Inhalte
Titelangaben
Prolog
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Nachwort und Danksagung
Rolf Düfelmeyer
Einer fehlt beim Hochzeitsfest
Langeoog-Krimi
ProlibrisVerlag
Handlung und Figuren dieses Romans entspringen der Phantasie des Autors. Ebenso
die Verquickung mit tatsächlichen Ereignissen. Darum sind eventuelle Übereinstimmungen mit lebenden oder verstorbenen Personen zufällig und nicht beabsichtigt.
Alle Rechte vorbehalten,
auch die des auszugsweisen Nachdrucks
und der fotomechanischen Wiedergabe
sowie der Einspeicherung und Verarbeitung
in elektronischen Systemen.
© Prolibris Verlag Rolf Wagner, Kassel, 2018
Tel.: 0561/766 449 0, Fax: 0561/766 449 29
Titelfoto: Christiane Brott, Bad Soden im Taunus
Braut© ArtFotoDima– fotolia.de
E-Book: Prolibris Verlag
ISBN E-Book: 978-3-95475-180-8
Dieses Buch ist auch als Printausgabe im Buchhandel erhältlich.
ISBN: 978-3-95475-171-6
www.prolibris-verlag.de
Der Autor
Rolf Düfelmeyer, geboren 1953 in Herford, war lange Jahre als evangelischer Pfarrer und
Religionslehrer in Werther und Lübbecke tätig. Seit 2012 schreibt er Krimis. Dabei legt er Wert auf eine spannende
Handlung, die eingebettet ist in das gesellschaftliche Leben unserer Zeit. Er
lebt mit seiner Frau am Nordrand des Teutoburger Waldes. Die Insel Langeoog
kennen er und seine Frau von zahlreichen Besuchen.
Für Irmela
Prolog
Nur sein Tod würde mich erlösen. Je länger ich diesen Gedanken mit mir herumtrug, desto deutlicher wurde mir, was
schließlich unausweichlich erschien.
Nie hatte mir ein Mensch mehr Schaden zugefügt, nie wurde ich von jemandem so enttäuscht. Die Erinnerung an ihn quälte mich jeden Tag. Er hatte mich zerstört. Er war verantwortlich für alles, was in der letzten Zeit schiefging. Ich wollte leben, endlich wieder
leben. In meinen schlaflosen Nächten malte ich mir aus, wie es sich anfühlte, wenn er seine gerechte Strafe bekäme. Ich musste mich befreien von der Last, die er mir aufgebürdet hatte. Mehr und mehr sah ich nur einen Weg, dies zu erreichen. Er musste
sterben!
Ziemlich lange hatte ich mich mit der Entscheidung herumgeplagt, war ihr aus dem
Weg gegangen. Anfangs dachte ich noch, die Zeit könnte alle Wunden heilen, auch diese. Ich wartete darauf, dass die Wut
verrauchte. Das Gegenteil jedoch war der Fall.
Die Kränkung saß zu tief. Manchmal ging es eine Weile gut, aber dann, oft aus nichtigem Anlass,
war sie erneut da, die tiefe Verzweiflung. Wie ein Stachel, der sich nicht
entfernen ließ und an dem sich die Wunde immer wieder entzündete.
Dieser Mann hatte mich verletzt, hatte mir die Zukunft geraubt und mich
finanziell ruiniert. Ich musste zur Ruhe kommen. Endlich! Tritt finden, dem
Getriebensein entkommen. Deshalb stand der Entschluss fest. Ich würde es tun, tun müssen. Mir blieb keine andere Wahl.
Zu meiner Überraschung verschaffte mir bereits die Entschlossenheit einen tiefen, inneren
Frieden. Seelenfrieden, das schöne alte Wort fiel mir dazu ein. Ich bin nicht religiös, aber das, was ich empfand, hatte etwas mit weihevoller Würde zu tun.
Von da an sah ich alles glasklar vor mir. Mein Denken und Fühlen bekam eine Ausrichtung. Ich war vorausschauend und zielgerichtet,
funktionierte wie ein Uhrwerk. Und deshalb konnte ich mit einer Präzision, die ich vorher nicht für möglich gehalten hatte, das Notwendige planen: seinen Tod.
1
Enno Jaspers saß am Hafen von Bensersiel. Ihm blieb noch etwas Zeit, bevor er sich auf den
Heimweg nach Wittmund machte. Deshalb hatte er seinen Wagen abgestellt und war
zu einer Bank gegangen, von der aus er am Hafenbecken vorbei und über das Wattenmeer hinweg den Blick hinüber zur Insel Langeoog genießen konnte. Im Augenblick war es eine große Wasserfläche. Erst in einigen Stunden würde die Ebbe die weiten Schlickflächen und Priele wieder freigeben.
Der Blick aufs Meer und die salzige Seeluft – für ihn war das Therapie. Am meisten beruhigte ihn das immer gleiche Auf und Ab
von Ebbe und Flut. Dieser ewige, unerschütterliche Kreislauf faszinierte ihn. In stoischer Ruhe und unbeirrt von allen
Zeitläufen setzte die See ihren Weg fort und vermochte alles zu nivellieren und zu
relativieren, was sonst übermächtig wurde. Die eingeebneten Sand- und Wattflächen, die die Flut zurückließ, gaben deutliches Zeugnis davon.
Diese Folge der Gezeiten war ein starkes Sinnbild dafür, dass auch die zahlreichen Unebenheiten und Verwerfungen seines eigenen Lebens
sich relativieren konnten, wenn man ihnen ausreichend Zeit gab, sich zu verflüchtigen. Und wenn man, wie das Wasser, langsam aber beständig mahlend an ihnen arbeitete. Deshalb hatte der Blick auf das Meer und die
Beobachtung der Gezeiten für ihn therapeutische Wirkung.
Das Land am Meer war Ennos Heimat, eine Insel im Meer sogar. Langeoog, der Ort seiner Kindheit. Ein steter Quell der
Geborgenheit, der Ruhe, des Einsseins mit sich selbst, das wusste er
inzwischen. Aber so war es nicht immer gewesen. In seiner Jugend war ihm die
Insel schnell zu klein geworden. Alles, was er heute an ihr schätzte, damals war es der Grund, ihr zu entfliehen.
Ein unbestimmter Traum von der großen, weiten Welt hatte ihn hier weggelockt, hin zur Polizei. Aber zur richtigen,
wie er jedem erzählte. Was genau er damit meinte, erläuterte er nicht. Nur eins war klar: Nach der Ausbildung als Dorfsheriff in die
ostfriesische Provinz zurückkehren, so wollte er auf keinen Fall enden. Alles viel zu eng und vor allem
nichts los! Nach Hamburg zog es ihn. Denn wo sonst war für einen Jungen aus Ostfriesland die Welt größer und weiter als in der pulsierenden und schillernden Hafenstadt an der Elbe.
Zu den ganz taffen Jungs wollte er gehören und er ging über die Bereitschaftspolizei zum Mobilen Einsatzkommando. Wenn er heute von den
Einsätzen beim MEK erzählte, sah er, wie seine Zuhörer ihn respektvoll staunend ansahen. Wie naiv kann man sein, dachte er dann. Er
hatte einfach keine Lust, Heldengeschichten zu erzählen. Denn ein Held war er ganz bestimmt nicht, allenfalls ein tragischer. Vor
allem hatte er keine Lust, über die sichtbaren Spuren zu sprechen, die sein letzter Einsatz an vielen
Stellen seines Körpers hinterlassen hatte. Am Hals, aber besonders an Armen und Beinen zeugten
Narben von dem Angriff auf ihn. Deshalb sprach er nur selten über seine Zeit in Hamburg.
Als im letzten Jahr die Bilder vom Straßenkampf in der Schanze beim G20-Gipfel tagelang über den Bildschirm flimmerten und er mit ansehen musste, wie seine Kollegen von
den Dächern mit Steinen und Gehwegplatten beworfen wurden, da brachen die Dämme und er musste hemmungslos weinen. Enno wäre einer der MEK-Beamten gewesen, die auf die Dächer raufgingen, um schwerbewaffnet und mit Blendgranaten ausgestattet die
schwarz Vermummten einzukassieren. Zum Glück war Anke da, seine Lebensgefährtin, und nahm ihn in den Arm. Sie war eine von ganz wenigen Personen, die
Details über seine Zeit bei der Polizei wussten. Dinge, die ihn schließlich dazu gebracht hatten, den Dienst zu quittieren. Die anderen waren sein
Therapeut und Gesa, seine geschiedene Frau.
Inzwischen war das alles Vergangenheit. Hamburg und die harten Jungs vom MEK
hatte er hinter sich gelassen und er war doch in die ostfriesische Heimat zurückgekehrt, wenn auch nicht direkt auf seine Insel, so aber doch in deren
unmittelbare Reichweite, nach Wittmund. Häufig fuhr er hinüber nach Langeoog. Immer wieder gern über das Wochenende. Nach seiner Scheidung hatte er damit angefangen und seit
einiger Zeit begleitete ihn oft Anke. Dann wohnte er im Haus seiner Eltern, in
dem er sich ein kleines Appartement eingerichtet hatte, trank bei Muttern in
der Küche gemütlich Tee und klönte über alte und neue Zeiten.
Aber das Wichtigste, wenn er auf der Insel war, waren endlose Laufrunden am
Strand. Das machte den Kopf frei und hielt ihn fit. Überhaupt war der Sport das Einzige, was ihm aus seiner Zeit bei der Polizei
geblieben war. Jedenfalls das, was ihn mit Freude und Genugtuung erfüllte.
Das harte Klingeln des Handys riss Enno Jaspers aus seinen Gedanken. Er sah auf
das Display. Es war Anke.
»Moin, Enno. Wo bleibst du denn?«, begann sie, ohne abzuwarten. »Wolltest du nicht heute Abend ausnahmsweise mal frühzeitig da sein? Was ist los? Haben die Kaninchenzüchter eine Ausstellung, und keiner von deinen Kollegen hat Bock darauf, über etwas so Wesentliches zu berichten?«
Bei der Zeitung war er gelandet. Freier Mitarbeiter für Klatsch und Lokales bei den Wittmunder Nachrichten. Merkwürdige Karriere für einen ehemaligen MEKler. Aber für Enno war das vollkommen in Ordnung.
»Moin, Anke. Ja, ich freu mich auch, dich zu hören. Nein, keine kleinen Tiere heute. Dafür aber demnächst ein großes. Eines der ganz großen sogar, aus Hannover, du verstehst. Aber erzähl ich dir gleich, wenn ich zu Hause bin.«
»Und wo bist du jetzt?« In Ankes Stimme hörte Enno Besorgnis. Sie kannte ihn sehr genau, auch dass ihn die bitteren
Erinnerungen an die Ereignisse im Polizeidienst oft völlig ohne Vorwarnung heimsuchten und ihn außer Gefecht zu setzen drohten. Aber er hatte gelernt, damit umzugehen, genauso
wie Anke.
»Bin im Moment noch in Bensersiel und sitze am Hafen. Nach dem Termin in der
Nordseetherme, konnte ich nicht widerstehen und hab noch einen Moment den Blick
aufs Meer genossen. Na ja, und die alten Gedanken … Egal, ich mach mich jetzt sofort auf den Weg, versprochen. Es gibt übrigens spannende Neuigkeiten, von denen ich vor meinem Termin in Bensersiel in
der Redaktion erfahren habe.«
»Schön. Ich muss dir auch was erzählen. Also bis gleich.«
Enno wollte schon auflegen, als Anke sich noch einmal meldete. »In unserer Teedose ist übrigens schon wieder Ebbe. Bringst du bitte auf dem Weg Nachschub vom Teehaus
mit?«
»Klar doch. Die ostfriesische Spezialmischung?«
»Yep!«
Etwa dreißig Minuten später erreichte Enno die gemeinsame Wohnung in der Brückstraße. Am Ende der Fußgängerzone betrieb Anke Eilers ein Fotostudio und in den Räumen darüber lag ihr Zuhause. Seit gut einem Jahr lebte Enno dort mit seiner neuen
Lebensgefährtin. Ihm kam es vor wie ein stiller Hafen nach rauer See.
Bei den Wittmunder Nachrichten war er untergekommen, was schwierig genug war. Er
hatte schließlich nichts anderes gelernt, als Polizist zu sein. Aber als junger Mann war er
gelegentlich gebeten worden, für das Lokalblatt über Ereignisse auf Langeoog zu berichten. Nette Anekdoten aus dem Leben in
Ostfriesland. Die Touristen lasen so etwas gern. Das hatte ihm nach der Rückkehr die Türen der Zeitungsredaktion geöffnet.
Wie damals, waren auch heute Klatsch und Tratsch seine Hauptbetätigungsfelder. Allerdings wusste Enno, dass die Verantwortlichen bei der Zeitung
darauf gehofft hatten, ihn als Polizeireporter zu gewinnen. Aber genau das
wurde er nie. Er konnte es einfach nicht. Seine Erinnerungen ließen es nicht zu. Schließlich behelligte ihn sein Chef nicht mehr, zumal Enno, ohne zu murren, genau die
Aufträge übernahm, die sonst keiner wollte, eben die im Fachjargon sogenannten bunten
Themen.
Ennos damalige Frau Gesa hingegen war mit der neuen Situation weniger
zurechtgekommen. Und das ließ sie ihn spüren. Sie hatten sich auf der Polizeischule kennengelernt und die gemeinsame Zeit
in Hamburg war für Gesa die bisher schönste ihres Lebens. Sie Kommissarin bei der Kripo und Enno, ihr Held, einer von
den harten Jungs beim MEK. Er wusste schon damals, dass dieses Bild schief war,
aber Gesa wollte es nicht sehen.
Dennoch ging sie mit ihm nach Wittmund, was ihn sehr freute. Bei der Kripo dort
fand sich ein passender Posten. »Ich hab versprochen, mit dir durch Dick und Dünn zu gehen«, versicherte sie ihm. Aber im Laufe der Zeit betrachtete sie seinen Job als
freier Mitarbeiter bei den Wittmunder Nachrichten zunehmend mit Argwohn. »Warum kümmerst du dich nicht wenigstens um wirklich wichtige Themen?«, fragte sie ihn mit zunehmender Bitterkeit. »Sie wollen dich doch als Polizeireporter. Neulich hattest du die Gelegenheit,
von dem großen Brand auf dem Bauernhof an der Harle zu berichten. Dein Kollege Mäder war krank. Aber was machst du? Lehnst dankend ab! Stattdessen immer wieder
diese bescheuerten Loser-Aufträge! Jubiläen, Geburtstage und Kaninchenzüchter. Und zu unserem gemeinsamen Einkommen trägst du auch kaum etwas bei. Wenn ich mein festes Gehalt nicht hätte, kämen wir überhaupt nicht über die Runden. Aber der ehrenwerte Zeitungsredakteur leckt nach wie vor seine
alten Wunden. Ein Gelegenheitsschreiber bist du, ein elender Zeilenhengst! Wie
kann man nur einen sicheren Job als Beamter bei der Polizei aufgeben? Sie haben
dir doch einen anderen Posten angeboten, etwas mit weniger Risiko, im
Innendienst!«
Seit er die Polizei verlassen hatte, war Enno in Gesas Augen schlichtweg ein
Totalversager. Am Ende führte kein Weg an der Scheidung vorbei. Sie gingen getrennte Wege. Fast fünf Jahre war das inzwischen her. Und obgleich sie in derselben kleinen Stadt
lebten, sahen sie sich so gut wie nie.
»Du, dein Chefredakteur hat heute bei mir angerufen«, überfiel Anke Enno, kaum dass er die Wohnung betreten hatte. »Weißt du, dass der demnächst heiraten will? Eine Katharina Rehling. Kennst du die?«
»Nee, kenn ich nicht. Aber dass Raimund Brodersen heiraten will, das weiß ich. Die Chefs haben sich überlegt, dass wir davon berichten wollen, im bescheidenen Rahmen. Aber da der für Tourismus zuständige Minister für Wirtschaft, Arbeit und Verkehr aus Hannover kommen wird …«
»Wie jetzt?«, warf Anke überrascht ein. »Das war doch meine Neuigkeit.« Sie zuckte mit den Schultern, bevor sie weiterredete. »Ich hab übrigens gehört, dass Brodersen und der Minister sich seit der Kindheit kennen. Stimmt das?«
»Ja, und sie sind Parteifreunde. Unserem Chefredakteur werden außerdem Ambitionen nachgesagt, als Pressesprecher nach Hannover zu gehen. Der
Artikel ist deshalb wohl insgesamt eher eine PR-Aktion zu beiderseitigem
Nutzen. Aber egal, ist in jedem Fall ein netter Auftrag, unkompliziert, mit
einer schönen Feier und dann noch auf Langeoog. Ein bezahlter Spaßtag sozusagen. Und von den anderen wollte es natürlich wieder mal keiner machen. So what: Zeilengeld ist Zeilengeld.« Enno hielt inne. »Aber sag mal, woher weißt du das alles?«
»Weil Brodersen mich beauftragt hat, schöne Bilder von seiner Hochzeit zu machen. Freitag in zwei Wochen. Um kurz vor
Mittag geht’s los. Standesamt im Seemannshus.«
»Hab ich schon mal von gehört«, frotzelte Enno. »Ist ja gegenüber von meinem Elternhaus.«
»Da könnten wir doch schon am Abend zuvor rüberfahren und im Appartement bei deinen Eltern übernachten.«
»Foline und Ubbo werden sich bestimmt freuen«, begeisterte sich Enno. »Hey, klasse! Dann arbeiten wir zum ersten Mal, seit wir uns kennen, direkt
zusammen.« Er war kaum zu bremsen. »Das sollten wir feiern. Ich hab heute Abend keinen Termin mehr und du?«
»Ich auch nicht.«
»Was sitzen wir dann hier noch rum? Mir ist nach gehobener italienischer
Kochkunst.«
»Ja, nee, is klar. Pizza Quattro Stagioni für dich und für mich Prosciutto e Funghi.«
»Aber heute mit einem ordentlichen Roten dazu.«
»Aber naturalmente!«
2
Die Überfahrt auf die Insel war sicher die denkwürdigste, die ich je erlebt hatte. Wie häufig hatte ich diese Fähre schon benutzt? Ich wusste es nicht. Aber nie zuvor hatte ich ein solches
Kribbeln im Bauch. Das Gefühl von Macht war unbeschreiblich.
Ich hatte beschlossen, dort zu übernachten. Es war wichtig, ausgeruht zu sein für den großen Moment. Dennoch hatte ich in der Nacht nur dank einer Tablette gut und tief
geschlafen. Jetzt fühlte ich mich frisch. Der Tag konnte kommen.
Zunächst aber gönnte ich mir im Café Leiß ein ausgiebiges Frühstück, sozusagen zur Feier des Tages. Zu meiner Freude fand ich draußen vor dem Restaurant einen freien Platz, von dem aus ich das schon am Morgen
rege Treiben auf der Barkhausenstraße beobachten konnte. Nach kurzer Zeit stellte sich auch das Gefühl wieder ein, dass ich bereits gestern auf der Fähre gehabt hatte: Das Gefühl von Macht, weil ich etwas tun konnte, was keiner hier ahnte. Mehr noch: Ich
konnte es nicht nur tun, ich würde es auch tun! Die heile Welt der Urlauber, würde gründlich durchgeschüttelt werden. Ganz abgesehen natürlich von der heilen Welt dieses Mannes. Bei dem Gedanken gestattete ich mir zu
lächeln.
»Sie sehen so zufrieden aus«, sagte eine Dame am Nachbartisch. »Ist aber auch einfach wunderbar, hier zu sitzen, und das bei dem Wetter.«
»Ja«, pflichtete ich ihr bei, »wirklich ein ganz außergewöhnlicher Tag heute.«
Enno rieb sich den letzten Schlaf aus den Augen, stand auf und ging zum Fenster.
Er schob die Vorhänge zur Seite und schaute hinaus. Das Wetter sah gut aus. Genau richtig für die heute bevorstehenden Ereignisse. Seit Tagen schon stand ein stabiles Hoch über der Nordsee, und der Ostwind, der Schönwetter-Wind, wehte gleichmäßig. Er öffnete das Fenster, um die frische Morgenluft hereinzulassen. Dann beugte er
sich ein wenig vor und konnte nun schräg gegenüber, leicht erhöht auf einem Dünenhügel, das historische Seemannshus sehen. Dort in der Friesenstube würde die Hochzeitszeremonie stattfinden. Ein wunderbarer Ort für eine Trauung, das musste er zugeben. Auch seine Anke bekam leicht glänzende Augen, wenn sie davon erzählte. Das ließ Enno auf eine Idee kommen, die ihn vollkommen überraschte. Dort könnten sie, Anke und er, doch auch heiraten. Also irgendwann vielleicht, fügte er seinem Gedanken rasch hinzu. Gebranntes Kind scheut das Feuer. Eine so
weitreichende Entscheidung wollte gut überlegt sein und durfte nicht im Vorbeigehen besprochen werden. Zu Ende gedacht
war die Idee für ihn deshalb keineswegs. Er schüttelte den Kopf und bemerkte, dass Anke hinter ihm stand und ihre Arme um ihn
schlang.
»Hey! Guten Morgen, Liebling. Auch so gut geschlafen?«
»Oh ja, wie immer, wenn ich hier auf deiner Insel bin. Ich hab sie so richtig schätzen gelernt. Übrigens nicht nur Langeoog, sondern auch deine Eltern. Foline und Ubbo, was für wunderbare ostfriesische Namen. Schade, dass es deinem Vater nicht besonders
gutgeht.«
»Ja, stimmt. Du hättest ihn früher mal erleben sollen. Ein Bär von einem Mann, von einem Seemann, um genau zu sein. Aber nach dem
Schlaganfall vor ein paar Jahren … Na ja, wie es heute um ihn steht, weißt du ja selbst. Wenigstens hat er seine Sprache nicht verloren, auch wenn er
nicht mehr gut zu Fuß und auf den Rollator angewiesen ist.«
»Das ist auch für deine Mutter nicht leicht. Ich finde es übrigens toll, wie sie uns hier in Ruhe lässt. Nie drängt sie sich auf. Wenn wir in diesem Appartement sind, habe ich nie das Gefühl, in deinem alten Zuhause zu sein, sondern ganz in unserem eigenen Reich.« Anke zögerte einen Moment. Sie sah ihn an, als ob sie ihren Lebensgefährten testen wollte. »Nicht alle Schwiegermütter sind so«, ergänzte sie schließlich, als Enno sich nicht äußerte. Noch einmal schmiegte sie sich an ihn an.
Enno schloss die Augen und genoss den Moment. »Ich bin sehr glücklich, Anke, dass es dich gibt. Ich liebe dich.«
»Ich dich auch«, seufzte sie. »Ich dich auch.«
Einen kurzen Moment hielten sie sich noch gegenseitig fest. Dann löste sich Enno. »Ist schon halb acht. Wenn du mich fragst, eine herrliche Zeit, um auf die
morgendliche Laufrunde zu gehen. Läufst du mit? Keine allzu große Tour, aber ganz ohne kann ich nicht sein. Erst recht nicht, wenn ich bedenke,
was heute noch alles auf uns zukommt.«
»Ach nee, lass man. Ich möchte mich in Ruhe vorbereiten und muss auch noch anprobieren, was ich nachher
anziehe. Aber vergiss bitte nicht die Zeit. Foline will heute ja Frühstück für uns machen. Das sollten wir in Ruhe genießen. Denk einfach an ihren wunderbaren Tee.«
»Ja, ja. Schon gut. Ich bleib nicht lange, aber ich muss unbedingt über die Dünen gucken.«
Eine Viertelstunde später kam er flott die Treppe herunter und hörte bereits seine Mutter in der Küche hantieren. Tatsächlich setzte sie Teewasser auf. Enno war kaum überrascht, dass sie sofort, als sie ihn bemerkte, aus der Küche in den Flur trat, um ihm noch etwas mit auf den Weg zu geben. Ihm gegenüber war und blieb sie die Mutter.
»Wann ist die Hochzeit?«, fragte sie, die Kanne mit dem heißen Wasser noch in der Hand.
»Um halb eins. Ist also noch Zeit«, versuchte Enno zu beruhigen.
»Bleib trotzdem nicht zu lange. Wir wollen doch nachher noch zusammen frühstücken.«
Unwillkürlich rollte Enno mit den Augen. Als ob er das nicht selbst genau wüsste. Mutter konnte es mal wieder nicht lassen.
»Nein, Mutter, nur die kleine Runde. Ich hab die Zeit im Blick.«, rief er zurück, ohne sich umzudrehen. Dann aber, als er das Gartentor zwischen den wilden
Rosenbüschen öffnete, hielt er eine Sekunde inne und wartete auf den unvermeidlichen Nachsatz.
»Vater macht sich auch Sorgen, du könntest am Strand wieder alles um dich herum vergessen. Das hast du schon als
kleiner Junge getan.«
Klar doch, dachte Enno, Vater. Der sitzt bereits gemütlich bei seiner ersten Tasse Tee und wird sich später mit den alten Seekarten zurückziehen, um mit dem Finger die alten Touren nachzuzeichnen. Einige Male hatte
Enno ihn heimlich beobachtet, wie er dabei ein paar Tränen verdrückte. Oder er schaute sich YouTube-Filme von der christlichen Seefahrt an. Enno
hatte ihm vor einiger Zeit gezeigt, wie das geht.
Auf der Straße wandte Enno sich wie immer nach links und verfiel bald in seinen Laufschritt.
Es ging die Mittelstraße hinunter. Das Seemannshus, in dem nachher die Standesbeamtin die entscheidende
Frage an seinen Chef und dessen neue Flamme stellen würde, ließ er rechts liegen. Vorbei an der katholischen Inselkirche erreichte er den
Weststrand. Dort, wo der Weg durch die Randdünen führte, genoss er einen kurzen Moment lang den Blick aufs Meer. Das machte er
jedes Mal auf seiner Tour. Was für ein wunderbarer Morgen. Strandwetter, wie es im Buche stand. Die Feriengäste würde es freuen. Auch das schönste Bilderbuchwetter für die Hochzeit. Ankes Fotos würden echte Eyecatcher, eins oder zwei würden seinem Bericht die nötige Aufmerksamkeit verleihen.
Enno sah auf die Uhr. Fast halb neun. Das hieß, er musste schleunigst zurück. Er seufzte. Die winzige Runde hatte sich im Grunde gar nicht gelohnt.
Normalerweise wäre er mindestens bis zum Übergang an der Kite-Schule gelaufen, aber dafür war heute keine Zeit. Also warf er noch einen Blick auf Strand und Meer – einfach fantastisch diese Aussicht über die Accumer Ee hinüber zur Nachbarinsel Baltrum und sogar darüber hinaus bis nach Norderney – dann machte er kehrt und lief denselben Weg zurück, den er gekommen war.
Als er wieder vor dem Elternhaus eintraf, war es genau, wie er vermutet hatte.
Foline stand schon in der Tür und sah ihn mahnend an.
»Ja, ja, ist schon gut. Ich dusch mich schnell und dann komm ich. Ist Anke schon
unten?«
»Natürlich, was dachtest du denn?«
Wenig später saßen sie alle auf der Terrasse beim Frühstück. Eine Ausgabe seiner Zeitung lag dort. Von ihm stand heute kein Artikel drin.
Aber die Schlagzeile auf der ersten Seite kannte er.
Neue Umgehungsstraße in Bensersiel gesperrt!
Muss illegale Strasse jetzt zurückgebaut werden?
Nein, kein Gespräch über den Aufreger der Woche heute Morgen, dachte er. Doch sein Vater wollte genau
das. »Was ist das eigentlich für ein elender Mist, den die alte Verwaltung in Esens da verzapft hat?«, polterte er los. »Wieso haben die denn mitten in das Vogelschutzgebiet gebaut?«
»Na ja, irgendetwas ist offenbar gründlich schiefgelaufen.« Enno blieb einsilbig. »Wir können sicher gespannt sein, wie’s weitergeht.« Was ihn anging, war das Thema damit erledigt.
»Und wie läuft das so ab heute?«, wechselte Foline das Thema. »Bei der Hochzeit, meine ich. Seid ihr den ganzen Tag auf den Beinen, bis abends
spät?«
»Wird wohl so sein«, seufzte Anke. »Für mich ist das ein richtig großer Auftrag, der entsprechend bezahlt wird. Wir haben ein sehr ordentliches
Grundhonorar vereinbart, was die Erstellung eines Fotobuches beinhaltet. Für Bilder, die in Zeitung oder Internet veröffentlicht werden, gibt es dann noch einmal einen Aufschlag.« Sie war sichtlich stolz.
»Anke trägt absolut die Hauptlast heute«, bekräftigte Enno. »Ich selbst hab ja nur eine halbe Seite bekommen. Bei einem großen und einem kleinen Foto bleibt da gar nicht viel Text übrig.«
»Kannst du nicht versuchen, in die Nähe des Ministers zu kommen? Vielleicht hat er ja auch eine Meinung zu der
Umgehungsstraße«, brachte sein Vater das Thema noch einmal ein.
»Am Rande einer Hochzeitsfeier?« Foline war skeptisch.
»Warum nicht«, pflichtete Enno seinem Vater nun doch bei. »Wer nicht wagt, der nicht gewinnt. Diese Politiker sind doch alle auf Publicity
aus. Erst recht in Wahlkampfzeiten wie im Augenblick. Einen Versuch ist es in
jedem Fall wert. Und je nachdem, wie es ausgeht, rutscht der Artikel von der
bunten Abteilung sicher weiter nach vorn.«
»Na, denn man tau!«, schloss Ubbo diese Diskussion ab.
Schließlich widmeten sich alle wieder ihrem Frühstück. Ubbo goss sich fast andächtig Tee ein. Das tat er genauso, wie es die Fremdenführer den Touristen immer erklärten: Erst ein Kluntje in die Tasse geben, dann den heißen Tee vom Stövchen darübergießen, dass der Zucker knistert und zum Schluss die flüssige Sahne mit einem kleinen Löffel vorsichtig am Rand auf den Tee legen, damit sie, nachdem sie abgesunken
ist, in Wölkchen wieder aufsteigen kann. Und auf keinen Fall umrühren! Enno fand das immer wieder belustigend, auch wenn er selbst ebenfalls ein
großer Teefan und Teekenner war. Aber sein Vater war der Einzige seiner Freunde und
Verwandten, der die althergebrachte Teezeremonie jeden Tag mit großer Hingabe praktizierte. Die meisten hatten im Alltag überhaupt nicht die Zeit für diesen Schnickschnack, wie Enno es gelegentlich nannte. Für die Touristen wurde der Brauch natürlich hochgehalten. und in jedem Reiseführer beschrieben.
»Eine Frage habe ich noch. Kommt ihr zwischendurch mal vorbei? Oder seid ihr die
ganze Zeit beschäftigt?« Das war Foline wichtig. »Ich mein ja nur, ob ihr vielleicht zum Essen kommt?«
»Wahrscheinlich nicht. Es sei denn, es passiert irgendein Malheur und ich muss
mich umziehen«, gab Enno schmunzelnd zurück. »Wenn alles glattgeht, wird es heute Abend sicher spät. Anke wird auch von der Feier im Strandkrug Fotos machen. Und wie lange so was
geht ... Na ja, das könnt ihr euch ja denken.«
»Und wann geht’s los?«
»Um zwölf müssen wir an Brodersens Ferienhaus sein. Dort wird er mit seiner Braut von Edzard
in der Hochzeitskutsche abgeholt und dann fahren sie zum Seemannshus.«
»Mit der weißen?«
»Vermutlich. Heute bestimmt offen.« Anke hatte geantwortet und glänzende Augen bekommen, als sie ihren Lebensgefährten dabei ansah. Foline bemerkte das und konnte ein Schmunzeln kaum unterdrücken. Aber dass es ihm selbst auch gefiel, registrierte Enno mit einer Mischung
aus Überraschung und Zufriedenheit.
»Die Gäste werden entweder aus dem Hotel oder vom Bahnhof mit mehreren Planwagen
abgeholt und alle treffen sich um halb eins zur Trauung.«
»Und der Minister?«
»Hat schließlich ein Haus auf der Insel und kommt vermutlich ohnehin mit dem Hubschrauber.
Vielleicht stößt er aber auch erst später dazu. Würd mich nicht überraschen.«
»Nach dem Standesamt gibt es eine Rundfahrt mit den Kutschen zum Strand und bis
zum Hafen«, ergänzte Anke. »Ich habe mehrere Fotostopps eingeplant, natürlich die unvermeidlichen Bilder am Flutsaum, aber auch im Teehaus, so richtig
mit Teezeremonie.«
»Wie viele Gäste werden überhaupt erwartet?« Folines Neugier ließ nicht nach.
»Genau weiß ich es nicht, da müsste ich nachsehen. Brodersen hat mir einen genauen Ablaufplan gegeben, ich
meine, da stünde die Teilnehmerzahl drauf. Die Liste liegt oben bei meinen Sachen. Das waren
allerdings gar nicht so besonders viele. Gut fünfzig nur, glaube ich.«
»Brauchst du noch lange, Schatz?« Enno stand unten im Flur an der Treppe und sah auf die Uhr. Schon elf. »Wenn du von jedem, der kommt, Fotos machen willst, müssen wir aufbrechen.«
»Bin schon so weit«, rief Anke durch die halb geöffnete Tür. Dann schob sie ihren Rollenkoffer mit den Fotoutensilien hinterher. »Könntest mir ja mal dabei helfen.«
»Sicher. Aber dann lass uns losgehen.«
Enno stieg die schmale Treppe hinauf und schnappte sich die Tasche. »Wow«, entfuhr es ihm, als seine Lebensgefährtin in diesem Moment die Tür ganz öffnete und auf den Treppenabsatz trat. Sie trug ein Kleid in dunklem pink und
schlichter Linienführung, das ihre sportliche Figur betonte, ohne aufdringlich zu wirken. »Neu? Ich dachte, du nähmst sicher das hellblaue, das du sonst immer trägst.«
»Schön, wenn es dir gefällt. Ich dachte, zu diesem Anlass … Ich habe es während des Fotoshootings für den Modeprospekt in Oldenburg bei einem Model gesehen und mich sofort darin
verguckt. Steht mir doch auch, oder? Okay, bei mir in einer anderen Größe. Kennst ja diese Damen: fast eins achtzig groß, aber Kleidergröße 36.«
»Oh ja, unglaublich. Du bist ein Meter achtundsechzig und hast Größe 38. Skandalös! Ich finde, daran solltest du arbeiten, unbedingt.«
»Du Blödmann«, gab Anke zurück. »Mit so was spaßt man nicht.« Aber an ihrem Lachen merkte Enno, dass sie es genauso wenig ernst gemeint
hatte, wie er selbst. Ihr Humor passte einfach zueinander.
»Und wie findest du es nun? Kann ich so gehen?«
»Ja, unbedingt! Sieht super aus. Aber warum hast du es mir nicht schon vorher
gezeigt?«
»Sollte eine Überraschung werden«, sagte sie mit einem entwaffnenden Lächeln. »Der Mann soll doch schließlich das Kleid der Frau nicht vor der Hochzeit sehen«, setzte sie spitzbübisch nach.
Einen Moment verschlug es Enno die Sprache. »Äh, wie jetzt?«, stammelte er. »Aber wir sind doch nicht das Hochzeitspaar, sondern Brodersen und seine neue
Flamme.«
»Ach, tatsächlich. Sieh mal einer an.« Seine Mutter kam zu ihnen in den Hausflur, um sie zu verabschieden. Und auch
Ubbo bemühte sich schwerfällig auf den Rollator gestützt aus seinem Zimmer.
»Mast und Schotbruch, min Jung. Und halt die Ohren steif!«, sagte er. »Du natürlich auch, min Deern. Ihr macht das schon.« Etwas unbeholfen, klopfte er seinem Sohn und Anke auf die Schultern. Mit der
zweiten Hand hielt er sich krampfhaft am Rollator fest. Für Enno war der Anblick schwer zu ertragen.
3
Zunächst war alles ein theoretisches Planspiel gewesen. Aber jetzt wurde es ernst.
Es gab keinen besseren Zeitpunkt, den Entschluss Wirklichkeit werden zu lassen.
Welch ein Paukenschlag! Auf einer Hochzeitsfeier mit erlauchten Gästen! Mehr öffentliche Aufmerksamkeit war nicht zu bekommen.
Erschießen, erstechen, erwürgen? Ich hatte lange darüber nachgedacht, wie ich es machen würde. Ihm ohne viel Federlesens die Kehle durchschneiden? Das Schwein
abschlachten wie ein Stück Vieh! Ihn ausbluten lassen. Nein, lieber doch nicht. Ich wollte mich nicht
besudeln mit seinem Blut.
Schließlich wusste ich, wie ich vorgehen musste. Durch ein Gift würde er sterben.
Nach dem Frühstück schlenderte ich durch die Straßen des Ortes. Die Zeit wurde lang. Trotz der Gefahr, erkannt zu werden, konnte
ich nicht dem Gedanken widerstehen, zum Seemannshus zu gehen, um das Schauspiel
anzusehen, das dort heute gegeben werden sollte.
Der Weg zu Brodersens Ferienhaus führte Enno und Anke mitten durch den Ort. Es lag in der Straße »Am Wall«. Nach der Scheidung von Ute, seiner ersten Frau, hatte er mit ihr in heftigem
Streit um das wunderschöne alte Haus gelegen. Das jedenfalls geisterte beharrlich als Gerücht über die Flure der Redaktion. Wie auch immer. Am Ende war es offensichtlich bei
Raimund Brodersen verblieben.
Für Enno war es der schönste Teil des alten Dorfes, durch den sie nun gingen, die Straßen hinter dem Rathaus. Die alten Backsteinhäuser strahlten einen gemütlichen Charme aus, ebenso die gründlich zugewachsenen Gärten.
Natürlich fielen sie auf in ihrer festlichen Kleidung und der ein oder andere
Feriengast schaute sich verwundert um. Urlaubsoutfit herrschte vor auf der
Insel, heute die sommerliche Variante, Shorts und T-Shirts. Bei schlechtem
Wetter hatte Funktionskleidung inzwischen die früher allgegenwärtigen Ostfriesennerze fast vollständig abgelöst. Kein Wunder, musste Enno immer wieder denken, diese luftundurchlässigen, gelben Jacken schützten zwar vor dem Regen, dafür war man von innen schon nach kurzer Zeit vollkommen durchgeschwitzt. Sie waren
den neuen Outdoorjacken hoffnungslos unterlegen.
Nach gut zwanzig Minuten erreichten sie das Haus. Auf jeden Fall rechtzeitig
genug. Anke hatte ausreichend Zeit, ihre Ausrüstung an den Start zu bringen. Unglaublich, was Fotografen an Equipment mit sich
herumschleppen müssen, dachte Enno nicht zum ersten Mal.
Schließlich meldete Getrappel das Kommen der Hochzeitskutsche an. Ein wenig überrascht stellte Enno fest, dass es sogar zwei waren, eine weiße und eine braune, aber beide offen und dem Anlass entsprechend mit
Blumengirlanden herausgeputzt. Gezogen wurden die Wagen von wunderbaren
Pferden, vor dem braunen zwei Rappen und, na klar, dachte Enno, vor dem weißen zwei Schimmel.
»Moin, Jaspers!« Ennos Aufmerksamkeit wurde in eine andere Richtung gelenkt. Hinter ihm öffnete sich die Tür des Hauses und sein Chef trat heraus. Bereits im feinsten Zwirn. Offenbar
italienischer Maßanzug, seidig in kobaltblau glänzend, blütenweißes, vermutlich ebenfalls maßgeschneidertes Hemd mit Kent-Kragen, passende Weste, eine feine Seidenkrawatte
und natürlich ein Einstecktuch. Enno war beeindruckt. So hatte er seinen Chef noch nie
gesehen. Ein Blick auf Anke verriet ihm, dass es ihr ebenso ging.
»Nun, Frau Eilers, kann ich mich so sehen lassen? Komme ich auf Ihren Fotos damit
gut rüber?«, wandte Brodersen sich nonchalant an Anke.
»Doch, doch, unbedingt«, gab die Angesprochene zurück. »Aber Sie sollten die Braut nicht übertreffen.«
Enno sah, wie sein Chef bei dieser Bemerkung schlucken musste. Allerdings kam
jetzt Katharina Rehling, die zukünftige Frau Brodersen, zur Tür heraus und zog alle Blicke mit Macht auf sich. Ein umwerfendes Kleid, ein
Traum in weißer, floraler Spitze mit leicht ausgestelltem Rock und bei Anke schon wieder
dieser funkelnde Blick, der Enno inzwischen fast nicht mehr überraschte. Das Dekolleté zierte ein leuchtender Rubin, getragen an einer dezenten Halskette in Weißgold. Aber funkelten da nicht auch noch ein paar kleine Brillanten um den roten
Stein herum? In der Hand hatte die Braut einen Strauß Rosen, deren Farbe das Rubinrot des Colliers aufnahm. Enno versuchte, sich
jedes Detail einzuprägen, damit er später darüber berichten konnte. Ein Glück, dass Anke so viel fotografierte. Die Bilder würden ihm helfen.
Begleitet wurde Katharina Rehling von den Brautführern, ihrem Bruder Carsten und dessen Frau Conny. Sie in einem dunkelroten
eleganten und bodenlangen Kleid mit schmalen Trägern. Das Rot des Schmuckes und der Rosen der Braut spiegelte sich darin gekonnt
wider. Er in einem dezenten, blauen Anzug, ähnlich dem Kobaltblau des Bräutigams, ohne es vollständig zu kopieren. Auch in Stoffart und Schnitt blieb er sicher mit Absicht
dahinter zurück.
Anke forderte die gesamte Gruppe auf, sich vor dem Haus aufzustellen, um ein
Foto von allen zu machen. Ein beeindruckendes Bild, besonders durch die perfekt
aufeinander abgestimmten Farben.
Würdevoll bestiegen alle vier die bereitstehenden Wagen. Ja, auch das war ein schönes Bild: das Brautpaar in der weißen Kutsche mit den Schimmeln. Geradezu märchenhaft. Andererseits, in der Symphonie aus weiß stach der kobaltblau gekleidete Bräutigam stärker heraus als die Braut. Lag darin eine Absicht? Wollte er im Mittelpunkt
stehen und seine junge Frau auf diese Art doch ausstechen, wie Anke schon
angedeutet hatte?
In der zweiten Kutsche machten die Brautführer einen ebenso eleganten Eindruck. Aber unzweifelhaft verstand es erneut
Brodersen, die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, indem er seiner Braut betont
galant in die Droschke half. Enno ermahnte sich still, sich nicht in solchen
negativen Betrachtungen zu verlieren, das unablässige Klicken von Ankes Kamera klang wie eine Mahnung. Er sollte einen insgesamt
positiven Bericht abliefern. Alles, was dem entgegenstand, musste er
ausblenden. Es galt, professionell zu handeln.
Als die Kutschen losfahren wollten, kam der schwierigste Teil, eine echte
sportliche Herausforderung. Anke fotografierte, wie sich die Pferdegespanne in
Bewegung setzten, dann mussten sie sich sputen, um noch vor den Kaleschen am
Seemannshus zu sein. Gut, dass Brodersen darauf bestanden hatte, eine
ausgiebige Runde zu fahren, zuerst über die Barkhausenstraße mitten durch das touristische Gewimmel, und dann über Hauptstraße, Kirch- und Mittelstraße bis zum Ort der Trauung. Umständlicher hätte man kaum fahren können, aber die Wirkung war natürlich enorm. Nun, Enno und Anke sollte es recht sein, denn so blieb genug Zeit,
um vor der Hochzeitskutsche an Ort und Stelle zu sein. Gute Bilder waren also
garantiert.
Der Hufschlag der vier Pferde auf der Mittelstraße war schon von Weitem zu hören. Enno blieb der genaue Beobachter. Nur gelegentlich machte er sich ein paar
Notizen. Anke hatte schon wieder ihre Kamera gegriffen und lief den Gespannen
entgegen, die jetzt in den Caspar-Döring-Pad einbogen und vor dem Seemannshus anhielten. Jeder Augenblick, jeder
Schritt der Brautleute musste dokumentiert werden. Besser hundert Fotos zu
viel, als auch nur eines zu wenig, das hatte sie Enno klar und deutlich zu
verstehen gegeben. Was hätte er dagegen haben können? Die Zuständigkeiten zwischen ihnen beiden waren klar geregelt. Er redete ihr nicht in
ihre Fotos hinein, sie nicht in seinen Text.
Natürlich kam jetzt in die Menge der schon wartenden Gäste Bewegung. Alle wollten den besten Blick auf die Hauptpersonen haben. Betont
behände sprang der Bräutigam vom Wagen, um Katharina Rehling herauszuhelfen. Fast hätte sich das Kleid beim Aussteigen verheddert. Aber Brodersen ordnete es mit großer Geste.
Vorbei am Spalier der Gäste schritten die Brautleute gefolgt von den Brautführern durch das Törchen und den kleinen Dünenhügel hinauf zum Eingang des Hauses. Das zweihundert Jahre alte Seemannshus diente
nicht nur als Standesamt der Inselgemeinde, sondern war auch Heimatmuseum.
Seinen Namen hatte es von der Familie Seemann erhalten, die lange darin gelebt
hatte.
An der Eingangstür begrüßte die Standesbeamtin Brautleute und Brautführer und führte die vier ins Hochzeitszimmer. Für Gäste gab es fast keinen Platz. Enno blieb mit ein paar anderen an der Tür zum kleinen, mit historischen Gegenständen eingerichteten Raum stehen, während Anke versuchte, sich in der Stube so unauffällig wie möglich zu bewegen, immer auf der Suche nach dem jeweils optimalen Blickwinkel.
Angenehm und würdevoll gestaltete die Beamtin die Zeremonie und nach dem obligatorischen »Sie können die Braut jetzt küssen« und dem Abspielen der historischen Hochzeitsspieluhr, war das Ganze auch schon
vorbei und es ging wieder nach draußen, wo die Wartenden die frisch Vermählten mit lautem Jubel empfingen.
Enno bemerkte, dass sich auf der Straße vor dem Heimatmuseum auch eine große Schar von zufälligen Zuschauern eingefunden hatte, die die Attraktion einer großartigen Hochzeit nicht verpassen wollten. Er gesellte sich zu ihnen, um ein
wenig zu lauschen. So bekam er mit, wie darüber gerätselt wurde, wer hier in großem Stil heiratete.
»Soll irgendein hohes Tier bei der Zeitung in Wittmund sein«, hieß es. »Der Eigentümer vielleicht.« Enno korrigierte, dass es der Chefredakteur sei, und nutzte die Gelegenheit,
die Umherstehenden nach ihren Eindrücken zu fragen. Solche Stimmen »aus dem Volk« machten sich in einer Reportage immer gut.
Fast hätte er darüber allerdings die besondere Aktion verpasst, die hier am Seemannshus inzwischen
Tradition hatte. Ein Klinkerstein mit den Initialen der Brautleute und dem
Hochzeitsdatum wurde in das Pflaster im Hof des Hauses eingebracht. Eine
Arbeit, die dem Bräutigam und der Braut zukam. In noblem Anzug und Brautkleid ein nicht ganz
einfaches Unterfangen. Dennoch verlief das in der Regel problemlos, auch
deshalb, weil das nötige Werkzeug bereitgehalten wurde und der Ablauf selbst einfach war. Ein
normaler Stein musste zunächst entfernt und dann durch den Hochzeitsstein ersetzt werden. Mutig nahm
Raimund Brodersen den Emaileimer, in dem sich alles befand, was er für die Kostprobe seines handwerklichen Geschickes benötigte, neben einer Maurerkelle auch ein Hammer. Mit der Kelle in der Hand
versuchte er nun, den bereits gelockerten Stein aus dem Verbund mit den anderen
zu lösen. Aber wie er’s auch anstellte, er bekam ihn nicht heraus. Schon waren aus den Reihen der Gäste die ersten Kommentare zu hören.
»Ja, ja, im feinen Zwirn verlernt so mancher das richtige Arbeiten.«
»Warum hat ihm denn keiner vorher gezeigt, wie’s geht?«
Auch diese kuriose Einlage hielt Anke mit der Kamera fest. Schließlich griff die Braut unter dem Gejohle der Zuschauer nach der Kelle und nahm die
Sache selbst in die Hand.
»Oh nein, das schöne Kleid«, tönte es jetzt aus der Menge. Aber die Braut ließ sich nicht beirren. Diese Sache hier musste zu Ende gebracht werden. Und das
tat sie dann. Leicht löste sich der zuvor so widerspenstige Stein und sie konnte den Namensklinker ohne
Schwierigkeiten einfügen. Ein letzter kleiner Schlag mit dem Gummihammer und die Sache war geritzt.
Triumphierend erhob sie sich und reckte das Werkzeug unter dem frenetischen
Beifall der Anwesenden in die Höhe.
»Super! Bravo!«, tönte es besonders aus weiblichen Kehlen. Aber auch: »Hauptsache, einer weiß, wo der Hammer hängt.« Und sogar: »Raimund, pass auf, dass du nicht unter die Räder kommst!« Das waren natürlich männliche Gäste.
»Keine Sorge«, ging Brodersen auf die Zwischenrufe ein. »Wir sind ein Team. Was der eine nicht kann, kann die andere. Zusammen sind wir
unschlagbar. Denkt an meine Worte.« Und dann umarmte er seine Frau und sie küssten sich unter dem erneut aufbrausenden Beifall der Zuschauer.
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