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Der erste Band des atemberaubenden Zweiteilers. Spannend und emotional erzählt Cecelia Ahern in dieser Dystopie die Geschichte der 17-jährigen Celestine, die darum kämpft, etwas anderes sein zu dürfen als perfekt. Celestines Leben scheint perfekt: Sie ist schön, bei allen beliebt und hat einen unglaublich süßen Freund. Doch dann handelt sie in einem entscheidenden Moment aus dem Bauch heraus. Und bricht damit alle Regeln. Sie könnte im Gefängnis landen oder gebrandmarkt werden – verurteilt als Fehlerhafte. Denn Fehler sind in ihrer Welt nicht erlaubt. Nichts geht über die Perfektion. Auch nicht die Menschlichkeit. Jetzt muss sie kämpfen – um ihre eigene Zukunft und um ihre große Liebe. »Es ist mein erster All-Age-Roman, aber die Idee hat mich selbst fast überrollt. Ich kam kaum hinterher, sie aufzuschreiben. Es ist eine einzigartige Geschichte, aber wie in allen meinen Büchern steckt eine besondere Botschaft und ganz viel Gefühl drin.« Cecelia Ahern
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Seitenzahl: 529
Cecelia Ahern
Roman
›Flawed – Wie perfekt willst du sein?‹ ist der erste atemberaubende Band des neuen Zweiteilers von Bestsellerautorin Cecelia Ahern. Spannend und emotional erzählt sie in dieser Dystopie die Geschichte der 17-jährigen Celestine, die darum kämpft, etwas anderes sein zu dürfen als perfekt.
Celestines Leben scheint perfekt: Sie ist schön, bei allen beliebt und hat einen unglaublich süßen Freund. Doch dann handelt sie in einem entscheidenden Moment aus dem Bauch heraus. Und bricht damit alle Regeln. Sie könnte im Gefängnis landen oder gebrandmarkt werden – verurteilt als Fehlerhafte.
Denn Fehler sind in ihrer Welt nicht erlaubt. Nichts geht über die Perfektion. Auch nicht die Menschlichkeit. Jetzt muss sie kämpfen – um ihre eigene Zukunft und um ihre große Liebe.
„Es ist mein erster All-Age-Roman, aber die Idee hat mich selbst fast überrollt. Ich kam kaum hinterher, sie aufzuschreiben. Es ist eine einzigartige Geschichte, aber wie in allen meinen Büchern steckt eine besondere Botschaft und ganz viel Gefühl drin.“ Cecelia Ahern
Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de
Cecelia Ahern ist eine der erfolgreichsten Autorinnen der Welt. Sie wurde 1981 in Irland geboren und studierte Journalistik und Medienkommunikation in Dublin. Mit 21 Jahren schrieb sie ihren ersten Roman, der sie sofort international berühmt machte: ›P.S. Ich liebe Dich‹. Danach folgten Jahr für Jahr weitere weltweit veröffentlichte Bücher in Millionenauflage. ›Flawed - Wie perfekt willst du sein?‹ und ›Perfect - Willst du die perfekte Welt?‹ sind ihre ersten beiden Romane für junge Erwachsene. Cecelia Ahern lebt mit ihrem Mann und ihren beiden Kindern im Norden von Dublin.
[Widmung]
[Definition FEHLERHAFT]
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
11. Kapitel
12. Kapitel
13. Kapitel
14. Kapitel
15. Kapitel
16. Kapitel
17. Kapitel
18. Kapitel
19. Kapitel
20. Kapitel
21. Kapitel
22. Kapitel
23. Kapitel
24. Kapitel
25. Kapitel
26. Kapitel
27. Kapitel
28. Kapitel
29. Kapitel
30. Kapitel
Der erste Tag.
Der zweite Tag
Der dritte Tag
Der vierte Tag
Der fünfte Tag
Der sechste Tag
Der siebte Tag
31. Kapitel
32. Kapitel
33. Kapitel
34. Kapitel
35. Kapitel
36. Kapitel
37. Kapitel
38. Kapitel
39. Kapitel
40. Kapitel
41. Kapitel
42. Kapitel
43. Kapitel
44. Kapitel
45. Kapitel
46. Kapitel
47. Kapitel
48. Kapitel
49. Kapitel
50. Kapitel
51. Kapitel
52. Kapitel
53. Kapitel
54. Kapitel
55. Kapitel
56. Kapitel
57. Kapitel
58. Kapitel
59. Kapitel
60. Kapitel
61. Kapitel
62. Kapitel
63. Kapitel
64. Kapitel
65. Kapitel
66. Kapitel
LESEPROBE aus dem Band PERFECT – Willst du die perfekte Welt?
Perfekt: ideal, mustergültig, makellos, [...]
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
Für Dich, Dad
FEHLERHAFT(flawed, engl.): defekt, mangelhaft, unvollkommen, deformiert, schadhaft, nicht einwandfrei, unsolide, labil, unzulänglich, ungenügend, unzuverlässig, oder: mit charakterlichen Mängeln behaftet (bezogen auf eine Person).
Ich bin ein Mädchen, das auf klare Definitionen steht, auf Logik, auf Schwarz oder Weiß.
Vergesst das nicht.
Trau niemals einem Mann, der sich im Haus seines Gastgebers ungefragt ans Kopfende des Tischs setzt.
Der Spruch stammt nicht von mir, sondern von meinem Großvater Cornelius, der seinetwegen praktisch verbannt wurde und in absehbarer Zeit an unserem Tisch nicht mehr willkommen ist. Das Problem dabei war nicht unbedingt, was er gesagt, sondern wen er damit gemeint hat: Richter Crevan, einen der mächtigsten Männer im Land, der trotz Großvaters Bemerkung im letzten Jahr, auch diesmal beim Festessen anlässlich des Tags der Erde wieder ganz oben am Tisch sitzt.
Als Dad mit einer frischen Flasche Rotwein aus der Küche zurückkommt und feststellen muss, dass sein angestammter Platz besetzt ist, ärgert er sich, das sehe ich ihm deutlich an. Aber da es sich um Richter Crevan handelt, hält er lediglich einen Moment inne, spielt mit dem Flaschenöffner und überlegt, was er tun soll. Dann geht er entschlossen um den Tisch herum und setzt sich neben Mum ans andere Ende – dorthin, wo eigentlich Richter Crevan sitzen sollte.
Mum ist nervös, das sehe ich daran, dass sie noch perfekter aussieht als sonst. Auf ihrem perfekt frisierten blonden Kopf tanzt keine Locke aus der Reihe, alles fügt sich ordentlich in den kunstvoll geschlungenen Knoten an ihrem Hinterkopf. Nur sie bewältigt diese Frisur, auch wenn sie sich dabei beide Schultern ausrenken muss. Ihre Haut ist wie Porzellan, sie leuchtet förmlich, ein Inbild der Reinheit. Natürlich ist auch ihr Make-up makellos, ihr kornblumenblaues Spitzenkleid ist perfekt mit dem Blau ihrer Augen abgestimmt, ihre Armmuskulatur makellos straff.
Tatsächlich bewundern viele Menschen Tag für Tag die Schönheit meiner Mutter, denn sie ist ein gefragtes Model. Obwohl sie drei Kinder geboren hat, ist ihr Körper so vollkommen wie eh und je, allerdings vermute oder besser gesagt weiß ich, dass sie sich wie die meisten Menschen dabei schon gelegentlich hat unterstützen lassen. Wenn Mum mal einen schlechten Tag oder gar eine schlechte Woche hat, merkt man es eigentlich nur daran, dass sie mit etwas runderen Wangen, volleren Lippen, einer glatteren Stirn oder ohne Schatten unter den Augen nach Hause kommt. Ihr Äußeres zu verändern tröstet ihre Seele. Bei allem, was mit dem Aussehen zu tun hat, ist sie extrem pingelig, sie beurteilt auch andere nach ihrer Erscheinung und hat meist schon nach einem kurzen prüfenden Blick eine ausgeprägte Meinung von ihrem Gegenüber. Mit allem, was nicht perfekt ist, hat sie Probleme – ein schiefer Zahn, ein Doppelkinn, eine große Nase, so etwas bringt sie dazu, eine Person als solche in Frage zu stellen und ihr mit Argwohn zu begegnen. Damit ist sie allerdings nicht allein, die meisten Leute denken genauso wie Mum. Sie sagt gern, es ist das Gleiche, wie wenn man ein Auto verkaufen will – man wäscht und poliert es vorher gründlich, es muss glänzen. Dasselbe gelte auch für Menschen. Nachlässigkeit im Äußeren sei ein Symbol für den Zustand des Inneren. Auch ich bin Perfektionistin, aber nicht bei Äußerlichkeiten, sondern bei der Sprache und beim Verhalten – was meine Schwester Juniper zum Wahnsinn treibt, denn sie ist in diesen Bereichen überhaupt nicht wählerisch. Obwohl sie die wählerischste nicht wählerische Person ist, die ich kenne. Das muss ich ihr lassen.
Ich beobachte die Anspannung meiner Familie ein wenig von oben herab, denn ich selbst bin kein bisschen nervös. Die Situation amüsiert mich sogar. Für mich heißt Richter Crevan Bosco, und er ist der Vater von Art, meinem Freund. Ich bin jeden Tag bei ihnen zu Hause, war mit ihnen in Urlaub, habe an privaten Familienfesten teilgenommen, also kenne ich ihn wesentlich besser als meine Eltern und die meisten anderen Leute. Ich kenne Richter Crevan, wenn er morgens mit zerzausten Haaren und Zahncremeresten auf der Lippe aus dem Bett kommt. Ich hab ihn mitten in der Nacht völlig verpennt zur Toilette wandern sehen, in Boxershorts und Socken – er trägt immer Socken im Bett –, oder zur Küche, um sich ein Glas Wasser zu holen. Ich habe ihn sturzbetrunken auf der Couch liegen sehen, mit offenem Mund, eine Hand vorn in der Hose vergraben. Ich hab ihm Popcorn aufs Hemd geschüttet und ihm im Schlaf den Finger in warmes Wasser getunkt, um ihn zum Pinkeln zu bringen. Ich hab ihn alkoholisiert tanzen sehen und schauderhaft Karaoke singen hören. Ich hab miterlebt, wie er nach einer durchzechten Nacht gekotzt, wie er geschnarcht, wie er geweint hat, und ich weiß sogar, wie seine Fürze riechen. Unmöglich, vor jemandem, dessen menschliche Seiten ich so gut kenne, Angst zu haben.
Für meine Familie und den Rest des Landes ist Bosco eine furchterregende Persönlichkeit, der man mit Angst und Ehrfurcht begegnet. Aber für mich ist er eher vergleichbar mit einem Jurymitglied bei einer Talentshow im Fernsehen oder mit einer etwas überzeichneten Comicfigur. Es macht mir einen Riesenspaß, ihn zu imitieren, worüber Art sich immer sehr amüsiert. Wenn ich als Richter Bosco auf und ab stolziere, mir meine improvisierte Robe um die Schultern werfe, Grimassen schneide und gestikuliere, hält er sich den Bauch vor Lachen. Bosco liebt große Gesten, vor allem dann, wenn er weiß, dass eine Kamera auf ihn gerichtet ist. Meiner Überzeugung nach ist seine einschüchternde Richter-Pose zwar wichtig für seinen Job, aber letztlich doch nur Theater und keineswegs sein natürlicher Daseinszustand. Übrigens legt er im Pool eine super Arschbombe hin.
Bosco, allen außer Art und mir als Richter Crevan bekannt, ist oberster Richter eines Komitees namens die Gilde. Die Gilde, einst von der Regierung als temporäre Institution – eine Art Ermittlungsbehörde – eingesetzt, ist inzwischen eine permanente Einrichtung und verhört Leute, denen vorgeworfen wird, fehlerhaft zu sein. Fehlerhaft sind normale Bürger, die sich in der Gesellschaft moralisch oder ethisch falsch verhalten haben.
Ich war noch nie bei einer solchen Gerichtsverhandlung, aber wir haben alle freien Zutritt, man kann die Prozesse auch im Fernsehen verfolgen, und sie werden fair geführt, denn es kommen nicht nur Zeugen des fraglichen Vorfalls zu Wort, sondern es werden auch Freunde und Verwandte vorgeladen und zum Charakter des Angeklagten befragt. Am Tag der Benennung entscheiden die Richter dann, ob der beziehungsweise die Beschuldigte fehlerhaft ist oder nicht. Lautet das Urteil auf »Fehlerhaft«, so werden die betreffenden Fehler öffentlich bekanntgegeben und die Verurteilten an einer von fünf Körperstellen mit einem F gebrandmarkt. Die Stelle hängt von der Art ihres Fehlverhaltens ab.
Bei fehlerhaften Entscheidungen ist es die Schläfe.
Wenn jemand lügt, die Zunge.
Wenn jemand die Gesellschaft bestohlen hat, die rechte Handfläche.
Bei Illoyalität gegenüber der Gilde die Brust direkt über dem Herzen.
Bei gesellschaftlich inakzeptablem Verhalten die rechte Fußsohle.
Außerdem müssen die Verurteilten ständig eine mit einem roten F gekennzeichnete Armbinde tragen, damit sie in der Öffentlichkeit jederzeit identifiziert werden können und als abschreckendes Beispiel dienen. Sie werden nicht eingesperrt, sie haben ja nichts Illegales getan, aber sie haben sich Dinge zuschulden kommen lassen, die als schädlich für die Gesellschaft gelten. Sie leben unter uns, sind aber aus der Gesellschaft ausgegrenzt und müssen nach besonderen Regeln leben.
Nachdem unser Land in eine katastrophale wirtschaftliche Lage geraten war, war es ursprünglich das ausdrückliche Ziel der Gilde gewesen, alle fehlerhaften Personen aus den Führungspositionen zu entfernen. Inzwischen werden solche Menschen ersetzt, ehe sie in entsprechende Ämter gelangen können. Demzufolge entsteht durch sie kein Schaden mehr, und die Gilde rühmt sich damit, schon in nächster Zukunft eine moralisch und ethisch makellose Gesellschaft geschaffen zu haben. Eine perfekte Gesellschaft. Für viele ist Richter Bosco Crevan deshalb ein Held.
Art hat das attraktive Äußere seines Vaters geerbt – blonde Haare, blaue Augen und ein verschmitztes Grinsen. Er hat einen wuscheligen blonden Lockenkopf, und seine großen blauen Augen funkeln, als hätte er ständig Unsinn im Sinn, aber er ist ein Typ, der mit allem durchkommt. Wenn er in der Schule Quatsch macht, bekommt er nie selbst Ärger, sondern irgendein anderer. Am Esstisch sitzt er mir direkt gegenüber, und ich muss mich anstrengen, ihn nicht die ganze Zeit über anzustarren, während ich innerlich Luftsprünge mache – vor Freude, dass er mir gehört. Zum Glück ist er nicht so verbissen wie sein Vater, sondern weiß, dass man Spaß haben und auch mal lockerlassen kann. Außerdem hat er immer eine witzige Bemerkung parat, wenn eine Unterhaltung allzu ernst wird, und sein Timing ist dabei so gut, dass sogar Bosco lachen muss. Art ist für mich wie ein Licht, das auch noch in die finstersten Winkel leuchtet.
An diesem Tag im April feiern wir wie jedes Jahr mit unseren Nachbarn, den Crevans und den Tinders, den Tag der Erde. Juniper und ich haben dieses Fest schon als Kinder geliebt und auf dem Kalender die Tage gezählt, wir haben geplant, was wir anziehen würden, wir haben das Haus geschmückt und den Tisch gedeckt, aber dieses Jahr bin ich noch aufgeregter als sonst, weil Art und ich beim heutigen Festessen zum ersten Mal offiziell zusammen sind. Nicht dass ich vorhabe, ihn unter dem Tisch anzugrapschen oder so, aber meinen Freund hier zu haben macht einfach alles noch spannender.
Dad ist Chef eines 24-Stunden-Fernsehsenders namens News 24, unser Nachbar und Dinner-Gast Bob Tinder arbeitet als Chefredakteur bei der Tageszeitung The Daily News. Beide Unternehmen gehören zu Crevan Media, insofern verbinden die drei anwesenden Männer das Angenehme mit dem Nützlichen. Wie immer kommen die Tinders zu spät. Keine Ahnung, wie Bob es schafft, seine Deadlines bei der Zeitung einzuhalten, wo er nicht mal rechtzeitig zu einem gemeinsamen Essen erscheinen kann – aber es ist jedes Jahr dasselbe. Wir haben schon eine Stunde mit Drinks im Empfangszimmer vertrödelt, und jetzt sitzen wir – in der Hoffnung, dass es unsere Nachbarn irgendwie magisch antreibt, wenn wir ins Esszimmer umziehen – mit drei leeren Stühlen am Tisch. Der dritte leere Platz ist für Colleen, die Tochter der Tinders, die mit mir in die gleiche Klasse geht.
»Wir sollten anfangen«, sagt Bosco plötzlich, hebt den Blick von seinem Handy, beendet das beiläufige Geplauder, setzt sich auf und nimmt Haltung an.
»Das Essen verbrennt schon nicht«, beruhigt ihn Mum, während sie von Dad ihr frisch gefülltes Weinglas entgegennimmt. »Ich hab von vornherein ein bisschen Verspätung einberechnet«, fügt sie lächelnd hinzu.
»Wir sollten anfangen«, beharrt Bosco.
»Warum hast du es plötzlich so eilig?«, fragt Art und sieht seinen Vater, der auf einmal richtig hektisch wirkt, fragend an. »Wenn man pünktlich kommt, ist noch niemand da, um es zu bemerken, das ist das Problem«, fährt er fort, als er keine Antwort bekommt, und alle lachen. »Ich muss es wissen, ich warte nämlich ständig auf das Mädchen hier.« Unter dem Tisch stupst er mich dabei leicht mit dem Fuß an.
»Stimmt überhaupt nicht«, protestiere ich. »Pünktlich ist man, wenn man etwas genau zur verabredeten Zeit tut. Du bist nicht pünktlich, du bist immer lächerlich früh dran.«
»Der frühe Vogel fängt den Wurm«, verteidigt sich Art.
»Aber die zweite Maus kriegt den Käse«, gebe ich zurück, und Art streckt mir die Zunge raus.
Mein kleiner Bruder Ewan kichert. Juniper verdreht die Augen.
Offensichtlich genervt von unserem Wortwechsel, unterbricht Bosco und wiederholt: »Summer, Cutter, wir sollten wirklich mit dem Essen anfangen.«
Sein Ton bringt uns alle augenblicklich zum Schweigen, keiner lacht mehr, und wir schauen ihn verdutzt an. Das klang wie ein Befehl.
»Dad«, sagt Art überrascht und mit einem verlegenen Lachen. »Was ist denn, bist du seit neuestem bei der Ernährungspolizei?«
Aber Bosco starrt nur weiter meine Mutter an, was auf alle Anwesenden am Tisch eine seltsame Wirkung ausübt und eine Atmosphäre schafft, wie man sie manchmal bei schwülem Wetter direkt vor dem ersten Donnergrollen erlebt. Drückend, stickig, kopfschmerzerregend.
»Sollten wir nicht lieber auf Bob und Angelina warten?«, fragt Dad.
»Und auf Colleen«, füge ich hinzu, und Juniper verdreht wieder die Augen. Sie hasst es, dass ich kein noch so winziges Detail unter den Tisch fallen lasse, aber ich kann einfach nicht anders.
»Nein, das finde ich nicht«, antwortet Bosco kurz angebunden.
»Okay«, sagt Mum, steht auf und geht in die Küche, so ruhig und gelassen, dass ich sofort weiß, dass sie eifrig damit beschäftigt ist, ihre Nervosität zu unterdrücken.
Verwirrt schaue ich zu Art, und mir ist klar, dass auch er die unterschwellige Spannung spürt, denn ich merke, wie sich in seinem Mund ein neuer Scherz formt, was immer dann geschieht, wenn ihm eine Situation unangenehm ist, wenn er Angst hat oder sich sonst irgendwie unwohl fühlt. Ich sehe, wie sein Mund sich schon beim Gedanken an die Pointe kräuselt, aber ich werde niemals wissen, was er sagen will, denn in diesem Augenblick hören wir die Sirene.
Die Sirene heult langgezogen und durchdringend, eine Warnung. Ich fahre zusammen, vor Schreck fängt mein Herz wild an zu klopfen, alles in mir wittert die Gefahr. Dieses grässliche Geräusch kenne ich schon mein Leben lang, jeder hasst es und hofft, dass es nicht ihm selbst gilt. Den drei bis fünf Minuten andauernden Sirenenklang, der von den Gilde-Transportern ertönt, nennen sie »das Alarmsignal«, und obwohl ich nie einen Krieg erlebt habe, denke ich, dass sich die Menschen vor einem Luftangriff ungefähr so gefühlt haben müssen. Mitten in einem ganz alltäglichen Augenblick kann dieses Gefühl jeden fröhlichen Gedanken zunichtemachen. Heute scheint das Alarmsignal ganz nahe zu sein, ein unheilvolles Zeichen. Einen Moment sitzen wir wie erstarrt um den Tisch, dann springt Juniper – weil sie Juniper ist, die redet, bevor sie denkt, und oft sehr ungeschickt handelt – als Erste auf, stößt gegen den Tisch und bringt die Gläser zum Wackeln, dass der Wein über das weiße Tischtuch spritzt und blutrote Flecken hinterlässt. Ohne sich zu entschuldigen, rennt sie aus dem Zimmer. Dad folgt ihr dicht auf den Fersen.
Auch Mum macht einen verängstigten Eindruck, gelähmt wie ein Reh im Scheinwerferlicht schaut sie zu Bosco, totenbleich, und ich glaube, sie ist einer Ohnmacht nahe. Sie versucht jedenfalls nicht mal, meinen kleinen Bruder Ewan daran zu hindern, ebenfalls hinauszulaufen.
Die Sirene wird lauter, sie kommt immer näher. Jetzt springt Art auf, ich folge seinem Beispiel und laufe mit ihm den Korridor hinunter und nach draußen, wo sich alle im Vorgarten aneinanderdrängeln. Im Vorgarten rechts von uns klammern sich der alte Mr Miller und seine Frau aneinander, und als ich mich umschaue, sehe ich, dass die gesamte Nachbarschaft in etwa die gleiche Reaktion zeigt. Alle stehen sie in ihren Vorgärten, halten einander fest und warten angespannt, vor welchem Haus der Sirenenwagen anhalten wird. Direkt uns gegenüber öffnet Bob Tinder die Tür und tritt ins Freie. Er entdeckt Dad, und die beiden wechseln einen kurzen Blick. Irgendetwas ist im Busch, aber ich verstehe nicht, was. Zuerst denke ich, Dad ist sauer auf Bob, aber Bob hat genau den gleichen Gesichtsausdruck, und ich werde nicht schlau aus den beiden. Ich weiß nicht, was da los ist. Wir müssen warten. Wen wird es treffen?
Art umklammert meine Hand, drückt sie und versucht, mich mit seinem liebenswürdigen Lächeln zu beruhigen. Aber das Lächeln ist wacklig und wie angeknipst und hat genau die gegenteilige Wirkung auf mich. Inzwischen ist die Sirene fast bei uns angekommen, ihr Heulen gellt in unseren Ohren, unseren Köpfen. Die Transporter biegen in unsere Straße ein, zwei schwarze Lieferwagen mit leuchtend roten F-Symbolen auf den Seiten, damit alle wissen, wer hier unterwegs ist. Die Whistleblower sind sozusagen die Armee der Gilde, ausgesandt, um die Gesellschaft vor den Fehlerhaften zu schützen. Sie sind nicht unsere offizielle Polizei, ihre Aufgabe ist es lediglich, diejenigen in Verwahrung zu nehmen, die moralisch und ethisch fehlerhaft sind. Kriminelle kommen ins Gefängnis, mit ihnen hat das Gerichtssystem der Gilde nichts zu tun.
Die wild kreisenden Lichter auf dem Dach der Einsatzfahrzeuge erhellen den Abendhimmel und senden mit ihren roten Strahlen eine Warnung an uns alle. Familien, die gerade noch ganz entspannt den Tag der Erde gefeiert haben, drängen sich ängstlich vor ihren Häusern zusammen und hoffen, dass die Aktion nicht sie betrifft, dass niemand aus ihrer Mitte gerissen wird – bitte nicht unsere Familie, nicht unser Haus, nicht heute Abend. Abrupt halten die beiden Fahrzeuge mitten auf der Straße an, direkt vor unserem Haus, und ich merke, wie ich anfange zu zittern. Die Sirene verstummt.
»Nein«, flüstere ich.
»Sie können uns nicht mitnehmen«, beruhigt mich Art und wirkt so selbstsicher und zuversichtlich, dass ich ihm glaube. Natürlich können sie uns nicht mitnehmen, Richter Crevan sitzt in unserem Wohnzimmer am Esstisch, wir sind praktisch unantastbar. Das hilft ein bisschen gegen die Angst, aber dann muss ich plötzlich an die arme Person denken, auf die es die Whistleblower abgesehen haben, und ich bekomme Angst um sie. Ich wundere mich, denn ich glaube fest daran, dass die Fehlerhaften im Unrecht sind und dass die Whistleblower auf meiner Seite sind und mich beschützen. Aber weil es in meiner Straße, vor meiner Haustür passiert, ändert sich alles. Auf einmal habe ich das Gefühl, es sind wir gegen sie. Mein unlogisches und gefährliches Denken jagt mir eine Gänsehaut über den Rücken.
Die Wagentüren öffnen sich, und die Trillerpfeifen setzen lautstark ein, als je vier uniformierte Whistleblower herausspringen, gekleidet in Springerstiefel und die typischen roten Westen über schwarzen Hemden. Mein Kopf ist schon ganz taub von ihrem unablässigen Lärm, ich kann keinen klaren Gedanken mehr fassen, ich fühle nur noch Panik. Vielleicht ist das ja die Absicht, die hinter den Trillerpfeifen steckt.
Doch die Whistleblower laufen nicht zu uns, sie gehen in die entgegengesetzte Richtung, zum Haus der Tinders, direkt gegenüber.
»Nein, nein, nein«, sagt Dad, und ich höre die Wut in seiner Stimme.
»O mein Gott«, flüstert Juniper.
Voller Entsetzen sehe ich Art an und warte auf seine Reaktion, aber er starrt stur geradeaus, sein Kiefer mahlt heftig. Da erst fällt mir auf, dass Mum und Bosco sich immer noch nicht zu uns gesellt haben.
Ich lasse Arts Hand los, renne zurück zur Haustür und rufe hinein: »Mum, Bosco, schnell! Es sind die Tinders!«
Mum erscheint auf dem Korridor, so eilig, dass sich eine dünne Haarsträhne aus ihrem Dutt löst und ihr ins Gesicht fällt. Dad und sie wechseln einen Blick, Dad ballt die Fäuste und entspannt sie wieder. Von Bosco noch immer keine Spur.
»Ich versteh das nicht«, sage ich, während ich beobachte, wie die Uniformierten auf Bob Tinder zugehen. »Was ist denn da los?«
»Sei still und schau hin«, versucht Juniper mich zum Schweigen zu bringen.
Colleen Tinder, die ich aus der Schule kenne, ist jetzt mit ihrem Vater Bob und ihren beiden kleinen Brüdern Timothy und Jacob im Garten. Bob hat sich schützend vor seinen Kindern aufgebaut und versperrt den Whistleblowern den Weg. Bitte nicht seine Familie, nicht sein Haus, nicht heute Abend.
»Aber die Babys können sie doch nicht mitnehmen«, sagt Mum leise, ihre Stimme klingt irgendwie langsam und weit weg, und ich weiß, dass sie dabei ist, in Panik auszubrechen.
»Nein, bestimmt nicht«, sagt Dad. »Es geht um ihn. Ganz sicher.«
Aber die Männer halten Bob im Vorbeigehen ein Blatt Papier unter die Nase, das er zögernd zu lesen beginnt, ignorieren die laut schluchzenden Kinder und betreten das Haus. Plötzlich scheint Bob zu begreifen, was da passiert, er wirft das Papier weg und läuft den Männern nach, dreht sich aber kurz noch einmal um und ruft Colleen zu, sie soll sich um ihre kleinen Brüder kümmern – was nicht einfach ist, da die beiden mittlerweile außer sich sind vor Angst und Verzweiflung.
»Ich helfe ihr«, verkündet Juniper, aber ehe sie losrennen kann, packt Dad sie unsanft am Arm. »Autsch!«, jault sie auf.
»Bleib hier«, sagt Dad in einem Ton, den ich noch nie von ihm gehört habe.
Auf einmal hört man Schreie aus dem Inneren des Hauses. Es ist Angelina Tinder. Mum schlägt die Hände vors Gesicht. Ein Riss in ihrer Fassade, die Maske verrutscht.
»Nein! Nein!«, hören wir Angelina schreien, dann erscheint sie an der Tür, flankiert von zwei Whistleblowern. Sie ist fast fertig angezogen für unser Festtags-Dinner – schwarzes Seidenkleid, Perlenkette, die Haare noch in Lockenwicklern, an den Füßen juwelenbesetzte Sandalen –, und so wird sie aus ihrem Haus geschleift. Die Jungs brüllen, als sie sehen, wie ihre Mutter abgeführt wird, sie wollen zu ihr laufen, aber andere Whistleblower halten sie zurück.
»Hände weg von meinen Söhnen!«, brüllt Bob und stürzt sich auf die Männer, die ihn zu Boden werfen und dort festhalten, während Angelina schrill und verzweifelt darum bettelt, nicht von ihren Kindern getrennt zu werden. Noch nie im Leben habe ich jemanden so schreien hören, mir ist nichts Vergleichbares je zu Ohren gekommen. Angelina stolpert, die Whistleblower fangen sie auf, und sie humpelt zwischen ihnen weiter – einer ihrer Absätze ist abgebrochen.
Noch immer am Boden liegend brüllt Bob: »Lasst ihr doch wenigstens ein bisschen Würde, verdammt nochmal!«
Doch Angelina wird gnadenlos in den Transporter verfrachtet, die Schiebetür schließt sich mit einem Knall, das schrille Geräusch der Trillerpfeifen verstummt.
Und noch nie habe ich einen Mann so weinen sehen wie Bob. Die Whistleblower, die ihn zu Boden drücken, reden leise auf ihn ein. Als er endlich aufhört, sie anzubrüllen, und nur noch leise vor sich hin schluchzt, lassen sie ihn los und verschwinden im zweiten Transporter. Dann fahren beide weg.
Mein Herz klopft, ich kann kaum atmen und begreife überhaupt nicht, was gerade passiert ist.
Bestimmt werden gleich alle Nachbarn zu Bob laufen, um ihn und seine Kinder zu trösten. Wir sind eine enge Gemeinschaft, wir feiern Nachbarschaftsfeste, wir kümmern uns umeinander. Ich schaue mich um. Und warte. Die Leute beobachten aufmerksam, wie Bob sich im Gras aufsetzt, die Kinder an sich zieht und wieder zu weinen anfängt. Aber keiner von den Umstehenden rührt sich vom Fleck. Ich möchte fragen, warum niemand etwas unternimmt, aber gleichzeitig komme ich mir albern vor, denn ich tue ja selbst auch nichts, ich kann mich nicht dazu aufraffen. Obwohl es kein Verbrechen ist, fehlerhaft zu sein, muss man mit einer Gefängnisstrafe rechnen, wenn man Fehlerhaften hilft oder sie unterstützt. Bob ist zwar kein Fehlerhafter, doch seine Frau steht unter Anklage, und alle haben Angst, in die Sache mit hineingezogen zu werden. Nach einer Weile drehen Mr und Mrs Miller sich um, gehen zurück ins Haus, und die meisten anderen folgen ihrem Beispiel. Mir bleibt der Mund offen stehen.
»Hol euch der Teufel!«, ruft Bob auf der anderen Seite der Straße. Zuerst ziemlich leise, als sagte er es zu sich selbst, aber dann wird seine Stimme lauter, und ich habe das Gefühl, er meint die beiden Fahrzeuge, die natürlich längst um die Ecke verschwunden sind. Aber als er immer lauter und immer wütender wird, wird mir klar, dass er uns meint, uns alle, seine Nachbarn. Aber was haben wir ihm denn getan?
»Bleibt hier«, sagt Dad zu uns und wirft Mum einen langen Blick zu. »Alle zurück ins Haus, ganz ruhig, ja?«
Mum nickt, und ihr Gesicht ist wieder so heiter und gelassen, als wäre nichts geschehen, die Maske sitzt wieder perfekt, die lose Haarsträhne steckt wieder dort, wo sie hingehört. Obwohl ich nicht mitbekommen habe, dass Mum ihre Haare irgendwann gerichtet hat.
Als ich mich umdrehe und ins Haus zurückblicke, sehe ich drinnen Bosco mit verschränkten Armen am Fenster stehen. Er hat alles beobachtet. Plötzlich begreife ich, dass vor allem er es ist, den Bob anschreit. Bosco, den Obersten Richter der Gilde, den Kopf der Organisation, die Angelina weggeschleppt hat.
Er kann helfen, das weiß ich. Er ist das Oberhaupt des Fehlerhaften-Gerichts. Er hat die Macht zu helfen. Alles wird gut. Alles wird wieder normal. Die Welt wird wieder ins Gleichgewicht kommen, alles wird sich klären. Und weil ich das weiß, kann ich auch endlich wieder atmen.
Als Dad auf Bob zugeht, verstummt das Geschrei, aber nicht das Weinen – der Klang eines gebrochenen Herzens.
So etwas gesehen zu haben kann man nicht rückgängig machen. Man kann es auch nicht »ungehört« machen. Tief in meinem Innern spüre ich, dass ich heute Abend etwas erfahren habe, das ich nie wieder vergessen werde. Meine Welt wird nie wieder dieselbe sein.
»Wir sollten nicht um den heißen Brei herumreden«, sagt Bosco etwas abrupt, greift sich die Rotweinflasche und füllt großzügig sein Glas. Er hat darauf bestanden, dass wir uns alle wieder an den Tisch setzen, obwohl nach dem, was wir gerade erlebt haben, keiner mehr richtig Appetit hat. Dad ist noch drüben bei Bob, Mum macht in der Küche den Hauptgang fertig.
»Ich versteh das alles nicht«, sage ich zu Bosco. »Angelina Tinder wird angeklagt, fehlerhaft zu sein?«
»Mhmm«, antwortet Bosco freundlich, und seine blauen Augen funkeln, als er mich ansieht – fast so, als amüsierte ihn meine Reaktion.
»Aber Angelina ist …«
Mum lässt in der Küche einen Teller fallen. War das eine Warnung? Will sie mir sagen, ich soll still sein?
»Nichts passiert!«, ruft sie, etwas zu fröhlich.
»Was wolltest du über Angelina Tinder sagen, Celestine?« Bosco beobachtet mich genau.
Ich schlucke. Ich wollte sagen, dass sie nett und freundlich ist, dass sie kleine Kinder hat und eine großartige Mutter ist, dass ihre Kinder sie brauchen. Dass sie niemals in der ganzen Zeit, die ich sie kenne, etwas Falsches gesagt oder getan hat und dass sie die talentierteste Klavierspielerin ist, die ich je gehört habe. Aber ich tue es nicht, weil Bosco mich auf diese seltsame Art anschaut und weil Mum so gut wie nie etwas zerbricht.
»Aber ich habe Klavierunterricht bei Angelina«, sage ich stattdessen.
Bosco lacht leise. »Wir werden eine neue Klavierlehrerin für dich finden, liebe Celestine. Aber du hast nicht unrecht, wir sollten vielleicht darüber nachdenken, ihr das Klavierspielen zu verbieten. Instrumente sind ein Luxus, den Fehlerhafte nicht verdienen.« Er macht sich über seine Vorspeise her und schiebt sich einen großen Bissen Carpaccio in den Mund. Bisher hat außer ihm niemand auch nur das Besteck in die Hand genommen. »Wenn ich so darüber nachdenke, kann ich nur hoffen, dass Klavierspielen das Einzige ist, was sie dir beigebracht hat«, fügt er hinzu, und jetzt schimmert in seinen Augen kein Lächeln mehr.
»Ja, natürlich«, sage ich und runzle die Stirn, verwirrt, dass er überhaupt auf so eine Idee kommt. »Was hat sie denn eigentlich Fehlerhaftes getan?«
»Dir Klavierstunden gegeben«, neckt mich Art. »Wenn man dich spielen hört, ist doch klar, dass das ihr Untergang war.«
Ewan kichert. Ich lächle Art an, denn ich bin dankbar, dass er die nervöse Anspannung im Raum etwas gelockert hat.
»Das ist nicht komisch«, sagt Juniper neben mir – ruhig, aber entschieden.
Sofort wandert Boscos Blick zu ihr. »Da hast du vollkommen recht, Juniper, das ist nicht komisch.«
Juniper schlägt die Augen nieder.
Und die Spannung ist wieder da.
»Nein, es ist nicht komisch im Sinne von lustig, aber komisch im Sinn von seltsam«, werfe ich ein, werde aber das Gefühl nicht los, eine Ohrfeige bekommen zu haben.
»Danke, Thesaurus«, erwidert Juniper leise. So nennt sie mich gern, wenn ich mich ihrer Meinung nach mal wieder in überflüssigen Definitionen verheddere.
Bosco ignoriert mich und schaut unverwandt weiter zu meiner Schwester. »Hat Angelina dich auch unterrichtet, Juniper?«
Sie erwidert seinen Blick ganz direkt. »Ja. Sie war die beste Lehrerin, die ich je hatte.«
Schweigen.
Im nächsten Moment kommt Mum herein, perfektes Timing. »Ich muss sagen, ich hatte Angelina immer sehr gern«, verkündet sie. »Sie war eine gute Freundin. Ich bin … ich bin ehrlich schockiert von diesem … Zwischenfall.«
»Ich mochte Angelina auch gern, Summer, und glaub mir, was heute hier passiert ist, tut niemandem mehr weh als mir, denn schließlich bin ich derjenige, der ihr das Urteil mitteilen muss.«
»Sie werden ihr dieses Urteil aber nicht einfach nur mitteilen, oder?«, hakt Juniper nach. »Es wird Ihr Urteil sein. Sie werden die Entscheidung fällen.«
Junipers Ton macht mir Angst. Jetzt ist wirklich nicht der richtige Moment für solche Volksreden. Ich will nicht, dass sie Bosco verärgert, er ist ein Mann, den man mit Respekt behandeln muss. Wie Juniper mit ihm redet, klingt gefährlich. So redet normalerweise niemand mit ihm.
»Wir kennen einen Menschen einfach nie ganz, wir wissen nicht alles über ihn. Nicht einmal bei denjenigen, die wir für unsere Freunde halten, können wir sicher sein«, sagt Bosco, ohne den Blick von Juniper zu wenden. »Manchmal ahnen wir nicht einmal, was bei denen, die wir für Gleichgesinnte halten, unter der Oberfläche lauert. Das erlebe ich jeden Tag.«
»Was hat Angelina getan?«, frage ich noch einmal.
»Wie du sicher weißt, ist sie mit ihrer Mutter vor ein paar Monaten ins Ausland gereist, um Sterbehilfe für sie zu bekommen, was bei uns illegal ist.«
»Aber sie hat ihre Mutter doch auf deren ausdrücklichen Wunsch begleitet – in ein Land, in dem Sterbehilfe erlaubt ist«, wendet Juniper ein. »Also hat sie nichts Illegales getan.«
»Und die Gilde ist auch kein Gericht im juristischen Sinne, zur Debatte steht hier lediglich ihr Charakter, und wir denken, dass die Entscheidung, im Ausland für ihre Mutter Sterbehilfe in Anspruch zu nehmen, darauf hinweist, dass sie in moralischer Hinsicht für fehlerhaft erachtet werden muss.«
Betretenes Schweigen tritt ein, während wir Boscos Ausführungen zu verdauen versuchen. Ich weiß, dass Angelinas Mutter seit vielen Jahren unheilbar krank war. Zwar wusste ich nichts von der Art ihres Todes, aber wir waren alle auf der Beerdigung.
»Der Gilde geht es auch nicht um religiöse Überzeugungen«, fährt Bosco nach einer Weile fort, vielleicht weil er unsere Zweifel spürt. »Wir beurteilen lediglich den Charakter eines Menschen. Doch wenn man den Grundsatz der Unantastbarkeit des Lebens wirklich ernst nimmt, muss die Gilde in einem solchen Fall Maßnahmen ergreifen. Denn wenn wir Angelina Tinder nach dieser Tat in unser Land zurückkehren lassen, als wäre nichts geschehen, so hieße das letztlich, dass wir eine moralische Fehlentscheidung unterstützen. Ob diese Tat in einem anderen Land stattgefunden hat oder nicht, ob sie dort legal war oder nicht, ist vollkommen unerheblich. Wir müssen Angelinas Charakter betrachten, nur darauf kommt es an.«
Diesmal ist Junipers Reaktion ein verächtliches Schnauben.
Was ist nur los mit ihr? Das hasse ich an meiner Schwester. Die meisten Leute meinen, dass wir so gut wie identisch sind, und obwohl Juniper elf Monate älter ist als ich, könnte man uns äußerlich durchaus für Zwillinge halten. Aber wenn man uns näher kennt, kommt man nicht mehr auf diese Idee, denn Juniper weiß im Gegensatz zu mir nicht, wann sie den Mund halten sollte. Genau wie mein Großvater.
»Wusstest du, dass Angelina Tinder geplant hat wegzufahren, um ihre Mutter zu töten?«, hakt Bosco sofort nach, stützt die Ellbogen auf den Tisch und fixiert meine Schwester.
»Natürlich hat sie das nicht gewusst«, mischt Mum sich ein, und weil sie flüstert, weiß ich, dass sie eigentlich am liebsten laut schreien möchte.
Juniper starrt auf ihre unberührte Vorspeise, und ich flehe sie lautlos an, einfach still zu sein. Das ist kein Spaß. Ein Raum voller Menschen, die ich liebe, und mein Herz klopft, als wäre die Situation höchst gefährlich.
»Wird Angelina gebrandmarkt werden?«, frage ich, immer noch unter Schock, dass ich tatsächlich eine fehlerhafte Person kenne und dass sie auch noch hier in unserer Straße wohnt.
»Wenn sie am Tag der Benennung für schuldig befunden wird, dann ja. Dann wird sie gebrandmarkt«, antwortet Bosco und fügt, an Mum gewandt, hinzu: »Natürlich werde ich Bob zuliebe alles versuchen, den Fall aus der Presse herauszuhalten. Was sicherlich machbar sein wird, denn derzeit hält der Jimmy-Child-Fall die Medien in Atem, da wird sich kein Mensch für die Geschichte einer fehlerhaften Klavierlehrerin interessieren.«
Jimmy Child ist ein bekannter Fußballstar, der nachweislich seit zehn Jahren seine Frau mit deren Schwester betrogen hat und nun womöglich als fehlerhaft verurteilt wird. Was für ihn katastrophal wäre, weil er dann nicht mehr zu den im Ausland stattfindenden Spielen reisen könnte. Zu den zahlreichen Auflagen, die man erfüllen muss, wenn man als fehlerhaft verurteilt worden ist, gehört nämlich auch, dass man seinen Pass abgeben muss.
»Ich bin sicher, dass Bob deine Diskretion zu schätzen weiß«, sagt Mum. Es klingt so glatt und scheint ihr so leicht über die Lippen zu kommen, dass ich weiß, in Wirklichkeit fühlt sie sich grässlich und findet das, was sie sagt, eigentlich gekünstelt und hochtrabend.
»Das hoffe ich auch«, sagt Bosco und nickt zustimmend. »Das hoffe ich wirklich.«
»Wo wird man sie denn brandmarken?«, frage ich. Es lässt mir einfach keine Ruhe. Irgendwie begreife ich das alles nicht und bin überrascht, dass außer mir niemand Fragen stellt. Bis auf Juniper natürlich, aber ihre Fragen klingen mehr nach Vorwürfen als nach sonst etwas.
»Celestine«, ermahnt Mum mich ziemlich barsch. »Ich denke, diese Diskussion …«
»Auf der rechten Hand«, fällt Bosco ihr ins Wort.
»Bestehlen der Gesellschaft«, stelle ich fest.
»Genau. Und von nun an wird jede Hand, die sie schüttelt, genau wissen, wie es um ihren Charakter bestellt ist.«
»Vorausgesetzt, man stellt fest, dass sie fehlerhaft ist. Schließlich ist jeder unschuldig, bis man seine Schuld bewiesen hat«, wirft Juniper ein, als müsste sie Bosco daran erinnern.
Doch im Grunde wissen wir alle, dass Angelina Tinder gar keine Chance hat. Wenn jemandem der Charakter-Prozess gemacht wird, lautet das Urteil unweigerlich auf schuldig, sonst würde der Betreffende gar nicht erst festgenommen. Im Gegensatz zu Juniper verstehe ich die Regeln: Es gibt eine Grenze, eine moralische Grenze, und die hat Angelina überschritten. Trotzdem kann ich immer noch nicht glauben, dass ich tatsächlich eine fehlerhafte Person kenne, dass ich neben ihr in ihrem Haus am Klavier gesessen und die Tasten berührt habe, die sie zuvor ebenfalls berührt hat. Am liebsten würde ich mir sofort die Hände waschen. Ich versuche mich an Gespräche mit ihr zu erinnern, und überlege, ob es darin eventuell schon Hinweise auf Angelinas fehlerhaften Charakter gegeben hat. Ich denke an ihre Tochter, an Colleen. Ob ich in der Schule noch mit ihr reden kann? Wahrscheinlich lieber nicht. Aber das fühlt sich nicht richtig an. Ich bin hin- und hergerissen.
»Wo ist Cutter?«, fragt Bosco plötzlich und schaut ärgerlich zu Mum.
»Er ist bei Bob, ich bin sicher, er ist gleich wieder da«, antwortet sie höflich.
»Das ist nicht gut, wie sieht das denn aus? Er sollte hier sein.«
»Er kommt sicher …«
»Hoffentlich kann sie danach noch Klavier spielen«, sagt Juniper aus heiterem Himmel. »Mit einer verbrannten Hand, meine ich.«
»Tut sie dir etwa leid?«, fragt Bosco.
»Natürlich nicht«, mischt Art sich mit vollen Mund ein, ehe Juniper antworten kann. Er hält Messer und Gabel mit den Spitzen nach oben in seinen großen Männerpranken, wie ein Höhlenmensch. Beim Sprechen wedelt er so wild mit dem Besteck herum, dass die daran hängenden Essensreste auf den Tisch regnen. »Wir sind einfach schockiert, Dad, weiter nichts. Ich meine, hättest du uns nicht vorwarnen können, dass einer von den Gästen, auf die wir warten, abgeholt werden soll? Als die Sirenen losgegangen sind, hat die arme Celestine schon befürchtet, sie würde in die Klapsmühle abtransportiert. Wo sie unter uns gesagt natürlich hingehört – aber das muss man ihr ja nicht unter die Nase reiben.«
Er sagt das so locker, so flapsig, und dabei so sorgsam formuliert, dass Bosco sich auf einmal wieder daran erinnert, wo er sich befindet: zusammen mit seinem Sohn im Esszimmer seiner Nachbarn und keineswegs im Gerichtssaal.
»Natürlich«, sagt er. Einen Moment wirkt er etwas konfus, dann schaut er erst zu Ewan, der bemerkenswert still am Tisch sitzt, und tätschelt dann liebevoll meine Hand. »Entschuldige, Celestine. Ich wollte dir wirklich keine Angst machen. Fangen wir noch mal von vorne an, ja?« Er nimmt sein Rotweinglas und hält es mit einem strahlenden Lächeln in die Höhe. »Ich wünsche euch allen einen fröhlichen Tag der Erde.«
Als es im Haus still geworden und auch das leise Murmeln im Schlafzimmer meiner Eltern endlich verstummt ist – was nach der ganzen Aufregung heute um einiges länger dauert als üblich –, mache ich mich auf den Weg zu der Anhöhe über der Stadt, auf der Art und ich uns seit drei Monaten fast jede Nacht treffen.
Seit einer Weile verbringe ich mehr Zeit bei den Crevans als bei meiner eigenen Familie, und ich habe mir oft gewünscht, ich könnte ganz zu ihnen ziehen. Aus irgendeinem Grund habe ich das Gefühl, dass ich besser zu ihnen passe, denn bei ihnen kommt mir alles logisch und sinnvoll vor. Ich habe schon immer an die Arbeit der Gilde geglaubt und bin eine von Boscos überzeugtesten Anhängerinnen. Ich mag es, wenn er beim Essen Geschichten aus dem Gerichtssaal erzählt, zum Beispiel, wie er einen Mann, der im Vorstand einer Wohltätigkeitsorganisation saß, seines Amtes entheben musste, weil der Betreffende sich ganz nebenbei ein lukratives Rentenpaket unter den Nagel gerissen hatte. Oder wie er eine bekannte Fitness-Päpstin brandmarken ließ, die mit dem Verkauf ihrer DVDs Millionen verdient hatte, bis man ihr eines Tages nachwies, dass ihr straffer Bauch keineswegs das Ergebnis der von ihr angepriesenen sportlichen Bemühungen, sondern schlicht auf eine Schönheits-OP zurückzuführen war. Tag für Tag erlebt er in seinem Gerichtssaal solche interessanten Geschichten, und ich liebe es, ihm zuzuhören. Ich verstehe genau, was er tut: er verhindert, dass die Menschen betrogen werden. Ich kenne den Unterschied zwischen richtig und falsch. Aber heute habe ich das Gefühl, dass die Regeln, die ich von ganzem Herzen unterstütze, irgendwie verschwommen sind, weil ich sie direkt vor meiner Haustür in Aktion gesehen habe.
Es ist elf Uhr abends, wir blicken hinaus über die schlafende Hauptstadt, die von Bergen umgeben vor uns im Tal liegt. Von einem der Gipfel wacht das Highland-Castle über die Stadt, und im Schein der gewaltigen roten Scheinwerfer wirkt es fast bedrohlich. Die Festung aus dem Jahr 1100 nach Christus war einst Sitz der Hochkönige, und so thront sie über uns als größter Rundturm der Welt, dessen mächtigem Auge nichts entgeht. Er hat Invasionen und Massaker gesehen und beherbergt nun Konferenzen und Staatsempfänge, es gibt Führungen durch die architektonisch hochinteressanten Räume und mehrere Museen, in denen Ausstellungen seiner historischen Artefakte zu bewundern sind. Am bekanntesten ist das Gebäude heutzutage jedoch sicher als Arbeitsstätte der Gilde.
Art und ich sitzen auf der dem Schloss gegenüberliegenden Anhöhe, der Horizont wird zu beiden Seiten von Windrädern beherrscht. Links von uns glitzern die Lichter weiterer Städte, eine scheinbar endlose Reihe unter dem wachsamen Auge der Festung, rechts gibt es sowohl Ackerbau als auch einige Industriestandorte; dort lebt mein Großvater. Humming ist die größte Stadt und gleichzeitig die Hauptstadt von Highland, geschichtsträchtig und wunderschön. Aus aller Welt strömen Touristen zu uns, um die Stadt zu bewundern, unsere Brücken, unsere Märchenschlösser und Traumpaläste, unsere kopfsteingepflasterten Gassen, unsere pittoresken Marktplätze. Die meisten Gebäude haben die Gewalt und Zerstörung des 20. Jahrhunderts überlebt und sind ein Mekka für Kenner romanischer, gotischer und Renaissance-Architektur. Die im 14. Jahrhundert erbaute Humming-Bridge gehört zu den berühmtesten Brücken der Welt; zehn Meter breit und sechshundert Meter lang, überquert sie den Fluss und führt dann hinauf zum Highland-Castle. Auch nachts zeigt sie ihre Schönheit, denn alle sechs Brückenbogen sind ebenso wie die drei Brückentürme und die Statuen unserer Heiligen, die die Brücke säumen und beschützen, stets hell erleuchtet.
Ich reise gerne in den Ferien, aber abgesehen davon habe ich vor, hier zu bleiben. Art und ich haben besprochen, dass wir an der städtischen Universität studieren wollen, ich Mathematik, er Biologie. Alles ist genau geplant. Juniper möchte weg von hier, sobald sie kann, und im Winter als Snowboard-Lehrerin in der Schweiz und im Sommer als Rettungsschwimmerin in Portugal arbeiten. Oder so ähnlich.
Art sagt, er kommt so gern auf den Hügel, weil man hier die Dinge aus der richtigen Perspektive sieht. Das letzte Jahr war sehr schwer für ihn, weil seine Mutter nach längerer Krankheit gestorben ist, und ich kann mir vorstellen, dass es ihm hilft, die Dinge von oben zu betrachten, sich sozusagen ein Stück weit von seinen Problemen und seinem Kummer zu distanzieren. Für mich aber ist der Hügel ein Ort, der nur Art und mir gehört – wir zwei gegen den Rest der Welt. In der Stadt unter uns schlafen eine Million Menschen, aber Art und ich sind wach, und das Band zwischen uns fühlt sich dadurch noch stärker an. Es gibt mir das Gefühl, unbezwingbar zu sein und sehr lebendig. Ich kann nachempfinden, wie sich das Schloss fühlen muss, wenn es über alle wacht. Unantastbar.
Es ist erst etwas über sechs Monate her, dass ich Art solche Gefühle entgegenbringe. Als wir mit zwölf am ersten Schultag der weiterführenden Schule nebeneinandergesetzt wurden, waren wir auf Anhieb gute Kumpel – genau genommen haben wir das der alphabetischen Sitzordnung zu verdanken. Wir waren in der gleichen Schülerclique unterwegs, ich mit den Mädchen, er mit den Jungs, und so liefen wir uns ständig über den Weg, aber obwohl wir obendrein auch noch Nachbarn waren, kamen wir nie auf die Idee, uns alleine zu treffen. Erst vor einem Jahr, als Arts Mum starb, suchte er plötzlich den direkten Kontakt zu mir, und es war ihm offensichtlich gleichgültig, was die anderen darüber dachten. Wir trafen uns hier zum Reden, und meistens sprach Art über den Krebstod seiner Mutter. Stück für Stück setzte er sich mit seinem Verlust auseinander, und die Traurigkeit, die anfangs der Hauptgrund für unsere Treffen gewesen war, nahm ab, bis wir eines Tages merkten, dass wir uns nicht mehr aus den gleichen Gründen trafen wie früher. Zwischen uns hatte sich etwas verändert.
Das war der Zeitpunkt, als es passierte. Auf einmal bemerkte ich die Schmetterlinge in meinem Bauch, das nervöse Kribbeln, wenn ich Art sah, das alberne Lächeln, das auf meinem Gesicht erschien, wenn ich auch nur an ihn dachte, das elektrische Prickeln, das mich durchfuhr, wenn seine Haut meine streifte. Auf einmal achtete ich darauf, was ich anhatte, was ich sagte und wie ich aussah. Natürlich blieb das meinen Mitmenschen nicht verborgen, vor allem nicht meiner Schwester Juniper, die täglich mitkriegte, wie ich mich zwanghaft mit meinem Spiegelbild beschäftigte, ehe ich aus dem Haus stürmte. Art merkte es ebenfalls, und da hörte ich einen Augenblick auf, mich so hektisch mit mir selbst zu beschäftigen, und entdeckte die gleiche Unruhe auch in ihm. Jetzt sind wir seit drei Monaten zusammen.
Als ich den Hügel erreiche und Arts Silhouette im Mondschein vor mir sehe, verfliegt mein Ärger sofort. Das passiert immer – in Arts Gegenwart werde ich weich wie Wackelpudding. Er erscheint immer zu früh und muss auf mich warten, so auch heute – er sitzt auf einer Decke und blickt in perfekter Konzentration auf die schlafende Stadt hinunter. Das Wort »perfekt« benutze ich sehr oft, wenn ich Art oder einen Augenblick mit ihm beschreibe.
»Hallo, früher Wurm«, begrüße ich ihn.
Er blickt auf, und die Traurigkeit, die ich vorher in seinem Gesicht wahrgenommen habe, weicht einem Lächeln. Irre ich mich, oder ist er wirklich ein bisschen erleichtert?
»Hallo, Maus. Falls du den Käse suchst, ich hab ihn schon aufgegessen.«
»Würmer und Käse«, sage ich und setze mich neben ihn auf die Decke. »Lecker.«
Wir küssen uns.
»Das ist lecker«, murmelt er und zieht mich zu einem längeren und leidenschaftlicheren Kuss gleich wieder an sich.
Trotzdem habe ich das Gefühl, dass er irgendwie anders ist. Ich löse mich langsam von ihm und studiere sein Gesicht, seine Augen.
»Wie wäre es, wenn wir die Abmachung treffen, dass wir nicht über die Ereignisse von heute Abend sprechen?«
»Gute Idee«, stimme ich sofort zu und seufze. »Ich kriege schon Kopfweh, wenn ich nur daran denke.«
Er küsst mich auf die Stirn und lässt die Lippen einen Moment dort ruhen. Dann schweigen wir eine Weile, in unsere jeweiligen Gedanken versunken, offensichtlich doch beide mit Angelina Tinders Festnahme beschäftigt, mit ihren Bildern und Geräuschen. Wir schaffen es nicht lange, still zu sein. Art bricht das Schweigen als Erster.
»Mein Dad heute Abend …« Er lässt den Satz unvollendet und schaut hinaus auf die Dächer und Schornsteine, und ich sehe, wie sehr ihn quält, was heute Abend passiert ist. Seit seine Mutter gestorben ist, sehe ich es als meine Aufgabe, ihn aufzuheitern, die Traurigkeit zu vertreiben. Trotz meiner eigenen widerstreitenden Gefühle muss ich mich deshalb jetzt für ihn zusammenreißen.
»Ich finde, Juniper hätte nicht so mit ihm sprechen sollen, aber du weißt ja, wie sie ist. Sie muss lernen, den Mund zu halten, genau wie mein Granddad.«
»Juniper hat nur ausgesprochen, was sie dachte«, erwidert Art, und ich bin total überrascht.
»Deinem Dad gegenüber sollte sie so etwas lieber für sich behalten.«
Er lächelt traurig. »Du denkst immer so schwarzweiß, Celestine. Wir sind Nachbarn, wir saßen bei euch in eurem Esszimmer, um den Tag der Erde zu feiern, nicht im Gerichtssaal. Und Dad muss gewusst haben, dass Angelina abgeholt werden sollte, ich meine, warum hat er sie nicht wenigstens gewarnt, wenn er uns schon nichts davon verraten hat? Sie sind doch Freunde! Dann wäre sie wenigstens bereit gewesen und hätte sich nicht vor den Augen ihrer Familie, ihrer Kinder aus dem Haus schleifen lassen müssen …«
So etwas von ihm zu hören überrascht mich wirklich. Art hat seinen Vater noch nie offen kritisiert. Sie sind gute Kumpel, ein Team – die beiden Überlebenden der Familie, deren Beziehung dadurch noch enger geworden ist. Sie haben die schwere Zeit gemeinsam durchgestanden. Aber jetzt merke ich, dass der Vorfall heute Abend Art mindestens so durcheinandergebracht hat wie mich.
»Dein Dad hat nur die Regeln befolgt«, sage ich schlicht, obwohl ich weiß, dass das keine hinreichende Erklärung ist. Nicht mal für mich selbst. Aber es ist die Wahrheit. »Die Sache mit Angelina ist furchtbar, trotzdem glaube ich nicht, dass du deinem Dad die Schuld daran geben kannst.«
»Nein?«, fragt er, und seine Stimme klingt bitter.
»Es ist sein Job. Schließlich passiert es fast jeden Tag, dass irgendwo im Land eine fehlerhafte Person verhaftet wird. Dein Dad steht ständig unter dem Druck, die Perfektion in unserem Land erreichen zu müssen. Was würde passieren, wenn er bei manchen Leuten ein Auge zudrückt und bei anderen nicht?«, frage ich und fasse damit meine eigenen Überlegungen in Worte. »Ich meine, wo würde das hinführen? Steht dann eines Tages Richter Crevan vor Gericht und muss sich den Vorwurf gefallen lassen, fehlerhaft zu sein, weil er einen Fehlerhaften entkommen lassen hat?«
Art schaut mich an. »Diese Frage habe ich mir noch nie gestellt.«
»Aber das solltest du. Weil er dein Dad ist. Der sehr viel Macht hat. Viele Menschen verehren ihn, sie beten ihn praktisch an. Es ist bestimmt nicht leicht für dich, einen solchen Vater zu haben, aber so ist es nun mal, und er liebt dich sehr. Außerdem ist er mindestens zur Hälfte dafür verantwortlich, dass es dich überhaupt gibt, und deshalb ist er schon von vornherein ein Genie.«
Er lächelt, nimmt mein Gesicht in beide Hände und sieht plötzlich angewidert aus. »Ich möchte eigentlich lieber nicht an seine Rolle bei meiner Entstehung denken, danke sehr.«
»Igitt!« Ich lache.
»Schwarzweiß eben.«
»Allerdings.« Ich grinse, aber es fühlt sich ein bisschen zittrig an, denn ich habe auf einmal viel von meiner Sicherheit verloren. Es ist leichter, Art etwas vorzumachen als mir selbst.
Er räuspert sich. »Ich wollte das eigentlich bis zu deinem Geburtstag aufheben, aber nach dem, was heute Abend passiert ist … verdienst du es jetzt mehr denn je, finde ich.«
Er schiebt sein linkes Bein neben mich und zieht mich an sich, so dass ich jetzt zwischen seinen Oberschenkeln sitze. Plötzlich ist meine Unsicherheit verschwunden, denn genau hier möchte ich sein.
»Das wollte ich dir eigentlich zu deinem achtzehnten Geburtstag schenken, aber ich gebe es dir jetzt, damit du weißt, dass du trotz allem, was in der Welt vor sich geht, das Einzige bist, was für mich wirklich eine Bedeutung hat. Du bist so schön«, fährt er fort und streicht mit dem Finger über meine Wange, meine Nase, meine Lippen. »Du bist klug, du bist loyal.« Dann lässt er die Hand sinken und überreicht mir eine kleine, samtbezogene Schachtel.
Meine Hände zittern so, dass es mir ganz peinlich ist. Langsam öffne ich die Schachtel und hole eine zarte Silberkette heraus, so fein, dass ich fast Angst habe, sie könnte zerreißen. An ihr hängt ein Symbol.
»Und du bist perfekt«, flüstert Art. Mich durchläuft ein Schauder, ich bekomme eine Gänsehaut.
Vorsichtig untersuche ich das Symbol und traue meinen Augen kaum.
»Ich habe es von einem Mann in Highland-Castle für dich anfertigen lassen. Weißt du, was es bedeutet?«
Ich nicke. »Der Kreis gilt als Sinnbild der Perfektion. Bei diesem hier haben alle Radien das gleiche Verhältnis zueinander, eins zu eins, das heißt, es besteht kein Unterschied zwischen ihnen, sie befinden sich in einem Zustand der Harmonie. Der geometrischen Ausgewogenheit.«
»Perfektion«, wiederholt er leise. »Einer Mathematikerin kann man eben nichts Neues erzählen«, lacht er. »Dafür musste ich so viel recherchieren, dass mein Hirn immer noch Muskelkater hat.«
Ich lache, und meine Augen füllen sich mit Tränen. »Danke«, sage ich, meine Stimme nur ein Flüstern. Als ich versuche, mir das Kettchen ums Handgelenk zu legen, hält Art mich auf.
»Nein. Es gehört hierher.« Er nimmt die Kette aus meiner zitternden Hand, rückt ein Stück von mir ab, umfasst meinen Fußknöchel, schiebt mit warmen, zärtlichen Fingern meine Jeans ein Stückchen hoch und befestigt die Kette an meinem Fußgelenk. Dann rutscht er noch näher an mich heran, bis er direkt vor mir sitzt und die Beine um mich schlingen kann.
Er hebt mein Kinn, so dass meine Nase seine berührt, zwischen uns nur das Mondlicht, dann neigt er den Kopf und küsst mich, sanft, zärtlich, süß. Seine Lippen sind weich, seine Zunge köstlich, ich greife mit den Fingern in seine Haare und verliere mich in ihm, in diesem Augenblick.
Wenn ich an jenen Augenblick auf dem Hügel zurückdenke, wird mir warm ums Herz, genau wie damals, alles wird intensiver, magisch, musisch, mystisch, fast zu schön, um wahr zu sein. Dieser Moment könnte ewig anhalten, Arts Lippen auf meinen, unsere Körper aneinandergeschmiegt, beide hungrig auf mehr, unsere Zukunft so offen wie der Blick, der sich vor uns ausbreitet, so hell wie der Mond. Nur wir, auf dem Gipfel der schlafenden Welt, unbesiegbar, unantastbar.
Es war der perfekteste Moment meines Lebens.
Und auch der letzte perfekte Moment meines Lebens.
Als ich aufwache, strecke ich als Erstes mein Bein unter der Bettdecke hervor, damit ich meinen Knöchel sehen kann. Das Fußkettchen ist noch da, es war also kein Traum, kein hübsches Hirngespinst, das sich bei Tageslicht in nichts auflöst. Ich kuschle mich unter die Decke, um alles noch einmal in Gedanken durchzuspielen, aber dann wird mir plötzlich klar, dass ich weniger Zeit mit Art habe, wenn ich hier rumtrödle. Wie immer wartet er an der Bushaltestelle auf mich, von der wir zusammen zur Schule fahren.
Trotz der Freude über Arts Geschenk habe ich unruhig geschlafen, wahrscheinlich weil ich Angelina Tinders Festnahme noch längst nicht verdaut habe. Beim Anziehen bin ich noch ganz wacklig auf den Beinen. Irgendetwas in mir ist durcheinandergeraten. Mein Gefühl der Sicherheit, vielleicht mein Vertrauen. Nicht das Vertrauen zu Art, ihm vertraue ich mehr denn je. Seltsamerweise kommt es mir so vor, als gehe es um mein Vertrauen zu mir selbst.
Ich denke normalerweise wenig darüber nach, was ich anziehe, ich bin nicht wie Juniper, die ich schimpfen und seufzen höre, während sie sich frustriert ein Outfit nach dem anderen über den Kopf zieht und nie zufrieden ist. Normalerweise steht sie eine halbe Stunde früher auf als ich, nur um die passenden Klamotten auszusuchen, und trotzdem ist sie jeden Morgen zu spät dran.
Wie gesagt: für die meisten Leute sind Juniper und ich identisch, aber meiner Meinung nach könnten wir kaum verschiedener sein. Sicher, wenn man uns und unsere Persönlichkeiten nicht kennt, ist es tatsächlich schwer, uns auseinanderzuhalten. Unser Vater ist schwarz, unsere Mutter weiß, wir haben beide Dads dunkle Haut, seine braunen Augen, seine Nase und seine Haarfarbe geerbt. Unsere hohen Wangenknochen und die langen Gliedmaßen haben wir von Mum. Als wir noch jünger waren, kam sie auf die Idee, uns im Model-Geschäft unterzubringen, und wir haben auch tatsächlich zusammen an ein paar Fotosessions teilgenommen. Aber weder Juniper noch ich hatten Lust weiterzumachen – ich, weil es mich intellektuell nicht gereizt hat, vor der Kamera zu posieren, Juniper, weil sie sich noch ungeschickter und tollpatschiger benimmt, wenn sie weiß, dass jemand ihr zuschaut.
Ohne lange zu überlegen, ziehe ich mir ein cremefarbenes Leinenkleid und eine blassrosa Kaschmirjacke über, dazu goldene, bis zum Knie geschnürte Römersandalen. Draußen ist es heiß, und ich trage immer Pastellfarben. Mum kauft gerne Sachen für die ganze Familie in Pastellfarben, denn sie findet, dass das unsere Zusammengehörigkeit betont. Ich kenne Leute, die Stylisten einstellen, damit sie nicht nur die Klamotten, sondern das Gesamtbild einer Familie aufeinander abstimmen. Schließlich möchte in unserer modernen Gesellschaft niemand wie ein Außenseiter wirken. Jedenfalls nicht, wenn einem die moderne Gesellschaft am Herzen liegt – Juniper beispielsweise macht oft lieber ihr eigenes Ding und zieht deshalb auch gern mal Sachen an, die nicht in unserer familiären Farbpalette vorkommen. Wir lassen ihr diese Freiheit – wenn ihr Verhalten jemandem schadet, dann ihr selbst. Manchmal macht Mum sich Sorgen, dass wir deswegen unharmonisch wirken könnten, aber ich finde, die Einzige, die unharmonisch wirkt, ist Juniper.
Wie üblich bin ich vor meiner Schwester unten in der Küche. Ewan sitzt schon am Tisch und frühstückt. Er trägt eine cremefarbene Leinenhose mit einem blassrosa T-Shirt, und ich freue mich, dass wir zusammenpassen. Ein guter Start in den Tag.
Mum stiert auf den Fernseher und rührt sich nicht.
»Schaut mal, was ich gestern Abend bekommen habe«, rufe ich.
Keiner beachtet mich.
»Hallo, hallo?« Anmutig wie eine Balletttänzerin hebe ich den Fuß und lasse den Knöchel in der Luft kreisen.
Jetzt schaut wenigstens Ewan zu mir, wahrscheinlich weil er sich belästigt fühlt, wenn ich den Fuß so direkt vor seiner Nase schwenke.
»Ein Armkettchen«, stellt er gelangweilt fest.
»Nein. Ein Armkettchen trägt man am Handgelenk, demzufolge ist das hier ein Fußkettchen, Ewan.«
»Was auch immer, Thesaurus.« Er verdreht die Augen und schaut wieder zum Fernseher.
»Das hat Art mir geschenkt«, verkünde ich laut und schwebe an Mum vorbei, um mir aus dem Kühlschrank Milch für mein Müsli zu holen.
»Wunderbar, Schätzchen«, sagt Mum so mechanisch, als hätte sie mich überhaupt nicht gehört.
Ich bleibe stehen und starre sie an. Weil der Fernseher sie dermaßen fasziniert, werde ich endlich auch aufmerksam und sehe, dass News 24 läuft und Pia Wang live von Highland-Castle berichtet. Ich wusste gar nicht, dass heute ein Tag der Benennung ist. Pia Wang ist die Korrespondentin der Gilde, die detailgenau über jeden Fall berichtet und während und nach der Verhandlung jeden Angeklagten ausführlich porträtiert. Natürlich sind ihre Beschreibungen nie positiv, und sie kennt kein Pardon, aber man muss ihr zugutehalten, dass sie ja über die Fehlerhaften berichtet, also über Leute, die etwas falsch gemacht haben, da gibt es ja keinen Grund, sie auch noch zu glorifizieren.
Ich schaue aus dem Fenster. Dads Auto ist nicht da. Wahrscheinlich hat man ihn über die aktuellen Geschehnisse informiert, und er musste früh weg. Das passiert ziemlich oft.
»Dieser Fall hat mehr Aufmerksamkeit auf sich gezogen, als wir es jemals erlebt haben«, sagt Pia gerade, und ihr Gesicht ist so perfekt und hübsch geschminkt wie immer. Passend zu dem pfirsichfarbenen Rouge auf ihren Wangen trägt sie ein pfirsichfarbenes Outfit und sieht überhaupt aus, als könnte man sie essen. Oder wie eine perfekte Porzellanpuppe. Glänzend schwarze Haare, die ihr unschuldig wirkendes schmales Gesicht umrahmen. An ihr ist alles perfekt. »Überall in der Welt ist man neugierig geworden, was sich auch in der rekordverdächtigen Menschenmenge widerspiegelt, die sich vor dem Gilde-Gericht in Highland-Castle eingefunden hat, um ihren Fußballhelden Jimmy Childs zu unterstützen, Humming Citys besten Stürmer, der uns im Lauf der Jahre so viele Siege beschert hat. Und heute ist er erneut siegreich geblieben, denn er hat soeben das Gericht verlassen, nachdem er von Richter Crevan und seinen Mitarbeitern nicht als fehlerhaft befunden wurde. Ich wiederhole die Meldung für alle diejenigen, die sich gerade erst zugeschaltet haben: Jimmy Childs ist nicht fehlerhaft.«
Ich schnappe nach Luft.
»Was?«, rufe ich. »Ist das überhaupt schon irgendwann mal passiert?«
Jetzt reißt Mum sich endlich vom Bildschirm los. »Ich weiß es nicht. Aber ich glaube nicht … ich … vielleicht einmal«, schließt sie vage.
»Aber es ist keine große Überraschung, wenn man bedenkt, dass ein Crevan einen Anteil an der Mannschaft besitzt«, sagt Juniper, die gerade hinter mir hereingekommen ist, und ich drehe mich zu ihr um.
Mum macht ein gequältes Gesicht. »Juniper …«, sagt sie nur.
»Damon Crevan besitzt fünfundfünfzig Prozent von Humming City, aber vermutlich wird man uns erzählen, dass das reiner Zufall ist. Wenn ihr mich fragt, war es Jimmy Childs Frau, der sie den Prozess gemacht haben«, fährt Juniper fort. »Und dieser Schwachkopf hier ist ungestraft davongekommen.«
Keiner widerspricht ihr. In den letzten Wochen war Jimmy Childs glamouröse Ehefrau auf den Titelseiten sämtlicher Zeitungen, in allen Einzelheiten wurde ihr Lebenswandel vor der Öffentlichkeit ausgebreitet und durchdiskutiert, ihre Person aus allen Perspektiven und mit jedem Zentimeter ihres Körpers durch die Klatsch- und Nachrichtenmedien gezerrt.
»Geh zur Schule«, sagt Mum in warnendem Ton. »Noch mehr solcher Beiträge, dann heult die Sirene das nächste Mal für dich, Missy.« Sie zwackt Juniper scherzhaft in die Nase.
Sie hat beinahe recht.