Die Synagoge - Chaim Noll - E-Book

Die Synagoge E-Book

Chaim Noll

0,0

Beschreibung

Ein kleiner Ort mitten in der israelischen Wüste während der zweiten Intifada - hier befinden sich das Grab eines berühmten Politikers, mehrere wissenschaftliche Institute für Solarenergie und Wüstenforschung, eine Highschool sowie eine Militärbasis. Die Menschen, die hier leben, sind überwiegend Akademiker oder Verwaltungsangestellte - Juden und Christen aus aller Welt, die ihre Häuser mit Hilfe von Arbeitskräften aus den Palästinensergebieten bauen oder die Traditionen der Beduinenstämme erforschen. Religion spielt in dem Leben der meisten von ihnen nur eine nachgeordnete Rolle. Im Zentrum des Romans steht die prachtvolle, doch meist leere Synagoge des Ortes. Nur einige wenige, wie die Deutschen Abi und Livia oder Paul, dessen Mutter vor Kurzem gestorben ist, suchen hier Halt und Trost. Anderen aus der Nachbarschaft ist die Synagoge eher ein Dorn im Auge, so auch Holly, einem radikalen Veganer und Wehrdienstverweigerer …

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern

Seitenzahl: 601

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Chaim Noll

Die Synagoge

Roman

Figuren und Handlung dieses Romans sind frei erfunden. Etwaige Ähnlichkeiten mit real existierenden Personen und deren Namen sind nicht beabsichtigt.

I.

Der Fremde

Der Fremde kam mit dem Bus aus Jerusalem und stieg aus, als er begriff, dass die Endstation erreicht war. Der Bus hielt seitlich neben offenen Läden, die Fahrgäste standen auf, griffen nach Rucksäcken und Maschinenpistolen, redeten durcheinander, lachten. Er wandte sich an den Busfahrer, der als Einziger sitzen blieb: »Beer Sheva?«

Kurzes Kopfnicken. Der Mann sah nicht auf. Er zählte Geldscheine und sortierte sie nach Zwanzigern, Fünfzigern, Hundertern, die er bündelweise in eine blaue Plastiktüte stopfte. Zögernd stieg der Fremde die Stufen hinab, steif vom langen Sitzen. Die nächste Viertelstunde verbrachte er damit, über das heiße, schmutzige Pflaster des Busbahnhofs zu laufen und Unbekannten Fragen zu stellen. Eine alte Frau in Hosen, ärmelloser Bluse und klobigen Turnschuhen schüttelte, ohne ihn anzuhören, den Kopf und ging weiter. Auch andere schienen seine Frage nicht zu verstehen oder keine Antwort zu wissen. Ein hochgewachsener Soldat, ein Falafel in der Hand, wies kauend auf eine Gruppe, die sich an einem dereisernen Gitter versammelt hatte, wo eben ein grüner Bus hielt.

Langsam, mit schmerzenden Knien, ging der Fremde hinüber zuden Wartenden und gesellte sich zu ihnen. Er nahm den schwarzenBorsalino vom Kopf und wischte sich mit einem Taschentuch den Schweiß von der Stirn. Dann trank er aus einer kleinen Wasser­flasche und tupfte sich mit demselben Tuch den Mund ab. Seine blauen, hell bewimperten Augen blinzelten irritiert in das strahlende Licht der Vormittagssonne. Er mochte sechzig Jahre zählenoder mehr, war groß, knochig, leicht gebeugt, seine Haut blass. Aufseinem langen, bärtigen Schädel, dessen noch dichtes Haar vom Hanfgelben ins Graue spielte, saß eine schwarze Kipah. Auch seine Kleidung, bis auf das verschwitzte weiße Hemd, warschwarz, das Jackett, die Hosen und Socken, die derben, staubigen Schuhe. Er trug eine Reisetasche aus schwarzem Leder, einst elegant, inzwischen abgeschabt, das Leder wie verdorrt. Die langen Finger seiner Rechten tasteten in der äußeren Tasche nach einem Gegenstand und zogen ihn heraus, einen zerlesenen Sidur. Er blätterte darin, bis er gefunden hatte, was er suchte, dann begann er, im ­Stehen zu lesen, in einem Wispern, das nur er selbst verstehen konnte, doch mit sichtbar bewegten Lippen.

Niemand achtete auf ihn. Der Busfahrer saß im geschlossenen Bus, der eben in die Box der Haltestelle eingefahren war, und tele­fonierte, wobei kein Ton nach draußen drang, doch die Art, wie er sich beim Reden aufpumpte und in großer Schnelligkeit Worte ausstieß, deutete auf ein lautes, erregtes Gespräch. Auch darauf achtete niemand. In Erwartung, dass sich demnächst die Tür neben dem Fahrer öffnen würde, schoben sich die Fahrgäste nahe an das grün glänzende Blech. Die meisten waren Soldaten, Mädchen und Jungen in der sandgelben Uniform der Luftwaffe oder der grünen der Bodentruppen. Sie schoben und drängelten sich unter Gelächter und Gerede an der Vordertür und der Gepäckklappe weiter hinten, im Bauch des Busses, vor der Taschen und Rucksäcke aufgehäuft lagen.

Zwischen ihnen standen ältere Fahrgäste, dicke, Russisch sprechende Frauen mit unförmigen Taschen und Beuteln, in ihrer Gesellschaft mürrische Männer, die braun gebrannt waren wie fast jedermann hier und denen zugleich – eingelagert in der Tiefe ihres Fleisches – eine frühere Blässe, ein fernes, mit diesem Ort, der Sonne und Wärme unvereinbares Leben anzusehen war. Sie trugen amerikanische Baseballmützen, Jeans und andere betont jugendlich wirkende Kleidungsstücke, doch die Art, wie sie um sich blickten, mit einer zur Schau getragenen, mürrischen Selbstverständlichkeit, verriet ihre niemals endende Verwunderung darüber, hier zu sein. Die alten Frauen redeten fast pausenlos in ihrer weichen, gaumig fließenden, von kleinen Ausrufen und Trillern belebten Sprache, während die Männer nur gelegentlich knurrende Worte einwarfen. Der Fremde lehnte sich an das eiserne Geländer und stellte seine Tasche auf den Steinboden, der schwarz war von Schmutz. Hier und da leuchteten ein kürzlich zertretener Kaugummi oder ein Klecks Taubendreck aus dem schmierigen, vom Abrieb Tausender Turnschuhsohlen und Soldatenstiefel gum­mier­ten Dunkel. Plastikflaschen lagen herum, mit Resten bunter Getränke. Brot, verwesende Sandwiches in fettigem Papier, Packungen von Erdnüssen und Schokolade. An den Bänken, die zu den Pforten der Halteboxen führten, standen bedruckte Pappbecher von Starbucks und McDonald’s mit Neigen von Kaffee oder Cola. Vorn, an der Öffnung des Eisengitters zum Einsteigen in den Bus, zankten sich zerrupfte Tauben um ein Stück Pizza, das jemand weggeworfen hatte.

All das musterte der Fremde mit unbestimmtem Lächeln, seine tief in den Höhlen liegenden, einst blauen, nun verblassten Altmänneraugen mieden jede Fixierung, jedes weitere Wahrnehmen unerfreulicher Details. Er wollte nichts Besonderes sehen oder erleben, nur den Bus wechseln auf seiner Fahrt in die Wüste, in die ödeste, am dünnsten besiedelte Gegend des Landes. Er hatte sichdiese Fahrt lange vorgenommen, ohne genau zu wissen, warum. Gewiss, es war die ehrwürdigste aller Wüsten, die Wüste, durch die Gott sein Volk vierzig Jahre lang geführt, wo er es erprobt und versucht, in der Hitze gedörrt und hart gebrannt hatte, bis es imstande war, über den Jordan zu gehen und das ihm Versprochene zu nehmen. Zugleich war es ein vernachlässigter Verwaltungsbezirk im Süden des Landes, deutlich eine Kulturstufe unter Jerusalem und der Zentralregion, mit Bewohnern, die hart arbeiteten in Kibuzim, Siedlungen und Militärbasen, aber wenig Zeit, wenig Sinn dafür hatten, die einzigartige spirituelle Botschaft der sie umgebenden Landschaft zur Kenntnis zu nehmen.

Er klammerte sich innerlich an seinen Gleichmut und gedachte, bis zur Abfahrt darin auszuharren, als er plötzlich in nächster Nähe, wenige Meter hinter sich, zwei Stimmen Englisch reden hörte. Als er sich umwandte, verriet sein Gesicht das Glück eines Menschen, der unerwartet, an einem fremden Ort, die Klänge seiner Muttersprache hört. Er sah zwei Frauen in den Fünfzigern, mit angegrautem, unfrisiertem Haar, in Hosen und kurzärmeligen Oberteilen, in der ewig studentischen, pflegeleichten Aufmachung, die weibliche Intellektuelle seiner Generation bevorzugten, immer schon, seit er denken konnte, seit er mit ihnen aufs College, auf die Universität gegangen war und in Woodstock gesessen hatte. Sie hatten sich schamlos mit den Jungs vergnügt, geraucht, gekifft und niemals Büstenhalter getragen, sodass man, ob man wollte oder nicht, ihre sich unter dem weichen Stoff abzeichnenden Brustwarzen hatte sehen können …

»Excuse me«, sagte er in muttersprachlichem Amerikanisch und versuchte ein verbindliches Lächeln, »could you please tell me whether this is the bus to Mizpeh Ramon?«

»It is«, erwiderte eine der Frauen, kurz, schnappend, ohne ihn anzusehen. Ihr Ton verriet, dass sie nicht vorhatte, ein weiteres Wort an den schwarz gekleideten Mann zu verschwenden, der vor ihr stand, lang, ungelenk, mit leicht geöffnetem Mund, um den graue Bartsträhnen hingen. Sie nahm ihr Gespräch wieder auf, mit einem übertriebenen Nachdruck, der nicht nötig gewesen wäre – der Fremde hätte auch ohne diese Demonstration verstanden –, und redete weiter, in einem Akzent, über den er einen Augenblick nachdachte, bis er zu dem Ergebnis kam: Südafrika. Die Gesprächspartnerin war Britin, daran bestand kein Zweifel. Sie schwelgte in ihrem Oxford-English, ließ es blitzen und schrillen mit wahrer Wonne, von klein auf daran gewöhnt, dass, wer solches Englisch sprach, in Lumpen gekleidet oder sturzbetrunken sein konnte, und dennoch von jedem Landsmann als Angehöriger der höheren Klassen erkannt wurde. Der Fremde wandte sich wieder dem Bus, den Soldaten, den russischen Rentnern zu, von seinen Lippen fiel ein halblautes »Thank you« wie Krümel von trockenem Kuchen.

Er schien darüber hinaus, Ablehnung schwer zu nehmen. Es gab wichtige Gründe, diese Fahrt in die Wüste zu wagen, und kein menschliches Wesen – mochte es sich zu ihm benehmen wie es wollte – würde ihn davon abhalten. Das Lächeln, mit dem er sich auf weiteres Warten einrichtete, wirkte selbstgewisser als das vorhin. Er fühlte sich fremd an diesem Ort, fremd bis zur Verlorenheit, doch das gehörte dazu, war in Ordnung, war geradezu vorschriftsmäßig, »wie es im Buche steht«. Der Ort musste abweisend, ungemütlich, unzumutbar sein bis zur Grausamkeit. So war er beschrieben im göttlichen Buch, so war er bis heute, so würde er – auf eine andere, schwer vorhersehbare Weise – immer sein.

Seine geschiedene Frau, wäre sie hier, hätte den Kopf geschüttelt über diese Fahrt ins Nichts. In den letzten Jahren ihrer Ehe hatte sie oft den Kopf über ihn geschüttelt. Sie fiel ihm jetzt ein, er hätte nicht sagen können, warum. Auch seine Kinder, die längst erwachsen waren. Er versuchte, sich vorzustellen, wie sie sich an diesem Ort ausnehmen würden, und gestand sich ein, dass es seine Fantasie überforderte. Allein ihre Schuhe, schmal, aus feinem Leder – undenkbar auf diesem Pflaster. Die selbstverständliche Sauberkeit, Gediegenheit ihrer Kleidung. Alles, was sie umgab, war neu, sah neu aus und wurde, kaum stellten sich Zeichen der Abnutzung ein, aussortiert. Alljährlich verschwanden Dutzende Kleider, Hemden, Schuhe, Handtücher, elektrische Geräte, noch brauchbar, haltbar für Jahre, vollständig verwendbar im Sinne dessen, wozu sie gedacht waren, oft elegant, schön, gelungene Ideen ihrer Erfinder, Produkte perfekter Herstellung, nur durch ein winziges Löchlein, eine Schramme, einen Fleck um die Illusion ihrer Unzerstörbarkeit gebracht – was ausreichte, sie zu verwerfen. Das Aussondern und Verschwinden geschah unmerklich, kaltblütig, ohne ein Wort zu verlieren, in verschwiegenen Plastiksäcken. Je älter er wurde, umso mehr sah er darin ein Verbrechen. Fortwährendes Zerstören und Morden. Massenhaftes Vernichten der irdischen Ressourcen. Er hatte sich irgendwann gefragt, woher Menschen die Berechtigung nahmen, so zu leben. So mit der Welt und ihren Mitgeschöpfen umzugehen. Mit Tieren, Pflanzen, Wasser, Luft. Damals war er ein erfolgreicher Mann, wohlhabend, die Familie versorgt. Eines Abends hielt ein durchreisender Rabbiner einen Vortrag in ihrer Stadt, er war hingegangen, hatte mit wachsendem Erstaunen zugehört …

Ein Ruck ging durch die Menschenmenge. Vorn im Bus öffnete sich lautlos die Tür, sofort begannen die Soldaten, die russischenFrauen, die alten Männer mit den Baseballcaps zu schieben, zu drängeln, sich mit Püffen ihrer Ellenbogen voranzuarbeiten. Für die Soldaten schien es ein Spaß zu sein, sie lachten und zeigten ihre Zähne, die weißen Zähne junger Raubtiere, ihre Augen blitzten. Die alten Leute hatten verzerrte, verzweifelte Gesichter, als sie kurzatmig schnaufend ihre unbeholfenen Leiber vorwärtsschoben, ihre Stimmen gingen ins Kreischen über, sie griffen mit panischen Bewegungen nach ihren Taschen und Tüten, die im Gedränge abhandenzukommen drohten. An der Tür entstanden kleine Tumul­te. Zwei riesige Soldaten in Grün, tief gebräunt, mit geschorenen Köpfen, einer schwarz, einer blond, hoben ein Mädchen in Uniform an anderen Wartenden vorbei über die Stufen der offenen Tür, dabei kam es zu Gerangel und Gelächter. Eine ältere Frau, beladen mit Taschen, schob sich sofort hinterher, rot vor Wut und Aufregung. Die Soldaten waren dem Mädchen gefolgt, ohne die Frau zur Kenntnis zu nehmen, sie redeten und lachten über sie hinweg, ihre Rücken, an denen schwarze Maschinenpistolen hingen, füllten die schmale Öffnung.

Auch der Fremde schob sich mit energischen Bewegungen zur Tür des Busses. Sobald sich eine Gelegenheit bot, packte er die Haltestange, trat auf die unterste Stufe und drängte aufwärts. Er war lange genug im Land, um zu wissen, dass er nicht zögern, nicht zurückschrecken durfte. In der ersten Zeit seines Hierseins hatte erhöflichabwartend neben der Tür gestanden und anderen den Vortritt gelassen, so lange, bis der Bus ohne ihn abfuhr. Es dauerte eine Weile, bis er hinter einem Mädchen in Uniform die Stufen erklommen, am Sitz des Busfahrers gestanden, gezahlt, Wechselgeld, Ticket, einen flüchtigen Blick empfangen und sich am Fahrer vorbei ins Innere des Fahrzeugs gezwängt hatte, in den schmalen Gang zwischen den Sitzen. Er fand einen Sitzplatz im hinteren Drittel, neben einem vierschrötigen, dunkeläugigen Mann mit olivfarbener Haut, der das blaugraue Uniformhemd der Gefängnisverwaltung trug und halblaut in ein Mobiltelefon sprach.

Von seinem Sitz aus beobachtete der Fremde, wie sich der Bus füllte, wie immer mehr Menschen einstiegen, mehr Menschen als es Sitze gab, ohne dass der Fahrer dem ein Ende gemacht hätte. Einige Soldaten setzten sich auf Gepäckstücke im Gang oder auf die Stufen an den Ausgängen, wo sie weiter redeten, in ihre Telefone oder die Ohren ihrer irgendwo stehenden, sitzenden Kameraden, teils leise, teils brüllend, doch wie laut man sprach, schien niemanden zu kümmern. Jeder hatte das Privileg, mit voller Stimme zu reden, dröhnend, dass der ganze Bus mithören konnte, eine Klage darüber wäre als Einmischung betrachtet worden, als Übergriff in die persönliche Sphäre des anderen. Jeder Bürger des Landes sah es als sein Recht an, sich unmissverständlich zu äußern. Überall wurde laut telefoniert, der Bus vibrierte von Gerede und Gelächter. Auch die Mädchen setzten ihre volle, ungebremste Stimmkraft ein, der Fremde war überrascht, welche Kommandostimme sich hinter zarten Lippen, einem süßen Gesicht verbergen konnte. Mit wem redeten all diese jungen Leute, wer rief sie ständig an, was gab es immerzu zu besprechen? »Wo bist du?«, hieß es. Und: »Ich bin im Bus. Ich bin unterwegs. Auf dem Weg zur Basis. Ich komme Sonntag. Ja, ich habe ein Falafel gegessen, eine Pizza, einen Kuchen.« All das wurde mit einem Nachdruck mitgeteilt, als hinge davon das Leben ab …

Unter den Letzten, die einstiegen, war ein Mann Anfang Sechzig, gerade gewachsen, den Kopf hoch erhoben. Der Fremde nahm ihn wahr, mit der unbewussten, spontanen Sympathie, die man für Menschen empfindet, die uns ähnlich sind: ein Mann ­seines Alters, hager, ein weißer Vollbart umrahmte sein Gesicht. Die Bräune seiner Haut verriet, dass er in der Wüste lebte, sonst wirkte er gesittet, städtisch. Feiner Hemdstoff, blinkendes Brillengestell, dunkle Tuchhose. Er bewegte sich langsam und lächelnd durch den engen Gang zwischen den Sitzreihen, die beiden englischsprachigen Frauen begrüßten ihn mit einer an Begeisterung grenzenden Freundlichkeit, man hörte die schrille Stimme der Engländerin: »Hi, Jerry, how are you?« Im selben Augenblick schob sich der Bus rückwärts aus der Box, in der er gehalten hatte, dabei gab er ein Geräusch von sich, ein Piepen oder Tuten, das klang wie der Notruf eines bedrängten Tieres, er schwenkte schwerfällig nach links, gewann die offene Betonfläche, schob sich an anderen Bussen vorbei, passierte die Tankstelle des Busbahnhofs, dann ein enges, von bewaffneten Männern bewachtes Tor, schwenkte nochmals nach links, beschleunigte mit hörbarer Anstrengung, reihte sich ein in den dichten Verkehr auf der Straße nach Süden.

Der Fremde lehnte sich in seinen Sitz zurück und atmete auf. Ein Gefühl der Erleichterung ergriff von ihm Besitz, das er nicht deuten konnte. Vor ihm lag ein Abenteuer. Ein Ort am Ende der Welt. Er wusste nicht, was ihn dort erwartete. Zugleich war er froh, weil er im Bus saß und der Bus endlich fuhr. Weil es endlich losging. Die letzte Etappe des langen Weges begann, eines Weges mit vielen Hindernissen, realen und geträumten, in einer knappen Stunde würde er –b esrat ha shem– den Ort erreichen, an dem er das Wochenende verbringen wollte, Freitag, Shabat, auch noch den Sonntag, um Montag früh nach Jerusalem zurückzufahren. Er hatte viel Energie, viel Entschlusskraft in diese Fahrt investiert, viel Nachdenken, wie immer, wenn er starken Widerstand in sich spürte. Die guten, wichtigen Dinge im Leben waren die, zu denen man sich überwinden musste. Während die Scheinaufregungen des Alltags, die Affären, Geldsorgen, Gelüste, Leidenschaften, die unsere Tage und Nächte bestimmen, uns immer tiefer in Inaktivität versinken lassen. In ein verschwiegenes, allmähliches Absterben. Bis wir in einem unvorhersehbaren Augenblick – am Steuer des Wagens irgendwo im Stau vor Los Angeles, beim Essen mit Geschäftsfreunden, beim Spaziergang am Meer mit einem Hund, der inzwischen aus unserem Leben verschwunden ist wie so vieles – begreifen: All das ist es nicht. Nicht dazu sind wir auf der Welt.

Ein Erwachen, schreckhaft, heilsam. Vor fünf Jahren hatte ihm der Vortrag eines durchreisenden Rabbiners im Gemeindezentrum die Augen geöffnet, ein Vortrag, der mit den überraschenden Worten begann: »Who is you?Pardon my grammar, but it was the straightest opener I could come up with. Who is ›you‹? Beyond your name, your job, your income, your property, your social position, stripped down to nothing but a pronoun, what is left of you?«Die Frage hatte ihn tief erschüttert, er fühlte sich außerstande, sie zu beantworten. Bis dahin hatte er sich damit begnügt, am Shabat zum Tempel der Or-Emet-Gemeinde zu fahren, im Auto natürlich, die Kipah trug er in der Jackentasche, um sie, wie Hunderte andere Männer, die aus ihren Autos stiegen, unmittelbarvor Betreten des Betraums aufzusetzen. Er hatte beim anschließenden Kidush, ein Whiskyglas in der Hand, seine Geschäfte besprochen, Freunde hatten ihm auf die Schulter geklopft und ihn Jake genannt statt Jaakov, so wie er sie Dave oder Sammy nannte, sie waren Amerikaner, dies vor allem anderen. Er hatte, wie sie, geschehen lassen, was geschah, ohne sich groß Gedanken darüber zu machen: Weder über den horrenden Verbrauch seiner Familie an Autos, Textilien, Mobiltelefonen, Plüschhasen, Tabletten, Süßigkeiten, noch über das Versinken seiner Ehe in den Kabbelseen des Kalkulatorischen, die Mesalliance seines ältesten Sohnes mit einer Nichtjüdin, die beharrliche Ehelosigkeit seines zweiten, die alles erdrückende Profanität seiner geliebten Tochter, die zwar einen jüdischen Investmentbanker geheiratet hatte, aber über nichts in der Welt sprechen konnte – offenbar auch nicht wollte – als über Geld, Geld und nochmals Geld.

Grelles Sonnenlicht stach ihm in die Augen. Die Wüste hatte schon nördlich der Stadt begonnen, allmählich waren Bäume und Gewächse spärlicher geworden, der Sand allgegenwärtig, traf die brennende Sonne auf immer weniger Widerstand, immer weniger schattige Stellen. Doch erst hier, auf der Chaussee nach Süden, zeigte sie sich in ihrer ganzen Erbarmungslosigkeit. Wüste, endlos groß und Furcht einflößend,ha midbar ha gadol ve ha norah,wie er mit spürbarem Schauder zum hundertsten Mal, seit er sie erstmals bewusst gelesen, die hebräischen Worte wiederholte. Auch die Stadt, in ihren südlichen Vierteln, vertröpfelnden Ausläufern, hatte etwas Wildes, Chaotisches. Hinter den niedrigen, rissigen Mauern flacher Lagerhäuser, Werkstätten, Markthallen, zusammengepappt aus Blech und dem unbeständigen Beton der frühen Jahre, schossen Hochhäuser in den Himmel, strahlende Gebilde aus Marmor, Metall und Glas. Dazwischen breiteten sich riesige, in der Hitze flimmernde Ödflächen aus, auf denen gelbe Planierraupen das Terrain für neue Wohnviertel ebneten, Planierraupen, winzig, in bizarrer Beweglichkeit, wie leuchtend gelbe Käfer auf dem stumpfen Sand.

Auch der Bus schien im Mittagslicht der Wüste zu schrumpfen – wie alle Fahrzeuge auf der fahlen, sonnenbleichen Chaussee, wie die Jeeps, Kombis, staubigen Limousinen, Trucks und Tanklaster, die mattgrünen Armeeautos, Baufahrzeuge, die Pick-ups der Bedu­inen. Der Bus bewegte sich weich, schnell, in regelmäßiger, schwacher Vibration südwärts, hielt nur selten, änderte kaum je seine Geschwindigkeit. Er überholte, was sich vor ihm an langsamer fahrenden Wagen im flirrenden Licht der Wüstensonne zeigte, einenTieflader, auf dem ein Panzer transportiert wurde, einen Tanklastzug, ein mit behelmten Soldaten besetztes, offenes Gefährt, das seine langen Antennen in den Himmel starren ließ wie ein Insekt seine Fühler, einen schleichenden Kleinwagen mit zwei ins Gespräch vertieften Frauen, die Hüte trugen, einen Pick-up, auf dessen offener Pritsche eine Ziege angebunden war und an dessen Steuer ein alter, bärtiger Beduine saß, einen Autotransporter, einen anderen Bus, er überholte sie alle mit der Unbekümmertheit eines Rennwagens, an dessen Steuer ein Halbwüchsiger sitzt. Der Fremde, der als einer der wenigen Fahrgäste die Augen offen hielt, fragte sich, ob der Busfahrer wahnsinnig war oder von einem überirdischen Vertrauen beseelt, das sich mit dem Licht der Wüste ausbreitete und auch ihn selbst ergriff, je länger die Fahrt dauerte.

Im Bus war es still geworden. Überraschend, fast bedrückend still nach dem lauten Aufbruch. Die Soldaten schliefen oder dösten, Augen geschlossen, Kopfhörer im Ohr. Hier und da wurde telefoniert, doch jetzt mit gedämpften Stimmen, als gelte es, zärtliche Rücksicht auf die Schlafenden zu nehmen. Weiter vorn plauderten zwei russische Frauen in ihrer schmiegsamen Sprache mit gedehnten Vokalen und sanften Zischlauten, auch das wirkte beruhigend. Hatte die gleichbleibend rasante Fahrt, das Summen der Klimaanlage die Stimmung besänftigt? War es eine von den geheimen Übereinkünften, auf denen das Leben in diesem Land beruhte, deren Mitteilung ohne Worte erfolgte und die nur verstand, wer längere Zeit hier lebte? Der Fremde wurde nicht müde, darübernachzusinnen. Er hatte sich vorgenommen, in diesem Land zu bleiben, er wollte alles über das Land wissen, und wie immer, wenn er darüber nachdachte, geriet er in eine Stimmung unerklärlicher Ergriffenheit, die seine Gedanken fliegen ließ, weit in den Raum, in die Unendlichkeit des goldenen Wüstenhimmels, un­gehindert, frei von Angst, obwohl es bei jedem neuen Überholmanöver des Busfahrers Grund genug gab, um sein Leben zu fürchten.

Die Fahrt ging durch die letzten Ausläufer der Stadt, an Supermärkten, Hallen aus Leichtmetall vorbei, an einem Schrottplatz, auf dem Hunderte, vielleicht Tausende Armeefahrzeuge standen, stumm, ausrangiert, aneinandergedrängt wie Tiere im Schlachthof, einige schon ausgeweidet, sortiert nach Typen – Jeeps, Laster, große Trucks, kleine Kombis –, alle in Reih und Glied, alle in demselben stumpfen, erdigen Grün, ein erschütterndes Bild der Verschwendung. Vorbei an einem Gebäudetrakt, der wie eine riesige Spielzeugburg im Sonnenlicht lag, aus Beton gegossen, mit Mauern, auf denen Stacheldraht glitzerte, mit Türmen und Toren, und der, genau besehen, nichts anderes sein konnte als ein Gefängnis. Auch dieser bedrückende Ort war umlagert von Zelten, Bretter­buden und Wellblechhütten der Beduinen, die sich kilometerweit am Straßenrand hinzogen, schier endlos, wirr in den Sand gesetzt, aufgehäuft, hügelan geschoben, Slums, zwischen denen Kamele weideten und Autowracks in der Sonne zerfielen. Kleine Jungen hüteten Herden aus Ziegen und Schafen. Gelegentlich war eine schwarz verhüllte Frau zu sehen, die sich mit majestätischer Langsamkeit auf einem der getrampelten Pfade ins Innere der Ansiedlung bewegte. Mit einem Lächeln sah der Fremde die Teleskop-Antennen zwischen den Hütten, die Wasserstationen, die Bushaltestellen am Straßenrand.

Er hatte seine mageren, blassen, an den Gelenken rötlichen Hände in den Schoß gelegt, auf das zerlesene Buch, das dort ruhte, eine englisch-hebräische Ausgabe des Buches Jecheskel. Was da draußen, hinter der dunkel getönten Scheibe zu sehen war, begann ihn zu interessieren, mehr als der Prophetentext, den er in Vorbereitung des Shabat hatte lesen wollen. Heute war Donnerstag,jom chamishi, der fünfte Tag der Woche, also begann morgen Abend der Shabat, und da esshabat sukotwar, der Shabat des Laubhüttenfestes, wurden besondere Texte gelesen, ein Kapitel aus dem Buch Exodus, dann, alsMaftir, einige Sätze aus dem BuchBa midbar, »In der Wüste«, schließlich, alsHaftarah, ein Abschnitt aus dem Buch des Propheten, die merkwürdig unklare, durch ihre Unklarheit Schaudern erzeugende Schilderung der Heimsuchung Israels durch König Gog aus dem Lande Magog, den Fürsten von Meshech und Tuval, die gerade dann erfolgen soll, »wenn mein Volk Israel in Sicherheit wohnt«.

Das war das Alarmierende an dieser Prophezeiung. Sie verhieß, dass Israels Sicherheit auf immer trügerisch war. Unruhe erfasste ihn, wenn er es las, er fühlte den Drang, im Land umherzugehen und zu warnen, die Leichtsinnigen, die Ahnungslosen, das ganze Land wachzurütteln aus einer mittäglichen Trägheit, seinem wachsenden Wohlstand. Doch er verlor Gog und Magog aus den Au­gen, über den Bildern, die in der weiten, viereckigen Scheibe des Busfensters vorüberzogen. Er wollte weiterlesen, vom Grimm des Herrn, von der Bedrohung Israels, dabei starrte er, das Buch in der Hand, hinaus in die Landschaft, mal über den schlafenden Nebenmann hinweg aus dem linken Fenster, mal aus dem rechten, an zwei Soldaten vorbei.

Links folgten immer noch geduckte Hütten, schwarze Zelte, wiederkäuende Kamele, aufgestapelte Ballen von gepresstem Heu, auf der rechten Seite spannte sich leere Sandwüste, warm und anheimelnd. So empfand er, zu seiner eigenen Verwunderung. Vielleicht, weil der Sand fein und golden war wie Sand am Meer. Wie Sand der Kindertage. Sand, um ihn durch die Finger rinnen zu lassen, sich bäuchlings hineinzulegen, das Glücksgefühl eines Tages am Strand auszukosten. Die Sandlandschaft endete plötzlich an einer Seitenstraße nach rechts, die in die Tiefe der Wüste führte und hinter der sich – nach einer Palmengruppe, die wie eine besänftigende Einleitungsfloskel zu Beginn niederschmetternder Nachrichten wirkte – ein Industriegebiet auftat, großflächig und surreal, sodass der Fahrende, der eben noch die sanften Sand­dünen betrachtet und sich dahinter das Meer seiner Kindheit vorgestellt hatte, unwillkürlich die Luft zwischen den Lippen einsog, als spüre er einen leichten Schmerz.

Er kam wirklich vom Meer. Vom größten, das der Planet zu bieten hat. Dort war er aufgewachsen, als Sohn von Amerikanern, als Urenkel von Einwanderern, die es um die vorige Jahrhundertwende erst nach New York, dann von dort in den Westen geschaffthatten, zu ihrem Segen, wie sie nie müde wurden zu betonen. ­Allein, dass sie Europa entronnen waren, dem sicheren Tod. Seine Familie hatte von der Shoah nichts gehört oder gesehen als die zunächst unglaubhaften, dann sprachlos machenden Nachrichten, die das Wort Europa für immer besudelten, sonst hatten er, seine Eltern und Geschwister, auch Großeltern, Onkel, Tanten, Cousins und Cousinen keine Einbuße erlitten, niemanden verloren. Die Gnade dieses Verschontbleibens hätte seine Familie keinen Tagaußer Acht lassen dürfen. Man hätte eine Verpflichtung darin sehenmüssen, eine Verpflichtung zur Dankbarkeit, zu einem sinnvollen Leben. Doch sobald es Menschen gut ging, vergaßen sie, wem sie es verdankten. Amerika war nicht nur Zufluchtsort, sondern Heimat, Anerkennung, Gleichheit, nie gekannter Wohlstand, endlose Weite. Endlose Strecken sonnenbeschienener Sand. Auch, wenn sie plötzlich endeten wie alles Saubere, Wunderbare und Schöne, an einem brutal in die Dünen gesetzten Kraftwerk oder betonierten Hochhauskomplex, an einem Straßenrand, bestreut mit Cola-Dosen, Einwegspritzen, Präservativen.

Das Industriegebiet verfolgte den Bus noch einige Zeit, immer neue, immer etwas anders konstruierte Anlagen, Betonklötze, Kessel, metallene Gestänge, an Gedärm erinnernde Rohrleitungen, rätselhafte, Furcht einflößende, irgendwelche Produkte ausstoßende Einrichtungen, in denen der moderne Mensch seine Stärke wähnt. Die »Werke eurer Hände«,ma’asej jadejchem,der Prophet nennt sie als Grund für Gottes Zorn. Einige dieser Gebilde schoben sich dicht an die Straße, andere waren nur aus der Ferne zu sehen, schattenhaft, riesig und Abscheu erregend, besonders hier, im hellen Wüstensand. Aus einer der letzten, nahe der Straße liegenden Fabrik wucherte weißliches Pulver Hunderte Meter weit in den Sand, und da sich auch hier Beduinen mit ihren Zelten, Hütten, Tierpferchen bis unmittelbar an das bebaute Gelände herangedrängt hatten, beschlich den Vorüberfahrenden die bange Frage, was für Pulver das sein mochte, das sich Hunderte Meter weit in kalkiger Leichentuchfarbe vom Wüstensand abhob, und welche Auswirkung es auf hier lebende Menschen hatte.

Im nächsten Augenblick war alles verschwunden: Fabriken, Zelte, Menschen. Wohin man sah, tat sich rein und bloß die Wüste auf. Jetzt anders als vorher, steinig und hügelig, von kriechenden blassgrünen Kräutern bewachsen. Der Sand gröber, härter, gesprenkelt mit Steinbrocken verschiedener Größe. Der Schauende folgte der gleitenden Auf- und Abbewegung der flachen Hügel am Straßenrand und stellte fest, dass dieses trockenstarre Land vom Wasser geformt war. Die ausgetrockneten Betten kleiner Abflüsse, Bäche, Rinnsale, ihre Vereinigung zu größeren, durch die Sandhügel mäandernden Bahnen, die Unterspülungen, Einbrücheund Auswaschungen gaben den Erdmassen ihre Form. Hier fiel selten Regen, doch wenn es einmal regnete, waren gewaltige, katastrophische Wassermassen am Werk. Das Wasser brach sichBahn, schuf sich Wege, spülte aus, zerschnitt, zerklüftete, bewegte Steine, sprengte Felsen … Und indem er es wahrnahm und darüber staunte, war ihm zumute, als hätte er bedeutende Einsicht genommen in das Wesen der Welt.

Etwa zehn Minuten ging es so, äußerlich ereignislos. Sandhügel, betupft mit dürftigen, flachen Gewächsen, die dem Blassgelb des Bodens einen grünlichen Hauch gaben, bestreut mit Geröll, mit bräunlichen Brocken, alles leicht auf- und abschwingend, aufsanfte Weise unterhaltsam. Hin und wieder eine auffallende Einzelheit: einmal dachlose, erdfarbene Häuser auf einem Abhang, die aussahen wie zerschossen, vielleicht in Nahkampfübungen, ein andermal eine Abteilung Soldaten, die wenige Meter vom Straßenrand in einem künstlichen, in einer Senke angepflanzten Wäldchen rasteten. Kurzer Einblick in eine fremde, fast unheimliche Sphäre, der Fahrende war nie Soldat gewesen. Humvees und offene Jeeps, gespickt mit Antennen, auf der Erde sitzende, liegende junge Männer, Helme, Rucksäcke, Waffen. Gedränge um einen Küchen­wagen, auf dem in schwarzer Farbe, nachlässig mit der Hand gemalt, das Wortchalavizu lesen war, milchig. Richtig, die Armee hielt koscher, trennte Speisen und Geschirr. Pappkartons voller Tomaten und Äpfel sausten vorbei, kauende, lachende Gesichter.

Kurz darauf bog der Bus von der Chaussee ab, überraschend, abrupt nach links, und quälte sich über eine holperige Zufahrtsstraße, gesäumt von alten, silberblättrigen Olivenbäumen. Ziel des Abstechers war ein Kibuz, der das Privileg genoss, dass seine Haltestelle nicht am Rand der Landstraße lag, sondern im Innern der Siedlung. Auf dem Weg dorthin passierte man offene Kuhställe, Flächen, über die Tausende Küken liefen, mit Plastikplanen bedeckte Versuchsfelder, einen Pistazienhain, schließlich ein beim Nahen des Busses eilig eingefahrenes, als Straßensperre dienendes Rollgitter, gespritzt in einer schrill gelben Signalfarbe, und das dazugehörende Wärterhäuschen, in dem ein Mädchen mit Laptop saß, aus Sicht der Vorbeifahrenden, schräg von oben, ein über das Gerät gebeugter Lockenkopf, schmale Schultern in einem verwaschenen T-Shirt, zwei glatte, gebräunte Arme. Im Bus hatte es, als das Gefährt nach langer, monotoner Fahrt von der Chaussee abbog und auf der schadhaften Betonpiste zu schaukeln und zu rumpeln begann, ein kurzes allgemeines Erwachen gegeben, verschlafene Gesichter hatten blinzelnd in die Landschaft gestarrt, doch da alle Fahrgäste mit der Strecke vertraut schienen und rasch erkannten, wo sie waren, und dass es mit dem Abbremsen, Abbiegen, Schaukeln seine Richtigkeit hatte, lehnte man sich wieder in den bunten Plüschsitzen zurück und versuchte von Neuem, eine Haltung zum Einschlafen zu finden.

Der Kibuz gab nichts von sich preis als den runden, von großen Bäumen überschatteten Platz mit der Haltestelle, von dem in alle Richtungen Wege abgingen, zu besonnten Rasenflächen, Palmen, zu allerlei öffentlichen Gebäuden und Wohnhäusern – ein Bild von fast unglaubhafter Sorglosigkeit. Radfahrer und Fußgänger bewegten sich darin, wenige nur, in einer Langsamkeit, die jetzt, in der Mittagsstunde, über dem ganzen Land zu liegen schien. Eine Mutter mit einem kleinen Kind stieg aus, der Fahrer öffnete die Ladeklappe im Bauch des Fahrzeugs, wo der Kinderwagen verstaut war, man hörte das Schnaufen der Hydraulik, das Geplauder der Leute, die gekommen waren, Mutter und Kind in Empfang zu nehmen: eine alte Frau mit kurzem, rot gefärbten Haar, ein alter Mann in Shorts, mit einer zerknüllten, khakifarbenen Mütze auf dem Kopf. Im Abfahren verfing sich der Blick des Schauenden im Gewirr der Sukkulenten am Rand der Zufahrtsstraße, Aloe, Yucca und Agaven, riesenhaft, blühend, mit hoch­ragenden orangefarbenen Stängeln und weißen Dolden, um die winzige, blau schimmernde Vögel schwirrten und mit langen, dünnen Schnäbeln den Blütensaft saugten.

Er überwand die Betäubung. Tastete nach dem kleinen Notizblock in der Brusttasche seines verschwitzten Hemdes, suchte mit zusammengekniffenen Augen das Blatt mit dem Namen, wandte sich mit vom langen Schweigen knarrender Stimme an seinen Nachbarn, den Mann in der Uniform der Gefängnisverwaltung. Sprach ihn an. Stellte seine Frage. Wartete, wiederholte die Frage, als der andere nicht verstand, ihn nur schläfrig ansah aus seinem runden, olivfarbenen Gesicht. Der Mann schien nicht sicher zu sein, ob die Sprache, in der er angeredet wurde, Hebräisch war. Endlich begriff er, was der Fremde wissen wollte.

»Zum College willst du?«

Der Bus hielt an einer Haltestelle, einem vorfabrizierten, aus Beton gegossenen Kasten dicht an der Fahrbahn, mit einer Bank darin und zwei runden Öffnungen an den Seiten, durch die, wohl zur Kühlung der in der Gluthitze Wartenden gedacht, der Wind hindurchwehen konnte. Jemand stand dort im Schatten, eine rundliche Frau in hellen Hosen, zierlichen Schuhen, Goldschmuck an den Armen, mit großer Sonnenbrille und einer Kurzhaarfrisur mit blondierten Strähnen, gepflegt, auffallend teuer gekleidet, auf die Art, wie sich wohlhabende sefardische Jüdinnen zurechtmachen.

»Ist das schon das College?«, fragte der Fremde alarmiert.

»Das ist die Gebietsverwaltung«, erwiderte sein Nachbar. »College …, das dauert noch. Ich sag’ dir Bescheid.«

Die rundliche Frau blieb vorn beim Fahrer, der sie zu kennen schien und respektvoll begrüßte, woraus ein Gespräch entstand, wegen der Fahrgeräusche mit erhobenen Stimmen. Flache Dächer, Palmen, Pulks parkender Autos flogen draußen vorbei. Nur ­wenige Minuten, und der Bus bremste erneut, diesmal an einer Kreuzung, die zuvor mit großen Schildern angekündigt worden war (geradeaus, so erfuhr man auf Hebräisch, Englisch und Arabisch, ging es zur ägyptischen Grenze, linkerhand nach Eilat, zum Roten Meer), und kaum war er abgebogen, hielt er von Neuem, wieder an einem der vorfabrizierten, gegossenen Kästen am Straßen­rand.

Die Szenerie dahinter war, wie der Fremde fand, einmalig. Nichts von dem, was es hier zu sehen gab, war ihm in seinem bishe­rigen fünfundsechzigjährigen Leben jemals vor Augen gekommen. Gleich hinter der Kreuzung zeigte sich links, in einem flachen, gut einsehbaren Areal, ein Gewirr betonierter Pisten, Schlagbäume, Baracken, parkender Militärfahrzeuge, durchs Gelände laufender Soldaten, einzeln, in Gruppen, und im Hintergrund, auf dem Kamm eines sanft ansteigenden Hügels, zwei nebeneinander gestellte, mehrstöckige Wohn- oder Bürogebäude, die Dächer vollgepackt mit Teleskop-Antennen, Sendemasten und technischen Anlagen. Dieses befremdliche Bild – zwei städtisch anmutende, mehrstöckige Gebäude mitten in der Wüste – war schon von Weitem sichtbar gewesen und hatte die Neugier desReisenden erregt. Vor ihm lag eine überschaubare Welt, ausgeleuchtet wie eine Bühne. Die senkrecht fallende, durch nichts geminderte Mittagssonne hob jedes Detail hervor, machte es Hunderte Meter weit sichtbar. Zwei Soldaten liefen auf einem entfernten Beton­weg, ihre Haltung lässig, ganz unmilitärisch, einer hatte die Hände in den Taschen seiner zu weiten Hose, der andere gestikulierte wie ein Talmudschüler, ihre schwarzen Maschinenpistolen baumelten an ihnen wie Spielzeug. Hinter ihnen stand eine Reihe in der Sonne brütender Fahrzeuge, schwere, stumpfgrüne Kastenwagen, platt, wie urzeitliche Echsen auf dem Beton. Ein weißer Jeep fuhr in Schrittgeschwindigkeit seitlich aus dem Bild. Hoch oben am gläsernen Himmel schwebte ein nie gesehenes Objekt, eine Art Luftschiff oder Ballon.

Was bedeutete das alles? Der Reisende musste sich eingestehen, dass auch dieser Ort, mochte er im Licht der Mittagssonne durchschaubar, ja, durchsichtig wirken, nichts von sich preisgab. Im Bus entstand erhebliche Unruhe, auch draußen an der Gepäckklappe. Es schien, als wollte mindestens die Hälfte der Soldaten hier aussteigen, Jungen und Mädchen, solche in grünen und solche in sandfarbenen Uniformen, für Minuten war der Gang zwischen den Sitzen vom Gedränge eben erwachter Menschen erfüllt, die sich reckten und zu den Ausgängen schoben, draußen stapelten sich Gepäckstücke, Taschen und Rucksäcke, manche so riesengroß, dass den Beobachter bei der Vorstellung, sie in dieser Hitze tragen zu müssen, ein Schwindelgefühl überkam. Trinken, sagte er sich, sofort. Er tastete nach der lauwarmen Wasserflasche. Immer wieder hörte man Geschichten von Dehydrierung. Eine amerikanische Touristin war kürzlich hier irgendwo, nahe der Stadt Jerucham, ums Leben gekommen, weil sie beim Wandern und Betrachten der Landschaft das Trinken vergessen hatte. Die Soldaten, hieß es, hatten Befehl, mindestens drei Liter Flüssigkeit pro Tag zu sich zu nehmen. Waren sie deshalb so munter und obenauf? Man hörte ihre Rufe, ihr Lachen von draußen. Dann schnappten die Türen, die Stille kehrte zurück, der Bus fuhr an.

Nochmals veränderte sich die Landschaft. Die Straße führte bergauf, die Hügel wurden höher, die Täler tiefer. Der Fahrendeblickte hinauf zu felsigen Gipfeln, im nächsten Augenblick hinunter in schroffe Schluchten. An mehreren Stellen war die Straße mitten durch Hügel geschlagen, deren Inneres, Schicht umSchicht, wie die Lagen einer blassen Torte, von den steil ragenden Schnittstellen preisgegeben wurde. Es war aufregend, in gewisser Weise beunruhigend, unverhofft Einblick ins Erdinnere zu nehmen, in die sonst verborgenen Geheimnisse des Unterirdischen. An anderen Stellen schwebte die Fahrbahn plötzlich über einem am Straßenrand klaffenden Abgrund. Trotz der Durchstiche, die den Verlauf der Straße gerader und einfacher machten, mehrten sich Kurven und unübersichtliche Stellen. Der Busfahrer erreichte von Neuem die halsbrecherische Geschwindigkeit, mit der er durch die Ebene gerast war, doch wenigstens war er jetzt still und redete nicht mehr, dabei zur Seite schauend, mit einer Hand gestikulierend. Die rundliche Frau mit den blondierten Strähnen war im Schatten zwischen den Sitzlehnen verschwunden.

Die nächste halbe Stunde hielten sie nirgendwo, bewegten sich mit fast gleichbleibender Geschwindigkeit durch die steinige Wildnis. Große Felsbrocken lagen am Straßenrand, Spuren von Sprengungen. Das Auf und Ab erzeugte – anders als vorhin in der Ebene – starke Wechsel von Licht und Schatten. Immer wieder, für Augenblicke, tauchte der Bus in ernüchternde Kühle. Manchmal drängte der Fels gegen die Fahrbahn, an anderen Stellen öffnete sich ein Ausblick ins scheinbar Unendliche. Eine von Winden durchwehte Weite tat sich auf, die dem Schauenden – je intensiver er starrte, umso mehr – zur Verlockung wurde, sich darin aufzulösen. Mehrmals stellte er sich vor auszusteigen, sich auf die warme, blassgoldene Erde zu legen, mit ihr eins zu werden, in ihr aufzugehen. Eine Sehnsucht nach Vereinigung, Erlösung, Endgültigkeit, so stark, dass er sie körperlich zu spüren meinte. Mehrmals schien ihm, als nähere er sich einer Art Trance, einem Hinübergleiten in gefährliche Bereiche der Bewusstseinstrübung. Doch immer gab es ein schnelles Erwachen: Ein irres Überholmanöver des unbelehrbaren Fahrers, die ruckartige Rückkehr auf die eigene Fahrbahn, das Bild des auf der Gegenspur heranrasenden Trucks, das Erzittern des Busses in dessen Sog, und er kam zu sich, ernüchtert, um wenig später erneut dem Zauber der leeren Landschaft zu verfallen.

In den Augenblicken der Ernüchterung erfasste ihn etwas wie Verlorenheit. Er wusste: Es war Furcht. Die Furcht, er werde nicht heil aus diesem Abenteuer zurückzukehren. Und weil es Furcht war, galt es alle Kräfte anzuspannen und zu widerstehen.Die Fahrt war eine Grenzüberschreitung, ein Sich-Verlieren am Rand der Selbstaufgabe. Das Selbst, mit dem er gekommen war, hörte auf zu existieren. Es schien nichtig wie alter Plunder, wie die abgelegten Sachen am Ufer des Meeres, wenn man weit hinausgeschwommen war. Die goldene Luft da draußen verhieß ein balsamisches Bad für den sehnsüchtigen Leib des vertrockneten Städters. Ohne­hin war die Einsamkeit Illusion. Am Straßenrand zeigten sich immer wieder Menschen, Maschinen: eine Planierraupe, die eine Schneise in die Erde grub, ein gelb bestäubter Geländewagen, auf dessen Kühlerhaube im Wind flatternde Landkarten ausgebreitet waren, über die sich mehrere Männer beugten. Es war beruhigend, sich den Wind vorzustellen, der durch diese Weiten fuhr, den trockenen, erfrischenden Wüstenwind, nach der abgestandenen, bitter schmeckenden Luft der Stadt. Neue Masten für elektrische Oberleitungen lagen unweit der Straße, gewaltige Eisengerippe, oben spitz zulaufend, deutlich größer als die bisherigen.

Er füllte die Leere mit Bildern. Das ging wahnsinnig schnell. Ein Zauber. Man konnte nicht hinaus starren in diese Hügelketten, alle aus dem gleichen blassen Sand, ohne etwas zu sehen. Zunächst waren es Metaphern des Endes, des Abschieds. Der westliche Mensch fühlt sich dem Ende nahe, dabei ist jedes Ende Anfang.Ihm war, als verstünde er zum ersten Mal den inneren Zusammenhang zwischen Vergehen und Beginnen, Tod und Leben. Das zyklische Prinzip unseres Daseins. Wenn man genau hinsah,erkannte man die Wiederholungen. Große Reiche wuchsen, bis sie zerfielen. Ihre Städte verödeten, ihre fruchtbaren Landschaften lagen brach, Wüstentiere streiften durch die verfallenen Paläste,ve ravezu-sham zijim, wie es beim Propheten heißt, übrigens ein interessantes Wort,zijim, die In-der-Wüste-Wohnenden, die Wüsten, die Wüstlinge, ein Plural, er hätte nicht sagen können, wie das Wort in der Einzahl hieß, es sei denn, man verstandzijahals Singular dieses Wortes,erez zijah, wüstes Land, so heißt es beim selben Propheten – nicht nur bei ihm, auch bei Jermijahu, Joel, in den Psalmen – insbesondere aber bei ihm, Jeshajahu, in der Schilderung der Freilassung der babylonischen Gefangenen durch König Kyros, der Wiederaufstehung des verlorenen Volkes, die zugleich die Erlösung der Wüste war.Ich will auf den kahlen Höhen die Ströme öffnen und in den Tälern die Quellen, Ich mache die Steppe zum Schwemmgebiet, das Trockenland zum Wasserspender …Diese Landschaft, so still und selbstversunken sie ist, hat viel Schrecken gesehen und Sterben, damals wie heute. Und viel Durchhalten, Überleben. Beginnen. Wunderbares Auferstehen.

Allein das Wissen um dieses Auf und Ab gibt Hoffnung. Der Anblick der verbrannten, verödeten Landschaft, die schwanger ist mit neuem Leben. Wie bedauernswert waren seine Frau, Kinder, Schwiegerkinder, sein ihm unbekannter Enkel, die Brüder, Schwägerinnen, Cousinen, die Menschen, die er seine Freunde genannt hatte, wie bedauernswert, dass sie die wahre Dimension unseres Daseins nicht verstanden. Dass sie nie erlebt, nie am eigenen Leibe durchlitten hatten, was es bereithält an Möglichem. Sie glaubten, im Leben ginge es stets in einer Richtung bergauf, Ausbildung, Erfolg, Geld, Anerkennung, Glück, Befriedung ihrer Begierden. Sie kannten die wahren Beglückungen nicht: Abstürze, Verluste, Durststrecken, die einen erst zum Menschen machten. Sie hatten nie erlebt, wie aus dem Desaster neues Glück erwuchs, aus derVerzweiflungneue Freiheit. Seine Frau hatte ihn seit Jahren mit anderen Männern betrogen, doch er war es, der bei der Scheidung einen großen Teil seines Vermögens einbüßte. Die meisten seiner Bekannten ergriffen die Partei seiner Frau, die gesellschaftlich talentierter war als er. Selbstzweifel, Krankheit, Depression hatten ihn heimgesucht, er war kurz vor dem Ende gewesen, kurz vor einem Sprung von der Brücke. Die schicksalhafte Begegnung mit einem Rabbiner hielt ihn davon ab, er trat in eine fromme Gemeinde ein, seine Kinder begannen, an seinem Verstand zu zweifeln – just in dem Augenblick, als er selbst den Eindruck hatte, ihn zurück zu gewinnen. Was sie für Leben hielten, war ein reduziertes Programm, engstirnig, zu Entgleisungen neigend wie eine Schmalspurbahn. Wüste ist Weitblick. Er war schon in Amerika gern in die Wüste gefahren. Doch keine glich dieser, in der alles Nennenswerte begonnen hatte, alles, was in den Büchern steht, alles, worauf wir in dieser Welt bauen können …

Der Bus schoss die Straße hinunter, das Licht einer besonnten Ebene drang dem Fahrenden zwischen die halb geschlossenen Lider. Vor ihm ein Tal, fast idyllisch, wie er es aus Kalifornienkannte: viel Grün, in der Senke ein Flussbett, am Straßenrand die regelmäßigen Reihen der Weinstöcke, Farmhäuser im Hintergrund,ein paar spitz zulaufende Gebilde, die wie Indianerzelte aussahen. Hangabwärts, ausgebreitet wie ein Theaterprospekt, ein größerer landwirtschaftlicher Betrieb. Lange Reihen von weißen Treibhäusern, Plantagen, wahrscheinlich ein Kibuz. Unmittelbar dahinter der Absturz, der Krater. Der Riss durch die Erde, hinter dem das Rotland begann, Edom, die andere Welt. Auch über Edom hatte der Prophet geweissagt: Wie es vertrocknen, verdorren würde in seinem Frevel gegen Israel … Denn der Tag der Vergeltung ist in meinem Herzen, und das Jahr meiner Erlösung ist gekommen … Ein Stoß traf ihn in die mageren Rippen. Schmerzhaft, sodass er einen Augenblick nach Luft schnappte. Es war sein Nachbar, der Mann in der Uniform der Gefängnisverwaltung.

»Du musst raus«, sagte der Uniformierte und strahlte über das olivfarbene Gesicht.

»Oh, vielen Dank …⁠«

»Nächste Haltestelle ist das College. Der Bus fährt rein. Dahinten musst du aussteigen.«

Man sah Solarmodule in der Sonne gleißen, ein gigantisches Tele­skop aus dem Sand emporwachsen, mehrstöckige Gebäude zwischen Baracken und Baumaschinen. Unerwartet schwenkte der Bus nach kurzem Abbremsen in die seitliche Abfahrt, geradewegs Richtung Krater, Richtung Edom. Raste durch eine Allee aus Dattelpalmen. Rechts ein eingezäuntes Gelände mit großen Zelten, etwas Militärisches, links eine Baustelle im frühen Stadium, zu Bergen geschaufelter Sand, in die Wüste gelegte Straßen, erste Fundamente von Häusern. Hinter allem der offen sichtbare Bruch, der Absturz, die Klarheit, das Ende der Lügen. Der Bus nahm die Wendeschleife in einem Tempo, dass der Aufstehende wieder in den Sitz geschleudert wurde. Er wartete beim zweiten Versuch, bis der Bus stand, und richtete sich auf. Als er durch den Gang zur Tür taumelte, die schwarze Tasche in der Hand, aus der ein Palmzweig in einer Plastikhülle ragte, war ihm übel.

Er stieg die drei Stufen hinunter, steifbeinig, benommen, durchgerüttelt, halb besinnungslos. Nach der Kühle im klimatisierten Bus überfiel ihn die Hitze des Mittags wie ein wildes Tier. Un­sichere Schritte auf dem sandbedeckten Trottoir, dessen Bordsteinbrüchig, teilweise eingesunken war. Auch die beiden Englisch sprechenden Frauen stiegen aus, der bärtige, städtische Mann und ein junges Mädchen in Uniform, mit schwarzen Locken, geschwungenen Hüften, langen Beinen, schön wie im Märchen. Zwei, drei Autos standen wartend am Straßenrand und nahmen diese Leute auf, während der Bus seine Türen zuschnappen ließ und losraste, immer schneller durch die Palmenallee, klein und kleiner, bis er, zu einem grün glitzernden Spielzeugauto geschrumpft, in sonnenheller Ferne auf die große Chaussee abbog und sich rasch entfernte, gen Süden.

Sie saß schräg in den Polstern, über zwei Sitze, den Rücken zum Fenster, zum Licht, und schaute ins Innere des Fahrzeugs. Ein Blick traf ihren kleinen, kräftigen Fuß im goldfarbenen flachen Schuh. Sie sah die abgestoßenen Stellen an der Seite, die ersten Kratzer im neuen Leder. Traurig, wie schnell sich die hübschen Schuhe hier draußenauflösen. Der Sand ist stark salzhaltig, deshalb wachsen manche Pflanzen von selbst, kaum dass man ihnen Wasser gibt, doch er zerfrisst alles Feinere, Zartere, auch am eigenen Körper, die Haut und das Haar, lässt den Lack auf den Nägeln zerbröckeln, das Zahnfleisch schrumpfen, die Augen trübe werden. Trotzdem kann sie sich nicht dazu entschließen, die schrecklichen Treter anzuziehen, die neuerdings in der Siedlung modern werden, bei Männern und Frauen, Schuhe wie Elefantenhufe, aus einem neuen, extrem widerstandsfähigen Plastikstoff, angeblich für Mondfahrer entwickelt, und so sehen sie auch aus, unförmig, aus einem Stück gegossen, mit Löchern wegen der Ventilation.

Ihr Blick löste sich von ihrem Schuh und ging nach rechts aus dem Fenster, ein kurzer Blick, sie kannte jeden Stein an der Strecke, jeden Strauch. Hillas Farm, die Weinstöcke, das Haus. Dann der Abzweig, der Bus bog nach rechts in die Chaussee, die von Jerucham kommt, gleich darauf ein Schlenker zum Kibuz, in wenigen Minuten ist sie zu Hause. Sie hat den Vormittag in der Gebietsverwaltung verbracht, in Vorzimmern, bei Sekretärinnen, die sie mit Vornamen anredet, Miri, Michal, Yafit. Es gibt ein paar Probleme mit Shmuliks Geschäften, ein neuer Mitarbeiter muss ins Bild gesetzt werden. Manchmal kommen Leute her, frisch von der Universität, die nicht verstehen, wie es hier draußen läuft. Und meist auch nicht lange bleiben. Shmulik hat den Supermarkt zu günstigen Bedingungen übernommen. Der Mankal, der Direktorder Ortsverwaltung, war zu dieser Zeit ihr Schwager. Sie und ihre beiden Schwestern sind vor fünfundzwanzig Jahren in die Siedlung gekommen, als sie gerade gegründet worden war, und haben hier für sich und die Ihren den passenden Platz gefunden: ihr Mann als Pächter des einzigen Supermarktes weit und breit, der Mann ihrer älteren Schwester als Direktor der Ortsverwaltung, ihre jüngere Schwester als Direktorin der örtlichen Schule. Es gibt niemanden in der Gegend, im College, im Kibuz, in der Gebietsverwaltung, der sie nicht kennt. Die länger hier leben, sind ihre Freunde, und wer neu hinzukommt, sieht zu, dass er es wird. Was nicht schwierig ist. Sie gilt als umgänglich – anders als ihr Mann.

Langsam, zentimeterweise schob sie sich auf dem geblümtenPolster Richtung Gang, während der Bus in die Palmenallee einbog,blieb jedoch sitzen, bemerkte aus dem Augenwinkel den Beinahe-Sturz des schwarz gekleideten Mannes, der ausgerechnet in dem Augenblick aufstehen wollte, als der Bus in die Wendeschleife bog. Eine Sekunde später, genau im richtigen Moment, stellte sie ihren goldfarben beschuhten Fuß auf den gerippten Fuß­bodenbelag im Gang, ertastete die Sonnenbrille in ihrer großen, mit Brieftaschen, Papieren, Kugelschreibern, Schlüsselbünden und Lippenstiften gefüllten Handtasche, setzte die Brille auf, schwang die Handtasche an ihrem langen Riemen über die rechte Schulter, rief über die linkedem Busfahrer ein Abschiedswort zu und war draußen.

Sie lebte zu lange hier, um die Hitze zu spüren. Nur der Körper spürte sie, doch die Botschaft kam nicht mehr dort an, wo die Empfindungen entstehen oder die Begriffe. Sie lief langsam, zielgerichtet am Rondell vorbei, dankte mit einer kurzen, freundlichen Handbewegung, als ihr Orit Weissglas, die gekommen war, um ihren Mann abzuholen, einen Platz in ihrem Range Rover anbot: Es lohnt nicht, die paar Meter … Das Gleiche bei Carey. In Careys klapprigem Auto, winzig, einst knallrot lackiert, mit von der Sonnenhitze abgeblätterter Farbe, wäre sie ohnehin nur mit Mühe untergekommen, dort stieg schon die Soldatin ein, Careys Tochter, allenfalls auf dem harten Rücksitz wäre Platz gewesen, wo alles voller Hundehaare ist. Die Autos fuhren langsam an ihr vorbei, der große, sanft schnurrende, silberfarbene Rover, der klapprige rote Kleinwagen. Auf der betonierten, schnurgeraden Straße, die unmittelbar hinter dem Eisentor beginnt und geradewegs ins »Zentrum« führt: Post, Supermarkt, die wenig frequentierten Büros einer Firma zur Vermittlung von Investitionen im Wüstengebiet, eine Propaganda-Station der Armee und das Restaurant, das Shmulik neben dem Supermarkt gehört. Für einen Augenblick ist sie allein, zum ersten Mal an diesem Tag ungestört. Ein Gefühl der Erleichterung, wie meist, wenn sie hier draußen aussteigt. Als lösten sich die Kraftfelder der überfüllten, von Menschen, Stimmen, Forderungen schrillenden Räume, aus denen sie kommt, an diesem Ort in Nichts auf. Noch ein Auto, ein weißer Kombi, die Frau am Steuer ruft mit stark englischem Akzent, was schon Orit und Yael gerufen haben: Shulamit, willst du mitfahren? Vielen Dank, es lohnt nicht, die paar Schritte … Stille. Kein Auto mehr, keine Stimme. Nur fern, sehr fern der Verkehr der Chaussee.

Und Schritte in ihrem Rücken, hohl klingende, unstete Schritte. Nähern sich links auf dem steinernen Trottoir. Blick aus dem Augenwinkel: der Mann in Schwarz. Sicher, sie hat ihn aussteigen sehen. Wer mag er sein? Ein Verwandter von jemandem? Solche Leute sind oft Amerikaner … Er wirkt erschöpft, halb verhungert, bewegt sich steif und ungelenk. Niemand hat ihn abgeholt, so einen erwartet hier niemand, einen Schwarzen, einen Charedi. Hier gibt es kaum religiöse Familien, keine Hand voll. Sally und Bella Benvenisti sind religiös. Auch Chanan, der Arzt. Aber Aviva, seine Frau, keine Spur, sie hält koscher zu Hause, wie es die meisten tun, egal, ob religiös oder nicht, aber verkauft indische Kleider und Schals am Shabat, ein Nebengeschäft,hauptberuflicharbeitet sie als Krankenschwester in der örtlichen Poliklinik. Während Chanan in der Synagoge vorbetet, steht sie mit ihren bunten Kleiderständern vor dem Supermarkt, kaum hundert Meter von ihrem betenden Mann entfernt. Ihn scheint es nicht zu stören, jedenfalls gilt die Ehe als glücklich. Spannungen gibt es nur mit dem Sohn, dem einzigen neben drei Töchtern, der die hiesige Highschool ­besucht, die im ganzen Land für ihre modernen Methoden und progressiven Lehrer bekannt ist, einige wurden in Europa an Waldorfschulen ausgebildet. Die Schule hat ein Internat, das die Eltern viel Geld kostet, reiche Leute aus Tel Aviv schicken ihre Kinder hierher. Sie weiß aus dem Supermarkt, wie viel Geld sie ausgeben. Man legt Wert auf den Arabischunterricht. Leila Lachman, die Arabisch-Lehrerin, ist zugleich Direktorin, nachdem ihr Vorgänger auf Druck einiger Eltern abgesetzt wurde. Gilad Kesselman, der Beduinen-Forscher, hatte sich über ihn beschwert, ebenso der alte Professor Cane, der Vater von Holden, genannt Holly, der vor zwei Jahren den Wehrdienst verweigert hat und jetzt in Europa lebt.

Sie selbst kommt aus einer guten Familie, aus Marokko eingewandert. Ihr Vater war Schächter, ein frommer, gebildeter Mann, der ihren ältesten Bruder zum Chasan ausbilden ließ, ihre Mutter trägt bis heute Hut oder Tuch, um ihr Haar zu bedecken. Hier lebt sie unter Leuten, die nichts von der Torah hören wollen. Auch nichts darüber wissen, Wissenschaftler, linke Kibuzniks, neuerdings einige Russen. Über Jahre hat die Synagoge keinen Minjan zusammengebracht, keine zehn Männer, um einen richtigen Gottesdienst abzuhalten. Nicht mal am Shabat und an Feiertagen. Neuerdings gibt es wieder einen, ausgerechnet derverrückte Deutsche hat dafür gesorgt, der vor zwei Jahren hergezogen ist mit seiner blonden Frau, die Hüte trägt und wehende Gewänder, wenn sie in der Wüste herumwandert und zeichnet. Doktor Danilovich ist dazugekommen, ein junger Russe, der eine Firma für Luftfilter gegründet hat, Doktor Shalev vom Herzl-Institut, Sally Benvenisti und ein paar andere, sogar Paul Drabkin, dessen Mutter gerade gestorben war, sodass er Kadish sagen musste – plötzlich waren sie neun Männer am Shabat, und Chanan, der es nach dem großen Krach letztes Jahr aufgegeben hatte, zur Synagoge zu gehen, und allein in seinem Haus den wöchentlichen Torah-Abschnitt las, ist glücklich zurückgekehrt, als Vorbeter und Leiter einer entstehenden Gemeinde.

So wurde erzählt. In sehr unterschiedlichen Tonlagen. Der Deutsche und seine Frau haben ein großes Haus gemietet, in der neuen Wohnanlage am Krater. Die Frau ist schön und elegant,man sieht sie selten. Er ist es, der die Einkäufe macht und, da er kein Auto hat, auf einem Einkaufswagen die Straße entlangrollt, die vom »Zentrum« zum Krater führt. Shulamit sieht die beiden oft zur Synagoge gehen, ihn im grauen Anzug, sie in weißen Kleidern mit großen Hüten. Sally Benvenisti, Chanan, der junge Doktor Danilovich und einige wenige freuen sich über das Paar, anderen sind sie verdächtig. Es scheint sie nicht zu kümmern. Ihm soll irgendwas Schreckliches passiert sein, erzählt Orit Weissgold, die zwei Grundstücke entfernt wohnt und in ihrer offenen Art die Bekanntschaft des Paares gemacht hat, ein Unfall, eine Verletzung, ein Tumor, jedenfalls musste er am Kopf operiert werden, angeblich dreimal, und wirklich erkennt man, wenn man genauer hinsieht, unter seinem kurz geschorenen Haar eine lange Narbe, von der Schläfe bis zum Scheitel.

Weil sie täglich ein paar Stunden im Laden ist, vorn, an ihrem Tisch gleich neben der Eingangstür, wo sie die Einkäufe bei den Großhändlern regelt und die Lieferungen, bekommt sie alles mit, was im Ort geschieht. Die Leute reden, wenn sie an der Kasse stehen, der Supermarkt ist so etwas wiemakor rishon, »an der Quelle sitzen«. Ihre Kinder sind schon seit Jahren aus dem Haus, sie ist jung Mutter geworden, vor ein paar Jahren Großmutter, Kinder und Enkel leben weit weg im Zentrum des Landes, dort, wo die meisten wohnen, und finden selten Zeit zu kommen. Shmulik ist den ganzen Tag unterwegs in seinem großen Jeep. Ein zweiter Jeep steht im Hof oder wird von den Angestellten benutzt, er versucht vergebens, sie zum Führerschein zu überreden, doch sie will nicht. Auf den Straßen sind zu viele Verrückte unterwegs. Vor allem hier draußen. Immer wieder werden sechzehnjährige Beduinenjungen festgenommen, die mit geklauten Autos über die Wüstenstraßen rasen. Auch in der Stadt. Man weiß nie, wer da voroder hinter einem ist. Sie hat genug um die Ohren, sie will nicht auch noch darüber nachdenken. Das Gerede heute Morgen in der Gebietsverwaltung. Mehrere Stunden. Man hat ihr Kaffee angeboten, trotzdem war es stressig, dauernd das Telefon dazwischen, keinen Satz bringt man zu Ende – wie halten die Leute das aus? Shmulik schickt sie oft hin, wenn er Ärger mit einer der Abteilungen hat, sie geht geschickter mit Menschen um, die meisten Angestellten sind Frauen, da redet es sich einfach besser.

Während sie weitergeht, die schnurgerade Straße geradeaus,spürt sie die Stille wie ein Beruhigungsmittel. Eine Stille, wie es sie nur hier draußen gibt, ein Meer von Stille. Man weiß vonjedem Geräusch: Es ist nur vorübergehend. Es vergeht und verweht. Am Ende ist wieder Stille. Rechts die hellen Mauern der Feldschule, einer Art Jugendherberge, aus grob behauenen Wüstensteinen aufgeschichtet, schöne, feste, antik aussehende Mauern. Links Baracken, in denen Studenten wohnen und ein paar Leute, die kein Haus haben und allein sind wie Natan, ein entfernter Vetter ihres Schwagers, der sein Geld mit Huren durchgebracht hatte, im Glücksspiel, mit allem, was ein guter Jude nicht tun soll, und als er fertig und abgebrannt war, zu ihrem Schwager kam und um Hilfe bat – beide stammen aus Aleppo, der berühmten Judengemeinde in Syrien, sind als kleine Kinder mit den Eltern geflohen. Natan verdient sich die Miete, indem er die Straßen und Wege des Ortes fegt, die Müllkästen leert, mal hier, mal dort zur Hand geht.

Hinter den flachen Baracken stehen die sogenannten »Villen«, die ersten Wohnhäuser, die man hier draußen gebaut hat, geräumige Kästen, hoch, auf Pfeilern errichtet, was einen entscheidenden Nachteil mit sich bringt: Sie sind im Winter eiskalt. Ein Konstruktionsfehler. Man hatte damals noch keine Erfahrung mit dem Klima. Häuser hier draußen sollten flach sein wie Beduinenzelte – über die gehen die Stürme hinweg, deshalb halten sie es dort aus ohne feste Wände. Sally und Bella Benvenisti leben in einer der »Villen«, die einzige konsequent religiöse Familie am Ort, fünf Kinder, Avishai, der Älteste, besucht die Jeshivah in Jerucham. Sally und Bella klagen über die Kälte in diesem Haus, das sozusagen in der Luft schwebt und von allen denkbaren Seiten, sogar von unten, den Winterstürmen ausgesetzt ist, doch sie bleiben dort wohnen, weil die »Villen« billig sind und groß genug für eine Familie mit fünf Kindern. Aus dem gleichen Grund wohnt in der »Villa« nebenan Familie Bukovzer mit vier Kindern, Nurit Bukovzer, Lehrerin an der Highschool. Und wie Benvenistis die einzige orthodox lebende Familie am Ort sind, ist Nurit eine der radikalsten Linken, zwischen ihr und den Benvenistis fällt kaum ein Wort, kaum ein Gruß. Alle Häuser, die der Ortsverwaltung gehören, sind spottbillig. Auch das, in dem sie selbst, Shulamit, wohnt. Die Mieten wurden vor Jahrzehnten festgelegt und ändern sich nicht, während für die großen, neuen, privat gebauten Häuser im Viertel Neve Midbar, was so viel heißt wie »Wüstenblick«, Mieten wie in der Stadt verlangt werden, siebenhundert Dollar im Monat, und auch gezahlt – von Leuten wie dem deutschen Paar, die aus dem Ausland kommen und unbedingt in der Wüste leben wollen.

Sie nähert sich dem Ende der Straße, linkerhand die örtliche Klinik der allgemeinen Krankenkasse, ein Flachbau mit großer Glastür, hier hält Chanan, der Arzt, zweimal wöchentlich Sprechstunde ab, seine Frau Aviva, die Krankenschwester, ist jeden Tag hier, händigt Medikamente aus, gibt Spritzen, nimmt Blut ab, bei allen beliebt, weil sie so zart und fein einsticht, dass es nicht wehtut. Alles ist klein und einsehbar an diesem Ort, die Wege kurz. Wenn ein Kranker zu Aviva kommt und Chanan ist nicht da – er arbeitet außerdem im Krankenhaus in der Stadt und ist Dozent an der Universität –, ruft sie ihn auf dem Handy an und fragt, was sie tun soll. Die Leute vertrauen Chanan, er gilt als guter Arzt, steht mitten in der Nacht auf, unterbricht sogar den Gottesdienst in der Synagoge, wenn ein krankes Kind gebracht wird. Professor Weissgold erzählt überall, Chanan hätte ihm das Leben gerettet mit einer schnellen, richtigen Diagnose: Weissgold kam aus dem Ausland und hatte sich durch die Klimaanlage des Hotels mit der Legionärskrankheit infiziert. Oder der kleine Sohn von Paul Drabkin, der an einer Mehlallergie litt und fast verhungert wäre, weil er nichts mehr aß. Wie sie, Shulamit, alles über die Ehen, Kinder, Häuser, finanziellen Verhältnisse der Leute am Ort erfährt, weiß Chanan alles über ihre Gesundheit. Und schweigt darüber wie sie.

Der fremde Mann ist die ganze Zeit in ihrer Nähe, schräg hinter ihr, sein Schatten fällt parallel zu ihrem auf den betonierten Weg. Er macht keine Anstalten, sie zu überholen, scheint Zeit zu haben, will offenbar nirgendwohin. Oder will irgendwohin, kennt aber den Weg nicht. Fragt auch nicht. Wie auch – sie ist eine Frau. Er kann als frommer jüdischer Mann nicht einfach eine Frau ansprechen. Vielleicht ist er ein Rabbi. Gleich hinter der Klinik, nur ein paar Meter Wüstensand entfernt, in Höhe der »Villen«, steht dieSynagoge. Will er dorthin? Wo sonst könnte ein frommer Jude mit Bart, Schläfenlocken und schwarzem Hut hinwollen? Die Synagoge ist eine Spende der Familie Abulafia, syrischer Juden, die vor einigen Jahrzehnten ins Gerede kamen, weil sie die Finanzen eines asiatischen Despoten verwalteten, dessen Frau legendär gewordenist wegen ihrer mehr als tausend Paar Schuhe. Die Abulafias fühlten sich, nachdem ihre Verbindung zu dem Gewaltherrscher bekannt geworden war, zu wohltätigen Spenden veranlasst, einer aus der Familie kannte, noch aus Aleppo, die Familie ihres Schwagers, er wollte Geld geben, der Ort gefiel ihm, mitten in der Wüste, nahe dem Grab des berühmten zionistischen Führers. Einer der Abulafias hatte einen Bruder, der als Soldat der Jüdischen Brigade im Zweiten Weltkrieg in deutsche Gefangenschaft geraten und in einemKZermordet worden war – ihm widmete man die Synagoge. Das Gebäude ist aus hellem, polierten Stein, in Form ineinandergeschobener Rechtecke verschiedener Höhe, und immer dort, wo ein kleineres in ein größeres Rechteck übergeht, sind die Restflächen an den Rändern verglast, oben und an den Seiten, zu Fenstern von der Höhe des jeweiligen Kubus, sodass man im Inneren durch gestaffelte schmale Fenster hinaus in die Landschaft blickt, auf eine afrikanische Akazie, Feigenbäume, Kakteen, Wüstensand, nach Norden, gen Jerusalem.

Sie läuft langsam an der Klinik vorbei bis zur Straße, die auf der einen Seite zum Institut, auf der anderen zum Krater führt und hier die schnurgerade Betonbahn kreuzt, die Zufahrt vom Tor, die sie gekommen sind, sie, Shulamit, und einige Meter hinter ihr der Fremde in Schwarz, und ehe sie nun diese Straße überquert und die paar Schritte hinüber geht ins »Zentrum«, zu ihrem Schreibtisch im Supermarkt, dreht sie sich halb um, ein wenig nur, und sagt über die Schulter zu dem fremden Mann:

»Kann ich helfen, Rabbi? Suchst du was?«

Er hält schicklichen Abstand, eine schwarze, hohe, undeutliche Erscheinung am linken Rand ihres Blickfeldes. Statt etwas zu sagen, räuspert er sich. Es ist unüblich, dass eine Frau einen unbekannten Mann anspricht, ihre Mutter wäre entsetzt, aber sie ist hier zu Hause und er ein Gast, wenn auch von niemandem erwartet, und ein Gast verdient ein freundliches Wort und Hilfe. Sie sieht die schwarze Tasche neben seinem schwarzen Bein, aus der Tasche ragt der Lulav, der Palmwedel in seiner Plastikhülle – ein Rabbi, der gekommen ist, um hier draußen die Wochentage des Sukot-Festes zu feiern,chol ha moed, vielleicht auch den Shabat. Also sucht er die Sukah. Gut, dass sie eine haben, eine öffentliche, es kommen immer mal Leute her anchol ha moed, gerade Religiöse nutzen die Gelegenheit, weil sie an diesen Tagen frei haben und trotzdem Auto fahren dürfen.