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Marathonläufe und Reiseabenteuer in den extremsten Ländern der Welt, von der brutalen Diktatur Nordkoreas in das Reich der Mullahs, von der glühenden Wüste Somalilands in das Kriegsgebiet von Mogadischu über die Berge Afghanistans und des Irak. Atemberaubende Landschaften, unvergessliche Begegnungen, unglaubliche Abenteuer an gefährlichen, mysteriösen, unbekannten und nahezu unerreichbaren Orten. „In Nordkorea ist es uns strengstens verboten, den Streckenverlauf zu verlassen, welcher von der Volksarmee, der Polizei und Agenten der Geheimdienste überwacht wird.“ „Im Iran sind die einzigen Zuschauer Polizisten und Militärs, die den gesamten Lauf überwachen; weiteres Publikum gibt es nicht und den Frauen ist die Teilnahme verboten.“ „In Afghanistan bringt uns die Luftflotte der Vereinten Nationen zum Austragungsort des Marathons, welcher, aus Angst vor Anschlägen der Taliban, nur am allerletzten Moment bekannt gegeben wird.“
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Seitenzahl: 256
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VORWORT
NORDKOREA
Laufen für den geliebten Führer
IRAN
Laufen im Land der Mullahs
JAMAIKA
Der Reggae Marathon
SOMALILAND
Die verborgene Perle
AFGHANISTAN
Der Geheime Marathon
IRAK
Ein Lauf in den Bergen Kurdistans
SOMALIA
Laufen mit Personenschutz
EPILOG
Die Große Moschee thront inmitten des zerstörten Häusermeers von Mogadischu. In der als die „Weiße Perle des Indischen Ozeans“ bekannten somalischen Hauptstadt tobt seit Jahrzehnten ein außer Kontrolle geratener Bürgerkrieg.
MOGADISCHU, SOMALIA – NIRGENDWO ANDERS MÖCHTE ICH JETZT SEIN
„Meine Füße sind schwer. Mühsam steige ich die letzten Stufen zum Dach des Jazeera Palace Hotels empor: Ein letztes Mal möchte ich den afrikanischen Sonnenuntergang genießen.“
Ich befinde mich in Mogadischu, der Hauptstadt Somalias, des „gescheiterten Staates“. Sie ist die gefährlichste Stadt der Welt. Ein Kriegsgebiet, in dem sich eine Regierung, die nur wenige Bereiche der Stadt unter Kontrolle hat, mit gnadenlosen Warlords, verstreuten Milizen und der islamistischen Terrorgruppe al-Shabaab erbitterte Kämpfe liefert.
Der Tag hatte bereits früh mit meiner Teilnahme am Mogadishu Marathon begonnen. Ein Lauf, der von Mitarbeitern der Vereinten Nationen und Soldaten internationaler Hilfstruppen organisiert wird. Er wurde innerhalb der sogenannten Green Zone (Hochsicherheitszone für die Eliten) ausgetragen, flankiert von Militärbaracken auf der einen Seite und der Küste des Indischen Ozeans auf der anderen, immer in unmittelbarer Nähe des internationalen Flughafens Aden Adde. Obwohl der Streckenverlauf vollständig von Soldaten der Afrikanischen Union überwacht wurde, konnte aus Sicherheitsgründen nur ein Halbmarathon ausgetragen werden.
Aber es fordern auch „nur“ 21 Kilometer unter der sengenden Sonne Afrikas ihren Tribut, und so erklimme ich erschöpft die letzten Stufen, die mich auf die Dachterrasse meines Hotels führen. Sowie ich diese erreiche, hole ich tief Luft. Sie ist noch warm und gesättigt mit dem unverwechselbaren Geruch des Schwarzen Kontinents, einem Gemisch aus Wüstensand, Meersalz, Rauch und Insekten. Ein Geruch, den man jedes Mal schnell vergisst, sobald man Afrika verlassen hat, der einen jedoch bei jeder Rückkehr sofort wieder umhüllt. Ich inhaliere ihn, als wolle ich ihn mitnehmen, weit hinauf in den Norden, wo die Luft jetzt im Winter kalt und fast geruchlos ist. Unter mir färbt sich jene Stadt, die einst die „Weiße Perle des Indischen Ozeans“ genannt wurde, im Licht der untergehenden Sonne allmählich tiefrot, was unweigerlich an das viele Blut denken lässt, das hier vergossen wurde.
Mein Blick schweift in die Ferne, über den immer noch in grünen, blauen und orangenen Farbtönen glitzernden Ozean, hin zum internationalen Flughafen von Mogadischu, wo trotz fortschreitender Dunkelheit die eleganten weißen Flugzeuge und Hubschrauber der Flotte der Vereinten Nationen noch leicht auszumachen sind. Ich erkenne Häuser, großteils zerstört durch Bomben und Einschusslöcher, und die Große Moschee, die immer noch majestätisch und unbeschädigt über der Stadt thront.
Auf der dem Meer entgegengesetzten Seite treffen meine Augen auf jenen Feuerball, der alles Leben und Sterben auf unserer Erde bestimmt – nirgends jedoch so machtvoll und kompromisslos wie auf diesem Kontinent. Alles wird von ihm nun rot eingefärbt – ein letzter Gruß, bevor er sich für ein paar Stunden zurückzieht und dieser heißen Erde einen kurzen Waffenstillstand gönnt. Mit seinem Untergang tritt sofort eine alles umhüllende Dunkelheit ein. Die Luft jedoch kühlt nicht mit derselben Geschwindigkeit ab.
Die eingetretene Stille dauert nur wenige Augenblicke: Plötzlich zerreißt eine schnelle Reihe von Schüssen die Dunkelheit. Dieser Klang erinnert mich an aufplatzendes Popcorn, das meine Mutter früher meinen Geschwistern und mir zubereitete. Auch der unregelmäßige Rhythmus der Schüsse ähnelt jenem der im heißen Öl explodierenden und gegen den Deckel der Pfanne schlagenden Maiskörner. Instinktiv trete ich einen Schritt zurück, obwohl es ziemlich klar ist, dass sich der Schusswechsel weit genug entfernt abspielt. Ich halte nach Menschen auf den dunklen Straßen Ausschau, doch sehe ich niemanden. Wer kann, hat sich mittlerweile in sein Haus – oder in das, was davon übrig geblieben ist – zurückgezogen. Ich stelle jedoch fest, dass die Wachen meines Hotels, das mehr einem Hochsicherheitsgefängnis als einem Luxushotel ähnelt, nicht im Mindesten alarmiert sind. Und jene, die auf den Wachtürmen stationiert sind, haben sich nicht einmal erhoben, um nachzusehen, was da gerade im Gange ist. Die Schüsse enden und ich entspanne mich wieder. Sogleich beginnt auch wieder das unverkennbare Gezirpe der Grillen und Heuschrecken – mindestens ebenso laut wie soeben noch die Schüsse.
Bewegungslos stehe ich da und nehme alles in mich auf: die Luft, die Gerüche und die Geräusche von Mogadischu.
Ich sehe mich um: In der mittlerweile vollkommenen Dunkelheit könnte man glauben, es handele sich um eine x-beliebige Stadt, wenn auch etwas heiß, da nicht unweit vom Äquator gelegen. Über mir breitet sich der Sternenhimmel aus und ich versuche, noch einige Sternbilder auszumachen. Plötzlich stimmt der Muezzin seinen feierlichen Gebetsruf an. Und es gibt keinen anderen Ort der Welt, an dem ich mich genau in diesem Moment lieber befinden würde.
Eine Gruppe einheimischer Frauen verbeugt sich vor den riesigen Statuen Kim Ilsungs und Kim Jong-ils. In Nordkorea gibt es keine Religion, nur die bedingungslose Hingabe an die geliebten Führer und ihre Verehrung.
DAS ABENTEUER BEGINNT: VORBEREITUNGEN FÜR EINE SEHR SPEZIELLE REISE
„Die ihr eintretet, lasst all eure Hoffnung fahren“. Der berühmte Spruch am Eingang zur Dante’schen Hölle geht mir durch den Kopf, während ich mich den Einwanderungskontrollen am internationalen Flughafen von Pjöngjang, der Hauptstadt der Demokratischen Volksrepublik Korea, nähere. Der Blick der Beamten, die mit der Kontrolle meiner Einreisepapiere beschäftigt sind, ist genauso gnadenlos wie der Ton ihrer Stimmen. Sie fordern mich auf, meine Reisekoffer zu öffnen, alle meine Taschen zu leeren, ihnen alle Bücher und Zeitschriften vorzulegen und auch jedes elektronische Gerät, das ich dabeihabe. Die Einfuhr religiöser und politischer Symbole oder Inhalte jeder Art ist strengstens verboten, ebenso wie jede Form von Pornographie oder zweideutigen Inhalten. Letztere beinhalten alles, was in irgendeiner Weise das einzig zugelassene Dogma dieses Landes angreifen könnte: Dass Nordkorea das schönste Land der Welt ist und sich jeder Einwohner und jeder Besucher, der – aus welchem Grund auch immer – das Privileg genießen darf, hier zu sein, sich uneingeschränkt glücklich fühlen muss.
Ich bemühe mich also um maximale Zusammenarbeit mit den Grenzbeamten, beantworte geduldig alle Fragen, während sie meine persönlichen Gegenstände genauestens begutachten. Als sie mein Fotomaterial nach Verdächtigem durchforsten, versuche ich, die freundlichsten Töne anzustimmen. Doch es gelingt mir nicht, ihnen auch nur ein kurzes Lächeln oder sonst irgendein Willkommenszeichen zu entlocken. Und so dämmert mir langsam, aber sicher, dass von nun an jeder Fehler, jedes Missverständnis, das aus meinen Handlungen oder Worten entstehen könnte, jeder falsche Blick, jede unbedachte Bewegung schwerwiegende Konsequenzen haben kann, aus denen mich kein Anwalt, kein Journalist und keine Regierung retten könnte. Ich befinde mich vollkommen in der Hand der gnadenlosesten Diktatur der Welt.
Wie aber bin ich hierher gelangt? Was hat mich bewogen, in dieses Land zu reisen, von dem man so wenig weiß? Selbst über das Wenige, das nach außen dringt, herrscht Unklarheit, was davon man glauben kann und was pure Erfindung ist. Nur wenige ausländische Besucher hatten bislang Gelegenheit, dieses Land zu besuchen, es zu bereisen oder hier zu leben. Die Regierung Nordkoreas stellt nur eine sehr geringe Anzahl von Einreisevisa aus, und diese wenigen gehen hauptsächlich an Diplomaten und jene Geschäftsleute und Reisende, die direkt von der Regierung eingeladen werden. Journalisten sind unerwünscht, ebenso Schriftsteller und Blogger – es sei denn, die von ihnen veröffentlichten Inhalte entsprechen vollständig den Vorgaben der nordkoreanischen Behörden.
Ich aber befinde mich hauptsächlich in Nordkorea, um am Pjöngjang-Marathon teilzunehmen. Dieser darf nur außerhalb des Landes so genannt werden: Der offizielle Titel der Veranstaltung lautet „Mangyongdae Prize Games“, was so viel bedeutet wie „Der Preis von Mangyongdae“. Mangyongdae ist der Name eines kleinen Dorfes, das ungefähr acht Kilometer außerhalb von Pjöngjang liegt und vom gesamten Land gerühmt und wie ein hochverehrtes Heiligtum behandelt wird. Denn hier wurde am 15. April 1912 der Gründer und erste Präsident des Landes geboren, ein Mensch gewordener Gott. Offiziell gilt er als der „Ewige Präsident“ Nordkoreas, Kim Il-sung, Großvater des aktuellen Machthabers Kim Jong-un.
Weder eine Unternehmung noch irgendeine Leistung kann in Nordkorea aus individuellen Ambitionen oder aus Gründen persönlichen Strebens nach Ruhm entstehen oder erreicht werden – alles wird einem kollektiven Nutzen untergeordnet. Über diesem Kollektiv steht nur noch die absolute Anbetung der Führer Nordkoreas: Großvater, Vater und Sohn, der Heiligen Dreifaltigkeit einer Staatsreligion oder vielmehr eines Landes, in dem die Staatsmächtigen Religion sind.
Die Vorbereitung meiner Reise hatte bereits viele Monate vorher begonnen. Nachdem ich in einem Reisemagazin gelesen hatte, dass das Regime in Nordkorea beabsichtige, einen Marathon zu organisieren, der auch ausländischen Amateursportlern offensteht, hatte mich die Idee, dieses Land zu bereisen und durch die Straßen der Hauptstadt des „verschlossensten“ Landes der Welt zu laufen, sofort in ihren Bann gezogen. Ich kannte niemanden, der bereits in Nordkorea gewesen war und mir in irgendeiner Weise Tipps und Ratschläge hätte geben können. Ganz im Gegenteil: Die meisten Menschen schüttelten verständnislos den Kopf, sobald ich ihnen von meinem Plan, mich in die Höhle des Löwen zu wagen, erzählte.
Nur wenige konnten meinen Wunsch nachvollziehen, ausgerechnet in Nordkorea laufen zu wollen. Unter all den interessanten Ländern, unter all den Marathonläufen, die weltweit abgehalten werden – warum musste es gerade Nordkorea sein? Das Land des „Verrückten mit der Atombombe“! Warum nicht ein Lauf inmitten der Schönheit der Natur unserer Alpen oder vielleicht in einer berühmten amerikanischen Großstadt? Das Unverständnis gegenüber meinem Vorhaben stieg kurz vor meiner Reise nochmals sprunghaft an, als die Medien plötzlich wieder ihre volle Aufmerksamkeit auf dieses Land richteten und die Welt vom traurigen Schicksal des Otto Warmbier erfuhr.
Otto Frederick Warmbier war ein amerikanischer Wirtschaftsstudent an der Universität von Virginia. Ende des Jahres 2015 befand er sich in China – um mit Beginn des neuen Semesters einen Auslandsaufenthalt an der Universität von Hongkong anzutreten –, als er von einer chinesischen Agentur hörte, die Reisen nach Nordkorea ermögliche und organisiere. Neugierig geworden und von Abenteuerlust gepackt, wendete er sich an diese Reiseagentur mit Sitz in Xi’an und erhielt sofort eine positive Antwort: Er durfte die letzten Tage des Jahres, inklusive der Silvesternacht, in der nordkoreanischen Hauptstadt verbringen. Fotos und Videos von Otto in Pjöngjang bezeugen, dass er dort ziemlichen Spaß hatte: Sie zeigen Schneeballschlachten mit nordkoreanischen Kindern, kleine Partys mit Reisegenossen und Wodka im Hotelzimmer. Darüber hinaus war recht wenig über Ottos Aufenthalt in Nordkorea bekannt, als plötzlich die Weltpresse verkündete, dass Otto Frederick Warmbier, amerikanischer Student jüdischen Glaubens, in Nordkorea mit dem Vorwurf „staatsfeindlicher Aktivitäten“ verhaftet worden sei. Etwa zwei Monate lang war Ottos weiteres Schicksal völlig unbekannt, bis Ende Februar 2016 in einem Gerichtssaal des Landes eine Pressekonferenz einberufen wurde, in der Otto Warmbier gestand, den Versuch unternommen zu haben, ein Plakat mit politischen Inhalten zu stehlen. Eine Freundin seiner Mutter hätte ihm für dieses Plakat ein gebrauchtes Auto im Wert von 10.000 US-$ versprochen, im Falle einer Verhaftung durch die nordkoreanischen Behörden sogar 200.000 US-$, die seiner Familie ausgehändigt werden würden. Das Plakat wollte die Freundin der Mutter dann angeblich an der Wand einer Kirche im US-Bundesstaat Wyoming aufhängen.
Während das Geständnis von nahezu allen Experten als politisch-propagandistisch und gestellt eingeschätzt wurde, verurteilte das nordkoreanische Gericht Otto Frederick Warmbier zu fünfzehn Jahren Zwangsarbeit in einem nordkoreanischen Arbeitslager. Otto wusste wahrscheinlich, was ihn in den nordkoreanischen Konzentrationslagern erwartete, als er nach dem Urteilsspruch unter Tränen das nordkoreanische Volk und dessen Regierung um Verzeihung und um Gnade anflehte. Dies ist das vorletzte Bild, das Otto Warmbier zeigt: Wie er, gerade 21 Jahre alt geworden, von zwei Militärbeamten mit versteinertem Blick aus dem Gerichtssaal geschleift wird. Das nächste und letzte Bild von Otto bekommt die Welt knapp zwei Jahre später zu sehen: Es zeigt seine Rückkehr in die Vereinigten Staaten und hat nichts mehr mit dem Jungen zu tun, der sich mit Kindern lachend eine Schneeballschlacht liefert oder mit Reisegefährten Neujahr feiert. Man sieht einen fast leblosen Körper, der bei Nacht und Nebel aus einem amerikanischen Regierungsjet und sofort in einen Rettungswagen geladen wird. Otto befand sich im Wachkoma und starb zwei Tage später, ohne das Bewusstsein wiedererlangt zu haben und ohne von all dem Horror berichten zu können, den er in Nordkorea erlebt haben musste und der seinem jungen Leben ein so frühes Ende gesetzt hat.
Obwohl Otto in der kurzen ihm verbleibenden Lebenszeit auf amerikanischem Boden noch von den besten Ärzten und nach seinem Tod von ebenso kompetenten Pathologen untersucht wurde, dringt bis heute keine offizielle Stellungnahme bezüglich seines gesundheitlichen Zustandes und Ablebens an die Öffentlichkeit. Damit offenbart sich ein weiteres Mal jenes dunkle und absurde Mysterium, das alles umgibt, was mit der Demokratischen Volksrepublik Korea zu tun hat. Einem Staat, in dem nichts gewiss ist, außer die absolute, allumfassende Macht seiner Führer über all jene Menschen, die ihren Fuß in dieses Land setzen.
Ich versuchte, mich von den Bemerkungen bezüglich meines Geisteszustandes nicht entmutigen zu lassen, die ich wegen meines Vorhabens immer wieder zu hören bekam. Stattdessen konzentrierte ich mich auf die Reisevorbereitungen, die sich als einigermaßen schwierig erwiesen. Ich hatte eine Reiseagentur gefunden, die von den nordkoreanischen Behörden anerkannt war – es handelte sich um dieselbe, die auch den armen Otto Warmbier nach Pjöngjang gebracht hatte –, und die sich um meinen Visumantrag und den gesamten Aufenthalt inklusive des Marathons kümmern würde. Wie ich erst später herausfand, hat diese Art von Reiseagenturen vor allem eine vermittelnde Funktion: Sie begleiten den Reisenden von China nach Pjöngjang, wo er dann unverzüglich dem staatlichen nordkoreanischen Reiseveranstalter übergeben wird. Danach hat der chinesische Veranstalter so gut wie kein Mitspracherecht mehr beim weiteren Verlauf der Reise. Was aber nicht bedeutet, dass die chinesische Agentur überflüssig wäre: Da es keinerlei Möglichkeiten gibt, mit dem nordkoreanischen staatlichen Veranstalter direkt in Kontakt zu treten, führt jeder Weg in die Demokratische Volksrepublik Korea über diese wenigen internationalen Veranstalter.
Jede Reise, so sagt man, beginne mit dem ersten Schritt. Der erste Schritt im Falle einer Reise nach Nordkorea ist die Bezahlung. Da es, erst einmal im Land angekommen, unmöglich ist, irgendeine Entscheidung selbst zu treffen, werden die gesamten Reisekosten vorab bezahlt: Unterkunft, Essen, Besichtigungen und alle Transporte innerhalb des Landes. Eine Zahlung zugunsten der nordkoreanischen Regierung zu tätigen, ist nicht einfach, denn das Land ist von allen internationalen Bankverbindungen vollkommen abgeschnitten und – hauptsächlich aufgrund seiner starken Bestrebungen, eigene Nuklearwaffen herzustellen – von strengsten Wirtschaftssanktionen der internationalen Gemeinschaft betroffen. Jeder Versuch, eine Überweisung zu tätigen, die in irgendeiner Weise in Zusammenhang mit Nordkorea steht – und sei es nur, um dort einen Marathon zu laufen –, wird sofort blockiert. Also bekommt der Reisende von der Agentur – die vorher die Möglichkeiten auslotet, ein Visum für die betreffende Person zu erhalten – einen Link und einen Zahlencode zugesandt. Mit dem Link kommt man auf eine Webseite, wo mittels Paypal der geforderte Betrag bezahlt werden kann. Als Zahlungsgrund wird der mehrstellige Code angegeben, anhand dessen die Zahlung an die Agentur wiederum auf den Auftraggeber zurückgeführt werden kann.
„DON’T BE THAT GUY!“
Jede Reise nach Nordkorea beginnt in China. In meinem Fall im kleinen Konferenzsaal eines Hotels, nicht weit vom Platz des Himmlischen Friedens in Peking entfernt. Dort trifft man sich einen Tag vor Abflug nach Pjöngjang, um die wichtigsten Verhaltensregeln für den Aufenthalt in der Demokratischen Volksrepublik Korea erklärt zu bekommen. Und das sind nicht wenige. Erstens wird man darüber informiert, was man nicht nach Nordkorea mitnehmen darf: Verboten ist politisches Material jeglicher Art, wie Bücher, Zeitschriften, Flugblätter, Plakate und alle Texte oder Symbole, die politische Inhalte verkünden. Des Weiteren ist es nicht erlaubt, religiöse oder pornographische Schriften oder Bilder einzuführen, keine Reiseführer oder sonstigen Bücher über das Land, keine elektronischen Geräte, die mit GPS ausgestattet sind, keine Fotoapparate mit abnehmbaren Teleobjektiven. Verpflichtet ist man jedoch, Geschenke für die einheimischen Reiseführer mitzubringen. Üblicherweise sind das Alkohol und Zigaretten, aber auch Schulhefte, Kugelschreiber und Bleistifte werden gerne angenommen. Dann die Regeln: Man befindet sich während der gesamten Reise unter ständiger Aufsicht der Reiseführer und muss deren Anweisungen unverzüglich Folge leisten. Unter keinen Umständen, niemals, darf man sich von der Gruppe und den Reiseführern entfernen. Für jedes gewünschte Foto muss vorher der Reiseführer die Erlaubnis erteilen. Fotos von Militärgebäuden, Soldaten, Baustellen oder Bilder, auf denen offensichtliche Armut oder Rückständigkeit erkennbar sind, sind ohnehin tabu. Auch dürfen keine Fotos von einheimischen Personen gemacht werden – es sei denn, sie erteilen ausdrücklich ihr Einverständnis. Auf gar keinen Fall sind Fotos von Abbildungen oder Statuen der Staatsführer erlaubt, außer es wird ausdrücklich genehmigt. Sollte eine solche Genehmigung erteilt worden sein, müssen sich die Reiseführer immer zentral im Bild befinden und dürfen nicht verschwommen oder im Hintergrund stehend abgelichtet sein. Strengstens verboten ist es, sich selbst vor Abbildungen der Führer fotografieren zu lassen und dabei respektlose Posen einzunehmen oder dumme Gesten zu machen. Es wird empfohlen, an jedem besuchten Ort ein möglichst hohes Maß an Respekt, Würde und Ernsthaftigkeit zum Ausdruck zu bringen.
Die lange Liste der Verhaltensregeln endet folgendermaßen: „Entfernt euch nicht von der Gruppe und vor allem nicht von euren Führern. Verhaltet euch so, dass sie möglichst entspannt ihre Arbeit erledigen können und nicht dauernd in Sorge sein müssen, dass ihr etwas im Schilde führt. Denn sie sind es, die noch vor euch selbst für euer Fehlverhalten verantwortlich gemacht werden. Ihre Strafen fallen weit drastischer aus als jene, die euch treffen würden.“
Unter all den Anweisungen finde ich jedoch auch einen wertvollen Rat, der mir nicht nur in Nordkorea, sondern auch in vielen anderen Situationen einen guten Dienst erweisen wird: „Solange ihr dort seid, hört vor allem erst mal zu“, wird uns empfohlen. „Sowie ihr wieder in eure Welt zurückkehrt, könnt ihr nach Herzenslust Facebook, Wikipedia, Google und jede andere Internetseite öffnen und in diesen Netzwerken beliebig eure Meinung verkünden – über Nordkorea und jedes andere Thema, von dem ihr etwas zu wissen glaubt. Aber versucht, solange ihr in Nordkorea seid, euer Verhalten ein wenig zu ändern: hört vor allem gut zu, beobachtet und ihr werdet mehr lernen, als ihr jemals gedacht habt. Solltet ihr aber trotzdem eine Frage stellen wollen, formuliert diese möglichst offen. Fragt zum Beispiel nicht, ob es der Wahrheit entspricht, dass in Nordkorea jedes Jahr über 300.000 Menschen in Konzentrationslagern umkommen, denn das würde zum Ausdruck bringen, dass ihr schon eine fixe Meinung zu diesem Thema habt. Fragt lieber nur, wie das nordkoreanische Strafvollzugssystem funktioniert, und hört gut zu, wie die Antwort formuliert wird.“ Ein ausgezeichneter Hinweis, finde ich, und zwar nicht nur für Reisende, die sich nach Nordkorea begeben.
Ich sehe mich um und blicke in zahlreiche nachdenkliche Gesichter, einige davon wirken fast schon verängstigt. Auch dem Reiseveranstalter entgeht das nicht und er versucht, seinen Vortrag am Ende noch mit einer witzigen Bemerkung aufzulockern. „In jeder Gruppe“, erzählt er, „gibt es ‚diesen Typ Mensch‘. Es ist jener Typ Mensch, der immer wieder versucht, sich von den Führern zu entfernen, unerlaubte Fotos zu schießen oder durch respektloses Verhalten auf sich aufmerksam zu machen. Nach kürzester Zeit hat er ungewollt die volle Aufmerksamkeit der Führer, die ihm – in Panik über sein mögliches weiteres Fehlverhalten – nicht mehr von der Seite weichen und so gut wie alles verbieten. Genießt eure Ferien in Nordkorea“, schließt er ab, „aber seid eben nicht ‚dieser Typ Mensch‘.“
Es sind ungefähr sechzig Personen, die sich in jenem Saal befinden. Vorwiegend junge westliche Männer und Frauen, alle startbereit für den Pjöngjang-Marathon. Noch kenne ich sie nicht, doch ich weiß, dass sie während der nächsten beiden Wochen meine Reise- und Schicksalsgenossen sein werden. Alle scheinen aufmerksam zuzuhören, und als wir schließlich nach einigen Stunden entlassen werden, sind wir alle ziemlich müde. Müde von der Reise nach China, der Zeitverschiebung und den vielen Regeln, die wir uns zu unserem eigenen Wohl gut merken sollten. Wir verabschieden uns noch voneinander, jeder in seine Gedanken versunken. Morgen früh um fünf Uhr wollen wir uns wieder treffen, am internationalen Flughafen von Peking, wo unser gemeinsames Abenteuer als Touristen in der schärfsten Diktatur der Welt seinen Anfang nehmen wird.
WILLKOMMEN AN BORD DER SCHLECHTESTEN FLUGGESELLSCHAFT DER WELT ...
Als ich am darauffolgenden Morgen wieder am internationalen Flughafen von Peking eintreffe, finde ich dort den chinesischen Reiseveranstalter, einige Reisegefährten und mehrere nordkoreanische Staatsbeamte vor. Schlagartig wird mir bewusst, dass es sich um die ersten Nordkoreaner handelt, die ich in meinem Leben treffe, trotz meiner vielen Reisen und Begegnungen auf allen Kontinenten der Erde. Sofort fällt mir eine Eigenheit auf: Ihr Körperbau ist hager, die Gesichtszüge wirken hart und ihr Blick ist immer in die Ferne gerichtet. Als ob jeder direkte Augenkontakt und der damit einhergehende persönliche Kontakt, jede Sympathie oder jedes Mitgefühl möglichst vermieden werden müssten.
Wir befinden uns am Terminal der Air Koryo, jener Fluggesellschaft, die seit Jahren zuverlässig den letzten Platz im Ranking der besten Airlines der Welt einnimmt. Außerhalb Nordkoreas unterhält sie kaum internationale Verbindungen: eine mit Peking und eine nicht regelmäßige nach Shanghai. Von den verschiedenen Flugzeugen, die Air Koryo führt, schaffen es nur zwei, die rigorosen internationalen Sicherheitsstandards für die Wartung von Linienflugzeugen zu erfüllen. Warum, so fragt man sich, liegt es nicht im Interesse der nordkoreanischen Regierung, alle Flugzeuge der einzigen Fluggesellschaft des Landes an die weltweit geltenden Sicherheitsbestimmungen anzupassen? Der Grund dafür liegt vor allem in den äußerst strengen internationalen Wirtschaftssanktionen, denen das Land unterworfen ist und die eine Beschaffung von Ersatzteilen fast unmöglich machen. Was man also irgendwie ergattern kann, wird ausschließlich für jene zwei Flugzeuge eingesetzt, die das Land verlassen und somit internationalen Kontrollen unterworfen sind. Sie hätten im Fall eines Unglückes ja auch eine unrühmliche Erwähnung in der Weltpresse zu befürchten. Alle anderen Flugzeuge Air Koryos werden jedoch nur für Inlandsflüge eingesetzt, wo weder unabhängige Kontrollen noch negative Berichterstattung Probleme bereiten können, und wo die Regierung jede Nachricht kontrolliert und genehmigt. Und wo alles, was dem Ansehen der Regierung schaden könnte ... einfach nicht existiert.
Der chinesische Reiseveranstalter erinnert uns daran, dass die Regeln, die uns am Vortag erklärt worden waren, bereits an Bord der Air Koryo gelten. Betritt man erst einmal nordkoreanischen Grund und Boden, wird die Welt eine andere. Und das Flugzeug der Air Koryo ist, formell gesehen, bereits nordkoreanisches Hoheitsgebiet.
Der Blick der Stewardessen ähnelt jenem der Agenten am Terminal. Wer sich ein Lächeln oder einen herzlichen Willkommensgruß nach dem Vorbild anderer Fluggesellschaften erwartet hat, wird enttäuscht. Flüchtig und im Schnelldurchlauf setzt man uns eingeschweißte Hamburger vor und weist uns darauf hin, dass Fotos vom Inneren des Flugzeugs, vom Personal oder vom Flughafen nach erfolgter Landung verboten sind. Die Anweisung ist klar und unmissverständlich, aber ich kann mich einfach nicht zurückhalten. Nachdem ich bereits mit unzähligen Fluggesellschaften in jedem Winkel unseres Planeten unterwegs war, möchte ich nun unbedingt ein Erinnerungsfoto: an Bord der „schlechtesten Fluglinie der Welt“. Ich warte einen günstigen Moment ab und verewige mich selbst mit meinem Kopf neben dem Firmenlogo der Air Koryo, das sich auf der Kopfstütze meines Sitzes befindet, und dem Burger in der Hand, der wohl wirklich aus Gummi hergestellt wurde. Keiner der übrigen Passagiere scheint wirklich hungrig zu sein, und die meisten dieser Hamburger bleiben unberührt. Ich frage mich, ob dieser Umstand dem Flugpersonal tatsächlich nicht auffällt und merkwürdig vorkommt … Dann entdecke ich einen jungen Amerikaner, der wohl wegen des frühen Fluges nicht ausreichend gefrühstückt hat und deshalb nicht nur seinen, sondern auch die Burger seiner Sitznachbarn genüsslich verzehrt.
Kein Bericht über einen Flug mit Air Koryo wäre vollständig, würde man nicht auch das sogenannte „in-flight entertainment“-Programm erwähnen. Andere Fluggesellschaften haben ein meist vielfältiges Angebot an Filmen und TV-Serien, um ihren Passagieren die Reise kurzweiliger und angenehmer zu gestalten. Bei Air Koryo gibt es allerdings keine Wahl: Auf den Bildschirmen sehen – und vor allem hören – wir uniformierte, Militärmusik spielende Musikgruppen. Die Gesichter der Musiker scheinen aus Wachs zu bestehen, in einem unveränderlichen Ausdruck vollkommener Verzückung auf ewig gebannt. Sie singen vom Ruhm ihres Führers Kim Jong-un, der zwischendurch immer wieder eingeblendet wird, wie er gerade den Start einer Langstreckenrakete mit dem Fernglas beobachtet, die Truppen inspiziert oder die Glückwünsche seiner Generäle entgegennimmt. Mit diesen militärischen Klängen in den Ohren, die seit dem Start des Flugzeuges ununterbrochen abgespielt werden, blicke ich auf die verschneiten Berggipfel, die nicht weit unter mir vorbeiziehen. Als das Flugzeug schließlich zum Landeanflug ansetzt, denke ich so bei mir, dass all jene, die mich aufgrund meines Reiseziels für verrückt erklärt haben, vielleicht nicht ganz unrecht hatten.
… UND IN DER HÄRTESTEN DIKTATUR DER WELT
Nachdem wir den Flug mit der „schlechtesten Fluggesellschaft der Welt“ heil überstanden haben, landen wir am internationalen Flughafen von Pjöngjang. Die Gepäck- und Personenkontrollen sind penibel und zerren am Nervenkostüm. Jeder Koffer und jede Reisetasche wird genauestens durchsucht und auch alle Gegenstände, die man in Hosen- oder Jackentaschen mit sich führt, müssen vor den Grenzbeamten ausgebreitet werden, die sie wie Spürhunde durchwühlen. Anschließend dann das Verhör: Stimmlage und Blicke der Polizisten machen es fast unmöglich, sich nicht irgendeiner Sache schuldig zu fühlen, irgendeines Fehlverhaltens, das man bereits begangen hat oder noch zu begehen beabsichtigt. Sicher ist nur eines: Für jede Sünde gibt es drastische Strafen; Gnade und Vergebung darf man sich hier nicht erhoffen. Es ist fast schon eine Erleichterung, nach Ende der Einreiseprozeduren festzustellen, dass man sich ganz einfach im Land befindet – und nicht bereits auf dem Weg in eines der vielen Konzentrationslager.
Noch in der Ankunftshalle des Flughafens werden wir in Gruppen zu je fünfzehn Personen aufgeteilt, jeder davon werden drei nordkoreanische Reiseführer zugewiesen. Warum genau drei würde mir erst später klar werden, wenn ich die Logik der nordkoreanischen Behörden besser verinnerlicht hätte. Drei Führer sind nicht nur notwendig, um die ausländischen Touristen besser unter Kontrolle zu halten, drei sind auch die ideale Anzahl, um sich untereinander auszuspionieren und gegenseitig jederzeit zu kontrollieren. Ein Führer allein könnte nämlich von einem Ausländer mit üblen Absichten davon überzeugt werden, einen verbotenen Ort aufzusuchen oder ein Staatsgeheimnis zu verraten, zwei Führer könnten sich zum selben Zweck untereinander absprechen, bei drei Personen jedoch ist es sehr unwahrscheinlich, dass sie sich gegenseitig so weit vertrauen, dass sie verbotene oder gefährliche Handlungen nicht sofort melden würden.
Während wir noch dabei sind, unsere aufgebauten Spannungen langsam abzubauen, erwartet uns schon die nächste unangenehme Überraschung: Wir müssen unsere Reisepässe abgeben. Im Gegenzug dafür erhält jeder eine Art Aufenthaltsausweis mit Foto, persönlichen Daten sowie Ein- und Ausreisedatum. Damit soll verhindert werden, dass wir während unserer Reise unseren Pass verlieren und dann bei der Ausreise schwerwiegende Probleme hätten. Vielleicht befürchtet man auch, dass wir nach einigen Tagen Aufenthalt in der Demokratischen Volksrepublik Korea, diesem wunderbaren Land des Glücks, der Gleichheit und der Gerechtigkeit, niemals mehr ausreisen wollen …. Man macht uns weis, anderen Reisenden vor uns wäre es genau so ergangen. Sie hätten dann, um in Korea bleiben zu können, keine andere Möglichkeit gesehen, als den eigenen Reisepass mutwillig zu zerstören.
Wir werden nun aufgefordert, in einen kleinen Bus einzusteigen. Er ist ein fast schon nostalgisches Relikt aus einem Land, das sich früher zu den befreundeten Nationen Nordkoreas zählen durfte, inzwischen existiert es schon seit Jahrzehnten nicht mehr: die Deutsche Demokratische Republik. Das hellblaue Kunstleder unserer Sitze und das Fehlen von Luftdruckfederung scheinen wie ein Echo aus vergangenen Zeiten, das uns schon auf unserer ersten Stadtrundfahrt begleitet. Vom Flughafen werden wir direkt zum Zentrum für Wissenschaft und Technologie gebracht, einer Art Museum, das den Fortschritt und die technische Überlegenheit Nordkoreas gegenüber anderen Nationen der Welt belegen soll. Dort werden uns kleine Modelle landwirtschaftlicher Strukturen und von Bergwerken vorgeführt und sehr viel militärisches Gerät. Der eindeutige Höhepunkt und das zentrale Ausstellungsstück ist jedoch die berühmt-berüchtigte Unha-3 Rakete, die auch mit nuklearen Sprengköpfen ausgestattet werden kann. Wir werden ausdrücklich aufgefordert, sie „auszuprobieren“. Mehrere Bildschirme zeigen eine Weltkarte, in deren Zentrum sich Nordkorea befindet – und wir dürfen auf Knöpfe drücken, die angrenzenden Städten und Ländern zugeordnet sind. Wenn wir Glück haben, zeigt uns ein rot blinkendes Lämpchen, ob sich die jeweilige Stadt innerhalb der Reichweite der Unha-3 befunden hat und durch uns dem Erdboden gleichmacht worden ist.
Danach geht es weiter zum großen Hauptplatz der Stadt, wo die Vorbereitungen für die in über einer Woche stattfindenden Feierlichkeiten zum „Tag der Sonne“ (Geburtstag des „Großen Führers“) auf Hochtouren laufen. Was dort geboten wird, sprengt jede Vorstellungskraft. Auf dem gesamten Platz befinden sich viele Hundert Männer und Frauen, die in traditionellen Kleidern einen Tanz einüben. Das Ganze wirkt wie eine Mischung aus Militärmarsch und der Inszenierung einer Szene des Films „Der letzte Kaiser“ … Unsere Führer sind entspannt und fordern uns auf, Fotos und Videos vom Geschehen und von den Tänzern zu machen. Die Männer im einfachen schwarzen Anzug mit weißem Hemd und schwarzer Krawatte, die Frauen tragen lange, weit ausgestellte Kleider, die mit etwas Rüsche besetzt sind und in grellen Farben – blau, rot, gelb oder grün – leuchten. Keiner der Tänzer lacht oder lächelt, und ihre rituellen, etwas steifen Körperhaltungen haben eine gewisse majestätische Ausstrahlung. In diesem Land ist jede Form von individuellen Tänzen streng verboten, so wie viele andere Unterhaltungsmöglichkeiten. Es wurde stattdessen der sogenannte Massentanz kreiert, bei dem Männer und Frauen mit fast militärischem Schritt um ein imaginäres Zentrum kreisen und sich dabei zum Klang der Musik immer wieder voneinander weg- und zueinander hinbewegen. Keine Frau darf sich länger bei demselben Mann aufhalten, dauernd muss im Takt der Musik der Tanzpartner gewechselt werden und dies in perfekter Synchronisation mit all den anderen Hunderten von Tänzern. Ich bin sehr fasziniert von diesen Frauen und Männern, die hier nicht aus individuellen Beweggründen ganz für sich oder mit einem Partner tanzen, sondern um etwas viel Größeres, Kollektives zu erschaffen. Während ich noch über die Einzigartigkeit dieses Geschehens nachdenke, das sich gerade vor meinen Augen abspielt, laden mich meine Führer ein, selbst mitzutanzen. Ich überwinde meine Verlegenheit und werfe mich ins geordnete Getümmel. Ein junger Mann überlässt mir mit einer angedeuteten Verbeugung seinen Platz und ich stehe vor einer jungen, sehr hübschen Tänzerin, die noch schüchterner zu sein scheint als ich selbst. Ich versuche, die Schritte der männlichen Tänzer zu imitieren und bin dermaßen konzentriert, dass ich anfangs gar nicht mitbekomme, dass sich mir ein Team des staatlichen Fernsehens genähert hat und meine Partnerin und mich in Nahaufnahme filmt. Nun denn, so wird heute Abend dem nordkoreanischen Volk wohl der Ausländer vorgeführt werden, „der sich den einheimischen Tänzerinnen und Tänzern anschließt und damit dem Großen Führer Ruhm und Ehre erweist“.
Wir befinden uns bereits auf dem Rückweg zu unserem Bus, als die aus den Lautsprechern strömende Musik schlagartig endet. Augenblicklich hören auch die Tänze auf und nicht ein Tänzer verweilt noch ein wenig, um sich zu unterhalten oder kurz auszuruhen. Sofort formieren sich kleinere Einheiten, streng getrennt nach Männern und Frauen, die im militärischen Gleichschritt abmarschieren. Die Männer stimmen sogar einen Gesang an, der wohl die nordkoreanische Version jener Lieder sein muss,