer, geboren 1953 in Herford, war lange Jahre als evangelischer Pfarrer und Religionslehrer in Werther und Lübbecke tätig. Seit 2012 schreibt er Krimis mit regionalem Bezug zu Ostwestfalen. Dabei legt er Wert auf eine spannende Handlung, die eingebettet ist in das gesellschaftliche Leben unserer Zeit. Er lebt mit seiner Frau, einer gebürtigen Bielefelderin, in Werther bei Bielefeld. Sie haben zwei erwachsene Söhne und freuen sich über zwei Enkeltöchter. Hier gibt es mehr Informationen:

www.rolf-duefelmeyer.de

Alle Rechte vorbehalten,

auch die des auszugsweisen Nachdrucks

und der fotomechanischen Wiedergabe

sowie der Einspeicherung und Verarbeitung

in elektronischen Systemen.

© Prolibris Verlag Rolf Wagner, Kassel, 2016

Tel.: 0561/766 449 0, Fax: 0561/766 449 29

Titelfoto: © Thomas Ulrich, Bielefeld

E-Book: Prolibris Verlag

ISBN E-Book: 978-3-95475-141-9

Dieses Buch ist auch als Printausgabe erhältlich.

ISBN: 978-3-95475-134-1

www.prolibris-verlag.de

TEIL 1 - DIE ANWERBUNG

Kapitel 1

Sie waren zu viert und im Schutz der Dunkelheit schlichen sie sich an. Der, den sie »Führer« nannten, hatte den Einsatz geplant. Es durfte nichts schiefgehen, um die größtmögliche Wirkung zu erzielen.

An mehreren Ecken gleichzeitig wollten sie das Haus in Brand setzen. Ein Fanal musste es werden. Eines, das nicht mehr übersehen werden konnte. Eines, das Angst verbreiten sollte. Eines, das den Kameraden zeigte, wie schlagkräftig die Bewegung auch in der Provinz war.

Die Massen der Refugees-welcome-Demonstranten in den großen Städten sollten erkennen, wie stark sich das wahre Deutschland überall zeigte. Diesen Weicheiern und Sozialromantikern sollte Hören und Sehen vergehen, wenn sich direkt vor ihren Toren der Zorn des Volkes erhob. Und das Volk würde sich erheben und sich ihnen anschließen. Die nationale Revolution würde kommen, daran gab es für sie keinen Zweifel. Zu groß würde die Zahl der Fremden werden und noch größer die Angst der Kleinbürger vor ihnen, die Angst vor allem, was irgendwie anders war als sie selbst und ihre kleinbürgerliche Gartenzwergidylle stören könnte. Diese angstgesteuerten Wutbürger waren genau die Art nützlicher Idioten, die sie als rechtsnationale Bewegung brauchten.

Als örtlicher Führer hatte er seine Kameraden immer wieder eingeschworen auf den Weg der nationalen Erhebung. »Hört mir zu, jetzt wird es uns gelingen, die Massen mitzureißen, und auf dieser Welle des Aufruhrs werden wir das dekadente Plutokratensystem regelrecht hinwegfegen, dass es nur so rauscht. Wegbrennen werden wir es, durch Feuer reinigen, so wie schon immer Lügner und Scharlatane durch das Feuer der Scheiterhaufen gereinigt wurden. Das Abendland begehrt endlich auf, um alles Faule und Verwesende für immer auszubrennen. Aus ihrer Asche wird das Kraftvolle und Neue emporwachsen.«

Trunken vom Rausch ihrer Parolen bereiteten sie die Brandsätze vor.

Jetzt sahen sie es vor sich, das Haus, das bis vor Kurzem noch eine Pension gewesen war. Für Feriengäste, die den schönen Teutoburger Wald besuchen wollten. Aber nun waren da andere eingezogen, Leute, die sich hier breitmachten, so sahen sie das. Die setzten sich ins gemachte Nest, bevor sie es vergifteten und zerstörten.

»Heute beginnt er, der Reinigungsprozess des deutschen Volkes«, rief er seinen Kameraden im letzten Moment noch einmal zu. »Hier und jetzt mit dem Werfen von Molotowcocktails durch die Fenster des Hauses dort vor euch. Also los. Sprung auf!«

Dann stürmten sie los und schleuderten ihre Brandsätze durch die Scheiben ins Innere. Das Glas zersplitterte, und die brennenden Flaschen flogen nach innen. Drei, vier, fünf … Jeder hatte zwei dabei. Lodernde Flammen, Schreie von innen. Fenster wurden aufgerissen. Die Ersten versuchten ins Freie zu gelangen. Zwei junge Männer, dann an einem anderen Fenster eine Frau und zwei Kinder, denen die Angst ins Gesicht geschrieben stand.

»Hey, guck dir an, wie sie hüpfen! Wie Karnickel aus ihrem Bau«, schrie einer der Angreifer. Dann rannte er zu der Mutter und schlug ihr direkt ins Gesicht, dass sie taumelte. Die Kinder, vielleicht sechs und acht Jahre, Junge und Mädchen, standen direkt daneben, die Augen vor nackter Angst geweitet. Aus Syrien waren sie gekommen, vor dem Bürgerkrieg geflohen. Sie hatten mit ansehen müssen, wie ihr Vater durch eine Granate vor ihren Augen zerrissen wurde. Und nun ging es hier weiter. Nun lag ihre Mutter vor ihnen am Boden, der linke Arm verletzt vom Feuer und ein fremder Mann, schwarz gekleidet und mit einer Sturmhaube über dem Kopf, trat auf sie ein.

»Stop that, you bloody bastard«, fauchte jemand hinter ihnen. Ein junger Mann, ebenfalls gerade aus dem Haus entkommen, fiel über den Angreifer her und riss ihn nach hinten. Dann verpasste er ihm einen Tritt in den Magen, der ihn aufjaulen ließ.

Immer mehr Leute kamen aus dem Haus gerannt, das an vielen Stellen schon lodernd brannte. Und endlich hörte man mehrere Martinshörner. Polizei und Feuerwehr waren nicht mehr weit.

»Abmarsch, Männer«, schrie der Anführer. »Die Bullen kommen!«

»Scheiße Mann! Wir müssen Ralle helfen. Der wird von einem dieser Asylantenärsche zusammengetreten!«

»Nein, Mecki! Komm jetzt, wir müssen weg. Oder willst du dich von den Bullen einkassieren lassen?«

»Verdammt, wir können ihn doch nicht …« Mecki sprach nicht weiter, sondern versuchte, Ralle zur Hilfe zu eilen. Aber er kam nicht weit, weil er selbst von einem weiteren Bewohner des Flüchtlingsheimes überwältigt wurde.

Inzwischen waren Feuerwehr und Polizei vor Ort. Schläuche wurden ausgerollt, und mehrere Feuerwehrleute drangen mit Atemschutz in das Gebäude ein, um es zu evakuieren. 92 Personen sollten sich hier aufhalten. Wenn sie nicht schnell aus dem verqualmten Haus gerettet würden, gäbe es eine Katastrophe. Sprungtücher und eine Drehleiter wurden in Position gebracht, um den im ersten Stock Eingeschlossenen einen Rettungsweg zu ermöglichen.

Die Polizisten hatten schnell gemerkt, dass die Bewohner des Haues zwei der Angreifer in der Mangel hatten. Die schrien so laut, dass es trotz des Getümmels nicht zu überhören war. Entschlossen trennten sie die Kontrahenten und nahmen die vermummten Angreifer in Gewahrsam.

»Müssen wir die beiden Flüchtlinge nicht auch einkassieren?«, wollte einer der Beamten vom Einsatzleiter wissen. »So, wie die auf die Brandstifter eingeschlagen haben?«

»Stell die Personalien fest und lass sie dann erst mal in Ruhe. Wenn das hier nicht Notwehr war, was dann sonst?«

»Sah mir aber nach Notwehrexzess aus.«

»Mach, was ich dir gesagt habe.«

Kapitel 2

Die beiden Neonazis, Ralf Röder und Kevin Igel, die von ihren Kameraden Ralle und Mecki gerufen wurden, saßen in getrennten Vernehmungszimmern bei der Kreispolizei in Detmold. Sie sollten unbedingt gleichzeitig verhört werden, um auf eventuelle Diskrepanzen in ihren Aussagen eingehen zu können. Aber die Sachlage war natürlich vollkommen klar. Schließlich waren sie auf frischer Tat ertappt worden. Natürlich versuchten sie, sich herauszureden. Sie seien nur zufällig in der Nähe gewesen und eigentlich hätten sie helfen wollen, den Brand zu löschen. Aber dann seien sie von diesen Verrückten aus dem Asylantenheim angegriffen worden.

»Da will man helfen«, hatten sie gesagt, »und die fallen sofort über einen her.« Aber das sei ja wohl typisch für die Kanaker, hatten sie noch angefügt.

Ralle und Mecki erklärten das unabhängig voneinander, aber in erstaunlicher Übereinstimmung. Deshalb war bald klar, dass sie sich vorher abgesprochen hatten. Da sie danach offenbar nicht mehr weiterwussten, schwiegen sie auf Anraten ihrer Pflichtverteidiger beharrlich. Durch Spuren an ihrer Kleidung und die Sicherstellung der Sturmhauben, mit denen sie am Tatort angetroffen worden waren, hatten sie ohnehin keine Chance, irgendwie aus der Sache herauszukommen. Aber die Ermittler wollten unbedingt noch etwas über die beiden flüchtigen Täter herausfinden. Bisher war nur bekannt, dass einer von ihnen der Anführer gewesen war. Das hatten mehrere Bewohner des Hauses übereinstimmend zu Protokoll gegeben. Oberkommissar Konrad Wemhöner und Kommissar Jonas Bunte waren sich einig, dass sie es zunächst gemeinsam bei Kevin Igel versuchen wollten.

»Sag mal, Mecki« begann Wemhöner, »Ich darf dich doch so nennen, oder?«

»Herr Igel, bitte. Kann mich nicht erinnern, dass wir schon mal ’nen Bier zusammen getrunken haben. Wär mir wahrscheinlich auch nicht bekommen, das Bier mit Ihnen, meine ich.«

»Okay, Herr Igel. Was ich sagen will ist, dass Sie doch allem Anschein nach ein intelligenter und verständiger junger Mann sind. Wenn ich die Zeugenaussagen richtig lese, dann sind Sie nur deswegen verhaftet worden, weil Sie Ihrem Kameraden Ralf Röder zu Hilfe kommen wollten. Kann man das so sagen?«

Igel schaute den Polizisten irritiert an. Woher wusste der das? Diese Frage stand ihm ins Gesicht geschrieben.

»Weiß ich nicht. Jedenfalls lag Ralle da am Boden und wurde von diesem Asylantenschwein verprügelt. Hat Ralle eigentlich schon Anzeige gegen diesen Araber gestellt? Wenn nicht, mach ich das. Anwalt, kannst du das mal in die Wege leiten?«

»Ich kann’s versuchen.«

»Nun hören Sie auf, hier abzulenken. Wollten Sie Ra…, Herrn Röder helfen und sind deshalb nicht weggelaufen, als es noch Zeit dafür war? Ist doch ein nobler Zug. Dafür muss man sich ja nicht schämen!«

Mecki schaute erst Wemhöner an, dann seinen Anwalt. Der nickte leicht mit dem Kopf.

»Ja, schon. Wir konnten ihn doch da nicht einfach so seinem Schicksal überlassen. Herr Kommissar, hätten Sie das gekonnt?«

»Aber die beiden anderen aus Ihrer Gruppe konnten das offenbar sehr wohl, oder? Wird man da nicht ein bisschen ärgerlich? Der eigene Führer lässt einen im Stich. Die Großen kommen davon, und die Kleinen müssen büßen. Ganz schön ungerecht die Welt, oder?«

»Scheiße, worauf wollen Sie hinaus? Ich bin nun mal keine Führernatur, aber ein guter Kämpfer.«

»Und ein Kämpfer mit dem Herz auf dem rechten Fleck, der nicht einfach feige wegläuft, wenn ein Kamerad Hilfe braucht.«

»Wollen Sie damit sagen, dass mein Führer feige ist?«

»Weiß nicht, sagen Sie’s mir.«

»Ich sag jetzt gar nichts mehr.«

»Das ist Ihr gutes Recht. Aber bedenken Sie mal, ob es irgendetwas gibt, was Ihnen in Ihrer Situation helfen kann. Wissen Sie, wenn ich das hier so sehe, dann sind Sie im Grunde ein guter Kerl. Sicher, Sie haben Molotowcocktails geworfen, und das ist keine Kleinigkeit. Aber Sie haben nicht wie Herr Röder auf eine unschuldige Frau und Mutter vor den Augen ihrer Kinder eingeschlagen und getreten. Nein, Sie sind kein schlechter Kerl. Und wissen Sie was, mit ein klein wenig Unterstützung von Ihnen, kann ich sicher auch den Staatsanwalt davon überzeugen. Ein bisschen müssten Sie mir dafür aber liefern. Oder wollen Sie für zehn Jahre oder mehr hinter Gitter.«

»Zehn Jahre?«

»Oder mehr. Es gibt einige sehr schwer verletzte Personen – Kollege Bunte, wie viel waren das noch?«

»Fünfundzwanzig Verletzte, die meisten durch den Rauch. Elf davon schwer und zwei schweben sogar in Lebensgefahr.«

»Sehen Sie. Und dafür sind Sie verantwortlich.«

Entgeistert und ängstlich sah Igel den Anwalt an, der mit einem Ausdruck des Bedauerns in seiner Mimik zustimmend nickte.

»Oder Sind Sie angestiftet worden? Hat Ihr Führer Sie unter Druck gesetzt? Wollten Sie das alles eigentlich gar nicht?«

Wemhöner machte eine Pause, um die Wirkung seiner Worte zu verstärken. Dann, nach einer Weile, fuhr er fort: »Sind Sie ein Lamm unter Wölfen?«

Bevor Igel antworten konnte, schob Bunte noch einen Gedanken nach. »Wissen Sie, Herr Igel, unser Rechtsstaat kennt keine Rache. Dafür aber umso mehr Gerechtigkeit. Niemand hat etwas davon, wenn Sie länger hinter Gitter sitzen, als es notwendig und gerecht ist. Und vielleicht ist es eben gerecht, Sie mit Milde zu betrachten.«

»Meine Herren«, unterbrach der Anwalt. »Ich glaube, jetzt ist der Punkt gekommen, dass ich mit meinem Mandanten kurz unter vier Augen reden muss. Wenn ich dann bitten dürfte?«

Wemhöner und Bunte gingen sofort darauf ein. Sie hofften, dass der Rechtsbeistand seinem Mandanten das Richtige riet und ihm klarmachte, wie wichtig und hilfreich Kooperation in seiner Lage sein würde. Nach knapp zehn Minuten war die Unterredung beendet.

»Nun, Herr Igel. Können Sie uns irgendwie behilflich sein? Namen wären in der Tat das Beste. Das könnte dann als tätige Reue aufgefasst werden und wäre unmittelbar strafmildernd.«

»Wie viel wär denn da drin?«

»Das entscheidet natürlich am Ende allein der Richter. Aber ein paar Jahre weniger …« Bunte hielt die Antwort bewusst vage.

»Kommen Sie, Herr Igel, den Anführer, wo finden wir den?«, setzte Wemhöner nach.

»Scheiße, ich mach’s. Ich sag’s Ihnen. Und ich erzähl Ihnen auch noch viel mehr. Ich bin nicht das kleine Licht, als das Sie mich hingestellt haben. Ich hab echt was zu bieten. Darauf können Sie Gift nehmen. Aber ich will als Kronzeuge von Ihnen geschützt werden. Diese sogenannten Kameraden kennen keine Gnade mit Verrätern.«

»Gut, dann machen wir das so. Ich besorg einen Termin mit Richter und Staatsanwalt, damit Sie als Kronzeuge geschützt werden, und Sie packen aus. Namen, Hintermänner, Verbindungen, na Sie wissen schon.«

Kapitel 3

»Gute Arbeit, Herr Wemhöner. Richten Sie das bitte auch Herrn Bunte aus.« Staatsanwalt Lange war in Detmold zuständig für Staatsschutzfragen. Er freute sich sichtlich, einen der Brandstifter mit der Kronzeugenregelung ködern zu können, um auch an die Hintermänner heranzukommen.

»Könnten Sie sich eigentlich vorstellen, dass die Zusammenarbeit mit diesem Igel noch weiter geht? Wir brauchen doch immer mal wieder Vertrauens-Leute in der Szene. Könnte man den umdrehen?«

»Umdrehen? Vermutlich. Diese Typen sind meist nicht besonders stabil. Die sind gewohnt, Befehlen zu gehorchen, und woher die kommen, macht am Ende macht nur wenig Unterschied. Aber als V-Mann? Da hab ich meine Zweifel. Dafür ist er nicht intelligent genug. Im Übrigen ist er, wenn er als Kronzeuge auftritt, als V-Mann von vornherein verbrannt.«

»Stimmt, da haben Sie recht. Das geht nicht.« Lange stand auf und ging zum Fenster. Nachdenklich sah er hinaus in den kalten Märzregen. »Aber was wäre mit dem Rudelführer? Den konnten Sie doch inzwischen verhaften. Kann man da vielleicht was machen?«

»Der käme vermutlich eher infrage. Intelligent, gebildet, aus gutem Haus, wie man so schön sagt. Hat studiert, Jura sogar, wenn auch nicht zu Ende. Seine Eltern leben in Herford, soll ein ganz vornehmes Viertel sein.«

»Und so jemand rutscht in die rechte Szene?«

»Ja, vermutlich ein Fall für die Psychologen. Aber egal, das Wichtigste: Dieser Kerl ist kein Unbekannter. Hat bereits tüchtig was auf dem Kerbholz und käme garantiert nicht billig davon. Den könnte man vielleicht unter Druck setzen. Aber man wird ihm auch irgendwas zum Fraß vorwerfen müssen. Vor allem Straffreiheit natürlich, wie auch immer Sie das regeln.«

»Ach, da fällt mir schon was ein. War da nicht auch etwas mit Körperverletzung im Zuge eines gemeinschaftlichen Überfalls auf einen pakistanischen Handyhändler?« Wieder sah Lange in den trüben Nachmittag hinaus, der eher an November erinnerte als an das kommende Frühjahr. »Man könnte es vielleicht so drehen, dass die Körperverletzung mit einer Bewährungsstrafe geahndet wird, hinter die der Brandanschlag als geringerwertig zurücktritt. Die schlimmeren Täter bei dem Überfall mit den Molotowcocktails waren ja wohl die drei anderen. Hat Kevin Igel nicht gesagt, dass der Rudelführer das Ganze zwar geplant hatte, dann aber beim Angriff auf das Wohnheim mehr im Hintergrund blieb? Das könnte doch dafür sprechen, dass ihm das alles aus dem Ruder gelaufen ist, oder?«

»Entschuldigung. Die Planung eines Brandanschlages und die persönliche Beteiligung daran kann doch nicht weniger gewichtig sein, als die Rangelei mit dem Ladenbesitzer.«

»Ach, Wemhöner, warum so pessimistisch? Wo ein Wille ist, ist auch ein Paragraf. Glauben Sie mir, das kriegen wir hin. Wär nicht das erste Mal.«

»Nee, bei allem, was recht ist, aber das sieht verdammt nach Rechtsbeugung aus.«

»Nein, wir nutzen nur die Spielräume. Also was ist? Käme dieser Kerl aus gutem Haus als V-Mann in Frage?«

»Wenn Sie so fragen, ja käme er. Übrigens gibt es bereits eine Anfrage des Verfassungsschutzes. Die wollen ihn auch haben.«

»Hätt man sich ja denken können. Aber egal. Lassen Sie alle nötigen Schritte in die Wege leiten. Wie wollen wir ihn nennen?«

»Wie wär’s mit Armin? Würde ihm bestimmt gefallen, nach dem Cheruskerfürsten benannt zu werden.«

Vollkommen unerwartet öffneten sich für »Armin« die Tore der Untersuchungshaft in der JVA Detmold und zwar so überraschend, dass er kaum etwas sagen konnte und sich nach einer guten halben Stunde immer noch völlig verdattert vor dem Gefängnistor wiederfand. Kalter Märzwind schlug ihm entgegen, und der Schneeregen durchnässte in kürzester Zeit seinen schwarzen Kapuzenpullover. Fühlt sich so der Wind der Freiheit an, dachte er, so nass, so kalt? Unschlüssig stand er auf dem Gefängnisvorplatz und versuchte, sich zu orientieren. Niemand würde ihn abholen, da war er sich sicher, weil keiner wusste, dass er heute auf freien Fuß gesetzt wurde. Er konnte es selbst ja nicht recht glauben.

Dann ging er einfach los, an einem Autohaus vorbei, in Richtung Bielefelder Straße, wo er eine Bushaltestelle vermutete. Aber weit kam er nicht. Ein dunkelblauer Opel Astra hielt neben ihm an, und ein untersetzter, älterer Mann stieg einen Regenschirm öffnend aus.

»Guten Morgen, Armin«, sagte er und hielt den Schirm über den soeben Entlassenen. »Wohin darf ich Sie fahren?«

»Wie bitte? Ich bin nicht Armin. Was soll das? Wer sind Sie?«

»Oh, natürlich. Entschuldigung. Wie unhöflich von mir. Mein Name ist Walter, Walter Klein, und ich bin derjenige, der Sie aus dem Knast geholt hat. Und, doch ja, für uns sind Sie Armin.«

»Aus dem Knast geholt? Sie? Und lassen Sie diesen blöden Namen. Ich kenne Sie doch gar nicht.«

»Das macht nichts. Ich kenne Sie dafür umso besser. Aber sagen Sie, sollten wir das nicht an einem etwas gemütlicheren Ort besprechen. Sie sind ja schon ganz durchnässt. Am besten ich fahre Sie erst einmal nach Hause, damit Sie sich was Trockenes anziehen können, und dann reden wir in aller Ruhe über Ihre Zukunft.«

»Sie wissen, wo ich wohne?«

»Sicher, Armin. Aber nun steigen Sie schon ein. Sie werden dem Mann, der es gut mit Ihnen meint, doch keinen Korb geben. Oder soll ich dem Personal in dem Haus hinter uns kurz Bescheid geben, dass Sie doch lieber wieder zurück möchten in Ihre niedliche, kleine Zelle, weil Sie mit mir nicht reden und weil Sie auch nicht Armin heißen wollen?«

Die Tür des unscheinbaren Autos stand noch immer offen, und jetzt setzte »Armin« sich hinein. Ihm war absolut nicht wohl bei der Sache. Was sollte das hier werden? Wieso hatte dieser Mann die Macht, darüber zu entscheiden, ob er sich innerhalb oder außerhalb des Gefängnisses aufhielt?

»Okay«, sagte »Armin« schließlich, nachdem er die Tür zugeschlagen hatte. »Was soll das hier? Was wollen Sie von mir?«

»Sehen Sie, das hört sich doch schon viel besser an. Aber trotzdem, jetzt fahren wir erst mal zu Ihnen nach Hause.«

Eine Viertelstunde später hielten sie vor einem wenig einladenden Haus am Stadtrand von Detmold. »Armins« Wohnung hielt, was die Fassade versprach. Zwei kleine Zimmer, vollgestellt mit Billig-Möbeln, vieles vermutlich sogar vom Sperrmüll. An den Wänden jede Menge Plakate aus der rechtsradikalen Szene. An besonders herausragender Stelle hing ein SS-Dolch an der Wand, das Messer neben der Scheide hängend, damit man die Schrift auf dem Klingenblatt lesen konnte: Meine Ehre heißt Treue.

»Echt oder chinesischer Nachbau«, fragte Klein auf den martialischen Wandschmuck zeigend.

»Geht Sie einen Scheißdreck an.« Soeben war »Armin« aus dem Nebenzimmer gekommen und hatte sich etwas Trockenes angezogen. »Hab keine Lust, mit Ihnen über solche Dinge wie Ehre und Treue zu sprechen. Sagen Sie mir lieber endlich, worum es hier geht.«

»Wie Sie wollen. Kommen wir zur Sache.« Klein hatte »Armin« den Rücken zugekehrt und schaute aus dem Fenster auf einen tristen Hof. Dabei hatte er seine Hände hinter sich verschränkt und wippte leicht mit den Füßen, eine Geste, die »Armin« ziemlich nervig fand. Dadurch hatte er aber Gelegenheit, ihn etwas genauer zu betrachten. Abgewetzte mittelbraune Lederjacke zu dunkelbraunen Cordjeans, die auch schon bessere Tage gesehen haben dürften. Unter der Jacke ein blaues Hemd, dessen Kragen er von hinten gerade noch erkennen konnte. Die halblangen grauen Haare hätten einen Schnitt nötig gehabt. An den Füßen schwarze Schuhe mit dicker Sohle. Den Schirm hatte er draußen im Flur gelassen. Sieht aus wie ein altgedienter Junggeselle, dachte »Armin«, der seinen Kleiderstil seit vielen Jahren nicht geändert hat und die Sachen erst dann ersetzt, wenn die alten wirklich kaputt sind. Aber was geht es mich an, wie der aussieht?

»Was glauben Sie, Armin, werden Sie bekommen für den Brandüberfall auf die Flüchtlingsunterkunft zusammen mit Ihren bisherigen Delikten, vor allem die schwere Körperverletzung? Na, was meinen Sie? Was wird Ihnen das einbringen? Sie haben doch mal Jura studiert oder sind Sie so weit nicht gekommen?«

Verdammt, was weiß der noch alles über mich, dachte »Armin«. Dann antwortete er: »Weiß nicht, sagen Sie’s mir. Ein paar Jahre werden’s schon sein.«

»Oh ja, das kann man wohl sagen. Vielleicht auch ein paar Jahre mehr, wenn ich das mal so ausdrücken darf.« Immer noch sah Walter nach draußen. Und nach wie vor wippte er mit den Füßen.

»Armin« kniff die Lippen zusammen.

»Und nun stellen Sie sich mal vor, Ihre Strafe würde zu maximal zwei Jahren zusammengezogen und zudem zur Bewährung ausgesetzt? Könnte Ihnen das gefallen?«

Als Antwort zuckte »Armin« mit den Schultern. Was sollte er schon dazu sagen? »Und wo ist der Haken?«

»Nun seien Sie doch nicht so pessimistisch. Wir bieten Ihnen eine einmalige Chance. Eine Chance, Ihrem Leben eine völlig neue Richtung zu geben, auch finanziell.« Klein sah sich demonstrativ in der Wohnung um. »Auf Rosen scheinen Sie ja nicht gerade gebettet zu sein. Ihre Eltern unterstützen Sie nicht mehr? Obwohl sie doch genug Kohle hätten.« Klein stockte einen Moment, um überrascht zu tun. »Ach, nein, Sie sind ja aus Ihrem angenehmen Elternhaus in der Herforder Augustastraße rausgeschmissen worden. Und Geld gibt es auch nicht mehr, oder? Muss ziemlich schlimm sein, was? Aber was tut man nicht alles für die nationale Erhebung. Wir könnten Ihnen übrigens helfen und uns ein Arrangement vorstellen, das für Sie finanziell interessant ist.«

»Armin« wurde aufmerksam. Seine Neugier wuchs. Was war das für ein Deal, den ihm dieser Walter Klein da anbieten wollte, und welches finanzielle Arrangement könnte das sein? Gut informiert war dieser merkwürdige Typ Ende fünfzig auf jeden Fall. »Also gut, lassen Sie die Katze aus dem Sack«, forderte er sein Gegenüber schließlich auf.

»Siebenhundert Euro bar auf die Hand, jeden Monat und steuerfrei. Dazu Krankenversicherung und die Miete für die Wohnung hier. Oder vielleicht auch für eine andere. Etwas Besseres als das, entschuldigen Sie, Loch hier, wird sich bestimmt finden lassen. Man kann über vieles reden.«

»Armin« unterdrückte die Wut, die in ihm bei dieser Provokation aufkeimte. Stattdessen antwortete er: »Siebenhundert Euro, das ist ja kaum mehr als Hartz vier.«

»Na, na, na! Etwas mehr ist es denn doch. Um so viel netto zu haben, müssten Sie fast das Doppelte brutto verdienen. Und davon müsste jeder Normalbürger auch noch die Miete bezahlen. Sie nicht, das machen wir. Was zahlen Sie hier? Dreihundert? Rechnen Sie das mal aus! Und Sie hätten eine richtige Arbeit, müssten sich auch nicht dauernd mit den Typen vom Arbeitsamt herumschlagen, vor allem dann nicht, wenn die mal wieder verlangen, dass Sie sich irgendwo vorstellen sollen.«

»Okay, ich hab’s verstanden. Sie wollen mich kaufen. Aber wofür?«

»Sie müssten gar nicht viel tun. Nun ein wenig Augen und Ohren offenhalten und uns dann und wann davon erzählen.«

»Scheiße! Ich soll Ihr Spitzel werden! Für wen eigentlich? Vergessen Sie’s!«

»Spitzel, Spitzel. Das ist kein so schönes Wort. Nein, Sie wären Mitarbeiter beim Verfassungsschutz. Oder meinetwegen nennen Sie es Agent. Das hat doch was, oder?«

»Entschuldigung. Halten Sie mich für so beschränkt, dass ich auf Ihre dümmliche Wortklauberei hereinfallen würde? Ich dachte, Sie hätten sich ausreichend über mich informiert.«

»Ja, ja, aufgewachsen in einer der teuersten Gegenden in Herford und Jurastudium. Das hatten wir schon. Aber Sie haben das Studium nicht abgeschlossen, weil Sie sich der Bewegung angeschlossen haben.« Endlich drehte Klein sich zu »Armin« um und sah ihm direkt in die Augen. »Also gut, lassen wir die Spielchen und reden wir klar und vernünftig miteinander, und dann können Sie sich ebenso klar und vernünftig entscheiden: Wir bieten Ihnen an, für uns zu arbeiten. Sie machen im Grunde alles so weiter wie bisher, halten sich aber von Straftaten fern. Das ist eine wichtige Bedingung. Haben Sie das verstanden? Sie selbst machen bei keiner Aktion mehr mit! Stattdessen berichten Sie uns von allem, was Sie bei Ihren Kameraden so erfahren, und besonders, wenn sie irgendwas planen, den nächsten Überfall zum Beispiel.«

»Wie soll das denn gehen? Alles mitplanen und dann im entscheidenden Moment kneifen, oder wie?«

»Na ja, irgendwie mitmachen müssten Sie schon. Nur wenn’s zum Äußersten kommt, dann halten Sie sich zurück. Aber wichtiger als das ist es, nicht aufzufliegen.«

»Was haben Sie für eine beschissene Moral! Und ich soll dabei mitmachen für schäbige siebenhundert Euro im Monat. Für diesen Judaslohn soll ich meine Kameraden verraten? Sie haben Sie doch nicht alle. Haben Sie nicht hingesehen, was da auf der Klinge des Dolches steht? Meine Ehre heißt Treue. Und Sie wollen, dass ich für siebenhundert im Monat diese Ehre besudele?«

»Die Straffreiheit nicht zu vergessen.«

»Meine Antwort ist nein. Zum Mitschreiben: N-E-I-N!«

»Okay, wie Sie wollen.« Dann gab Klein einen Wink durchs Fenster nach draußen in den Hof, wo seit einiger Zeit ein Mann im Regen stand.

Wenn »Armin« gedacht hatte, er käme in seine alte Zelle zurück, dann sah er sich nach seiner Rückkehr in die Haftanstalt getäuscht. Nachdem er die übliche Prozedur durchlaufen und alles, was er bei sich trug, wieder abgegeben hatte, landete er in einer abstoßenden Kellerzelle, in der es nur einen kleinen Lichtschacht nach oben gab. Die einzigen Möbel waren ein Metallbett mit dünner Matratze und ein harter Brettstuhl, der ebenso wie das Bett fest im Boden verankert war. Als Tisch diente ein an die Wand geschraubtes Brett. Um seine Notdurft zu verrichten, gab es ein Metallklosett ohne Deckel. Er glaubte, seinen Augen nicht zu trauen.

»Verdammter Mist, was ist das hier? Wieso lande ich in dieser Arrestzelle? Wieso diese Haftverschärfung? Es gibt dafür keinen Grund. Ich hab doch gar nichts getan. Ich will meinen Anwalt sprechen.«

»Nun halt mal die Luft an, Nazibürschchen.« Der Schließer warf ihm blau kariertes Bettzeug zu, das er reflexartig auffing. »Das hier hat alles seine Ordnung. Das ist so angeordnet worden. Hier haben wir dich besser im Blick, damit du keine Dummheiten machen kannst.« Der Vollzugsbeamte machte eine unmissverständlich Geste, indem er so tat, als würgte er seinen eigenen Hals. Hier sei Suizidgefahr gegeben, sollte das heißen. »Deinen Anwalt kannst du morgen sprechen. Heute ist das auf jeden Fall zu spät. Du hast hier jetzt erst mal Sendepause. Haben wir uns verstanden?«

Statt einer Antwort prügelte der Häftling mit den Fäusten auf den Tisch ein und trat gegen das Bett. Er schrie laut auf, als das Eisengestell keinen Millimeter nachgab. Resigniert ließ er sich auf die Matratze fallen.

Die folgende Nacht wurde zum Schlimmsten, was er jemals erlebt hatte. Und es sollten noch viele in der gleichen Art folgen. Pünktlich um zehn Uhr wurde das Licht gelöscht, und er versuchte zu schlafen, was schwer genug war. Immer wieder gingen seine Gedanken zurück an die merkwürdige Begegnung mit Walter Klein. War das hier die Folge seiner Weigerung? Wollten sie ihn so weichkochen, damit er doch für sie arbeitete, für den Verfassungsschutz oder für wen auch immer? Nein, er wollte sich nicht so leicht geschlagen geben. Er würde das durchhalten und er würde stark sein. Meine Ehre heißt Treue, und er würde nicht ehrlos werden. Er nicht!

Plötzlich wurde das Licht wieder eingeschaltet und jemand rief durch die Essensklappe: »Gefangener, Name und Alter?«

Er war vollkommen verwirrt. Was war das denn jetzt?

»Name und Alter?«

Schließlich gab er nach und antwortete in der gewünschten Form. Die Klappe wurde wieder geschlossen und das Licht gelöscht. Allerdings dauerte es nur eine Stunde und die Prozedur wiederholte sich.

»Name und Alter!«

»Lass mich in Ruhe, du Arsch. Heil Hitler!«

»Mit Hitler kannste dir den Hintern abwischen. Name und Alter!«

Als es das dritte Mal geschah, merkte er, dass die Sache Methode hatte. Diesmal antwortete er gar nicht. Woll’n doch mal sehen, wer hier länger durchhält. Aber der Schließer gab nicht auf. Stattdessen stürmte er in die Zelle und leuchtete ihm mit einer starken Taschenlampe direkt in die Augen.

Er schreckte hoch. »Verdammt. Lasst mich doch endlich in Ruhe. Ich will schlafen. Was soll das werden? Folter durch Schlafentzug?«

»Ist nur zu deinem Besten. Wir müssen sichergehen, dass es dir gutgeht und du dich hier nicht umbringst. Also, wenn wir das nächste Mal kommen, antworte oder heb wenigstens den Arm, damit ich weiß, dass du noch unter uns bist.«

»Ihr seid ja total krank.«

Auch die nächsten Nächte wurden nicht besser. Er litt zunehmend unter Schlafentzug. Er hatte Kopfschmerzen und konnte kaum noch klar denken. Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, bis ihn endlich sein Anwalt, Klaus Mehnert, aufsuchte.

»Wieso kommen Sie so spät? Ich hab schon zigmal verlangt, dass ich mit Ihnen sprechen kann, seit ich hier in diesem Loch bin, also seit … Scheiße, ich hab keine Ahnung, wie lange. Herr Mehnert, ich muss hier raus. Dürfen die das eigentlich? Bei den Kommunisten in der DDR hätt’s ja nicht schlimmer sein können.«

»Nun mal ganz langsam, nur damit die Verhältnisse klar sind. Bei der Stasi hätten Sie keine Woche durchgehalten und bei Ihrem so heiß geliebten Adolf wären Sie sofort auf Nimmerwiedersehen in irgendeinem KZ verschwunden und schon längst tot. Der Rechtsstaat, den Sie so eifrig bekämpfen, ist der Einzige, der Ihnen hier noch helfen kann. Ironie der Geschichte würd ich sagen.«

»Und was wollen Sie dann hier noch? Wenn Sie so denken, können Sie gleich wieder gehen.«

»Ich bin Ihr Pflichtverteidiger. Ich muss mich um Sie kümmern. Und ich werde das auch tun. Im Gegensatz zu Ihnen bin ich nämlich von unserem Rechtsstaat überzeugt. Also, was haben Sie angestellt?«

»Angestellt? Auf welchem Stern leben Sie. Ich bin hier, weil die mich kleinkriegen wollen, weil die mich zu ihrem Spitzel machen wollen.« Er versuchte, sich zu fassen, und berichtete von seiner unerwarteten Entlassung ebenso von dem Versuch Walter Kleins, ihn anzuwerben. Am meisten aber beklagte er sich über die Haftbedingungen und den nächtlichen Lichtterror. »Holen Sie mich hier heraus«, flehte er seinen Rechtsbeistand an. »Ich werde in diesem Loch noch verrückt. Seit ich hier bin, habe ich nicht mehr richtig geschlafen. Jede Stunde kommt einer rein und will meinen Namen und mein Alter hören. Ich will wieder in eine normale Zelle. Das ist doch Folter.«

Klaus Mehnert verließ den Arrestraum, versprach, dafür zu sorgen, dass sein Mandant wieder in die alte Zelle zurückkam, was auch tatsächlich ziemlich bald geschah. Aber der Erste, der ihn dort besuchte, war Walter Klein.

»Was wollen Sie denn schon wieder hier? Sie hat keiner gerufen. Verschwinden Sie auf der Stelle.« Unsanft schob er Klein zur Seite und polterte gegen die Tür.

»Da macht jetzt keiner auf. Es sei denn, ich sage es den Schließern. Für Sie ist es also am besten, wenn Sie sich in aller Ruhe hinsetzen und mir zuhören.«

»Ach, leck mich doch! Ich weiß ohnehin, was kommt. Das hatten wir schließlich schon mal bei mir zu Hause. Ich spioniere meine Kameraden nicht aus und damit basta!«

»Sehen Sie. Genau das haben wir inzwischen auch begriffen. Wir machen Ihnen stattdessen ein neues Angebot. Nicht ganz ungefährlich, das gebe ich zu, aber es würde Ihnen die uneingeschränkte Anerkennung Ihrer Kameraden einbringen. Schade nur, dass die davon zunächst nichts erfahren werden. Das liegt sozusagen in der Natur der Geheimsache.« Walter Klein gluckste über den aus seiner Sicht gelungenen Scherz. »Armin« blieb unbeeindruckt.

»Und was Ihre finanzielle Situation angeht, legen wir noch kräftig eins drauf. Tausend Euro im Monat, natürlich immer noch steuerfrei.«

»Armin« sah ihn in einer Mischung aus Verwunderung und Ärger an. Klein regierte sofort darauf.

»Okay, zwölfhundert, mehr geht aber nicht. Das ist so viel, wie sonst keiner unserer Informanten bekommt. Sie können daran erkennen, dass Sie und die Aufgabe, die wir für Sie haben, uns wichtig sind, ganz besonders wichtig sogar.«

Dann ließ er die Katze aus dem Sack. »Armin« sollte als Undercover-Agent in die ostwestfälische Salafisten-Szene eingeschleust werden. Diese galt als virulent und, seit den Anschlägen auf Kurden und deren Einrichtungen in Herford und Bielefeld, auch als erkennbar gewaltbereit. Aus diesem radikal-islamischen Umfeld waren bereits Kämpfer nach Syrien ausgereist und, nach allerdings ungenauen Informationen, sollte einer dieser Dschihadisten wieder zurückgekehrt sein. Das Amt für Verfassungsschutz hatte ihn aus den Augen verloren, und nun würden sie gern einen verdeckten Ermittler einsetzen und in die Szene einschleusen. Am liebsten wäre ihnen natürlich ein echter Salafist gewesen, den Sie umdrehen konnten. Gelegentlich war das in anderen Bundesländern schon gelungen. Aber es war enorm schwierig. In Geheimdienstkreisen kursierte die Überzeugung, eher seien zehn Neonazis als V-Leute zu gewinnen als ein Dschihadist.

»Und jetzt kommen Sie ins Spiel, Armin«, schloss Klein seinen Vortrag. »Sie brauchen Ihre Kameraden nicht zu verraten, kämpfen stattdessen für die Rettung des Abendlandes vor dem Islam, vor diesen orientalischen Banden. Und Sie kämen in den Genuss all der Vorteile, die ich Ihnen schon aufgezählt habe. Von weitgehender Straffreiheit bis zu einem guten Einkommen.« Klein unterbrach sich einen Moment, um in »Armins« Gesicht eine Rektion zu erspüren. Der schien jetzt gar nicht mehr so abgeneigt zu sein.

»Ach ja, ich vergaß. Sie bekommen auch ein tolles Auto. BMW Dreier, wär das was? Unter jungen Türken ja sehr beliebt. Da wären Sie sofort der Star der Moschee.« Klein gluckste wieder über den erneuten Scherz. »Und natürlich«, fuhr er fort, »ein Spesenkonto für all die Dinge, die man so braucht als V-Mann, Sie verstehen, passende islamische Kleidung und so etwas.«

»BMW Dreier – neustes Modell?«

»Nein, das wär zu auffällig. Sagen wir vier Jahre alt, aber im Toppzustand. Wir hätten da einen 330i für Sie im Angebot, schwarz, mehr als zweihundertsiebzig PS. Na, Spaß an so was?«

»Frisst aber ’ne Menge Sprit.«

»Keine Sorge, ist ja quasi ein Dienstwagen. Sprit bezahlen wir. Sie kriegen eine Tankkarte.«

»Scheiße, gefährlich ist es trotzdem, oder?«

»Ja, gefährlich kann es sein. Aber nur, wenn Sie die Sache amateurhaft angehen. Und damit das nicht passiert, erhalten Sie eine fundierte Ausbildung. Selbstverständlich laufen alle finanziellen Abmachungen auch schon während dieser Zeit. In ein paar Monaten wären Sie dann einsatzbereit und könnten sich in die Herforder Szene einschmuggeln. Sie sind ja intelligent. Einfältige können wir für so was ohnehin nicht gebrauchen. Nun sagen Sie schon Ja. So einen spannenden Job hat Ihnen noch nie jemand angeboten. Abgemacht?«

»Abgemacht. Dann wollen wir diesen Totengräbern des Abendlandes mal so richtig einheizen, was?«

Kapitel 4

Das besondere Handy, das Armin von Walter Klein bekommen hatte, meldete sich mit dem Signalzeichen für eine SMS. Er öffnete sie. Kurz und bündig stand da: »4.12., 11:20«, sonst nichts. Aber das war auch nicht nötig. Die konspirativen Treffen mit Walter waren inzwischen, fast ein Dreivierteljahr nach der ersten Kontaktaufnahme zur Routine geworden. Sie begannen immer am Bahnhof in Bad Salzuflen, Armins neuem Wohnort. Am liebsten wäre er in Detmold geblieben, aber Klein wollte, dass er dicht bei seinem Einsatzgebiet in Herford wohnte, aber auch nicht zu dicht.

Pünktlich zur vereinbarten Zeit war er mit dem Bus zum Bahnhof gefahren und wartete auf neue Anweisungen, die ebenfalls per SMS kommen würden. So lief das immer ab. Er schickte eine kurze Antwort-SMS, ohne Textinhalt, und dann erhielt er das nächste Ziel, dem aber immer ein drittes und viertes folgte. Mit öffentlichen Verkehrsmitteln ging es oft kreuz und quer durch Ostwestfalen-Lippe. Das konnte schon mal ein, zwei Stunden dauern. Die Treffen mit Walter brauchten deshalb immer ziemlich viel Zeit. Aber die hatte Armin ja, schließlich war er sozusagen hauptberuflicher Agent.

Diesmal ging es direkt nach Bielefeld, und nach der üblichen Rundfahrt durch die Stadt erwies sich der Nordpark als das heutige Ziel. Treffpunkt war eine Parkbank am Ententeich.

Zu Armins großer Überraschung warteten dort zwei Personen, Walter Klein und ein weiterer, etwas jüngerer Mann, vermutlich auch ein Verfassungsschutz-Agent. Walter stellte ihn als Jan vor. Nachdem Armin sich auf Anweisung zwischen die beiden Agenten gesetzt hatte, übernahm Jan sofort die Gesprächsführung.

»Hallo Armin, wie geht es Ihnen? Haben Sie die Ausbildung gut überstanden?«

»Ja, danke, kein Problem. Ich glaube, jetzt bin ich ziemlich fit für den Einsatz als Undercover-Muslim.«

Etwas erschrocken sah Jan sich um. »Verdammt, Armin«, zischte er so leise, dass es bestimmt niemand hören konnte. Dabei hielt er sich zusätzlich die Hand vor den Mund. »Quatschen Sie doch nicht so laut rum! Zum richtigen Mitarbeiter in unserem Verein fehlt Ihnen offenbar noch ein bisschen Übung. Im Übrigen: Walter wird uns hier und jetzt verlassen, und wir zwei Hübschen machen einen kleinen Spaziergang durch den Park. Auf geht’s.«

Armin war ziemlich verwirrt. Was sollte das? War jetzt Walter nicht mehr zuständig? Und wenn nicht, warum? Aber er fragte nicht, sondern folgte Jan, wie angeordnet. Er hatte sich den Schlapphüten auf Gedeih oder Verderb anvertraut. Nun musste er mit ihnen zusammenarbeiten und tun, was sie von ihm verlangten. Es gab kein Zurück mehr. Aber er war sich ziemlich sicher, dass sie ihn nicht hängen ließen, wenigstens nicht solange sie ihn brauchten. Und genau deshalb wollte er sich unverzichtbar machen. Die Lieferung guter Informationen und die strikte Ausführung von Anweisungen, das, so glaubte er, war seine Lebensversicherung. Aber ihm gefiel auch der Gedanke, dass er in seiner neuen Position den verdammten Moslems, wie er sie innerlich immer nannte, ganz persönlich eins reinwürgen konnte. Das behielt er natürlich für sich. Aussprechen würde er das niemals. Im Grunde bin ich derjenige, der hier sagt, wo’s langgeht, und nicht diese Idioten vom Verfassungsschutz. Er musste heimlich lächeln.

Langsam ging Armin neben Jan durch den Park. Als Erstes wurde er aufgefordert, sein bisheriges Handy abzugeben. Ihm wurde stattdessen ein anderes, neues Billigteil übergeben, das ihn nun direkt mit Jan verbinden sollte, wie das alte mit Walter. Dann erklärte Jan die Einzelheiten seines Auftrages. Seine Einschleusung in die Herforder Salafistenszene stand unmittelbar bevor. Am kommenden Samstag, das wüssten sie vom Ordnungsamt in Herford, würden die Salafisten einen ihrer üblichen Infostände im »Gehrenberg«, mitten in der Fußgängerzone aufbauen. Armin sollte sich an einem der Infostände dieser radikalen Muslime für deren Religion interessieren und sich zu ihren Versammlungen einladen lassen.

»Und was mache ich, wenn die misstrauisch werden?«

»Es ist Ihre wichtigste Aufgabe, sicherzustellen, dass sie nicht misstrauisch werden. Sicherheit geht immer vor. Sie müssen Ihren Instinkt schärfen und ständig wachsam sein. Wenn aber doch mal irgendetwas passieren sollte, dann werden wir für Sie sorgen. Darauf können Sie sich verlassen. Über das Handy, das Sie eben erhalten haben, setzen Sie dann eine Notfall-SMS ab. Einziger Inhalt ist ein Codewort. Es lautet: Bouillon.«

»Wie bitte? Bouillon? Wie die Suppe? Soll das ein Witz sein?«

»Nein. Ganz und gar nicht. Bouillon ist eine belgische Kleinstadt in den Ardennen, dicht an der Grenze zu Frankreich. Gar nicht weit entfernt von Sedan. Klingelt da was bei Ihnen, oder haben Sie im Geschichtsunterricht nicht so aufgepasst?«

»O doch! Sedan, die Stadt, bei der 1870/71 der deutsch-französische Krieg entschieden wurde. Ein einziger Triumph des deutschen Soldatentums. Und 1940 die Gegend, in der unsere Panzerspitzen über die Maas den Durchbruch nach Frankreich schafften.«

»Jetzt haben Sie’s. Und nur nebenbei bemerkt ist der Ort auch die Heimat Gottfrieds von Bouillon, einem der berühmtesten Kreuzfahrer im Mittelalter. Ist bis nach Jerusalem gekommen.«

»Und hat dort den Scheiß Moslems eins aufs Haupt gegeben? Klasse. Gefällt mir, das Codewort.«

»Wie auch immer, in dieser Stadt haben wir ein sogenanntes Safe-House. Sie wissen was das ist?«

»Ich glaube, ich kann’s mir denken. Eine Unterkunft, die als Versteck und Rückzugsort taugt.«

»So ist es. Wenn Sie nun dies Codewort simsen, dann werden wir den Rettungsplan für Sie aktivieren.«