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Wie gut kennen wir die Menschen, die wir lieben? Als Fergus einen Schlaganfall hat, vergisst er fast alles aus seinem Leben. Da findet seine Tochter Sabrina seine Glasmurmel-Sammlung, von der er ihr nie etwas erzählt hat. In der Sammlung fehlen die wertvollsten Stücke, und Sabrina macht sich auf die Suche nach ihnen. Es stellt sich heraus, dass Fergus noch viel mehr Geheimnisse hatte, und alle scheinen mit den schillernden Kugeln verbunden zu sein. Doch wenn ihr Vater nicht der Mann ist, für den sie ihn gehalten hat – was bedeutet das für Sabrinas eigenes Leben? ›Der Glasmurmelsammler‹ ist eine berührende Vater-Tochter-Geschichte, in der sich in kleinen Glaskugeln große Träume und Gefühle spiegeln. Der berührende Roman der einfühlsamen Erfolgsautorin Cecelia Ahern aus Irland.
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Seitenzahl: 456
Cecelia Ahern
Der Glasmurmelsammler
Roman
Aus dem Englischen von Christine Strüh
FISCHER E-Books
Für Sonny Ray, meinen Sonnenstrahl
»Ich sah den Engel im Marmor[1]
und meißelte, bis ich ihn freigelegt hatte.«
Michelangelo
Mein Gedächtnis lässt sich in drei Kategorien einteilen: Dinge, die ich vergessen möchte, Dinge, die ich nicht vergessen kann, und Dinge, von denen ich nicht mehr weiß, dass ich sie vergessen habe, bis ich durch irgendetwas an sie erinnert werde.
In meiner frühesten Erinnerung bin ich ungefähr drei Jahre alt und spiele bei meiner Mum in der Küche. Plötzlich packt sie mit beiden Händen die Teekanne an Henkel und Tülle, schwingt sie, als wären wir beim schottischen Strohballenwerfen, und schleudert sie mit solcher Wucht in die Höhe, dass sie an die Zimmerdecke saust und von dort auf den Tisch herunterknallt, wo sie in tausend Stücke zerspringt. Trübes braunes Wasser spritzt durch die Gegend, überall landen triefende, aufgeplatzte Teebeutel. Ich weiß nicht mehr genau, was direkt vorher passiert ist oder wie es danach weiterging, aber ich erinnere mich deutlich, dass Mum sehr wütend war, und zwar auf meinen Vater.
Diese Erinnerung ist nicht typisch für meine Mum und zeigt sie nicht von ihrer besten Seite. Aber soweit ich weiß, ist sie nie wieder dermaßen ausgerastet, und ich denke, genau das ist der Grund, weshalb ich mich an den Vorfall erinnere.
In einer anderen Erinnerung bin ich schätzungsweise sechs Jahre alt, und meine Tante Anna wird beim Verlassen des Kaufhauses von einem Security-Mann abgefangen, der mit seinen behaarten Händen ihre Einkaufstasche durchwühlt und einen Schal herauszieht, an dem noch das Preisschild und das Sicherheitsetikett hängen. Was als Nächstes passierte, weiß ich nicht mehr, außer dass Tante Anna mich im Ilac Centre mit einem großen Eisbecher bestochen hat und mich so hoffnungsvoll beim Essen beobachtete, als würde mit jedem verzuckerten Bissen ein bisschen von dieser Erinnerung verschwinden. Obwohl bis zum heutigen Tag alle überzeugt sind, dass ich die Geschichte erfunden habe, erinnere ich mich klar und deutlich daran.
Zurzeit bin ich Patientin bei einem Zahnarzt, mit dem ich zusammen aufgewachsen bin. Zwar waren wir nie direkt befreundet, aber wir hatten einen ähnlichen Freundeskreis. Heute ist er ein sehr ernster, vernünftiger und prinzipientreuer Mann, aber sobald ich auf dem Behandlungsstuhl den Mund aufmache, sehe ich ihn als Fünfzehnjährigen vor mir, wie er bei wilden Partys an die Wand pinkelt und Jesus als den ersten und ursprünglichen Anarchisten bezeichnet.
Wenn ich meiner inzwischen hochbetagten Grundschullehrerin begegne, die immer so leise redete, dass wir sie kaum hören konnten, erscheint in meinem Gedächtnis das Bild, wie sie eine Banane auf unseren Klassenclown schleudert und ihn anschreit, er soll sie verdammt nochmal endlich in Ruhe lassen, und dann in Tränen aufgelöst aus dem Klassenzimmer rennt. Aber als ich neulich einer ehemaligen Mitschülerin begegnet bin und den Vorfall erwähnt habe, konnte sie sich überhaupt nicht daran erinnern.
Wenn ich mir einen Menschen ins Gedächtnis rufe, taucht vor meinem inneren Auge offenbar nicht seine Alltagspersönlichkeit auf, sondern ich erinnere mich viel eher an dramatische Augenblicke oder an solche, in denen ein Teil seines Charakters zum Vorschein kam, der normalerweise verborgen ist.
Meine Mutter sagt immer, ich hätte ein Talent dafür, mich an Dinge zu erinnern, die alle anderen vergessen. Manchmal ist dieses Talent ein Fluch, denn wer wird schon gern an Dinge erinnert, die er selbst angestrengt zu vergessen versucht. Doch ich bin die Person, die sich in allen Einzelheiten an das Besäufnis erinnert, das alle anderen aus ihrem Gedächtnis streichen möchten.
Vermutlich erinnere ich mich an solche Episoden, weil ich mich selbst nie so benehme. Ich kann mich an keinen Augenblick erinnern, in dem ich so aus der Rolle gefallen wäre, dass ich es vergessen will oder muss. Ich bin immer gleich. Wer mir einmal begegnet, kennt mich. Viel mehr ist einfach nicht an mir dran. Ich folge den Regeln, die ich für die Person, die ich zu sein glaube, angemessen finde, ich kann nicht anders – nicht einmal unter großem Stress, wenn ein Ausraster garantiert akzeptabel wäre. Ich glaube, deshalb bewundere ich es bei anderen so sehr, wenn sie sich einfach gehenlassen, und deshalb behalte ich Situationen im Gedächtnis, die sie selbst lieber vergessen möchten.
Ist es untypisch für einen Menschen, wenn er ausrastet? Nein. Ich glaube fest daran, dass selbst völlig unerwartete und abrupte Verhaltensänderungen charakteristisch für den Betreffenden sind. Der »untypische« Teil ist schon die ganze Zeit da, er schlummert in dem Betreffenden und wartet nur auf den richtigen Moment, um sich zu offenbaren. Sogar bei mir.
Murmelspiele: Verbündete
»Fergus Boggs!«
In dem ganzen wütenden Wortschwall, mit dem Father Murphy mich überschüttet, verstehe ich nur diese beiden Wörter, denn das ist mein Name. Der Rest ist Irisch. Ich bin fünf Jahre alt und erst seit einem Monat in Irland, nach dem Tod meines Vaters bin ich mit meiner Mammy und meinen Brüdern hierhergezogen. Alles ist furchtbar schnell passiert. Erst ist Daddy gestorben, und gleich danach sind wir umgezogen. Zwar war ich schon ein paarmal in Irland, in den Sommerferien, wenn wir meine Grandma, meinen Granddad, meinen Onkel, meine Tante und meine Cousins und Cousinen besucht haben, aber jetzt ist es ganz anders hier. Sonst war immer Sommer, aber jetzt hat es seit unserer Ankunft jeden Tag geregnet, und alles ist mir fremd. Sogar die Eisdiele ist geschlossen und verrammelt – als hätte es sie nur in meiner Einbildung gegeben, und der Strand, an dem wir im Sommer fast jeden Tag waren, sieht ganz anders aus. Der Pommes-Wagen ist verschwunden, die Leute sind dunkel und dick eingepackt.
Father Murphy steht vor meinem Tisch, groß und grau und breit. Wenn er schreit, spritzt die Spucke aus seinem Mund, und ich spüre genau, wie sie mein Gesicht trifft, aber ich habe Angst, sie wegzuwischen, denn wer weiß, ob ihn das nicht noch wütender macht. Vorhin hab ich mich kurz umgeschaut, weil ich wissen wollte, wie die anderen Jungs reagieren, aber da hat Father Murphy mir sofort eine gelangt. Mit dem Handrücken, das tat echt weh. Er trägt nämlich einen Ring, einen richtig großen, und ich glaube, ich hab eine Schramme im Gesicht. Aber ich trau mich nicht, mit der Hand nachzufühlen, denn womöglich scheuert er mir dann gleich wieder eine. Auf einmal muss ich dringend aufs Klo. Klar, ich hab schon öfter Prügel bezogen, aber noch nie von einem Priester.
Er brüllt weiter irische Wörter, und offensichtlich ist er wütend, weil ich ihn nicht verstehe. Immer mal wieder schiebt er englische Wörter zwischen die irischen, beschimpft mich und sagt, ich müsste ihn längst verstehen. Aber ich krieg das einfach nicht hin. Zu Hause kann ich kein Irisch üben. Mammy ist immer noch traurig, und ich will ihr nicht damit auf die Nerven gehen. Am liebsten sitzt sie einfach nur da, und sie kuschelt auch gern. Das gefällt mir, und ich möchte das Kuscheln nicht mit Reden kaputtmachen. Außerdem weiß sie bestimmt auch nicht mehr viele irische Wörter. Sie ist vor langer Zeit von Irland nach Schottland gezogen, da hat sie bei einer Familie als Kinderfrau gearbeitet und Daddy kennengelernt. Meine Eltern haben nie irische Wörter benutzt.
Der Priester will, dass ich ihm die Wörter nachspreche, aber ich kann kaum atmen, und sie kommen nur ganz schwer aus meinem Mund.
»Tá mé, tá tú, tá sé, tá sí …«
»LAUTER!«
»Tá muid, tá sibh, tá siad.«
Wenn Father Murphy gerade nicht schreit, ist es ganz still im Klassenzimmer, und das erinnert mich daran, wie viele Jungs in meinem Alter hier sitzen und die Ohren spitzen. Während ich die Wörter herauswürge, macht Father Murphy den anderen immer wieder deutlich, wie dumm ich bin. Ich zittere am ganzen Körper. Mir ist schlecht. Ich muss aufs Klo. Schließlich sage ich es ihm. Von jetzt auf nachher wird sein Gesicht puterrot, er holt den Lederriemen heraus und schlägt mich damit auf die Hand. Später erfahre ich, dass alte Pennys in den Riemen eingenäht sind. Ich kriege »sechs von den Besten« auf jede Hand, sagt Father Murphy. Ich halte den Schmerz nicht aus. Ich muss dringend aufs Klo, ich kann es nicht mehr bremsen. Eigentlich gehe ich fest davon aus, dass die anderen mich auslachen, aber keiner gibt einen Ton von sich, alle haben die Köpfe gesenkt. Vielleicht lachen sie später, vielleicht haben sie aber auch Verständnis. Vielleicht sind sie einfach nur froh, dass sie es nicht sind, die da stehen und sich vor aller Augen in die Hose machen. Ich schäme mich, es ist mir schrecklich peinlich, und Father Murphy schärft es mir auch mehrfach ein. Schließlich packt er mich am Ohr und schleift mich aus dem Klassenzimmer, was auch schrecklich weh tut, den Korridor hinunter zu einer kleinen dunklen Kammer. Er schubst mich hinein, krachend fällt die Tür hinter mir ins Schloss, und dann bin ich allein.
Ich mag die Dunkelheit nicht, ich hab sie noch nie gemocht. Ich fange an zu weinen. Meine Hose ist nass, mein Pipi ist in meine Socken und Schuhe gelaufen, aber ich weiß nicht, was ich tun soll. Normalerweise wechselt Mammy die Wäsche für mich. Was mache ich hier? Der Raum hat keine Fenster, ich kann nichts sehen. Hoffentlich muss ich nicht lange hier drinbleiben. Aber allmählich gewöhnen sich meine Augen an die Dunkelheit, und in dem Licht, das durch den Spalt unter der Tür kommt, kann ich ein bisschen was erkennen. Ich bin in einer Abstellkammer. Ich sehe eine Leiter, einen Eimer und einen Wischmopp ohne Stiel, nur den Mopp. Es riecht muffig. An der Wand hängt ein altes Fahrrad, kopfüber, die Kette fehlt. In einer Ecke stehen zwei Gummistiefel, die nicht zusammenpassen. Eigentlich passt hier drin gar nichts zusammen. Ich weiß nicht, warum Father Murphy mich in dieses Kabuff gesperrt hat, und ich weiß auch nicht, wann ich endlich wieder rausdarf. Muss ich für immer hierbleiben? Ob Mammy dann kommt und mich sucht?
Eine Ewigkeit vergeht. Ich schließe die Augen und fange an, mir etwas vorzusingen. Die Lieder, die Mammy immer mit mir singt. Nur ganz leise natürlich, ich will ja nicht, dass Father Murphy mich hört und denkt, ich hab Spaß hier drin. Das würde ihn ganz bestimmt ärgern. Hier macht es die Leute nämlich wütend, wenn man Spaß hat und wenn man lacht. Wir sind hier nicht die Bestimmer, wir sind hier, um zu dienen. Aber mein Daddy hat mir was anderes beigebracht, er hat mir gesagt, ich bin der geborene Anführer, ich kann alles werden, was ich will. Früher bin ich oft mit ihm auf die Jagd gegangen, er hat mir alles gezeigt, und er hat mich vorneweg gehen lassen und gesagt, ich bin der Chef, ich bestimme. Er hat sogar ein Lied darüber gesungen. »Following the leader, the leader, the leader, Fergus is the leader, da da da da da.« Auch das summe ich jetzt vor mich hin, aber ohne Worte. Dem Priester wird es nicht gefallen, wenn ich ein Lied darüber singe, dass ich der Bestimmer bin. Hier dürfen wir nicht sein, wie wir wollen, wir müssen tun, was man uns sagt. Ich singe die Lieder, die mein Daddy immer gesungen hat, damals, als ich manchmal lange aufbleiben und den Erwachsenen beim Liedersingen zuhören durfte. Für einen großen Mann hatte Daddy eine sehr weiche Stimme, und manchmal hat er beim Singen geweint. Im Gegensatz zu Father Murphy hat er nie behauptet, dass nur Babys weinen, er hat gesagt, wenn Menschen traurig sind, dann weinen sie. Ich singe seine Lieder und versuche, nicht dabei zu weinen.
Dann geht plötzlich die Tür auf, und ich weiche unwillkürlich zurück, weil ich Angst habe, es ist Father Murphy mit seinem Lederriemen. Aber nicht er kommt herein, sondern der nette junge Priester, der bei uns Musik unterrichtet. Leise schließt er die Tür hinter sich und kauert sich zu mir.
»Hallo, Fergus.«
Ich will auch Hallo sagen, aber es kommt kein einziges Wort aus meinem Mund.
»Schau mal, ich hab dir was mitgebracht. Eine Schachtel Bloodies.«
Als er die Hand ausstreckt, zucke ich unwillkürlich zurück.
»Mach nicht so ein ängstliches Gesicht, das sind bloß Murmeln. Hast du schon mal mit Murmeln gespielt?«
Als ich den Kopf schüttle, öffnet er die Hand, und ich sehe die Murmeln auf seiner Handfläche liegen wie einen wertvollen Schatz, vier rote Rubine.
»Als Junge hab ich sie geliebt«, erzählt er leise. »Mein Granddad hat sie mir geschenkt. Ein Kistchen Bloodies, hat er gesagt, extra für dich. Leider hab ich die Box nicht mehr. Wäre schön, weil sie inzwischen nämlich einiges wert sein könnte. Also denk immer dran, die Packungen aufzuheben, Fergus, den Rat geb ich dir. Zum Glück hab ich wenigstens die Murmeln behalten.«
Draußen geht jemand an der Tür vorbei, man spürt, wie der Boden unter schweren Stiefeln zittert und knarzt, und auch mein Musiklehrer schaut zur Tür. Als die Schritte verklungen sind, wendet er sich mir wieder zu und sagt leise: »Man wirft sie. Oder man kann sie anschieben.«
Neugierig schaue ich zu, wie er den Zeigefinger mit dem Knöchel auf den Boden drückt, ihn beugt und eine Murmel auf dem Gelenk balanciert. Dann legt er den Daumen dahinter, schubst die Murmel an, und schon rollt sie eilig über den Holzboden. Eine leuchtend rote Murmel, in der das spärliche Licht reflektiert, glänzt und schimmert. Direkt vor meinem Fuß bleibt sie liegen. Aber ich habe Angst, sie aufzuheben. Meine malträtierten Hände tun immer noch weh, es ist schwierig, sie zu schließen. Als mein Musiklehrer es merkt, zuckt er zusammen.
»Versuch es wenigstens«, meint er aufmunternd.
Ich tue es. Anfangs bin ich nicht sehr gut, weil es schmerzhaft ist, die Hand so zu krümmen, wie er es mir gezeigt hat, aber nach einer Weile kriege ich den Bogen raus, und mein junger Lehrer bringt mir sogar noch andere Schusstechniken bei. Eine Methode, die man Gelenkwurf nennt. Obwohl das seiner Meinung nach eher etwas für Fortgeschrittene ist, bin ich dabei am besten. Als er mich lobt, muss ich mir auf die Lippen beißen, damit ich nicht so grinse.
»Je nach der Gegend, in der man ist, haben Murmeln ganz unterschiedliche Namen«, sagt er, kniet sich wieder hin und zeigt mir noch etwas. »Manche nennen sie Schusser, andere Klicker oder Marmeln, aber meine Brüder und ich haben sie immer Allies genannt.«
Allies. Verbündete. Das gefällt mir. Selbst wenn ich ganz allein in diesem Kabuff eingesperrt bin, habe ich Verbündete. Ich komme mir vor wie ein Soldat. Ein Kriegsgefangener.
Mein Musiklehrer mustert mich ernst. »Du musst dein Ziel ruhig und fest ins Auge fassen, vergiss das nie, Fergus. Das Auge steuert das Gehirn, das Gehirn steuert die Hand. Denk immer daran. Wenn du das Ziel im Auge behältst, dann sorgt dein Gehirn dafür, dass du erreichst, was du dir vorgenommen hast.«
Ich nicke.
Im nächsten Augenblick klingelt es, die Stunde ist um.
»Okay.« Er steht auf und klopft sich den Staub von der Robe. »Ich muss jetzt zum Unterricht. Bleib einfach hier sitzen, es dürfte nicht mehr lange dauern.«
Ich nicke wieder.
Er hat vollkommen recht, es hätte nicht mehr lange dauern dürfen, aber das kümmert Father Murphy wohl wenig, denn er lässt mich den ganzen Tag im Dunkeln sitzen. Ich mache mir sogar noch einmal in die Hose, weil ich Angst habe, an die Tür zu klopfen und Bescheid zu sagen. Aber es ist mir egal. Ich bin ein Soldat. Ein Kriegsgefangener. Und ich habe Verbündete. In dem winzigen Kabuff, in meiner eigenen kleinen Welt, übe ich und übe, denn ich möchte der beste und treffsicherste Murmelspieler der ganzen Schule werden. Ich werde es den anderen Jungs zeigen, und ich werde sie alle übertrumpfen, jedes Mal.
Als Father Murphy mich wieder in dieses Kabuff sperrt, habe ich meine Murmeln in der Tasche, und ich übe auch diesmal den ganzen Tag. Für alle Fälle hab ich in der Pause heimlich eine Art Zielwand in der Kammer deponiert. Ich hab ein paar Jungs mit einer schicken gekauften Version gesehen und mir aus einer leeren Cornflakesschachtel, die ich in Mrs Lynchs Mülltonne gefunden habe, selbst eine gebastelt – ein Stück Pappe, aus dem ich sieben Tore ausgeschnitten habe. Das mittlere ist die Null, die drei rechts und links davon sind eins, zwei und drei. Die Pappe stelle ich an der hinteren Wand der Kammer auf und schieße die Murmeln aus möglichst großer Entfernung, von der Tür aus. Ich weiß noch nicht, wie man das Spiel richtig spielt, denn das geht nur zu mehreren, aber ich kann schon mal meine Schusstechnik trainieren. Irgendwann werde ich besser sein als meine großen Brüder.
Der nette Priester bleibt nicht lange an unserer Schule. Es gibt Gerüchte, dass er Frauen küsst und in die Hölle kommt, aber das ist mir egal. Ich mag ihn trotzdem. Er hat mir meine allerersten Murmeln geschenkt, meine Bloodies, und in dieser dunklen Zeit meines Lebens habe ich von ihm Verbündete bekommen.
Badeordnung: Rennen verboten
Atmen!
Manchmal muss ich mich ans Atmen erinnern. Eigentlich sollte man denken, Atmen sei ein angeborener menschlicher Reflex, aber nein, bei mir nicht. Ich atme ein, vergesse dann aber auszuatmen – mein Körper wird starr, alles verkrampft sich, mein Herz pocht wie wild, mir wird eng um die Brust, und mein ängstlicher Kopf fragt sich, was mal wieder nicht stimmt.
In der Theorie verstehe ich den Vorgang des Atmens. Die Luft, die durch die Nase eingesogen wird, muss hinunter ins Zwerchfell gelangen, in den Bauch. Am besten atmet man entspannt, ruhig, rhythmisch und lautlos. Menschen tun das vom Augenblick der Geburt an, obwohl niemand es ihnen beibringt. Aber bei mir wäre das womöglich besser gewesen. Egal, ob beim Autofahren, Einkaufen oder Arbeiten – ständig erwische ich mich dabei, wie ich die Luft anhalte, nervös werde und angespannt auf irgendetwas warte, ohne recht zu wissen, was das sein könnte. Und was immer es ist, es passiert nie. Was für eine Ironie des Schicksals, dass ich bei dieser einfachen Aufgabe versage, obwohl ich es für meinen Job eigentlich besonders gut können müsste. Ich bin Rettungsschwimmerin. Schwimmen fällt mir leicht, es fühlt sich natürlich für mich an, ich gerate nicht unter Druck, ich fühle mich frei. Beim Schwimmen ist Timing das A und O. An Land atmet man ungefähr gleich lange ein wie aus. Unter Wasser erreiche ich ein Verhältnis von drei zu eins, das heißt, ich hole nur bei jedem dritten Schwimmzug Luft. Ganz locker. Ich muss nicht mal drüber nachdenken.
Als ich das erste Mal schwanger war, hat man mir gesagt, für die Wehen müsse ich lernen, wie man über Wasser atmet, und wie sich herausstellte, stimmte das auch. Eine Geburt ist so natürlich wie das Atmen, und beides geht Hand in Hand. Für mich jedoch war Atmen noch nie natürlich, über Wasser will ich immer gleich die Luft anhalten. Aber ein Baby kommt nicht auf die Welt, solange man die Luft anhält, das könnt ihr mir glauben, ich spreche aus Erfahrung. Da mein Mann meine Vorliebe für das Wasser kennt, hat er mir vorgeschlagen, eine Unterwassergeburt zu machen, und es schien mir eine gute Idee zu sein, das Baby zu Hause und in meinem natürlichen Element zur Welt zu bringen. Nur fühlt es sich leider überhaupt nicht natürlich an, wenn man in seinem eigenen Wohnzimmer in einem übergroßen Planschbecken sitzt. Außerdem war nur das Baby unter Wasser, nicht ich, obwohl ich liebend gern die Plätze getauscht hätte. So endete meine erste Geburt damit, dass wir ins Krankenhaus rasten, wo ein Notkaiserschnitt gemacht wurde, und tatsächlich kamen auch die nächsten beiden Kinder auf die gleiche Art zur Welt, wenn auch nicht als Notfälle. Anscheinend war ich, dieses Wasserwesen, das sich seit dem Alter von fünf Jahren vorzugsweise unter Wasser aufhielt, auch diesem natürlichen Erlebnis nicht gewachsen.
Ich arbeite als Bademeisterin in einem Altenheim. Es ist ein sehr exklusives Altenheim und ähnelt eher einem Viersternehotel. Seit sieben Jahren arbeite ich dort, minus meiner Elternzeiten. Von neun Uhr morgens bis zwei Uhr nachmittags sitze ich auf meinem Stuhl und schaue zu, wie drei Leute pro Stunde ins Wasser steigen und dort ihre Bahnen schwimmen. Ein unablässiger Strom von Monotonie und Stille. Es passiert nie etwas. Aus den Umkleidekabinen erscheinen Körper als wandelnde Symbole der Vergänglichkeit: schlaffe Brüste, schlaffe Hintern, schlaffe Schenkel, schlaffe Haut, trocken und schuppig von Diabetes oder von Nieren- und Lebererkrankungen. Diejenigen, die bettlägerig sind oder im Rollstuhl sitzen müssen, tragen ihre schmerzhaft aussehenden Druckgeschwüre und wundgelegenen Stellen unterschiedlich gelassen zur Schau, andere führen ihre braunen Altersflecken wie Dienstabzeichen ihres langen Lebens vor. Täglich gibt es neue Hautgeschwulste, die alten verändern sich, ich bemerke sie alle und bin mir bewusst, welche Zukunft meinen Körper nach drei Geburten erwartet. Die Heiminsassen, die mit einem persönlichen Physiotherapeuten im Wasser trainieren, beaufsichtige ich lediglich. Vermutlich für den Fall, dass der Physiotherapeut ertrinkt.
In den ganzen sieben Jahren, die ich inzwischen hier arbeite, musste ich kaum jemals ins Wasser springen. In unserem Pool geht es ruhig und gemächlich zu, ganz anders als im örtlichen Hallenbad, in das ich meine Jungs samstags begleite und in dem man vom Geschrei der schamlos überbesetzten Kursgruppen regelmäßig Kopfschmerzen bekommt.
Auch heute unterdrücke ich ein Gähnen, während ich der ersten Schwimmerin des Morgens zuschaue. Mary Kelly, unser Baggerschiff, geht ihrer Lieblingsbeschäftigung nach – dem Brustschwimmen. Langsam und geräuschvoll, eins fünfzig groß und an die dreihundert Pfund schwer, steigt sie ins Becken und verdrängt dabei eine Wassermenge, als wollte sie das gesamte Becken leeren, und bemüht sich dann, elegant dahinzugleiten. Dabei achtet sie sorgsam darauf, das Gesicht nicht einzutauchen, und prustet, als wäre das Wasser eisig kalt.
Da immer dieselben Leute zur gleichen Zeit auftauchen, weiß ich, dass demnächst Mr Daly eintreffen wird, gefolgt von Mr Kennedy, dem Schmetterlingskönig, der gern den Schwimmexperten mimt. Danach erscheinen die Schwestern Eliza und Audrey Jones, die zwanzig Minuten im flachen Wasser auf und ab joggen. Ihr Nachfolger, der Nichtschwimmer Tony Dornan, wird sich wie immer an seine Schwimmhilfe klammern, als wäre es das letzte Rettungsboot, und im Nichtschwimmerbereich bleiben, möglichst nah bei den Stufen, möglichst dicht am Rand. Ich spiele an einer Schwimmbrille herum, knote das Band auf, erinnere mich daran zu atmen und verdränge das harte, enge Gefühl in meiner Brust, das nur verschwindet, wenn ich regelmäßig ausatme.
Pünktlich um Viertel nach neun kommt Mr Daly aus dem Umkleideraum. Er trägt seinen üblichen knappen Badeslip in einem gnadenlosen Himmelblau, das in nassem Zustand auch das kleinste Detail durchschimmern lässt. Die Haut um seine Augen, um Wangen und Kinn ist so schlaff und dünn, dass ich fast jede Vene in seinem Körper erkennen kann. Bestimmt bekommt er beim kleinsten Stoß blaue Flecke. Seine gelben Zehennägel sind grotesk eingerollt und sehen aus, als verursachten sie ihm Schmerzen. Er wirft mir einen kläglichen Blick zu und zieht sich die Schwimmbrille über die Augen. Dann schlurft er an mir vorbei wie jeden Tag, ohne mich anzuschauen, ohne Guten Morgen, greift nach dem Metallgeländer und hält sich daran fest, als könne er jeden Moment auf den Fliesen ausrutschen, die Mary Kelly unermüdlich unter Wasser setzt. Ich stelle mir vor, wie der alte Mann auf die Fliesen stürzt, wie die Knochen seine papierdünne Haut durchstoßen, die knistert wie bei einem Brathuhn.
Ich behalte ihn im Auge und sehe gleichzeitig nach Mary, die bei jedem Zug ein lautes Grunzen ausstößt, als eifere sie Marija Scharapowa nach. Mr Daly erreicht die Stufen, hält sich fest und lässt sich langsam ins Wasser sinken. Bei der ersten Berührung mit der Kälte blähen sich seine Nasenflügel, und als er drin ist, kontrolliert er sofort, ob ich auch wirklich auf ihn aufpasse. An Tagen, an denen ich seinen Blick erwidere, lässt er sich lange wie ein toter Goldfisch auf dem Rücken treiben. An Tagen wie heute, an denen ich nicht hinschaue, taucht er unter, hält sich mit beiden Händen am Beckenrand fest, um nicht gleich wieder zur Oberfläche zu treiben, und verharrt dort. Ich sehe ihn ganz deutlich, wie er im Nichtschwimmerbereich praktisch auf den Knien liegt und zu ertrinken versucht. Ein ganz alltäglicher Vorgang.
»Sabrina«, ruft Eric, mein Vorgesetzter, warnend aus dem Büro hinter mir.
»Keine Sorge, ich hab ihn im Blick.«
Langsam mache ich mich auf den Weg zu Mr Daly, greife ins Wasser, fasse ihn unter die Achseln und ziehe ihn hoch. Er wiegt so wenig, dass er sofort an die Oberfläche kommt und nach Luft schnappt, die Augen wild hinter der Schwimmbrille, eine große grüne Rotzblase im rechten Nasenloch. Grunzend und grummelnd zieht er die Brille vom Kopf und gießt das Wasser aus. Vor Wut, dass ich seinen Plan wieder einmal durchkreuzt habe, zittert er am ganzen Leib. Sein Gesicht ist puterrot, seine Brust hebt und senkt sich krampfhaft, während er wieder zu Atem zu kommen versucht. Er erinnert mich an meinen Dreijährigen, der sich immer an derselben Stelle versteckt und sich schrecklich ärgert, wenn ich ihn finde. Ich sage nichts, sondern gehe zurück zu meinem Stuhl und spritze mit meinen Flipflops das kalte Wasser von hinten auf meine Waden. Solche Dinge passieren ständig. Aber mehr nicht.
»Du hast dir ganz schön Zeit gelassen«, sagt Eric.
Wirklich? Vielleicht habe ich eine Sekunde länger gewartet als sonst.
»Ich wollte ihm den Spaß nicht verderben.«
Obwohl er es eigentlich nicht will, muss Eric grinsen, doch er schüttelt den Kopf, um deutlich zu machen, dass er mein Verhalten trotzdem nicht gut findet. Wir haben beide hier angefangen, als das Altenheim gegründet wurde. Davor hatte Eric eine Art Baywatch-Job als Rettungsschwimmer in Miami. Erst als seine Mutter auf dem Totenbett lag, kam er zurück nach Irland. Doch die Mutter lebte weiter, und Eric blieb in Irland. Inzwischen macht er Witze darüber, dass sie ihn wahrscheinlich überleben wird, aber obwohl er darüber lacht, spüre ich seine Nervosität. Ich glaube, er wartet darauf, dass seine Mutter stirbt, damit er anfangen kann zu leben, und jetzt, wo er demnächst fünfzig wird, hat er Angst, dass es nie so weit kommt. Um mit dieser selbstauferlegten Pause in seinem Leben einigermaßen klarzukommen, tut er so, als wäre er immer noch in Miami, und obwohl das eine Illusion ist, beneide ich ihn gelegentlich um seine Fähigkeit, die Realität komplett zu ignorieren und tatsächlich zu glauben, er wäre an einem exotischeren Ort. Manchmal habe ich das Gefühl, dass er mit dem Klang von Rumbarasseln im Kopf herumläuft. Er ist einer der glücklichsten Menschen, die ich kenne. Sein Haar hat einen seltsamen Gelbstich, seine Haut ebenfalls. Übers Jahr hin hat er keine Verabredungen, aber jeden Januar fliegt er für einen Monat nach Thailand. Von dort kehrt er fröhlich pfeifend und mit einem strahlenden Lächeln auf dem Gesicht zurück. Ich möchte lieber nicht so genau wissen, was er dort tut, aber ich weiß, er hofft, dass nach dem Tod seiner Mutter alle Monate des Jahres so sein werden wie jetzt nur dieser eine in Thailand. Ich mag Eric, er ist ein Freund. Da ich fünf Tage die Woche hier mit ihm zusammenarbeite, habe ich ihm vermutlich mehr über mich erzählt als mir selbst.
»Ist dir schon mal aufgefallen, dass ausgerechnet der Mensch, den ich jeden Tag rette, gar nicht mehr leben will? Fühlt sich das für dich nicht auch total überflüssig an?«
»Es gibt eine ganze Menge Dinge, die sich für mich überflüssig anfühlen, aber das nicht.« Er bückt sich, um einen Klumpen nasser grauer Haare aufzuheben, die den Ablauf verstopfen. Der Haarklumpen sieht aus wie eine ertrunkene Ratte, er hält ihn fest und schüttelt das Wasser heraus, anscheinend ohne dabei den geringsten Ekel zu empfinden. »Fühlst du dich etwa so?«
Ja, so fühle ich mich. Auch wenn das nicht in Ordnung ist. Es dürfte eigentlich keine Rolle spielen, ob der Mann, dem ich das Leben rette, gerettet werden will oder nicht. Es sollte doch in erster Linie darum gehen, dass ich ihn rette, oder? Aber das sage ich nicht. Eric ist mein Chef, nicht mein Therapeut, und ich sollte als diensthabende Rettungsschwimmerin das Leute-Retten nicht anzweifeln. Vielleicht bewohnt Eric in seiner Phantasie eine andere Welt, aber er ist trotzdem nicht blöd.
»Mach doch Kaffeepause«, meint er und reicht mir meinen Kaffeebecher. In der anderen Hand hat er immer noch die ertrunkene Schamhaarratte.
Ich mag meinen Job, aber in letzter Zeit bin ich irgendwie kribbelig. Keine Ahnung, warum, ich weiß nicht, was ich von der Zukunft erwarte oder worauf ich hoffe. Ich habe keine besonderen Träume oder Ziele in meinem Leben. Ich wollte heiraten, das habe ich getan. Ich wollte Kinder und hab welche bekommen. Ich wollte Rettungsschwimmerin werden und bin jetzt eine. Aber ist das nicht genau die Bedeutung von kribbelig? Dass es einen kribbelt, obwohl da in Wirklichkeit gar nichts ist?
»Eric, was bedeutet für dich kribbelig?«
»Hm. Ruhelos, würde ich sagen, irgendwie unbehaglich.«
»Und kribbelt es einen wirklich?«
Er runzelt nachdenklich die Stirn.
»Ich dachte, man hat so ein unruhiges Gefühl, als würde es einen kribbeln, so ungefähr«, erkläre ich und schüttle mich ein bisschen. »Aber das Kribbeln ist vielleicht gar nicht real.«
Eric tippt sich mit dem Finger an die Unterlippe. »Ich weiß nicht recht. Ist das wichtig?«
Ich überlege. Entweder bin ich kribbelig, weil mit meinem Leben tatsächlich etwas nicht stimmt, oder ich bilde es mir nur ein, und in Wirklichkeit ist alles in Ordnung. Letzteres wäre die bevorzugte Lösung.
»Was ist los mit dir, Sabrina?«, fragt Aidan mich in letzter Zeit oft. Das ist so ähnlich, wie wenn man dauernd gefragt wird, ob man wütend ist – irgendwann wird man garantiert sauer.
»Nichts«, antworte ich dann. Aber stimmt das denn? Oder liegt das Problem vielleicht genau darin, dass nichts ist – dass alles einfach nur nichts ist? Kann das sein? Alles ist nichts? Ich meide Erics Blick und konzentriere mich stattdessen auf die Badeordnung, die mich aber ebenfalls irritiert, so dass ich schnell wegschaue. Seht ihr, da ist es wieder, dieses kribbelige Gefühl.
»Ich lass es mir mal durch den Kopf gehen«, verspricht Eric und mustert mich.
Um seinem Blick zu entgehen, hole ich mir einen Kaffee aus der Maschine im Korridor und gieße ihn in meinen Becher. Dann lehne ich mich an die Korridorwand und denke über unser Gespräch und über mein Leben nach. Da ich, als ich ausgetrunken habe, noch immer zu keiner Erkenntnis gelangt bin, gehe ich zurück zum Pool. Unterwegs werde ich fast von einer Krankentrage überfahren, die zwei Sanitäter im Laufschritt den Korridor entlangschieben. Darauf liegt Mary Kelly, patschnass, die weißen, blaugeäderten Beine wie Blauschimmelkäse, das Gesicht von einer Sauerstoffmaske verdeckt.
»Das kann doch wohl nicht sein«, höre ich mich sagen.
Als ich in mein kleines Rettungsschwimmer-Büro zurückkehre, sitzt da Eric, total unter Schock, sein Jogginganzug trieft, seine gelbstichigen Haare sind nass und angeklatscht.
»Was war das denn?«
»Ich glaube, sie hatte einen … ich meine, ich weiß es nicht, aber womöglich hatte sie einen Herzinfarkt. Himmel.« Auch von seiner spitzen Nase tropft das Wasser.
»Aber ich war doch höchstens fünf Minuten weg.«
»Ich weiß – du warst kaum draußen, da ist es passiert. Ich hab sofort die Notleine gezogen, sie aus dem Wasser gezogen und beatmet. Zum Glück waren die Sanitäter im Handumdrehen hier, und ich hab sie durch den Notausgang reingelassen.«
Ich schlucke, Neid steigt in mir auf. »Du hast Mund-zu-Mund-Beatmung gemacht?«
»Ja. Sie hat nicht geatmet. Aber dann hat sie wieder angefangen und literweise Wasser ausgehustet.«
Ich schaue zur Uhr. »Es waren nicht mal fünf Minuten.«
Immer noch ganz benommen, zuckt er die Achseln.
Ich schaue zum Becken. Sogar Mr Daly sitzt ganz betroffen auf dem Rand und schaut dem Gespenst auf der Trage neidisch nach. Und ich war genau viereinhalb Minuten nicht an meinem Platz.
»Du musstest reinspringen? Und sie rausziehen? Mund-zu-Mund-Beatmung machen?«
»Ja. Ja. Hör mal, Sabrina, mach dir jetzt bloß keine Vorwürfe, du wärst auch nicht schneller bei ihr gewesen als ich.«
»Du musstest die Notleine ziehen?«
Er schaut mich verwirrt an.
Ich musste noch nie die Notleine ziehen. Nie. Nicht mal bei den Tests. Das hat immer Eric gemacht. Ich spüre, wie Neid und Wut dicht unter der Oberfläche blubbern, ein sehr ungewöhnliches Gefühl für mich. Klar, zu Hause passiert es schon manchmal – schließlich rastet jede Mutter mit drei Jungs gelegentlich aus, aber mir passiert es nie in der Öffentlichkeit. Da unterdrücke ich meinen Ärger, vor allem bei der Arbeit, vor allem, wenn es um meinen Vorgesetzten geht. Ich bin eine ruhige, vernünftige Person, Leute wie ich verlieren in der Öffentlichkeit nicht die Beherrschung. Aber jetzt unterdrücke ich meine Wut nicht, sondern lasse sie bis ganz nach oben steigen. Wenn ich nicht so ernsthaft frustriert, so total irritiert wäre, würde es sich bestimmt gut anfühlen, sie jetzt einfach rauszulassen.
Um die Sache mal in die richtige Perspektive zu rücken: Ich arbeite seit sieben Jahren hier. Minus einmal neun, einmal sechs und einmal drei Monate Elternzeit. Das sind eintausendfünfhundertachtzehn Tage. Siebentausendfünfhundertneunzig Stunden. In der ganzen Zeit habe ich auf meinem Stuhl gesessen und den oft vollkommen leeren Pool beobachtet. Keine Mund-zu-Mund-Beatmung, keine dramatischen Rettungsaktionen. Kein einziges Mal. Abgesehen von Mr Daly natürlich. Und den gelegentlichen Bein- oder Fußkrämpfen. Aber sonst nichts. Ich sitze auf meinem Stuhl, manchmal stehe ich auch auf, ich beobachte die riesige tickende Uhr und die Liste mit den Baderegeln. Nicht rennen, nicht springen, nicht schubsen, nicht schreien, nicht sonst was … alles Dinge, die man hier nicht darf, alles negativ, fast so, als wolle die Liste sich über mich lustig machen. Leben retten verboten. Ständig bin ich in Alarmbereitschaft, wie ich es gelernt habe, aber es passiert nie etwas. Und genau in der Sekunde, in der ich eine außerplanmäßige Kaffeepause mache, verpasse ich einen potentiellen Herzinfarkt, ein ganz reales Fast-Ertrinken und das Ziehen der Notleine.
»Das ist nicht fair«, sage ich.
»Jetzt komm aber, Sabrina, du warst wie der Blitz zur Stelle, als Eliza auf die Glasscherbe getreten ist.«
»Das war keine Glasscherbe. Bei Eliza ist eine Krampfader gerissen.«
»Na gut. Aber du warst trotzdem sofort bei ihr.«
Über Wasser muss ich kämpfen, über Wasser kriege ich keine Luft. Über Wasser habe ich das Gefühl zu ertrinken.
Frustriert schleudere ich meinen Kaffeebecher an die Wand.
Murmelspiele: Eroberer
Mir wird der Hals zugedrückt, so fest, dass mir schon schwarze Flecken vor den Augen herumtanzen. Ich würde gern protestieren, aber ich kann nicht, weil ich keinen Ton rauskriege. Ich kann nicht atmen. Für mein Alter bin ich ziemlich klein, und die anderen ziehen mich oft deswegen auf. Sie haben mir den Spitznamen »Tick« gegeben, weil ich wohl ewig einen Tick kleiner bleiben werde als die anderen, aber Mammy meint, jeder muss das Beste aus dem machen, was er hat. Ich bin zwar klein, aber dafür schlau. Und als ich noch mal meine ganze Energie einsetze, um meinen großen Bruder Angus abzuschütteln, muss er sich mächtig anstrengen, mich nicht entwischen zu lassen.
»Hör auf damit, Tick!«, sagt er genervt und packt mich noch fester.
Ich kriege keine Luft, ich kriege keine Luft.
»Lass ihn los, Angus«, sagt Hamish. »Spielt lieber weiter.«
»Der kleine Wichser hat geschummelt. Mit dem spiele ich nicht mehr.«
»Ich hab überhaupt nicht geschummelt!«, will ich schreien, aber es geht nicht, ich kriege ja keine Luft.
»Er hat nicht geschummelt«, entgegnet Hamish an meiner Stelle. »Er spielt einfach besser als du.«
Hamish ist sechzehn, der Älteste von uns. Er schaut uns von der Haustreppe aus beim Murmelspielen zu. Dass er sich für mich einsetzt, ist eine große Ehre; supercool, wie er ist, hält er sich sonst meistens raus. Er raucht eine Zigarette. Wenn Mammy ihn erwischen würde, bekäme er eins hinter die Löffel, aber im Moment ist Mammy mit der Hebamme im Haus, und wir sind alle nach hier draußen verbannt, bis es vorbei ist.
»Sag das noch mal«, fordert Angus Hamish heraus.
»Willst du mir drohen?«
Nein. Angus würde sich niemals mit Hamish anlegen, der zwar nur zwei Jahre älter, aber unendlich viel cooler ist. Keiner von uns würde es wagen, ihm zu drohen. Hamish ist knallhart, das weiß jeder, und seit neuestem hängt er sogar mit Eddie Sullivan – genannt »der Barbier« – und dessen Gang im Friseurladen rum. Von denen kriegt er auch die Zigaretten. Und Geld, ich weiß nicht, wofür. Mammy macht sich Sorgen seinetwegen, aber sie braucht das Geld und nimmt es deshalb trotzdem. Ich bin Hamishs Lieblingsbruder. Manchmal weckt er mich nachts, dann muss ich mich schnell anziehen, und wir schleichen uns raus auf Straßen, wo wir nicht spielen dürfen. Natürlich darf ich Mammy auch nichts davon sagen. Wir spielen Murmeln. Ich bin zehn, sehe aber jünger aus, deshalb erwartet man nicht, dass ich so gut spiele, und Hamish kann den Leuten das Geld aus der Tasche ziehen. Er gewinnt ganz schön viel, und auf dem Heimweg schenkt er mir Karamellbonbons, damit ich ihn nicht verpfeife. Eigentlich muss er mich gar nicht bestechen, aber das sage ich ihm nicht, weil ich die Karamellbonbons mag.
Ich spiele Murmeln im Schlaf, ich spiele, wenn ich eigentlich Hausaufgaben machen sollte, ich spiele, wenn Father Sackgesicht mich mal wieder in die Kammer sperrt, ich spiele im Kopf, wenn Mammy mit mir schimpft, damit ich ihre Strafpredigt nicht hören muss. Meine Finger sind die ganze Zeit in Bewegung, als würden sie Murmeln schnippen, und ich habe inzwischen auch eine ziemlich gute Sammlung. Allerdings muss ich sie vor meinen Brüdern verstecken – jedenfalls die richtig guten Exemplare. Meine Brüder sind bei weitem nicht so gut wie ich, und sie würden meine Murmeln bloß verlieren.
Auf einmal heult Mammy oben im Haus auf wie ein Tier. Vor Schreck lockert Angus seinen Griff ein bisschen, und ich bekomme mehr Bewegungsfreiheit. Wenn Mammy so schreit, werden wir alle nervös. Zwar ist die Situation nicht neu für uns, aber keiner von uns mag sie. Es ist einfach nicht normal, wenn eine Frau solche Töne von sich gibt. Einen Moment später geht die Haustür auf, und Mattie kommt heraus, noch bleicher im Gesicht als sonst.
Er schaut Angus an. »Lass ihn los.«
Angus gehorcht, ich kriege endlich wieder Luft und fange an zu husten. Es gibt außer Hamish nur noch eine andere Person, mit der Angus sich nicht anlegt, und das ist Mattie, unser Stiefvater. Mit Mattie Doyle ist nicht zu spaßen.
Jetzt mustert er Hamish und seine Zigarette mit grimmigem Blick. Ich mache mich darauf gefasst, dass er ihm gleich eine scheuert, aber nichts dergleichen.
Stattdessen fragt er: »Hast du auch eine für mich?«
Hamish grinst übers ganze Gesicht, und seine grünen Augen blitzen. Er hat die gleichen grünen Augen wie Daddy. Aber er antwortet nicht.
Das gefällt Mattie überhaupt nicht. »Du kannst mich mal«, knurrt er und gibt Hamish eine Kopfnuss, aber der lacht nur und freut sich, dass er Mattie aus der Fassung gebracht hat. Er hat gewonnen. »Ich gehe in den Pub«, brummt Mattie. »Wenn es so weit ist, kann einer von euch mich ja holen kommen.«
»Wahrscheinlich hörst du das auch im Pub«, meint Duncan.
Mattie lacht, sieht aber ein wenig besorgt aus.
»Passt eigentlich keiner von euch auf ihn auf?«, fragt er dann und deutet auf Bobby, unseren Jüngsten, gerade mal zwei Jahre alt. Wir folgen alle seinem Blick. Bobby sitzt, von oben bis unten mit Dreck beschmiert, auf dem Boden und isst Gras.
»Das macht er immer«, sagt Tommy, »wir können ihm das Grasessen nicht abgewöhnen.«
»Bist du eine Kuh, oder was?«, fragt Mattie den Kleinen.
»Quak, quak«, macht Bobby, und wir lachen alle.
»Ach du Kacke, kann ihm einer von euch vielleicht mal die richtigen Tierlaute beibringen?«, meint Mattie grinsend. »Na gut, Daddy geht jetzt zum Pub, also sei lieb, Bobby.« Dann fährt er Tommy mit der Hand durch die Haare. »Pass ein bisschen auf ihn auf, Sohn.«
»Tschüss, Mattie«, sagt Bobby.
»Für dich bin ich immer noch Dad«, sagt Mattie ärgerlich, und sein Gesicht läuft rot an.
Es macht ihn stinksauer, wenn Bobby ihn Mattie nennt, aber das ist nicht Bobbys Schuld, er ist es einfach gewohnt, dass wir Mattie beim Vornamen nennen, er ist ja nicht unser Dad, aber Bobby kapiert den Unterschied noch nicht, er denkt, wir sind alle gleich. Nur Matties erster Sohn, Tommy, nennt Mattie Dad. In unserer Familie gibt es Doyles und Boggs, und wir anderen kennen alle den Unterschied.
»Spielen wir weiter«, schlägt Duncan vor, als Mammy noch mal schreit.
»Er darf bloß weiterspielen, wenn er den letzten Wurf wiederholt«, sagt Angus, immer noch wütend.
»Na schön, das macht er, also beruhige dich«, antwortet Hamish.
»Hey!«, protestiere ich. »Ich hab nicht geschummelt.«
Hamish zwinkert mir zu. »Zeig es ihnen, du kannst es doch.«
Ich seufze tief. Ich bin zehn, Duncan ist zwölf, Angus vierzehn und Hamish sechzehn. Die beiden Doyle-Jungs Tommy und Bobby sind fünf und zwei. Mit drei älteren Brüdern muss ich mich ständig beweisen, und selbst wenn ich besser bin als sie – was beim Murmelspielen der Fall ist und was sie nur sehr schwer verkraften –, muss ich mich umso mehr anstrengen, weil sie immer denken, ich schummle. Dabei bin ich derjenige, der ihnen neue Spiele beibringt, die ich in meinen Büchern finde. Ich kann besser Murmelspielen als sie. Alle hassen das, aber Angus treibt es fast in den Wahnsinn. Jedes Mal, wenn er verliert, verprügelt er mich. Hamish hasst es auch zu verlieren, aber inzwischen hat er den Bogen raus, wie er meine Fähigkeiten für seine eigenen Zwecke einsetzen kann.
Wir spielen Eroberer, ich, Duncan und Angus. Angus lässt Tommy nicht mitspielen, weil er so schlecht ist, dass er jedes Spiel ruiniert. Wenn unsere älteren Brüder nicht da sind, gebe ich Tommy Privatstunden. Das gefällt mir, obwohl er »teuflisch« spielt. Das ist ein Ausdruck, den Hamish zurzeit dauernd benutzt. Ich gebe Tommy auch nur meine schlechtesten Murmeln, nur die Clearies, weil er oft welche kaputt macht. Jetzt sitzt er auf den Stufen, ein Stück von Hamish entfernt. Er hat Angst vor Hamish, er weiß, dass Hamish und sein Dad überhaupt nicht miteinander auskommen. Ich glaube, Tommy meint, dass er seinen Dad verteidigen muss, wenn er nicht da ist. Zwar ist Tommy erst fünf, aber ganz schön abgebrüht – mager und bleich wie sein Vater. Die Jungs nennen ihn immer Flaschenbürste, weil er so dünn und drahtig ist.
Der Grund, warum Angus mich in den Schwitzkasten genommen hat, ist folgender: Angus hat bei unserem Spiel die erste Murmel geworfen, dann hat Duncan mit seiner Murmel die von Angus getroffen, worüber Angus schon mal sauer war. Duncan hat Angus’ Murmel eingeheimst und die nächste Runde begonnen. Ich hab Duncans Murmel abgeschossen, dann die von Angus erobert und war in der neuen Runde als Erster dran.
Dann kam Angus und wollte mit seiner Schussmurmel meine abschießen, was ihm aber nicht gelang.
Als Nächstes zielte Duncan auf Angus’ Corkscrew, nicht weil die Murmel näher lag, sondern weil er merkte, dass Angus schon dabei war, wütend zu werden, und ihn noch mehr auf die Palme bringen wollte. Aber er traf sie auch nicht, also war ich wieder dran – und hatte jetzt zwei Zielmurmeln zur Auswahl: entweder Duncans langweilige opake Murmel, auf die ich keinen großen Wert lege, weil jeder solche Murmeln hat – opake Murmeln sind immer einfarbig –, oder Angus’ Popeye Corkscrew, auf die ich schon lange ein Auge geworfen habe. Zwar behauptet er steif und fest, er hätte sie gewonnen, aber ich glaube, er hat sie aus Francis’ Eckladen geklaut. Ich bin noch nie jemandem mit so einer Murmel begegnet, ich kenne sie nur von den Bildern in meinem Murmelbuch, und die von Angus ist eine ganz besondere dreifarbige Art, die man Snake Corkscrew nennt. Sie hat eine Doppelspirale, ist durchsichtig grün mit weißen, opaken Einsprengseln und hat im Innern winzige klare Bläschen. Vor ein paar Tagen hab ich die Murmel in seiner Schublade entdeckt, aber er hat mich beim Rumschnüffeln erwischt und mir einen Tritt in die Eier verpasst. Ich hab die Murmel trotzdem nicht fallen lassen, ich wollte sie auf gar keinen Fall beschädigen. Doch zuzuschauen, wie Angus jetzt damit spielt, tut mehr weh als der Tritt in die Eier. Er sollte sie in einer Schachtel aufbewahren, wo sie sicher ist und nicht kaputtgehen kann.
Ich beschloss also, einen Wurf zu riskieren, an dem ich schon seit einer Weile arbeite, und alle damit zu beeindrucken, dass ich mit einem einzigen Wurf beide Zielmurmeln eroberte. Ich warf also meine Schussmurmel, und sie berührte planmäßig als Erstes die von Duncan, aber dann stieß Tommy plötzlich einen Schrei aus, und alle schauten zu Bobby, der dabei war, sich eine Schnecke in den Mund zu stecken. Angus rannte zu ihm, riss ihm die Schnecke aus der Hand und schleuderte sie in hohem Bogen über die Straße. Dann zwang er Bobby, den Mund weit aufzumachen.
»Das war nur das Schneckenhaus – hast du die Schnecke etwa schon gegessen, Bobby?«
Bobby antwortete nicht, sondern saß einfach nur da, sperrte seine großen blauen Augen auf und wartete auf eine Ohrfeige. Bobby hat als Einziger von uns blonde Haare, und weil er dazu auch noch diese großen blauen Augen hat, kommt er oft ungestraft davon, und selbst Hamish gibt ihm nicht halb so oft einen Klaps, wie er gerne möchte. Jedenfalls hatte niemand hingesehen, als meine Murmel die von Angus auch noch traf – was ja bedeutete, dass sie nun beide mir gehörten. Deshalb behauptete Angus, ich hätte geschummelt, und nahm mich in den Schwitzkasten.
Jetzt, wo ich wieder frei bin, muss ich den Wurf wiederholen, um den Schummel-Vorwurf aus der Welt zu schaffen, was eigentlich ganz leicht sein müsste, denn ich weiß, dass ich es kann – aber nicht, wenn die anderen denken, ich schummle. Denn wenn ich nicht treffe, nehmen sie das als Beweis, dass ich tatsächlich geschummelt habe. Hamish zwinkert mir zu. Er weiß, dass ich es kann, aber wenn ich es jetzt nicht schaffe, dann nimmt er mich vielleicht heute Nacht nicht mit auf Tour. Meine Hände fangen an zu schwitzen.
Mammy schreit schon wieder, und Tommy reißt die Augen auf.
»Baby?«, fragt Bobby.
»Ja, es dauert bestimmt nicht mehr lange, Kumpel«, erklärt ihm Hamish und dreht sich cool wie nur irgendwas die nächste Zigarette. Ehrlich – wenn ich groß bin, möchte ich werden wie Hamish.
Da kommt Mrs Lynch, unsere Nachbarin, aus ihrem Haus, zusammen mit ihrer Tochter Lucy, die knallrot anläuft, als sie Hamish sieht. Lucy trägt ein Tablett mit einem Berg Sandwiches, ich kann die rote Marmelade sehen, und Mrs Lynch hat einen großen Krug Orangensaft in der Hand.
Wir stürzen uns auf das Essen.
»Danke, Mrs Lynch!«, rufen wir, dann verschlingen wir die Brote. Wegen Mammys Wehen haben wir seit dem Abendessen gestern nichts mehr zu essen gekriegt.
Hamish zwinkert Lucy zu, die seltsam kichert und zurück ins Haus rennt. Ich hab die beiden neulich spätabends zusammen gesehen. Hamish hatte die eine Hand unter ihrer Bluse und die andere unter ihrem Rock, Lucy hatte ein Bein um ihn geschlungen wie ein Babyäffchen, und ihr dicker weißer Oberschenkel hat im Dunkeln geleuchtet.
»Eure Mammy lässt nicht locker, bis sie ihr Mädchen bekommt, was?«, sagt Mrs Lynch und setzt sich auf die Treppe.
»Ich hab so ein Gefühl, dass es diesmal klappt«, sagt Hamish. »Der Bauch sah anders aus.«
Er meint das ganz ernst, denn obwohl er so viel um die Ohren hat, nimmt Hamish seine Umgebung sehr genau wahr und sieht sogar Dinge, die sonst keiner von uns mitkriegt.
»Ich glaube, du hast recht«, pflichtet Mrs Lynch ihm bei. »Er war ziemlich weit oben.«
»Es wird schön sein, endlich ein Mädchen bei uns zu haben«, fährt Hamish fort. »Und nicht noch so einen dreckigen Mistkerl, der mich bloß ärgern will.«
»Oh, sie wird euer Boss sein und euch alle nach ihrer Pfeife tanzen lassen«, lacht Mrs Lynch. »Genau wie meine Lucy.«
»Ja, die ist jedenfalls Hamishs Boss«, murmelt Angus und kriegt dafür von Hamish prompt einen Tritt in den Magen. Zerkauter Marmeladensandwichbrei spritzt aus seinem Mund, einen Moment bleibt ihm die Luft weg, und ich freue mich, dass er den Schwitzkasten von vorhin heimgezahlt bekommt.
Hamishs grüne Augen leuchten, und er wirkt, als hätte er wirklich gern eine kleine Schwester. Er sieht, so betrachtet, fast aus wie ein großes Stofftier.
Mammy kreischt schon wieder.
»Kann nicht mehr lange dauern«, meint Hamish fachmännisch.
»Sie macht es echt gut«, meint Mrs Lynch, und ich glaube, ihr tut schon das Zuhören weh. Vielleicht erinnert sie sich, wie das Kinderkriegen bei ihr war, und mir wird ganz schlecht bei dem Gedanken, dass ein Baby aus ihr rausgekommen ist.
Die Hebamme beginnt eine Art Sprechgesang, als wäre sie Mammys Boxtrainer.
»Und noch mal pressen!«, ruft Hamish.
Offensichtlich ist Mrs Lynch tief beeindruckt, dass er so viel weiß. Als Ältester war Hamish schon fünfmal in dieser Situation, und auch wenn er sich vielleicht nicht an jedes Mal genau erinnert, hat er doch auf alle Fälle mitbekommen, wie der Hase läuft.
»Okay, bringen wir das Spiel zu Ende, bevor sie da ist«, sagt Angus, springt auf und wischt sich mit dem Ärmel die Marmelade vom Gesicht.
Ich weiß, dass er mich vor allen als Lügner hinstellen will. Er weiß, dass Hamish mich mag, und nur weil er zu schwach ist, um sich mit Hamish zu prügeln, will er mich stattdessen in die Pfanne hauen. Mir weh zu tun ist fast so, wie Hamish weh zu tun. Hamish sieht das übrigens ähnlich. Für mich ist das gut, denn alle diejenigen, die mich schlecht behandeln, müssen es büßen. Letzte Woche hat Hamish einem Typen einen Schneidezahn ausgeschlagen, weil er mich nicht in sein Fußballteam gewählt hat. Dabei wollte ich nicht mal mitspielen.
Also stehe ich auf, gehe in Position und konzentriere mich. Mein Herz pocht heftig, meine Hände schwitzen. Aber ich will diese Corkscrew-Murmel haben.
Die Hebamme ruft, dass sie den Kopf des Babys sehen kann. Die Töne, die Mammy von sich gibt, werden immer furchtbarer. Wie ein abgestochenes Schwein.
»Gutes Mädchen, gutes Mädchen«, sagt Mrs Lynch, als könnte Mammy sie hören, kaut an ihrem Fingernagel und schaukelt auf der Stufe nervös vor und zurück. »Gleich hast du’s geschafft, Liebes. Gleich ist es so weit.«
Ich werfe die Schussmurmel. Wie geplant trifft sie Duncans Murmel und rollt auf die von Angus zu. Ich will diese Corkscrew-Murmel haben.
»Es ist ein Mädchen!«, brüllt die Hebamme.
Hamish steht auf und will die Faust in die Luft recken, aber im letzten Moment hält er inne.
Meine Murmel kullert weiter, ohne die von Angus zu berühren, aber niemand sieht es. Alle sind wie erstarrt, sogar Mrs Lynch hat es die Sprache verschlagen. Alle warten. Warten darauf, dass das Baby schreit.
Hamish lässt den Kopf in die Hände sinken. Ich vergewissere mich noch einmal, dass wirklich niemand zu mir und meiner Murmel schaut, die an der von Angus vorbeigerollt ist und sie nicht mal gestreift hat.
Ich mache einen kleinen Schritt nach rechts; die anderen sehen immer noch nicht her. Langsam strecke ich den Fuß aus und schubse meine Murmel ein bisschen zurück, bis sie Angus’ Corkscrew berührt. Das Herz klopft mir bis zum Hals. Ich kann selbst nicht glauben, was ich da tue, aber wenn ich damit durchkomme, dann gewinne ich die Popeye Corkscrew, dann gehört sie tatsächlich mir.
Plötzlich ertönt ein lautes Heulen, aber es ist nicht das Baby, es ist Mammy.
Hamish rennt ins Haus, Duncan folgt ihm. Tommy hebt Bobby aus dem Dreck und schleppt ihn ebenfalls hinein. Jetzt schaut Angus endlich auf den Boden, sieht seine Murmel und meine Murmel und dass sie sich berühren.
Sein Gesicht ist todernst. »Okay, du hast gewonnen«, sagt er nur, dann folgt er den anderen Jungs ins Haus.
Ich hebe die grüne Corkscrew-Murmel auf und inspiziere sie, überglücklich, dass ich sie in der Hand halte und dass sie jetzt zu meiner Sammlung gehört. Solche Murmeln sind unglaublich selten. Doch mein Glücksgefühl hält nicht lange an, und der Adrenalinrausch schwindet, während mir klarwird, was passiert ist.
Wir haben keine kleine Schwester bekommen. Es wird gar kein Geschwisterchen geben. Und ich bin ein feiger Schummler.
Badeordnung: Nicht ins Wasser springen
»Alles klar bei dir, Sabrina?«, fragt mich Eric von der anderen Seite des Schreibtischs.
»Ja«, antworte ich, so ruhig ich kann, obwohl ich alles andere als ruhig bin. Soeben habe ich meinen Becher an die Wand geschleudert, weil ich nicht dabei war, als jemand fast ertrunken ist. »Ich dachte, es würde mehr Scherben geben.« Der Henkel ist ab und der Rand gesplittert, weiter nichts. »Meine Mum hat mal eine Teekanne an die Decke geschmissen, da gab es deutlich mehr Scherben.«
Eric inspiziert den Becher. »Vermutlich liegt es daran, wie er an die Wand geschlagen ist. Am Winkel – oder so.«
Schweigend lassen wir uns diese Erklärung durch den Kopf gehen.
»Ich glaube, du solltest nach Hause gehen«, sagt Eric plötzlich. »Nimm den Rest des Tages frei. Genieß die Sonnenfinsternis, von der alle reden. Komm Montag wieder.«
»Okay.«
Zu Hause ist für mich das letzte Vierzimmerhäuschen einer Reihe, hier wohne ich mit Aidan, meinem Mann, und unseren drei Jungs. Aidan arbeitet beim Broadband-Support von Eircom, der irischen Telekom, aber unser eigener Anschluss scheint nie richtig zu funktionieren. Wir sind seit sieben Jahren verheiratet. Kennengelernt haben wir uns auf Ibiza, als wir beide an einem Wettbewerb teilgenommen haben, der auf der Theke eines Clubs stattfand und bei dem es darum ging, wer am schnellsten Sahne vom Oberkörper eines Wildfremden ablecken kann. Aidan war der Oberkörper, ich die Leckerin. Wir haben gewonnen. Glaubt jetzt bloß nicht, dass das für mich ein untypischer Moment war. Damals war ich neunzehn; vierzehn Leute haben an dem Event teilgenommen und vor mehreren Tausend Leuten um eine Flasche Tequila gekämpft. Nach unserem Sieg haben wir die Flasche am Strand ausgetrunken und dabei miteinander geschlafen. Es wäre untypisch gewesen, es nicht zu tun. Damals war Aidan ein Fremder für mich, aber jetzt wäre er ein Fremder für den Mann von damals – keiner würde in ihm den übermütigen Teenager mit dem Piercing und der rasierten Augenbraue erkennen. Vermutlich haben wir uns beide verändert. Inzwischen geht Aidan überhaupt nicht mehr gern an den Strand, weil man danach überall voll Sand ist. Und ich versuche, die Finger von Milchprodukten zu lassen.
Es kommt selten vor, dass ich allein im Haus bin, ich kann mich nicht mal mehr erinnern, wann das zum letzten Mal passiert ist, keine Kinder, die alle zwei Sekunden etwas von mir wollen. Erst weiß ich nichts mit mir anzufangen, also setze ich mich in die leere, stille Küche und schaue mich um. Es ist zehn Uhr morgens, der Tag hat gerade erst begonnen. Nur um etwas zu tun zu haben, mache ich mir eine Tasse Tee, trinke sie aber nicht. Im letzten Moment kann ich mich noch daran hindern, die Teebeutel im Kühlschrank zu verstauen. So etwas passiert mir dauernd. Nachdenklich betrachte ich den Berg mit der Bügelwäsche, aber darauf habe ich überhaupt keine Lust. Dann merke ich, dass ich die Luft anhalte, und atme aus.
Es gibt immer irgendetwas zu erledigen, wofür in meinem sorgfältig durchgeplanten Tagesablauf nie Zeit ist. Aber jetzt habe ich Zeit – den ganzen Tag sogar –, und ich weiß nicht, wo ich anfangen soll.
Mein Handy klingelt und rettet mich aus meiner Unentschlossenheit. Es ist das Pflegeheim meines Vaters.
»Hallo?«, sage ich und fühle die Enge in meiner Brust.