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In einer Welt, in der die Kulturen enger beieinander leben, besteht die Gefahr, dass die Profile der großen Weltreligionen unklarer werden. Anselm Grün will das Profil des Christentums wieder neu schärfen, ohne dabei andere Religionen abzuwerten oder auszugrenzen. Sein Buch liefert Antworten auf die zentralen Glaubensfragen der Christen von heute.
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Seitenzahl: 202
ANSELM GRÜN
Der Glaube der Christen
Vier-Türme-Verlag
Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Einleitung
Im Gespräch mit vielen suchenden Menschen wurde mir immer wieder die Frage gestellt, was das Eigentliche des Christentums ist. Worin unterscheiden wir Christen uns von Buddhisten, Hinduisten oder Moslems? Was verbindet uns miteinander und wo haben wir etwas, das uns von den anderen Religionen abhebt?
Es ist heute wichtig, dass die Religionen miteinander einen ehrlichen Dialog führen, in dem sie sich nicht gegenseitig bewerten, sondern einander achten. Aber Dialog heißt auch, dass ich zu meiner Position stehe und von meiner Position aus den anderen zu verstehen suche. Im Dialog geht es immer auch darum, vom anderen zu lernen – nicht darum, alles miteinander zu vermischen. Vielmehr sollte jeder Dialogpartner sich klarer über sein eigenes Profil werden.
Wir Christen haben ein Stück weit unser Profil verloren. Viele Christen wissen nicht mehr, was das Zentrale ihres Glaubens ist. Schon im Jahre 1968 beginnt der heutige Papst Benedikt XVI. seine »Einführung in das Christentum« mit der Feststellung: »Die Frage, was eigentlich Inhalt und Sinn christlichen Glaubens sei, ist heute von einem Nebel der Ungewissheit umgeben wie kaum irgendwann zuvor in der Geschichte.« (Ratzinger, Einführung 9)
In diesem Buch möchte ich Christen auf der Suche nach dem eigenen Profil stärken und ihnen helfen, den »Nebel der Ungewissheit« aufzuhellen.
Dabei geht es mir nicht um katholische oder evangelische Konfession. Natürlich beschreibe ich das Christliche als einer, der aus der katholischen Tradition heraus kommt und in ihr lebt. Aber in diesem Buch geht es mir – soweit ich das aus meiner Perspektive kann – um das wesentlich Christliche, unabhängig von den Konfessionen. Vielmehr sehe ich als Gesprächspartner Mitglieder anderer Religionen oder Christen, die sich von ihren christlichen Wurzeln distanziert haben und sich wieder auf die Suche danach machen.
Ich möchte nur Anregungen geben. Jeder muss für sich selbst entscheiden, was für ihn das Entscheidende an seinem christlichen Glauben ist. Glaubender Mensch zu sein heißt für mich, dass ich mir immer wieder neu Rechenschaft ablege über das, was mich trägt, wovon ich lebe und woraufhin ich lebe. Und glaubender Mensch zu sein bedeutet für mich, immer wieder neu zu fragen, was für mich Jesus Christus bedeutet, wie ich als Christ mit den wesentlichen Problemen des menschlichen Lebens umgehe: mit Leid und Schuld, mit Krankheit und Tod, mit Arbeit und Alltag, mit Liebe und Lust.
Daher möchte ich in diesem Buch nicht nur theoretisch über den Inhalt des christlichen Glaubens sprechen, sondern immer auch in den Blick nehmen, wie ich als Christ mein Leben bewältige und mit dem umgehe, was mich Tag für Tag »durchkreuzt«.
Dies hier ist kein dogmatisches Buch, das die wesentlichen Inhalte des christlichen Glaubens oder die wichtigsten Lehren der Kirche darlegt. Vielmehr versuche ich als einer, der seit 61 Jahren als Christ und seit 42 als christlicher Mönch lebt, mir Rechenschaft abzulegen, was mir Jesus Christus und was mir der christliche Glaube bedeutet. Dabei lasse ich mich von der Mahnung des heiligen Petrus leiten: »Seid stets bereit, jedem Rede und Antwort zu stehen, der nach der Hoffnung fragt, die euch erfüllt; aber antwortet bescheiden und ehrfürchtig, denn ihr habt ein reines Gewissen.« (1 Petr 3,15f)
Bevor ich aber anderen antworte, muss ich zuerst einmal mir selbst eine Antwort geben, die mich befriedigt. Was ist der Glaube, der mich trägt? Was ist die Hoffnung, die mich beseelt und beflügelt, die mich erfüllt?
Und ich möchte diese Fragen immer auch im Hinblick auf die anderen Religionen beantworten. Dabei bin ich kein Spezialist. Ich habe mich Ende der sechziger Jahre näher mit dem Buddhismus befasst und habe jahrelang Zen-Meditation praktiziert. Was ich über andere Religionen weiß, entspringt entweder dem Lesen oder der konkreten Begegnung mit Vertretern anderer Religionen. Aber ich kenne die anderen Religionen zu wenig, um sie wirklich beurteilen zu können. Was ich über sie schreibe, bleibt daher auch subjektiv. Sowohl im Buddhismus als auch im Hinduismus gibt es unendlich viele heilige Schriften und Auslegungen. Ein kompliziertes philosophisches und theologisches System begegnet uns dort. Ich erhebe nicht den Anspruch, alles zu durchschauen, was dort gelehrt wird. Ich versuche aber, diese Lehren und die Erfahrungen, die dahinter stehen, zu achten und ihnen mit Ehrfurcht zu begegnen.
Im Dialog der Religionen geht es weder um Vermischung der Religionen noch um die Schaffung einer »Superreligion« – einer neuen Religion jenseits aller Religionen –, also nicht um eine transkonfessionelle und transreligiöse Form der Spiritualität. Diese würde die Tradition der einzelnen Religionen nicht ernst nehmen und etwas Allgemeines entwerfen, das keinem weiter hilft.
Es genügt nicht, darzulegen, dass alle christlichen Inhalte nichts anderes sind als das, was beispielsweise auch die Buddhisten oder Hinduisten nur in einer anderen Sprache ausdrücken. Das würde alles gleichmachen. Zu meinen, Religion sei nur etwas Äußeres, es käme auf die eine innere Erfahrung an, die alle konkreten Religionen übersteigt, ist für mich eine Illusion. Denn die Erfahrung ist nicht ohne die Religion zu haben. Jede Erfahrung ist auch an eine bestimmte Sprache gebunden. Natürlich gibt es das Schweigen, das die Sprache übersteigt. Und es gibt die Erfahrung, die die konkreten Formen der Religion hinter sich lässt. Aber zu meinen, wir könnten die konkreten Religionen lassen, um uns der reinen Erfahrung zu widmen, führt zu einer neuen Dogmatik, die enger ist als die dogmatischen Aussagen der verschiedenen Religionen. Hier wird dann eine Erfahrung absolut gesetzt und zur Dogmatik erhoben, die keinen Widerspruch duldet.
Der indische Jesuit und Zenmeister Ama Samy meint: »Eine Erfahrung ohne Interpretation oder Sprache gibt es nicht.« (Samy 428) Daher gehe es nicht darum, etwa Zen und Christentum zu vermischen. Vielmehr solle der Christ ganz in die Zen-Erfahrung eintauchen. Er müsse »hinübergehen« (passing over) und dann wieder zurückkehren in seine christliche Denkweise. Durch das Hinübergehen wird seine christliche Erfahrung bereichert und verwandelt. Papst Benedikt XVI. ist überzeugt, »dass man Religion, um sie zu verstehen, von innen her erfahren muss und dass es nur von solchem Erfahren her, das notwendig partikulär und in seinem Ausgangspunkt historisch gebunden ist, zum gegenseitigen Verstehen und so zu einer Vertiefung und Reinigung der Religion kommen kann«. (Ratzinger, Die Vielfalt der Religionen 98)
Jeder religiöse Weg führt – wird er bewusst gegangen – zu einer tiefen Erfahrung. Auf dieser Erfahrungsebene können wir uns mit den verschiedenen Religionen austauschen und uns gegenseitig zu verstehen suchen.
Wenn wir die Ebene der Erfahrung besteigen, kommen wir uns innerlich näher. Buddhistische Mönche beispielsweise verstehen die Vätersprüche der frühen christlichen Mönche. Das kommt ihnen bekannt vor. Und umgekehrt können wir von den Erzählungen über Zen-Meister innerlich angesprochen werden. Sie rühren an ähnliche Erfahrungen bei uns.
Auf der Ebene der Erfahrung streiten wir nicht miteinander, sondern tauschen uns untereinander aus. Aber jeder wird seine Erfahrung auch deuten. Und er wird dazu auf seine religiösen Grundmuster zurückgreifen. Dazu braucht er die Sprache seiner Religion. Der Weg zur Erfahrung, die Sprache und Religion übersteigt, führt immer über Bilder und Symbole und dogmatische Systeme und nicht an ihnen vorbei.
Wenn ich versuche, das Wesentliche des Christlichen darzustellen, dann möchte ich dies zwar mit einem guten Selbstvertrauen und mit großer Dankbarkeit für den Reichtum christlicher Lehre und Tradition tun. Ich will aber nicht andere Religionen abwerten oder das Christentum über die anderen Religionen stellen.
Dennoch kommen wir dabei nicht an der Frage des Absolutheitsanspruches vorbei. Diesen Anspruch kennen Buddhisten und Moslems genauso. Er ist jeder Religion von ihrem innersten Wesen her zu eigen. Die Frage ist, wie wir heute sinnvoll darüber sprechen können, ohne uns über andere zu stellen. Der Theologe Hans Küng, dem man sicherlich nicht Fundamentalismus vorwerfen kann, hat in seinem Buch »Christ sein« vor der synkretistischen Vermischung aller uns so widersprüchlich erscheinenden Religionen gewarnt: »Ein lähmender, zersetzender, agnostisch-relativistischer Indifferentismus, der undifferenziert die anderen Religionen billigt und bestätigt, wirkt vielleicht zunächst befreiend und beglückend, aber in seinem Einerlei schließlich doch quälend, weil er alle festen Maßstäbe und Normen aufgegeben hat.« (Küng, Christ sein 104)
Mich hat immer schon die Frage bewegt, warum wohl die Apostel in alle Welt hinaus gezogen sind, um die Botschaft vom Evangelium Jesu Christi zu verkünden. Zu ihrer Zeit gab es das hoch entwickelte Judentum. Und die Apostel waren selbst Juden, die in einer Tradition göttlicher Fürsorge und Verheißungen standen. Sie zogen in eine Welt, in der alle Menschen an Gott glaubten. Sie hatten die griechische Philosophie und Religion und sie hatten die römischen Götter und die vielen Mysterienkulte. Es war damals eine religiöse Welt, die an Gott glaubte. Was war das Besondere am Christentum, das die Apostel dazu trieb, in die Welt zu ziehen, Verfolgung und Leiden in Kauf zu nehmen und schließlich ihr Zeugnis mit dem Leben zu bezahlen? Was war ihre Botschaft? Schon in den Evangelien und in der neutestamentlichen Briefliteratur wird deutlich, dass die ersten Christen ihre Botschaft von Jesus, dem Gekreuzigten und Auferstandenen, jeweils in einen anderen Horizont hinein verkündet haben. Dabei haben sie die Vorstellungen des jeweiligen religiösen Kontextes aufgegriffen und doch etwas verkündet, was für die Menschen neu war.
Dieses Neue lässt sich in zwei Worten ausdrücken: Jesus Christus. Es war Jesus Christus. Gott selbst hat in Jesus seinen Sohn in die Welt gesandt, um uns seine Liebe auf neue und unerhörte Weise zu zeigen. Und dieser Jesus ist für uns gestorben. Aber er ist nicht im Tod geblieben. Er ist auferstanden.
Dieses Geheimnis der Auferstehung Jesu hat die Jünger in die Welt getrieben. Das war eine unerhörte Tat Gottes. Darin ging es nicht nur um die Überwindung des Todes, sondern um ein Leben nach ganz anderen Maßstäben, nach dem Maß Jesu Christi. Daher haben die Jünger ihn verkündet mit den Worten, die er gesprochen, und mit den Taten, die er vollbracht hat. Und sie haben immer wieder neu über das zunächst so schwer verständliche Faktum seines gewaltsamen Sterbens am Kreuz und seiner Auferweckung nachgedacht. Sie haben in Tod und Auferstehung Jesu den Schlüssel zu einem neuen Verständnis des Lebens gesehen, zu einem neuen Selbstbild und zu einem neuen Gottesbild.
Die Apostel sind von Jerusalem an die Ränder der Welt vorgedrungen, um überall die Frohe Botschaft zu verkünden. Heute ist der christliche Glaube in der ganzen Welt präsent. Manchmal haben die Christen in Asien, in Afrika oder in Lateinamerika einen klareren Blick für das Wesen des Christlichen als wir im Abendland. Wenn wir beispielsweise einen christlichen Inder fragen würden, wie er als Christ mit dem Leid umgeht, oder einen japanischen Christen, wie er meditiert, oder einen Indio in Peru, wie er als Christ sich für die Gerechtigkeit engagiert, oder wie eine philippinische Frau ihren christlichen Glauben versteht, könnten sie uns die Augen öffnen für ganz neue Perspektiven des Christlichen.
Der indische Religionsphilosoph Raimon Panikkar meint, wir abendländische Christen würden Jesus Christus zu sehr in den Begriffen des westlichen Denkens beschreiben. Und er fordert uns auf: »Es bedarf innerer Verwandlung (metamorphosis), ja sogar einer Transzendierung unserer westlichen Rationalität im Sinne von meta-noia, Überschreitung der Vernunft.« (Panikkar 103) Es geht heute also nicht nur um einen Dialog zwischen den Religionen, sondern auch um einen Dialog der verschiedenen Denkweisen, um das Geheimnis Jesu Christi in wahrhaft »katholischer« – das heißt umfassender – Weise zu beschreiben: »Wenn wir also wirklich von der Wahrheit des Mysteriums Christi überzeugt sind, dann müssen wir noch katholischer werden, indem wir noch mehr der ganzen Welt (catholicus) angehören.« (Ebd. 104) Wir müssen Christus der westlichen Kleider »berauben«, um ihn mit neuen Augen anzuschauen und zu verstehen.
Ich selbst kann nur versuchen, in meiner Sprache eine Antwort auf die Frage zu geben, was ich als das Wesen meines christlichen Glaubens ansehe. Aber ich bin mir bewusst, dass diese Antwort einseitig ist.
Ich bin in meinem Denken von der griechischen Philosophie geprägt. So habe ich nicht den Anspruch, das Wesen des christlichen Glaubens auch den Menschen anderer Kulturen zu vermitteln. Allerdings habe ich immer wieder die Erfahrung gemacht, dass die griechische Philosophie auch die Menschen anderer Kulturen anspricht und berührt.
Trotzdem ist mir eines klar: Wir in Europa haben heute nicht das Monopol auf das Christentum und die christliche Sprache. Wir könnten gerade im Dialog mit jungen Christen in der weiten Welt Impulse von außen empfangen, die uns helfen, unsere eigene Sprache und unsere christliche Identität zu finden.
Katholisch heißt ja: allumfassend. Gerade heute wäre das Katholische ein Wesensmerkmal für uns Christen – nicht nur der Katholiken: Wir sollten alle Erfahrungen, die Menschen auf der weiten Welt mit Gott und mit Jesus Christus und seiner Botschaft machen, einbringen in unseren Glauben. Alle Erfahrungen, alle Hoffnungen, alle Sehnsüchte der Menschen müssen berücksichtigt werden, wenn wir eine Antwort auf die Frage nach unserem christlichen Glauben geben.
Ich möchte mit diesem Buch verunsicherten Christen helfen, die sich im öffentlichen Disput um die Religionen fast genieren, sich als Christen zu bezeichnen und Jesus Christus als Gottes Sohn zu bekennen.
Ich erlebe viele Christen, die im Dialog mit anderen Religionen nicht wissen, was sie als das Wesentliche ihres Glaubens beschreiben sollen. Sie sind geneigt, Jesus als einen unter vielen Religionsgründern zu sehen. Viele von ihnen haben in ihrer christlichen Erziehung Verletzungen erlitten und sind allergisch gegen christliche Dogmen und Symbole. Sie sind eher offen für Symbole aus anderen Religionen, weil diese noch nicht durch eine konkrete Lebens- und Leidensgeschichte befleckt sind. Allerdings ist ihnen oft gar nicht bewusst, dass sie Idealbildern dieser Religionen nachfolgen und nicht in die konkrete Religion eintauchen.
Viele, die sich anderen Religionen zuwenden, verlieren oft ihre eigenen Wurzeln. Heute erlebe ich viele Menschen, die sich vom Christentum abgewandt haben, aber auch keine wirkliche Heimat in einer anderen Religion finden. Viele von ihnen suchen wieder nach ihren christlichen Wurzeln. Auch ihnen will ich helfen, die eigenen Wurzeln wieder zu entdecken, sie von den Verletzungen ihrer Kindheit zu trennen und sie zu reinigen, damit sie ihrem Lebensbaum wieder Kraft zu spenden vermögen.
Es geht mir darum, vielen Christen in der Suche nach ihrer Identität zu helfen. Jürgen Werbick ringt in seinem Buch »Vom entscheidend und unterscheidend Christlichen« darum, was den Christen im Unterschied zu Gläubigen anderer Religionen ausmacht. Er beschreibt die Identität des Christlichen dort so: »Die Identität des Christlichen soll als das hier und jetzt schlechthin Bedeutsame wahrgenommen werden. Sie will identifiziert werden als ›Inbegriff‹ dessen, worauf ich mich verlasse, weil ich es als das schlechthin Verlässliche erfahren habe; als ›Inbegriff‹ der meine Ich-Identität tragenden und bestimmenden Wahrheit, als ›Inbegriff‹ des entscheidend und unterscheidend Christlichen, an dem ich mich selbst als Christ identifiziere und identifizieren lasse.« (Werbick 27)
Seine Glaubensgewissheit muss der Christ nicht aggressiv gegen andere verteidigen. Sie drückt sich vielmehr aus in der »Faszination eines Weges, eines Weges, der in den Fußspuren Jesu Christi ein Weg zur Vollendung des Menschen bei und durch Gott zu werden verspricht; eines Weges, auf dem Gottes befreiende und Gerechtigkeit schaffende Herrschaft die Menschen ergreift«. (Ebd. 71)
Mir ist es ein Anliegen, in den Christen, die nach ihrer christlichen Identität suchen, die Faszination für den befreienden und heilenden und Leben spendenden Weg Jesu neu zu wecken. Dazu dieses Buch.
Die Beziehung zu Jesus Christus
Im Jahr 1938 hat Romano Guardini ein Buch mit dem Titel »Das Wesen des Christentums« geschrieben. Er war also vom gleichen Thema berührt, das uns auch heute wieder neu beschäftigt. Aber auch er hat diese Frage nicht erfunden. Sie ist schon in der frühen Kirche aufgeflammt, war dann lange verschüttet und ist in der Reformationszeit und schließlich in der Romantik neu aufgebrochen.
Um das Jahr 1900 hat der berühmte evangelische Theologe Adolf von Harnack ein Buch mit diesem Titel geschrieben. Harnack wollte im Sinn des Liberalismus das Christentum auf die Botschaft von dem einen Vater reduzieren. Nicht Christus solle Gegenstand des Glaubens sein, sondern der Vater, an den alle Menschen glauben. »Wo der Sohn nur wenigen gehört, gehört der Vater allen und alle ihm. Wo der Glaube gespalten hat, da mag die Liebe verbinden.« (Zit. n.: Ratzinger, Einführung 158) Doch dieser Optimismus hielt nicht lange. Er trug eher zur Verdünnung des christlichen Glaubens bei.
Romano Guardini gibt auf die Frage nach dem Wesen des Christentums diese Antwort: Nicht eine bestimmte Lehre ist das Wesen, sondern eine Person: die Person Jesu Christi.
Die Beziehung zu Jesus Christus unterscheidet sich von der Beziehung zu anderen Religionsgründern wie etwa zu Buddha, der eine wunderbare Lehre verkündet hat, die seine Schüler von allem Leid befreien will und zur Erleuchtung führt. Das Wesen des Christentums besteht in der bleibenden Beziehung zu Jesus Christus: »Das Christliche ist letztlich keine Wahrheitslehre oder Deutung des Lebens. Es ist auch das; aber darin besteht nicht sein Wesenskern. Den bildet Jesus von Nazareth, dessen konkretes Dasein, Werk und Schicksal – das heißt also eine geschichtliche Person.« (Guardini 14)
Guardini hatte in Berlin Verbindung zum dortigen Buddha-Haus und war von manchen Lehren Buddhas fasziniert. Deshalb arbeitete er das Wesen des Christlichen gerade im Unterschied zum Buddhismus heraus. Buddha ist der Erwachte, der den Weg zur Erleuchtung und zur Befreiung aus dem Leiden dieser Welt gefunden hat. Er ist der Führer auf dem Weg des Erwachens. Aber sobald seine Anhänger selbst erwacht sind, brauchen sie den Führer nicht mehr.
Bei Christus ist es anders. Das Wesen des Christlichen besteht in der dauernden Beziehung zu Jesus Christus. Guardini zitiert die vielen Bibelstellen, in denen Jesus das Heil des Menschen von der Beziehung zu ihm abhängig macht. Vor allem im Johannesevangelium ist die Beziehung zu Jesus und der Glaube, der in ihm den Vater sieht, das Entscheidende des Christlichen: »Ich bin das Licht der Welt. Wer mir folgt, wird nie mehr in der Finsternis wandeln, sondern das Licht des Lebens haben.« (Joh 8,12)
Jesus vergleicht sich mit dem Weinstock und uns mit den Reben. Nur wenn wir als Reben an ihm bleiben, bringen wir Frucht. Ja, er sagt es noch radikaler: »Wer in mir bleibt und in wem ich bleibe, der bringt reiche Frucht; denn getrennt von mir könnt ihr nichts vollbringen.« (Joh 15,15) Jesus ist der innerste Grund, aus dem wir leben. Er führt uns in das Potential unserer Seele hinein. Und nur wenn wir aus dieser inneren Quelle leben, wird unser Leben fruchtbar. Im Ersten Johannesbrief wird die Beziehung zu Jesus als die Bedingung von Heil gesehen: »Jeder Geist, der bekennt, Jesus Christus sei im Fleisch gekommen, ist aus Gott. Und jeder Geist, der Jesus nicht bekennt, ist nicht aus Gott.« (1 Joh 4,2f) Und kurz darauf formuliert Johannes noch deutlicher: »Wer bekennt, dass Jesus der Sohn Gottes ist, in dem bleibt Gott, und er bleibt in Gott.« (1 Joh 4,15)
Nachdem er all diese Bibelstellen aufgeführt hat, zieht Guardini den Schluss: »Es gibt keine Lehre, kein Grundgefüge sittlicher Werte, keine religiöse Haltung und Lebensordnung, die von der Person Christi abgelöst, und von denen dann gesagt werden könnte, sie seien das Christliche. Das Christliche ist ER SELBST; das, was durch Ihn zum Menschen gelangt und das Verhältnis, das der Mensch durch Ihn zu Gott haben kann.« (Guardini 68) Für Papst Benedikt führt der christliche Glaube von bloßen Ideen weg, hin zum Ich Jesu. Jesus ist Wort Gottes und Sohn Gottes. Das bedeutet für Joseph Ratzinger »völlige Offenheit«. So fasst er das Wesen des christlichen Glaubens zusammen: »Christlicher Glaube ist nicht auf Ideen, sondern auf eine Person, ein Ich bezogen, und zwar auf ein solches, das als Wort und Sohn, das heißt als totale Offenheit, definiert ist.« (Ratzinger, Einführung 169)
Wenn die Werte des Guten, Schönen und Wahren sowie echte Humanität auch anderswo verwirklicht werden, so muss man dennoch die Beziehung zu Jesus Christus als das entscheidend Christliche ansehen. »Christentum ist ... nur dort, wo die Erinnerung an Jesus Christus in Theorie und Praxis aktiviert wird.« (Küng, Christ sein 118)
Für Hans Küng ist die Frage wichtig, welchen Christus wir als Grundlage unseres Glaubens und unserer Existenz nehmen. (Vgl. ebd. 119ff) Denn in der Kirchengeschichte gab es viele Christusbilder, die dann immer auch zu Einseitigkeiten oder gar Verfälschungen des Christlichen geführt haben. Daher müssen wir die Bibel genau studieren, um dem wahren Jesus zu begegnen, wie ihn uns die Evangelien und die Briefe des Neuen Testaments beschreiben.
Aber auch da werden wir wahrnehmen, dass jedes Evangelium uns ein anderes Christusbild zeichnet. Wir können Jesus also nicht festlegen. Er ist und bleibt offen für viele Bilder. Daher ist auch das Christentum eine offene Religion. Sein Wesen besteht darin, dass es stets danach sucht, wer dieser Jesus war und heute für uns ist, was er gelehrt und wie er gelebt hat und wie er Gott verstanden und verkündet hat.
Auch für uns Christen ist Gott das eigentliche Ziel unseres Lebens. Aber der bleibende Weg zu diesem Gott ist für uns der menschgewordene Gott Jesus Christus. Ihn ihm wird Gott Mensch. Er verkündet uns das wahre Gottesbild und befreit uns immer wieder von unseren eigenen Projektionen, die wir auf Gott werfen.
Wenn das Christentum vor allem eine persönliche Beziehung zu Jesus Christus ist, kommt für mich darin etwas Wesentliches zum Ausdruck, das mir gerade im Dialog mit anderen Religionen wichtig erscheint. Heute ist es ja modern, vom apersonalen Gottesbild zu sprechen, das uns vor allem die östlichen Religionen verkünden. Sicher weisen uns diese Religionen darauf hin, dass wir Gott nicht zu eng in unseren menschlichen, westlich geprägten Personbegriff hinein zwängen dürfen: Gott ist auf andere Weise Person, als wir das von Menschen annehmen.
Gott ist immer beides zusammen: Er ist persönlich und zugleich überpersönlich. Auch die christliche Theologie sagt, dass alle Begriffe von Gott immer zugleich bestätigt und verneint werden müssen. Gott ist jenseits unserer Begriffe: Er ist nicht Person, aber er ist auch nicht weniger als Person. Hans Küng bringt aus der Physik den Begriff der Komplementarität ins Spiel. Gott ist »bei aller Überpersönlichkeit ein echtes Gegenüber, das menschenfreundlich und unbedingt verlässlich ist«. (Küng, Das Christliche 223)
In Jesus hat Gott ein persönliches Antlitz bekommen. In Jesus wird Gott als Du erfahrbar, das mir begegnet und mich anspricht. Und dieses Du prägt meinen Glauben. Glaube – so sagt Joseph Ratzinger – ist »das Finden eines Du, das mich trägt und in aller Unerfülltheit und letzten Unerfüllbarkeit menschlichen Begegnens die Verheißung unzerstörbarer Liebe schenkt«. (Ratzinger, Einführung 53)
Die Beziehung zu Jesus Christus sagt etwas Wesentliches über unsere Gottesbeziehung aus. Ich erlebe viele spirituell Suchende, die vom apersonalen Gott sprechen und diese Sicht als befreiend erleben. Aber oft verdecken sie damit nur ihre eigene Beziehungslosigkeit. Weil sie unfähig zu wirklich persönlichen Beziehungen sind, brauchen sie ein Gottesbild, das die Beziehung ausschließt oder überspringt. Sie sprechen vom Einssein mit dem Göttlichen. Das genügt ihnen. Doch sie öffnen sich nicht, um einem anderen wirklich zu begegnen.
Auch für uns Christen ist das Einswerden mit Gott das letzte Ziel. Aber es ist ein personales Einswerden, ein Einswerden mit einem Du – es ist die Erfüllung unserer tiefsten Sehnsucht nach Liebe.
Für mich hat das Gottesbild immer auch mit dem Selbstbild zu tun. Wenn wir Christen unsere Beziehung zu Jesus als Wesen unseres Glaubens ansehen, dann sagt das auch etwas über unser Menschenbild.
Das christliche Menschenbild ist vom Verständnis des Personseins geprägt. Und zum Personsein gehört wesentlich die Begegnung. »Ich werde am Du« (vgl. Buber), beschreibt der jüdische Philosoph Martin Buber die in der Begegnung geschehende Entwicklung der Person. Buber bezieht das nicht nur auf das Du eines anderen Menschen, sondern auch auf das Du Gottes.
Natürlich dürfen wir Christen nicht von uns behaupten, dass wir beziehungsfähiger sind als andere. Der Glaube allein befähigt den Menschen noch nicht zu einer persönlichen Beziehung zu anderen Menschen oder zu Gott. Aber der christliche Glaube ist eine Herausforderung, dass wir das Geheimnis unseres Personseins entdecken und fähig werden, einander wahrhaft zu begegnen – so zu begegnen, dass wir verwandelt aus der Begegnung heraus gehen.