Der goldene Löffel - Chaim Noll - E-Book

Der goldene Löffel E-Book

Chaim Noll

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Beschreibung

Ein junger Mann in der DDR in den Siebzigerjahren. Sein Vater ist Funktionär, es geht ihm überdurchschnittlich gut - dass die Ehe der Eltern bröckelt, interessiert ihn kaum. Er verbringt die Tage im Haus der Künstlerfamilie seiner Freundin, die Mutter zieht Strippen von Ost nach West. Alle haben sich eingerichtet. Doch bald kommt dem jungen Mann die Liebe dazwischen, und Fragen stellen sich ihm, die ihn zu etwas ganz anderem werden lassen als einem hoffnungsvollen und begeisterten Kandidaten der Partei ... Chaim Noll zeichnet in diesem erstmals 1989 erschienenen Roman ein schauriges Panorama der untergehenden DDR. Er erzählt von den Vergünstigungen der Parteifunktionäre, aber auch von ihren Ängsten, Beklemmungen und dem Willen, sich zu widersetzen. Von den Mechanismen, die Menschen zerstören, sie in Paranoia, in den Alkohol, ins Mittläufertum drängen - nicht nur in der DDR.

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Chaim Noll

Der goldene Löffel

Roman

Das Haus

»Von wem ist das Bild?«

Violetta antwortete träge: »Von Lewental.«

Sie hielt die Leiter, auf der Alice stand und ungeschickt mit dem riesigen Karton hantierte. Es war ein Gruppenbild, Lewental hatte Alices Familie mit genialischen, nicht in jedem Fall treffsicheren Pinselstrichen in halber Lebensgröße dargestellt. Das Bild war schon jetzt heftig umstritten, vor allem Tante Rosita fand sich nicht getroffen, sie weigerte sich, in jener länglichen, schludrig hingetuschten Fläche im Hintergrund ihr Konterfei zu erkennen. Auch Violettas Bruder war misslungen: ein klopsiges Gesicht mit Hakennase, darüber wirres Gekritzel, das seine Locken andeuten sollte – er zuckte wortlos mit den Schultern und ging in sein Zimmer.

Alice kletterte wütend von der Leiter. »Er wollt’s am liebsten wegschmeißen! Dazu habe ich es nicht aus Moskau hergeschleppt … Adam!« Sie wandte sich an mich. »Hilf du mir wenigstens … Du siehst ja, was hier wieder los ist …«

Rosita sagte aus ihrem Sessel: »Du kannst unmöglich verlangen, dass uns das Ding gefällt.«

Um so besser gefiel es Alice. In ihr Porträt hatte Lewental alles hineingelegt, wozu er an Schmeichelei fähigwar. Sie erschien im Zentrum der Pappe als zigeunerhaft-jüdische Schönheit, so, wie sie sich selbst gern sah: attraktiv trotz ihrer sechzig Jahre und des Lebens, das hinter ihr lag. Sie hatte überlebt und später noch drei Kinder geboren, Violetta, die Jüngste, mit Anfang Vierzig. Dann war Alices Mann, der Journalist Moritz Weintraub, plötzlich gestorben, war von einem Tag zum anderen verschwunden, dafür stellte sich ihre Schwester Rosita ein. Rosita hatte Moritz Weintraub nie gemocht. Solange er lebte, war sie Alice und den Kindern ferngeblieben, und wann immer das Gespräch auf ihn kam, erklärte sie rundheraus: »DieserMann hat dir das Leben zerstört. Ihn hat nicht mal der ­Gulag belehrt. Er ist immer so stur geblieben, wie er war.«

Alice: »Er war nicht stur, er war überzeugt.«

Und Rosita: »So nennen es die Männer. Du solltest endlich anfangen, wie eine Frau zu fühlen.«

Es gab Tage, an denen Alice ihre Schwester nicht ertrug. Das war immer dann, wenn sie die Rouleaus zur Straße herunterließ und sich auf ihre blaue Couch im hinteren Winkel des Zimmers legte, von Schmerzen geplagt, über die sie kein Wort verlor. Halbdunkel umgab sie, die Rouleaus hielten dicht, obwohl sie alt und brüchig waren wie das ganze Haus, Licht fiel nur durch eine Tür auf der anderen Seite des Zimmers, die zu einer kleinen Veranda führte. Die Veranda war vollgeräumt wie ein Warenlager, mit Koffern, Kartons und prallgefüllte Plastiktüten, die irgend jemand für irgendwen hinterlassen hatte. Alice lag untätig auf ihrer Couch und redete mit schleppender Stimme auf mich ein, manchmal versank sie in düsteres Schweigen, reglos, mit geschlossenen Augen, und es war nicht zu erkennen, ob sie schlief oder wachte.

Rief Rosita aus West-Berlin an, Donnerstag oder Freitag, um ihren allwöchentlichen Besuch am Sonnabend anzukündigen, erklärte ihr Alice mit harter,kurzatmiger Stimme: »Du hast mir gerade noch gefehlt.« Rosita, am anderen Ende der Leitung, in ihrer Wohnung am Hohenzollerndamm, wusste augenblicklich Bescheid: Sie erkannte an Alices Artikulation, dass ihre Schwester einen schlechten Tag hatte. Sie war bereits unterwegs gewesen, um Verschiedenes für den Besuch zusammenzukaufen, was genau, teilte sie Alice nun per Telefon mit, die Aufzählung dauerte lange, denn obwohl Violetta und ihre Geschwister behaupteten, Tante Rosita sei geizig, kam die alte Frau niemals ohne ein halb Dutzend Tüten voller Geschenke.

Rosita war Schauspielerin, ihre Laufbahn endete1934, als sie nach London emigrierte. »Wenn Klimt mich hätte malen können«, behauptete sie, »was für ein Bild wäre das geworden …« Sie sprach gern über ihre Triumphe in den frühen dreißiger Jahren, am liebsten über den Ufa-Film »Kein Mensch ist eine Insel«, in dem sie eine Hauptrolle gespielt hatte. Sie sprach darüber bei jeder Gelegenheit und schwelgte in Erinnerungen, dabei hörte ihr niemand zu. In Alices Haus wechselten die Gesprächsthemen schnell, was gestern noch alle beschäftigt hatte, war heute vergessen, einFilm, ein Gast, ein Zwischenfall. Die Familie lebte zwischen Besuchern und Freunden, die auf- und abtraten wie auf einer Bühne. Auch Alice und die Kinder hielten es so, es gab keine gemeinsamen Mahlzeiten, überhaupt keine der mühsamen Zeremonien, die man anderswo »Familienleben« nennt. In den Zimmern von Violetta und ihrer Schwester bewegten sich ungehindert kleinere und größere Tiere: ein honigfarbener Perserkater, ein Papagei, Goldhamster, Hasen und Meerschweinchen, von denen immer einige verunglückt waren oder im Sterben lagen. »Der Tod«, sagte Alice rätselhaft, »ist in unserem Haus ein ständiger Gast.« Sie kam spätabends aus der Oper zurück, dann wurde Tee gekocht, Alice goss sich Kognak aus einer Taschenflasche dazu, die Töchter packten die Lebensmittel aus, die Tiere stellten sich ein. Der Perserkater erschien ohne Eile, sein ganzes Wesen drückte aus, dass er nur aus Höflichkeit seinen Dauerschlaf unterbrochen hatte: die Herrin des Hauses war zurückgekehrt. Von der Deckenlampe kreischte durchdringend der Papagei, und Violettas Schwester stand in der Küche, auf dem Arm einen kranken Hasen oder ein Meerschweinchen.

Violetta hatte zwei Brüder, der ältere, kurz vor der Verhaftung seiner Eltern in Moskau geboren, lebte längst außer Haus und stand nicht hoch im Kurs. Ich lernte den jüngeren kennen, der nach dem Tod des Vaters der Vertraute seiner Mutter geworden war. Mit ihm besprach sie alle wichtigen Angelegenheiten. Sein Zimmer glich einer Höhle, über Tisch, Stühle und Fußboden wucherte Papier, Schallplattenhüllen, aufgeschlagene Bücher, verstreute Zettel. Wenn ich ihn besuchte, lag er auf seiner Matratze und hörte Langspielplatten von Bob Dylan und Janis Joplin. Ich setzte mich, nach einem wortlosen Gruß, auf seinen Schreibtischstuhl, ein schwarzlackiertes Gartenmöbel, und las in seinen Büchern. Ab und zu verständigten wir uns mit einem Blick, dann verließ einer von uns das Zimmer, um etwas zu trinken zu holen. Ob er oder ich, war gleichgültig, in Alices Haus ging jeder ungeniert an den Kühlschrank. Wir tranken uns zu, ohne ein Wort, und kehrten zu unseren Beschäftigungen zurück. Wenn er mich anredete, sprach er niemals meinen Vornamen aus, auch das gehörte zu seinen Eigentümlichkeiten. Statt »Adam« sagte er »du«. Das Reizvolle an unserem Verhältnis bestand darin, dass es ungeklärt war. War er mein Freund? Konnte jemand mein Freund sein, mit dem ich kaum sprach? Durch ihn kam ich in Alices Haus, auch später, als ich mich in seine Schwester verliebte, suchte ich ihn gern in seiner Höhle auf, um zu schweigen.

Violetta interessierte sich für Jungs, sie liebte es, mit ihnen zu spielen. Blicke zuerst, dann lange Gespräche, harmlos beginnend, immer verfänglicher werdend. Sie richtete es ein, dass wir in Haus und Garten allein waren, alles ergab sich wie von selbst. Ich spürte ihre Schenkel in den blauen Jeans, über die ich mit der Hand strich, von den Knien immer weiter hinauf. Sie warf mir Blicke zu und lächelte, ihr Lächeln löste Bedrängungen aus. Irgendwann muss sie ihrem Bruder einen Wink gegeben haben, er verschwand von der Bildfläche und ließ uns allein. Warum ich, dachte ich eines Abends, als ich durch die dunklen Straßen nach Hause lief – die Straßen waren spärlich beleuchtet, es gab noch die alten Berliner Laternen mit ihren spitzen Hauben und ihrem trüben, gemütlichen Licht –, warum gerade ich, wo so viele Jungs täglich um sie sind, in der Schule, im Kino, auch zu Hause, in den Zimmern ihrer Geschwister? Ich wusste, dass sie eher unbedenklich war und sich jedem, der ihr gefiel, näherte. Doch wenn wir uns küssten, war mein Kopf wie leergefegt. Ihre Aufmerksamkeit erfüllte mich mit einem Glücksgefühl, das jedes Misstrauen überwog. Ich war sicher, sie meinte es ganz ernst.

In diesem Frühjahr gingen wir viel spazieren, wir küssten uns auf offener Straße. Violetta trug kurze Röcke, ich griff ihr unter den Stoff, wohin ich wollte, alles war eine Sensation. Wir küssten uns wieder, fünf Schritte weiter, den ganzen Nachmittag lang, später gingen wir in ihr Zimmer und legten uns auf ihre Couch. Manchmal begleitete mich Violetta zur Haltestelle und wir warteten gemeinsam auf die Straßenbahn. Von weitem sahen wir sie kommen, sie näherte sich schwankend wie ein beleuchtetes Schiff, wir sahensie in der schnurgeraden Allee noch zwei-, dreimal halten, standen an der Haltestelle, warteten, und mich bewegte die Frage: Würde sie mich auch morgen lieben? In der Schachtel fand sich eine letzte Zigarette, ich zündete sie an, dabei beleuchtete der Schein der Flamme für einen Augenblick unsere Gesichter. Dann rauchten wir abwechselnd; das kleine rote Fünkchen sprang in der Dämmerung zwischen uns hin und her. Als die Bahn hielt, war die Zigarette heiß, ihr Geschmack bitter.

Alice hielt sich in diesem Frühjahr meist im Ausland auf, und meine Eltern kümmerten sich ohnehin kaum darum, wann ich kam und ging. Mein Vater fuhr morgens in die Universität, um am späten Abend zurückzukehren. Er hatte den ganzen Tag Vorlesungen und Seminare gehalten, ihm war nicht danach, mit seiner Familie darüber zu sprechen. Wir wollten auch gar nicht hören, was er erlebt hatte, meine Mutter setzte vorsichtshalber eine leidende Miene auf, wenn sie den Schlüssel in der Wohnungstür hörte, und diese Miene behielt sie bei, bis er den großen Whisky getrunken hatte, den er jeden Abend zu sich nahm. Er wurde schlaff und müde, ging in sein Arbeitszimmer und packte bei geöffneter Tür seine Aktentasche aus. Zum Vorschein kamen Papiere, Notizzettel mit seiner steifen Schrift, Rundschreiben und Fachzeitschriften. Selbst beim Essen las er in blassen Broschüren und machte Anstreichungen mit dem Bleistift; er belehrte mich darüber, dass man niemals mit Tinte in Bücher schreiben dürfe, es könnte sein, dass man die Eintragungen eines Tages auslöschen müsse. Oder er warfmir vor, zuviel zu reden, auch das werde mich eines Tages in Schwierigkeiten bringen. Die Sorge meiner Mutter galt meinen Besuchen in Alices Haus, sie betrachtete die Familie mit Misstrauen. »Sie spielen nur mit dir«, sagte sie. »Du machst dir Illusionen darüber, was das für Leute sind.« Es waren Überraschungsangriffe, oft spät in der Nacht, wenn ich von Violetta nach Hause kam, müde und glücklich: Wir waren allein in dem Haus gewesen und hatten den Abend auf der Couch in ihrem Zimmer verbracht. Oft ging ich zu Fuß nach Hause und wunderte mich darüber, welche Entfernungen ich laufen konnte, ohne Anstrengung, angeregt durch alles, was es unterwegs zu sehen gab, eine ge­tigerte Katze, die über die Straße lief, eine Gestalt, die aus einem Hausflur trat – hinter ihr erlosch das Licht –, zwei Schritte machte und lauschend stehenblieb, ein parkendes Auto, in dem sich ein Mann und eine Frau unterhielten – in der Dunkelheit waren die Schattenrisse ihrer Köpfe und die glimmenden Enden ihrer Zigaretten zu erkennen.

Mein Vater hatte Anfälle von Anteilnahme, die sich unvermutet einstellten, als hätte er in seinem Inneren einen Schalter betätigt. Wenn Violetta mich besuchte, sah er mit zerstreut zwinkernden Augen von seinen Blättern auf, nahm die Brille ab und spielte für ein, zwei Stunden den charmanten Gastgeber und Plauderer. Er fragte: »Möchten Sie etwas trinken?« und holte mit vielsagenden Blicken, als stünden unerhörte Ereignisse bevor, die Gläser aus seiner Hausbar. Es folgte ein Gespräch, das er fast ausschließlich allein bestritt; meine Mutter spitzte den Mund und lehnte mit beredtem Kopfschütteln einen zweiten Sherry ab. Mein Vater trank nichts, manchmal fuhr er Violetta später nach Hause. Wir saßen, sie und ich, im Fond seiner großen Limousine sowjetischer Fabrikation, auf den gerippten Kunstlederpolstern, die sich glatt und kühl anfühlten, zwischen uns lagen unsere ineinander verschlungenen Hände, jeder blickte aus seinem Fenster auf die nächtliche Straße. Vor Alices Haus angekommen, begnügte sich mein Vater damit, Violetta aussteigen zu lassen, ohne jemals mit hineinzugehen. Er wartete und ließ den Motor laufen, während ich Violetta zur Haustür brachte, wir spürten seine Ungeduld und küssten uns flüchtig und ungeschickt.

Wenn wir uns wiedersahen, hatten wir viel aneinander auszusetzen. Ich war darauf versessen, etwas zu beweisen, radikal bis zur Bekehrung – was es auch immer war, es war unerträglich bedeutend, alles hing davon ab, ein Einlenken war unmöglich –, ich wusste selbst nicht, was es war.

»Du bist rechthaberisch«, sagte Violetta abwinkend. »Genau wie dein Vater. Das sagen alle. Auch Gobby findet …«

»Gobby! Alle deine Freundinnen sind blöd, und Gobby ist die allerblödeste. Sie sieht aus wie eine beleidigte Maus.« Und ich machte ihr vor, wie sie zischelte und lispelte.

»Du verstehst nichts von Menschen, und von Mädchen schon gar nichts. Gobby ist sehr sensibel. Bei ihr spielt sich alles auf einer anderen Ebene ab.« Und als Bestätigung, mit leiser, entschiedener Stimme: »Sie schreibt.«

Sie gab mir einen Aktendeckel aus gelber Pappe, in dem sich das dünne Manuskript befand, mit der Schreibmaschine abgeschrieben, auf rosa Durchschlagpapier. Ich las darin, konnte aber nicht herausfinden, worum es ging, von Träumen war die Rede, von einem Mädchen, das sie zu deuten verstand und das daher von den Menschen geliebt wurde. Der Text kam mir vor wie ein Schwamm, vollgesogen mit Essig und Zuckerwasser. Am nächsten Abend brachte ich Violetta den Aktendeckel zurück.

»Na«, wollte sie wissen, »hat es dir was gesagt?«

»Vielleicht«, antwortete ich, »wird es noch ganz interessant, wenn sie es fertig macht …« Violetta lächelte verheißungsvoll. Wir waren allein, Alice auf Reisen, nur der schweigsame Bruder wurde zurückerwartet. »Du kannst hier übernachten … Ich mache dir im Gästezimmer das Bett.« Sie selbst schlief in ihrem Zimmer, ich hörte sie ins Bad und wieder zurückgehen. Schließlich kehrte Ruhe ein, ich stand auf und betrat ihr dunkles Zimmer. Ich setzte mich auf den Rand ihres Bettes. Durch das große Fenster fiel Licht. Ich sah, dass sie wach war, sie hatte die nackten Arme unter dem Kopf verschränkt und sah mich an. Ihre Arme waren weiß, viel heller als meine Haut. Es gab wohl noch einen Unterschied. Ich war es, der etwas unternehmen musste. Ich musste jetzt zeigen, dass ich ein Mann war. Violetta schlug die Decke beiseite, ich legte mich neben sie, erleichtert, dass ich sie nicht mehr ansehen musste. So lagen wir einige Sekunden. Dann begann sie leise zu lachen.

»Worüber lachst du?«

»Über dich. Du bist komisch, Adam. Ich habe einen reißenden Wolf erwartet …«

»Ich bin kein reißender Wolf.«

»Doch. Du weißt es nur noch nicht …«

Spät nachts kam ihr Bruder nach Hause und machte Lärm. Wir gingen hinunter, in unsere Decken gewickelt, und aßen in der Küche zusammen Weißbrot und Obst. Wir nahmen uns nicht einmal Teller und brachen große Stücke von dem Weißbrot ab, alle hungrig und gesprächig und müde. Violettas Bruder schien alles zu wissen, aber er war ein Schweiger und würde auch dazu schweigen. Jetzt sagte er: »Ich werde euchmorgen wecken, ehe unsere Mutter kommt. Wirbeide« – das galt mir – »können zusammen zur Schule fahren.« Und Violetta und ich gingen wieder hinauf, schon auf der Treppe küssten wir uns, dann schliefen wir zusammen in ihrem Bett.

Ich besuchte das Haus, trank Tee mit Alice, schwieg mit Violettas Bruder und erlebte die Auftritte von Rosita Rosen. Die Schwestern hießen eigentlich Tartakower, ihre Großeltern stammten aus Odessa, erst der Vater hatte sich in Berlin assimiliert. Rosita hatte für sich den Nachnamen Rosen erfunden, verheiratet war sie nie, und Alice erging sich in dunklen Andeutungen, warum nicht. »Du weißt ja«, sagte sie, »dass meine Schwester die Männer nicht liebt. Überhaupt nicht, verstehst du?«

Rosita war groß und ging leicht gebeugt, das Vertikale ihrer Erscheinung wurde durch eine lange, klassisch gerade Nase betont, die ihrem Gesicht einen Ausdruck von komödiantischer Strenge verlieh. Darüber helle Augen mit geschwungenen Ober- und Unter­lidern, Augen, die viel Weiß zeigten und sich langsam bewegten. Neben ihr wirkte Alice unscheinbar, auch wenn sie die Haare schwarzgefärbt und offen trug, sich grell schminkte und überall, wo sie ging und stand, Trubel und Lärm verursachte. Schon früh um fünf warf sie im Obergeschoss des Hauses die Waschmaschine an und löste damit eine Kette von Handlungen und Ereignissen aus, die das Leben aller anderen bestimmten. Nur Rosita blieb vollkommen ungerührt, sie schritt durch die Zimmer, als trüge sie Gewänder mit Schleppen und darunter Koturne. Alice sah ihr nach und murrte: »Man kann sich kaum vorstellen, dass sie in London als Hausmädchen gearbeitet hat.«

»Rita?« fragte ich überrascht.

»Ja, sie war Köchin oder so was«, sagte Alice mit Genugtuung. »Bei einer Familie Power-Robinson. Rosa hat mir die Geschichte hundertmal erzählt. Sie hatte den Anschluss verpasst in Paris, ihre Leute waren längst drüben in Amerika. Erst kurz bevor die Nazis einmarschiert sind, ging sie nach London. Und kam dort nicht mehr weg. Für die Einreise in dieUSAmusste man zwei Bürgen angeben, außerdem war die Einwanderungsquote für deutsche Staatsangehörige längst überschritten. Die Revue-Leute, auf die Rosa gehofft hatte, kamen drüben nicht zurecht. Einer ließ sich von seiner Frau ernähren, die als Näherin in eine Fabrik ging. Valeska Gert hatte eine Bar in New York, aber das wäre auch nichts für Rosa gewesen: zu viele Männer. Jedenfalls hatten alle mit sich selbst zu tun. Wie Rosa nun an diese Power-Robinsons gekommen ist, weiß ich nicht. Sie musste dort täglich fünf Mahlzeiten zubereiten: Breakfast proper, mit Tee und Toast und Bacon, dann Lunch, da ging schon die Kocherei los, zum Dinner kamen meist Gäste, außerdem noch der Fünf-Uhr-Tee, da waren Platten mit Sandwiches vorzubereiten, schließlich Supper und hinterher der Abwasch, es ging bis spät in die Nacht. Sie musste früh aufstehen und zum Markt gehen und Gemüse, Fisch und Geflügel einkaufen, sich mit den Marktfrauen herumzanken und so weiter – sie behauptet, sie hätte es für schauspielerische Studien genutzt. Kann sein. Rosa hat eine Eigenschaft, die wirklich unbezahlbar ist: Sie kann aus jeder Situation etwas machen. Sie fiel auch bald der Dame des Hauses auf, einer blutarmen, todlangweiligen Zicke, eben Mrs. Power-Robinson, denn Rosa hat sich immer gut gehalten, und glaube mir, Adam, darauf kommt es an. Auch im Lager, imKZ. Ich habe in Ravensbrück französische Huren gekannt, die immer auf ihre Wäsche geachtet haben, oder was wir dort Wäsche nannten, und die haben überlebt. Du musst möglichst immer auf dich halten. Wir haben im Lager Gedichte auswendig gelernt, um nicht zu verblöden … Naja. Rosa hat eine Weile durchgehalten, zum Schluss wurde sie, und das glaube ich ihr aufs Wort, der heimliche Despot des Hauses. Erst änderte sie die Art zu kochen. Ihre Vorgängerinnen, Engländerinnen, hatten das Gemüse einfach ins Wasser geworfen, bis es zerkocht war. Rosa hatte als Kind unserer Köchin zugesehen, sie hatte offenbar Talent dafür. Und Geduld, mit den Leuten richtig umzugehen. Mrs. Power-Robinson klingelte nachts um zwei nach einem Glas Zuckerwasser und ähnliche Scherze. Schließlich hat sie den Frauen der Familie die Frisuren gemacht, und Mr. Power-Robinson ist fast in Ohnmacht gefallen, als er seine Alte plötzlich als Vamp sah. Man hat ihn im Club darauf angesprochen, er hat Rosa schließlich Geld angeboten, wenn sie freiwillig das Haus verlässt. Auch das glaube ich ihr aufs Wort – wenn ich Geld übrig hätte, würde ich es selbst gern tun. Rosa bewarb sich in einem Kaufhaus als Verkäuferin in der Kosmetikabteilung, und gegen Ende des Krieges war sie Personalchefin. Sie hat ein phantastisches Gespür für Menschen. Als sie nach Berlin zurückkam, hat sie Geld mitgebracht, und das war sicher das größte Kunststück in ihrem Leben. Also eins werde ich ihr niemals absprechen, Adam: Rosa ist eine Künstlerin.«

Der Film »Kein Mensch ist eine Insel« lief eines Abends im Fernsehen, wir sahen ihn gemeinsam mit Rosita. Als die Gestalt auf dem Bildschirm singend die Beine schwenkte, ließ Rosita im Sessel neben mir den Unterschenkel hochklappen wie in einem Scharnier und rief: »Meine Beine! Seht doch, sie sind noch wie damals!«

Und sie fügte hinzu: »Wenn sich doch alle so gehalten hätten …« Nein, die guten Zeiten waren vorbei, auch solche Filme gab es nicht mehr, die heutigen Filme wären »Männerfilme«. – »Es ist überhaupt eine frauenfeindliche Zeit. Die zwanziger Jahre waren wie das Rokoko, voller Courtoisie und Feingefühl. Da blühten die Frauen auf. Jetzt ist alles aus. Es gibt keine Damen mehr, nur noch Huren. Damals fing das an … Die Männer sind daran schuld. Die Männer von heute sind gemein und ordinär, alles Feinere ist ihnen abhanden gekommen, nur noch Macht, Politik und Geld – sie nennen es Vernunft …«

»Du spinnst«, erklärte Alice.

Rosita bedachte sie mit einem Blick aus halbgeschlossenen Lidern. »Und Frauen wie du machen mit.«

Offiziell hieß Alice Dolmetscherin, sie nahm an den Proben der Oper teil und übersetzte die Anweisungen der russischen Choreographen, die das Ballett ausbildeten und trainierten. Die Ballettmeisterin Glasunowavom Bolschoj-Theater kam alle halbe Jahre nach Berlin, mit dem Moskauer Zug, der spätabends, gegen Mitternacht, in den Ost-Bahnhof einfuhr. Einmal begleiteten Violettas Bruder und ich Alice dorthin, um einen Koffer voller Ballettschuhe, den die Glasunowa im Gepäck hatte, zu Alices Auto zu tragen. Alice fuhr einen Renault aus dem »Sonderkontingent«, einen noch neuen, aber schon stark in Mitleidenschaft gezogenen Kombi, dessen Ladefläche mit Paketen und Taschen vollgestopft war. Wir verstauten, während sich zwischen Alice und der Moskauer Ballettmeisterin ein schnellzüngiges Hin und Her in russischer Sprache entspann, den zentnerschweren Koffer so gut es ging zwischen dem herumliegenden Kram, zwängten die Klappe zu und setzten uns auf die hinteren Sitze. Vorn holte die Glasunowa erste Geschenke aus ihrer Handtasche, Moskauer Konfekt in rissigen Papiertüten,nach süßer Pappe schmeckende Zigaretten und Parfum für Violetta, stark duftendes, schweres Parfum, das Violetta niemals benutzen und das auf einem Schrank verstauben würde, in seiner Flasche in Form eines stilisierten Eisbergs, die oben als Pfropfen ein kleiner gläserner Eisbär zierte. Die Glasunowa schenkte uns, als sie uns diese Gaben nach hinten reichte, ein hinreißendes Bühnenlächeln und fuhr fort, zu parlieren, zu schnattern und kleine Papageienschreie auszustoßen – »oj!«, »ajajaj!« – in schwirrenden Tönen, begleitet von Fingerpirouetten, eine Darbietung in kalter Exaltation. Sie war ganz die kultivierte Moskauerin, voller Kunstsinn, jederzeit zur Verehrung und Vergötterung begnadeter Artisten bereit. Sie schwärmte immer für irgendwen, für einen Tänzer oder Dirigenten, und nicht selten wurde sie tief enttäuscht: der oder die Betreffende hatte sich »abgesetzt« und war »im Westen geblieben«. Oft mit Schaden für das Gastspiel der Oper. Wo sollte man so schnell einen neuen Romeo herbekommen, einen Onegin oder einen Faun? Letztens musste in Venedig eine Vorstellung der »Schlecht behüteten Tochter« abgesetzt werden, weil die Hauptdarstellerin geflohen war, und Alice und die Glasunowa wurden nach ihrer Rückkehr irgendwohin bestellt und hatten sich zu verantworten.

Sie konnten sich damit trösten, dass es die Entlaufenen im Westen schwer haben würden. Es gab ein Ins­tru­men­ta­rium von versteckten Behinderungen und unterirdischen Absprachen, meist fiel der Name einer in Wien lebenden Theateragentin, sie hieß Zucker-Pfennig oder ähnlich und besaß weitreichende Verbindungen. Frau Zucker-Pfennig blieb nichts als ein Name – wenn über sie gesprochen wurde, dann in Andeutungen. Einmal fand ich ein Briefkuvert mit ihrem Absender als Lesezeichen in einem Buch. Das Kuvert bestand aus dickem gelblichen Papier, der Name Zucker-Pfennig und eine Wiener Adresse waren in englischer Schreibschrift aufgedruckt, sepiabraun, elegant und gestochen scharf. Wer solches Papier benutzte, arbeitete zuverlässig. Auch Alice knüpfte auf ihren Reisen ins westliche Ausland Kontakte. Sie zeigte Fotos, die sie im Gespräch mit Regisseuren und Intendanten zeigten, in avantgardistisch möblierten Büros oder pompösen Theaterfoyers: Alice inmitten von Männern, die sich bemühten, ihr zu gefallen. Blumensträuße waren zu sehen, vom Blitzlicht modellierte Premierengesichter und Hände, die auf Alices Schultern lagen. Sie versammelte auch zu Hause gern Leute um sich, Freunde ihrer Schwester aus West-Berlin, Schauspieler und Journalisten. Der Teetisch war aufs beste bestellt, mit einem Einschlag von Exotik und Sibirien. Moosbeerenkonfitüre beispielsweise war den westlichen Besuchern unbekannt, dabei verlieh sie dem Tee ein unvergessliches Aroma, er färbte sich, gab man ein, zwei Löffel Konfitüre ins Glas, tiefrot und schmeckte fruchtig und belebend. Man konnte süchtig danach werden. Alice ließ ihren alten Tulaer Samowar hervorholen, er wurde mit Holzkohle betrieben, die zuvor zerkleinert und aufgeschichtet werden musste, dann entfachte man umständlich das Feuer, und endlich stand das Gefäß aus versilbertem Metall, auf dem das Absudkännchen thronte, inmitten von Gläsern in ziselierten Untersetzern, Kristallschüsselchen mit orangefarbenen, bläulichen, weinroten Konfitüren und Moskauer Gebäck, Kringeln und Brezeln aus hartem hellen Teig. Rosita liebte diese Nachmittage, wechselndes Publikum fand sich ein, sie kam groß ins Erzählen oder plauderte intim in einer Ecke des Raums mit jemandem, den sie gut und lange kannte, zum Beispiel Jettchen, einer alten Freundin von Alice. Jettchen sprach selbst nicht viel und ließ Rosita reden, ihre seltenen Einwürfe waren beschwichtigend: »Du siehst das zu hart. Alice ist so eine Gute. Ich freue mich immer, wenn ich helfen kann …« Jettchen saß breitbeinig auf dem Stuhl, in Männerhosen und Seemannspullover,eine Aufmachung, die zu ihr passte, denn sie hatte das wettergegerbte Gesicht eines alten Matrosen, sturm­erprobt, in Lastern erfahren, weit herumgekommen. Violetta ging gern zu Jettchen, die in der Nähe von Alices Haus in einer Zwei-Zimmer-Wohnung lebte. Dort herrschte die mustergültige Ordnung einer Kajüte auf hoher See, Beständigkeit, Ruhe, die Möglichkeit, sich auszusprechen, lange Gespräche zu führen, die zum größten Teil aus Violettas Eröffnungen bestanden.

Doch am liebsten sah Violetta fern. Sie saß stundenlang, eine angefangene Patchworkdecke im Schoß, vor dem Fernsehgerät, und ich saß dabei, meist angeödet von dem, was auf dem Flimmerschirm zu sehen war, und stellte mir vor, wie die Zeit verrann, unwiederbringlich, feine rote Sandkörner in einem Stundenglas.

»Wollen wir nicht hochgehen?« fragte ich.

»Ja, gleich. Wenn die Musiksendung zu Ende ist.« Über den Bildschirm flimmerte ein Junge in getigerten Trikots, den Violetta »süß« fand. Sie sah fern am Nachmittag, am Abend, bis tief in die Nacht, sie stand morgens blass und übernächtig auf, kam nach Hause und schaltete den Fernseher an. Nach der Musiksendung sahen wir einen amerikanischen Film, in dem ein Cowboy ein Mädchen aufs Bett warf und vergewaltigte. Das Mädchen wollte nicht oder jedenfalls nicht in diesem Moment, die Lage war zweideutig, die Sympathien des Zuschauers galten eher dem Cowboy, der für sein gutes Recht hielt, sich zu nehmen, was ihm vorher in langen Szenen unter Geflüster und Küssen versprochen worden war. Der Film verbarg nichts, es kam zu einer Art Ringkampf zwischen Bett und Kleiderschrank, es wurde gekratzt und gebissen, dann passierte endlich das, was spätestens seit der Hälfte des Films zu erwarten war. Violetta rauchte an diesem Abend mehr als sonst, und kaum, dass wir oben in ihrem Zimmer waren, verlangte sie: »Mach es so wie in dem Film. Guck nicht so blöd. Mit ein bisschen Gewalt, verstehst du?«

»Wozu denn?« fragte ich verblüfft.

»Ist doch egal. Ich stelle mir das toll vor … Fall einfach über mich her. Ohne das ganze Geschmuse und Gerede …«

Ich griff probeweise nach ihr, aber sie riss sich los und floh mit gespielter Ängstlichkeit durchs Zimmer, dabei sperrte sie die Augen auf, sie glänzten im Licht der Stehlampe glasig wie angelutschte Bonbons. Sie schnappte sich einen rosa Plüschhasen von ihrem Bett und schlug damit auf mich ein. Ich haute ihr den Hasen aus der Hand, dass er durch die Luft flog; er landete auf ihren Schulbüchern. Ihr Pullover segelte hinterher, ich versuchte, ihren Büstenhalter zu öffnen, fand den Verschluss nicht. »Vorne!« zischte sie, dabei trat sie mir gegen das Schienbein. Langsam geriet ich in Wut, ich musste um jedes Kleidungsstück kämpfen, inzwischen trommelte sie mit den Fäusten auf meinen Rücken. Mir war, als ob ich mich in zwei spaltete, der eine bemühte sich, ihr den Schlüpfer auszuziehen, der andere stand daneben und fragte: Bist du blöd, Adam, dich hier lächerlich zu machen? Jetzt wäre der Augenblick zu gehen. Jetzt doch nicht mehr … Violetta achtete darauf, dass wir uns dem Bett näherten, dann ließ sie sich hinten überfallen, und es ging los, sie kratzte, biss und strampelte, schließlich stöhnte und keuchte sie, es wollte kein Ende nehmen. Nachher erkundigte ich mich: »Mit wem hast du jetzt eigentlich geschlafen? Mit diesem Cowboy oder mit mir?«

Sie antwortete nicht gleich. »Das ist nicht so einfach.«

»Doch. Ich habe dir eine ganz einfache Frage gestellt.«

»Über so was kann man nicht reden, Schätzchen. Mir macht eben manches Spaß. Hat’s dir keinen Spaß gemacht?«

»Nein.«

Wir lagen nebeneinander, ohne uns zu berühren. Ich rauchte und beschrieb mit der leuchtenden Glut meiner Zigarette Schlangenlinien, Achten und Spiralen im Halbdunkel über uns.

»Ich fahr jetzt nach Hause.«

»Du bist ekelhaft.«

Ich drückte meine Zigarette im Aschenbecher aus, dabei streifte mein nackter Arm ihre Brust. Sie rührte sich nicht.

»Irgendwie«, sagte ich, »war es früher amüsanter.«

»Wann früher?«

»Als du mir noch nichts vorgemacht hast.«

»Frauen lieben eben das Besondere.«

»Das war doch nichts Besonderes! Das war bloß die Filmszene von vorhin. Die haben Millionen gesehen. Und wer weiß, wie viele von denen das heute Abend nachgemacht haben.«

»Ich hatte meinen Spaß.«

»Erzähl mir nichts. Und das zwischen Teddybären …die Giraffe, diese Zwerge. Schmeiß die erst mal raus, sofort!«

»Aber du konntest doch.«

»Trotzdem hat’s mir keinen Spaß gemacht. Und zwar, weil’s dir keinen gemacht hat.«

»Woher willst du das wissen? Mir macht’s vielleicht grade Spaß, wenn’s mir keinen macht.«

»Mir wird schlecht.«

»Gott, Schätzchen«, schnurrte sie, »du verstehst eben nichts von Frauen. Andere sind nicht so taub.«

»Was soll das heißen: ›Andere sind nicht so taub‹?«

»Das heißt, was es heißt.«

»Raus mit der Sprache!« Ich packte sie beim Handgelenk. »Mit wem und seit wann?«

»Wie redest du denn mit mir? … Lass los! Ich bin doch nicht dein Eigentum! Wir leben im Sozialismus …«

»Mit wem?«

»Gott, Schätzchen, was hast du davon, wenn du’s weißt?«

»Ich will, dass du mich meinst. Das ist wohl das mindeste, was ich erwarten kann.«

»Du kannst doch nicht von mir verlangen … Es gibt so viele süße Jungs. Jeder hat was Besonderes. Der eine ist schwarz, der andere blond …«

»Wer ist blond?«

»Na, Markus zum Beispiel. Oder Wojtek …«

»Was für ’n Markus?«

»Der aus deiner Klasse.«

»Hast du mit dem …?«

»Ist der etwa nicht süß?« Sie rückte näher. »Du bist doch ein kluges Schätzchen. Viel klüger, als du denkst. Du verstehst auch alles, das schwöre ich dir. Und du wirst dich dran gewöhnen …«

»Ach, süß ist der …«

»Das musst du zugeben …«

»Also Markus ist süß. Finde ich auch.« Ich wandte mich ihr zu und starrte ihr ins Gesicht. »Sein Haar …« Und wickelte ihre Haare um meine Hand, »blond …«

»Aua!«

»Der Hals!« Ich zog ihren Kopf ins Kissen unddrück­te ihr Kinn hoch. »Die Schultern … zum An­beißen …« Ich biss zu, dann drehte ich ihr die Arme auf den Rücken, sie wälzte sich auf den Bauch.

»Du bist wohl wahnsinnig! Spiel hier nicht den w…«

Ich stieß ihren Kopf ins Kissen und meine Knie in ihre Kniekehlen. »Und wie süß der ist! Süß … süß … süß und noch mal süß …«

Ich lag auf ihrem Rücken, sie gluckste leise, und alsich aufstand, sah ich, dass sie lachte. Über mich. IhrLachen war entwaffnend, ich wusste nichts dagegen zu setzen, nur grimmiges Schweigen. Sie schlief bald ein, während ich dumm ins dunkel starrte, meiner eigenen Verwirrung preisgegeben, aus der ich nicht herausfand. Irgendwann stand ich auf, zog mich an und ging leise die Treppe hinunter. Aus dem Zimmer von Violettas Bruder fiel Licht, er schlief nicht wie üblich, sondern las, schrieb oder tat sonst etwas, im Windfang griff ich mir eins der Fahrräder, die dort herumstanden, und machte mich daran, durch die dunkle Stadt nach Hause zu fahren.

Jettchen öffnete auf mein Klopfen ohne Zeichen von Überraschung. Sie trug einen weiten chinesischen Morgenmantel, dessen brüchige, unverwüstliche Seide mit Schmetterlingen und geschweiften Vögeln bestickt war. Von der Wohnungstür waren es genau zwei Schritte bis in die Küche, wo am Fenster ein Tisch stand, flankiert von zwei Stühlen.

»Was möchtest du trinken, Adam?« fragte Jettchen. »Kaffee oder Tee?«

»Lieber Kaffee.«

»Sofort.« Sie hantierte hinter meinem Rücken mit Büchsen und Löffeln, stellte Zucker, Sahne und eine kleine Flasche Kognak vor uns hin und bewegte sich, von den langen Schößen ihres Morgenmantels umweht, geschmeidig durch die kleine Küche. »Meine Kombüse«, sagte sie. »Alles griffbereit. Was ich habe, steht zu deiner Verfügung. Also Kaffee. Für den Anfang. Und dann? Ich kann schnell ein paar Eierkuchen machen.«

»Danke, ich habe keinen Hunger.«

»Wenn du um diese Zeit bei mir auftauchst, musst du Hunger haben. Warst du bei Violetta?«