Der große Meaulnes - Alain-Fournier - E-Book

Der große Meaulnes E-Book

Alain-Fournier

4,6

Beschreibung

Mit der Sicherheit eines Traumwandlers gelangt Augustin Meaulnes auf einer Irrfahrt auf ein geheimnisvolles Landgut. Er findet sein Paradies und … verliert es wieder. Rastlos wird er nach diesem Ort suchen, wo er ein wunderschönes Mädchen kennenlernte. Unterstützt von seinem Freund und Bewunderer François Seurel, der diese Geschichte erzählt. Die Landkarte verrät den Weg nicht. Und doch …

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Alain-Fournier

Der große Meaulnes

Roman

Mit einem Nachwortvon Maria-Sibylla Hesse

Inhalt

ERSTER TEIL

1. Der Pensionsschüler

2. Nach vier Uhr

3. «Oft war ich im Laden eines Korbmachers»

4. Die Flucht

5. Der Wagen kommt zurück

6. Jemand klopft ans Fenster

7. Die Seidenweste

8. Das Abenteuer

9. Ein Halt

10. Der Schafstall

11. Das geheimnisvolle Gut

12. Das Wellington-Zimmer

13. Das seltsame Fest

14. Das seltsame Fest (Fortsetzung)

15. Die Begegnung

16. Frantz de Galais

17. Das seltsame Fest (Schluss)

ZWEITER TEIL

1. Das gewagte Spiel

2. Wir fallen in einen Hinterhalt

3. Der Bohémien in der Schule

4. In dem die Rede ist von dem geheimnisvollen Gut

5. Der Mann in Leinenschuhen

6. Ein Streit hinter den Kulissen

7. Der Bohémien nimmt seine Binde ab

8. Die Gendarmen!

9. Auf der Suche nach dem verlorenen Pfad

10. Die Wäsche

11. Ich begehe Verrat …

12. Die drei Briefe von Meaulnes

DRITTER TEIL

1. Der Badeausflug

2. Bei Florentin

3. Eine Erscheinung

4. Die große Neuigkeit

5. Die Landpartie

6. Die Landpartie (Schluss)

7. Der Hochzeitstag

8. Frantz ruft

9. Die Glücklichen

10. Frantz’ Haus

11. Unterhaltung im Regen

12. Die Last

13. Das Aufsatzheft

14. Das Geheimnis

15. Das Geheimnis (Fortsetzung)

16. Das Geheimnis (Schluss)

Epilog

Nachwort von Maria-Sibylla Hesse

Meiner Schwester Isabelle

ERSTER TEIL

ERSTES KAPITEL

Der Pensionsschüler

An einem Novembersonntag des Jahres 189… kam er zu uns. Ich sage noch heute «zu uns», obwohl uns das Haus nicht mehr gehört; denn vor fast fünfzehn Jahren haben wir die Gegend verlassen und werden sicher nie dorthin zurückkehren.

Wir wohnten in den Gebäuden des Oberkursus von Sainte-Agathe. Mein Vater, den ich wie die anderen Schüler «Monsieur Seurel» nannte, leitete hier gleichzeitig den Oberkursus, der auf das Grundschullehrerexamen vorbereitete, und den Mittelkursus. Meine Mutter unterrichtete die Kleinen.

Ein langes, rotes, von wildem Wein umranktes Haus mit fünf verglasten Türen am Rande des Marktfleckens; ein weiträumiger Hof mit Überdachung für die Pausen, einem Waschhaus und einem großen Tor vorne zum Dorf hin; auf der Nordseite ein kleines Gittertor auf die Landstraße hinaus, die zur drei Kilometer entfernten Bahnstation führte; im Süden Felder, Gärten und Wiesen, die sich bis zu den ersten Häusern des Dorfes erstreckten … So kann man diese Stätte skizzieren, wo sich die bewegtesten und liebsten Tage meines Lebens abspielten – das Haus, von dem unsere Abenteuer ausgingen und in das sie wieder zurückkehrten, wie Wellen sich an einem einsamen Felsen brechen.

Der Zufall der «Versetzungen», die Entscheidung eines Schulrates oder Präfekten hatte uns hierher gebracht. Wie weit liegt die Zeit zurück, als einst am Ende der Ferien ein Bauernwagen, dem unser Hausrat folgte, meine Mutter und mich dort vor der kleinen, verrosteten Gitterpforte absetzte. Buben, die Pfirsiche im Garten stahlen, machten sich auf leisen Sohlen durch die Löcher in der Hecke davon … Meine Mutter, die wir «Millie» nannten, eine ganz besonders ordnungsliebende Hausfrau, hatte, nach einem Blick in die Räume voller Staub und Stroh, wie bei jedem «Ortswechsel» sogleich mit Kummer festgestellt, dass unsere Möbel niemals in ein so schlecht gebautes Haus hineinpassen würden; sie war wieder herausgekommen, um mir ihr Leid zu klagen. Währenddessen wischte sie mir mit ihrem Taschentuch vorsichtig den Reisestaub vom Kindergesicht. Dann war sie wieder hineingegangen, um zu sehen, wie viele Türen man würde zustellen müssen, um die Räume bewohnbar zu machen … Ich wartete auf dem mit Kies bedeckten Hof, einen großen Strohhut mit Bändern auf dem Kopf, und erkundete ein bisschen das Gelände um Brunnen und Schuppen.

So wenigstens stelle ich mir heute unsere Ankunft vor; denn sobald ich mir die weit zurückliegende Erinnerung an diesen ersten Abend des Wartens in unserem Hofe von Sainte-Agathe wieder ins Gedächtnis rufe, erinnere ich mich auch gleich an andere Augenblicke des Wartens. Schon sehe ich mich, beide Hände auf das Torgitter gestützt, ängstlich nach jemandem ausschauen, der die Hauptstraße herabkommen soll. Und versuche ich, mir die erste Nacht vorzustellen, die ich in meiner Dachstube verbrachte, so denke ich auch gleich an andere Nächte: Ich bin nicht mehr allein in diesem Zimmer, ein großer, unruhiger und vertrauter Schatten gleitet an der Wand auf und ab. Diese ganze friedliche Landschaft – die Schule, der Acker des alten Martin mit den drei Nussbäumen, der Garten, der täglich ab vier Uhr von unseren Besucherinnen erobert wurde – alles dies wird mir für immer im Gedächtnis bleiben, bewegt und verwandelt durch die Gegenwart dessen, der unsere ganze Jugendzeit in Aufruhr brachte und uns selbst durch seine Flucht keine Ruhe gab.

Wir lebten immerhin schon seit zehn Jahren in dieser Gegend, als Meaulnes ankam.

Ich zählte damals fünfzehn Jahre. Es war ein kalter Novembersonntag, der erste Vorbote des Winters in diesem Herbst. Den ganzen Tag hatte Millie auf einen Wagen von der Bahnstation gewartet, der ihr einen Hut für die schlechte Jahreszeit mitbringen sollte. Am Morgen hatte sie die Messe versäumt; und bis zur Predigt hatte ich, mit den anderen Kindern im Chor sitzend, ängstlich Richtung Glockenturm gespäht, um sie mit ihrem neuen Hut eintreten zu sehen …

Am Nachmittag musste ich allein zur Vesper gehen.

«Übrigens», sagte sie, um mich zu trösten, während sie mit der Hand meinen Knabenanzug abstäubte, «selbst wenn der Hut gekommen wäre, hätte ich sicher meinen Sonntag damit hinbringen müssen, ihn vollständig umzuarbeiten.»

So vergingen unsere Wintersonntage oft. Schon früh am Morgen ging mein Vater weit weg an irgendeinen nebelbedeckten Teich, um vom Boot aus Hechte zu fangen; und meine Mutter, die bis in die Nacht hinein in ihrem dunklen Zimmer blieb, besserte ihre bescheidenen Kleider aus. Sie schloss sich ein, aus Furcht, eine Dame ihrer Bekanntschaft, ebenso arm und stolz wie sie, könnte sie dabei überraschen. Und ich las nach Beendigung der Vesper im kalten Esszimmer in einem Buch, bis sie die Tür öffnete, um mir zu zeigen, wie ihr das Kleid stand.

An jenem Sonntag hielt mich ein Ereignis vor der Kirche auch nach der Vesper noch draußen; eine Taufe unter dem Kirchenportal hatte die Gassenkinder angelockt. Auf dem Marktplatz standen einige Männer des Dorfes in Feuerwehruniform in Reih und Glied, frierend und auf der Stelle tretend, um sich zu erwärmen, und hörten zu, wie Boujardon, ihr Kommandant, sich in theoretischen Erklärungen verlor.

Die Taufglocke verstummte plötzlich wie ein Festgeläut, das sich in Tag und Ort getäuscht hatte. Boujardon und seine Leute führten, ihre Waffe geschultert, die Spritze im Laufschritt davon, und ich sah sie um die erste Straßenbiegung verschwinden, gefolgt von vier Buben; ihre dicken Sohlen zertraten die dürren Reiser auf der von Raureif überzogenen Landstraße, auf die ich ihnen nicht zu folgen wagte.

Das Dorf lag nun ausgestorben da, bis auf das Café Daniel, aus dem die Unterhaltung der Gäste anschwellend und wieder leiser werdend an mein Ohr drang. Ich schlich an der niedrigen Mauer des großen Hofes entlang, die unser Haus vom Dorf trennte, und kam, etwas ängstlich wegen meiner Verspätung, am kleinen Gittertor an.

Es war halb offen, und ich sah sofort, dass etwas Ungewöhnliches vorging. Und zwar stand an der Tür zum Esszimmer – der nächsten der fünf verglasten Türen, die auf den Hof führten – leicht vornübergebeugt eine grauhaarige Frau und versuchte, durch die Vorhänge zu blicken. Sie war klein und trug einen altmodischen Kapotthut aus schwarzem Samt. Ihr mageres, feines Gesicht war von Aufregung entstellt, und irgendeine Vorahnung hielt mich bei ihrem Anblick auf der ersten Stufe vor der Gitterpforte zurück. «Wo mag er nur hingegangen sein? Mein Gott!», sagte sie halblaut. «Eben war er doch noch bei mir; einmal ist er schon um das Haus herumgegangen, vielleicht ist er ausgerissen …»

Und zwischen jedem Satz klopfte sie dreimal kaum hörbar an die Scheibe.

Niemand kam, um der unbekannten Besucherin zu öffnen. Millie hatte wohl endlich ihren Hut vom Bahnhof bekommen und nähte, ohne etwas zu hören, im Hintergrund des roten Zimmers vor einem mit alten Bändern und zerzausten Federn übersäten Bett an ihrer Kopfbedeckung, trennte wieder auf und heftete von Neuem … In der Tat, als ich das Esszimmer betreten hatte, unmittelbar von der Besucherin gefolgt, erschien meine Mutter, die mit beiden Händen Messingdraht, Bänder und Federn auf ihrem Kopf festhielt, die noch nicht ganz ihre Lage gefunden hatten … Sie lächelte mir mit ihren blauen, vom Arbeiten in der Dämmerung ermüdeten Augen zu und rief:

«Schau, ich habe auf dich gewartet, um dir zu zeigen …»

Aber als sie die Frau im großen Sessel am Ende des Zimmers bemerkte, stockte sie, aus der Fassung gebracht. Schnell nahm sie ihren Hut ab und hielt ihn während der ganzen folgenden Szene in ihrem rechten Arm umgekehrt gegen ihre Brust wie ein Nest. Die Frau mit dem Kapotthut, die zwischen ihren Knien einen Schirm und eine Ledertasche hielt, begann Erklärungen abzugeben, wobei sie leicht den Kopf hin und her bewegte und wie eine Dame auf Besuch mit der Zunge schnalzte. Sie hatte ihre Sicherheit wiedergefunden und setzte sogar, sobald sie von ihrem Sohn sprach, eine überlegene und geheimnisvolle Miene auf, die uns gespannt machte.

Beide waren mit dem Wagen von La Ferté-d’Angillon, das vierzehn Kilometer von Sainte-Agathe entfernt lag, gekommen. Sie war Witwe und sehr reich, wie sie uns zu verstehen gab; der jüngere ihrer beiden Söhne, Antoine, war eines Abends nach der Rückkehr aus der Schule gestorben, weil er mit seinem Bruder in einem verseuchten Teich gebadet hatte. Sie hatte beschlossen, den älteren, Augustin, zu uns für den Oberkursus in Pension zu geben. Sie sang auch gleich ein Loblied auf diesen Pensionsschüler, den sie uns brachte. Ich erkannte die grauhaarige Frau nicht wieder, die ich eine Minute zuvor an der Tür gesehen hatte, gebeugt und mit der flehenden und angstvollen Miene einer Henne, die das wildeste Küken aus ihrer Brut verloren hat.

Sie erzählte mit Bewunderung die seltsamsten Dinge über ihren Sohn: Er machte ihr gern eine Freude, und oft ging er barfuß kilometerweit den Fluss entlang, um ihr Eier von Wasserhühnern oder Wildenten zu bringen, die er im Stechginster suchte. Er legte auch Reusen aus. Vor Kurzem hatte er nachts sogar im Wald einen Fasan entdeckt, der sich in der Schlinge gefangen hatte. Ich, der ich das Haus nicht zu betreten wagte, wenn ich ein kleines Loch im Kittel hatte, betrachtete Millie mit Erstaunen.

Aber meine Mutter hörte nicht mehr zu. Sie machte sogar der Dame ein Zeichen zu schweigen, legte vorsichtig ihr «Nest» auf den Tisch und erhob sich leise, als ob sie jemanden überraschen wollte …

Auch wir hörten jetzt über uns in einer Kammer, in der angekohlte Feuerwerkskörper vom letzten Vierzehnten Juli lagen, jemanden mit unbekanntem, festem Schritt auf und ab gehen; die Decke erzitterte, als er die großen, dunklen Bodenkammern des ersten Stockes durchquerte und sich schließlich in den leeren Nebenzimmern verlor, in denen Lindenblüten trockneten und Äpfel reiften. «Ich hatte schon vorhin dieses Geräusch in den unteren Zimmern gehört», sagte Millie halblaut, «und ich glaubte, du, François, seist zurückgekommen …»

Niemand antwortete. Wir standen alle drei mit klopfenden Herzen, als die Speichertür, die zur Küchentreppe führte, sich öffnete und jemand die Stufen herunterkam, die Küche durchquerte und im dunklen Eingang des Esszimmers erschien.

«Bist du es, Augustin?», sagte die Dame.

Es war ein großer Junge von etwa siebzehn Jahren. Ich sah von ihm zunächst in der tiefen Dämmerung nur seinen nach hinten geschobenen Bauernfilzhut und sein schwarzes Hemd, das von einem Gürtel gehalten wurde, wie ihn Schüler tragen. Ich konnte außerdem erkennen, dass er lächelte …

Er bemerkte mich, und ehe jemand eine Erklärung von ihm verlangen konnte, sagte er:

«Kommst du mit?»

Ich zögerte eine Sekunde, dann nahm ich, da Millie mich nicht zurückhielt, meine Mütze und folgte ihm. Wir gingen durch die Küchentür auf den überdachten Schulhof. Im Dämmerlicht betrachtete ich, während wir weitergingen, sein eckiges Gesicht mit der geraden Nase und der leicht flaumbedeckten Oberlippe.

«Sieh mal!», sagte er, «das habe ich auf deinem Boden gefunden. Hast du dich denn dort niemals umgesehen?»

In der Hand hielt er ein kleines Rad aus angeschwärztem Holz, um das eine ganze Reihe von ausgebrannten Feuerwerkskörpern hing; es war wohl Sonne oder Mond vom Feuerwerk des Vierzehnten Juli.

«Hier sind zwei dabei, die nicht losgegangen sind; die könnten wir jetzt anzünden», sagte er ruhig und mit einer Miene, als hoffe er, später noch bessere Dinge zu finden.

Er warf seinen Hut zu Boden, und ich sah, dass seine Haare ganz kurz geschnitten waren wie bei einem Bauern. Er zeigte mir die beiden Raketen mit ihren Zündschnüren, die die Flamme angefressen und geschwärzt hatte, bevor sie erlosch. Nun steckte er die Nabe des Rades in den Sand und zog aus seiner Tasche eine Schachtel Streichhölzer – zu meinem großen Erstaunen, denn uns war ausdrücklich untersagt, Streichhölzer zu besitzen. Vorsichtig beugte er sich nieder und steckte die Zündschnur an. Dann nahm er mich bei der Hand und zog mich schnell zurück.

Einen Augenblick später sah meine Mutter, die mit Meaulnes’ Mutter aus der Tür trat, nachdem sie über den Pensionspreis verhandelt und ihn festgesetzt hatten, aus der Pausenhalle mit einem Geräusch wie dem Pfeifen eines Blasebalgs zwei rote und weiße Sternbündel aufschießen, und sie konnte während des Zeitraumes einer Sekunde in diesem magischen Licht mich sehen, wie ich den großen neu angekommenen Jungen an der Hand hielt und mich nicht rührte …

Auch dieses Mal wagte sie nichts zu sagen.

Und am Abend beim Essen gab es am Familientisch einen stillen Gast, der mit gesenktem Kopf aß, ohne sich um unsere auf ihn gerichteten Blicke zu kümmern.

ZWEITES KAPITEL

Nach vier Uhr

Bis dahin hatte ich fast nie mit den Gassenjungen des Dorfes auf der Straße herumgetobt. Ein Hüftleiden, an dem ich bis zu jenem Jahr 189… litt, hatte mich furchtsam und unglücklich gemacht. Ich sehe mich noch, wie ich in den Gassen um das Haus meinen flinken Schulkameraden auf einem Bein kläglich hinterherhinkte. Deshalb ließ man mich auch selten hinaus. Und ich erinnere mich, dass Millie, die sehr stolz auf ihren Sohn war, mich mehrmals mit vielen Ohrfeigen ins Haus trieb, wenn sie mich so auf einem Bein hinkend bei den Gassenjungen getroffen hatte.

Die Ankunft von Augustin Meaulnes, die mit meiner Heilung zusammenfiel, war der Beginn eines neuen Lebens.

Bevor er kam, begann für mich um vier Uhr, wenn der Unterricht zu Ende war, ein langer, einsamer Abend. Mein Vater brachte die Glut aus dem Ofen des Schulzimmers in den Kamin unseres Esszimmers hinüber; und allmählich verließen die letzten, verspäteten Knaben die kalt gewordene Schule, in der nur noch Rauchwolken wallten. Noch einige Spiele und Rennereien im Hof, dann kam die Nacht. Die beiden Schüler, die die Klasse gekehrt hatten, holten aus dem Schuppen ihre Kapuzen und Umhänge und eilten schnell mit ihrem Korb am Arm davon; das große Tor ließen sie offen …

Dann schloss ich mich bis zum letzten Schimmer des Tageslichts in der Gemeindeverwaltung ein, in der Aktenstube, wo überall tote Fliegen herumlagen und Aushänge im Luftzug raschelten, und las auf einem alten Schaukelstuhl dicht am Fenster, das nach dem Garten ging.

Doch sobald es dunkel wurde, die Hunde des benachbarten Bauernhofes zu heulen begannen und das Fensterchen unserer kleinen Küche erleuchtet war, kehrte ich heim. Meine Mutter hatte begonnen, das Abendessen zu kochen. Ich stieg drei Stufen der Bodentreppe empor, setzte mich stumm, lehnte den Kopf an die kalten Eisenstangen des Geländers und sah zu, wie sie das Feuer in der engen, von der flackernden Flamme einer Kerze erhellten Küche anzündete.

Aber nun war jemand gekommen, der mich all diesen Freuden eines stillen Kindes entriss. Jemand hatte das Licht, das für mich das milde Antlitz meiner über das Abendessen gebeugten Mutter beleuchtete, ausgeblasen. Jemand hatte die Lampe ausgelöscht, um die wir zur Nacht, wenn mein Vater die Holzläden an den Glastüren befestigt hatte, als glückliche Familie versammelt waren. Und das war Augustin Meaulnes, den die anderen Schüler bald den «großen Meaulnes» nannten.

Seit er bei uns Pensionsschüler geworden war, das heißt seit den ersten Dezembertagen, war die Schule nachmittags nach vier Uhr nicht mehr leer. Trotz der durch die offen stehende Tür hereindringenden Kälte und des Geschreis der kehrenden Schüler mit ihren Wassereimern blieben immer nach dem Unterricht etwa zwanzig große Schüler aus dem Umland wie aus dem Dorf in der Klasse zurück, die sich um Meaulnes drängten. Und lange Auseinandersetzungen, endlose Wortgefechte fanden statt, zu denen mich mit Unruhe gemischte Freude hinzog.

Meaulnes schwieg, aber nur ihm galt irgendeine lange Geschichte über Felddiebstahl, die einer der großen Schwätzer, der sich in die Mitte drängte und jeden seiner Kameraden, einen nach dem andern, zu Zeugen aufrief, zum Besten gab.

Meaulnes saß auf einem Pult, ließ die Beine baumeln und dachte nach. Im geeigneten Augenblick lachte er auch, aber leise, als wolle er sein Lachen für irgendeine bessere Geschichte aufsparen, die nur er allein kannte. Dann, wenn die Nacht herniedersank und durch die Fenster kein Licht mehr auf die ungeordnete Gruppe junger Leute fiel, erhob sich Meaulnes plötzlich, drängte sich durch den engen Kreis und rief:

«Los, gehen wir!»

Dann folgten ihm alle, und man hörte ihr Geschrei oben im Dorf bis in die dunkle Nacht hinein …

Jetzt war ich manchmal dabei. Mit Meaulnes ging ich am Ortsrand an die Stalltüren, wenn die Kühe gemolken wurden … Wir traten in die Werkstätten ein, und der Weber sagte aus der Dunkelheit heraus, zwischen zwei Stößen seines Webstuhles:

«Ah, da sind die Studenten!»

Zur Zeit des Abendessens befanden wir uns gewöhnlich ganz nah unserem Haus bei Desnoues, dem Stellmacher, der auch Hufschmied war. Seine Werkstatt war eine ehemalige Herberge mit großen, zweiflügeligen Toren, die stets offen standen. Von der Straße aus hörte man den Blasebalg der Schmiede pfeifen und bemerkte an diesem dunklen und lärmenden Ort beim Schein der glühenden Kohlen oft Landleute, die ihren Wagen angehalten hatten, um einen Augenblick zu plaudern, manchmal auch einen Schüler, der, an die Tür gelehnt, wie wir schweigend zusah.

Und dort begann etwa acht Tage vor Weihnachten alles.

DRITTES KAPITEL

«Oft war ich im Laden eines Korbmachers»

Bis zum Spätnachmittag hatte es in einem fort geregnet; der Tag war tödlich langweilig. Während der Pausen ging niemand hinaus, und man hörte meinen Vater, Monsieur Seurel, fast jede Minute in die Klasse rufen:

«Trampelt doch nicht so mit euren Holzpantinen, ihr Bengels!»

Nach der letzten Pause des Tages oder, wie wir es nannten, nach der letzten «Viertelstunde», blieb Monsieur Seurel, der seit einem Augenblick nachdenklich hin und her ging, stehen, schlug kräftig mit seinem Lineal auf den Tisch, um das Gemurmel in allen Ecken zu bannen, das gegen Ende der Unterrichtsstunde eintritt, wenn man sich langweilt, und fragte, als alles aufmerksam schwieg:

«Wer will morgen mit François zur Bahnstation fahren, um Monsieur und Madame Charpentier abzuholen?»

Dies waren meine Großeltern: Großvater Charpentier, der Mann in dem großen, grauen Wollburnus, der alte pensionierte Förster mit einer Mütze aus Hasenfell, die er sein Käppi nannte … Die kleinen Buben kannten ihn sehr wohl. Jeden Morgen zog er, um sich das Gesicht zu waschen, einen Eimer Wasser aus dem Brunnen, in dem er, wie es die alten Soldaten zu tun pflegten, herumplätscherte, während er sich leicht den Bart rieb. Ein Kreis von Kindern, die Hände auf dem Rücken, beobachtete ihn mit Respekt und Neugierde … Und sie kannten auch Großmutter Charpentier, die kleine Bäuerin mit ihrem gestrickten Umhang, weil Millie sie immer mindestens einmal in die Klasse der Kleinen mitnahm.

Alle Jahre holten wir sie einige Tage vor Weihnachten an der Bahnstation vom Zug um vier Uhr zwei ab. Um uns zu besuchen, hatten sie das ganze Département durchquert, beladen mit Säcken voller Kastanien und mit Lebensmitteln für Weihnachten, die in Handtücher eingewickelt waren. Sobald sie alle beide eingemummelt, lächelnd und ein wenig schüchtern die Schwelle des Hauses überschritten hatten, schlossen wir hinter ihnen alle Türen, und eine ganze Woche voller Freude begann.

Um den Wagen, der sie holen sollte, zu lenken, bedurfte es eines zuverlässigen Menschen, der uns nicht in einen Graben beförderte und der auch ziemlich gutmütig war, denn Großvater Charpentier fluchte leicht, und die Großmutter war ein bisschen geschwätzig. Auf Monsieur Seurels Frage rief ein Dutzend Stimmen zu gleicher Zeit:

«Der große Meaulnes! Der große Meaulnes!»

Aber Monsieur Seurel tat so, als ob er es nicht gehört hätte. Darauf schrien sie:

«Fromentin!» und «Jasmin Delouche!»

Der jüngste der Familie Roy, der im Galopp auf einer Sau über die Felder jagen konnte, schrie mit durchdringender Stimme: «Ich, ich!»

Dutremblay und Mouchebœuf begnügten sich damit, zaghaft die Hand zu heben.

Mir wäre Meaulnes am liebsten gewesen. Diese kleine Reise im Eselwagen wäre dadurch ein wichtigeres Ereignis geworden. Er selbst wünschte es sich auch, zeigte aber nach außen hin nur ein verachtungsvolles Schweigen. Alle größeren Schüler saßen wie er verkehrt auf dem Tisch, die Füße auf der Bank, so wie wir es in Augenblicken vollkommener Entspannung und Fröhlichkeit taten. Coffin hatte seinen Kittel um den Gürtel gewickelt und hielt die Eisensäule umarmt, die den Tragbalken des Zimmers stützte; zum Zeichen seiner freudigen Erregung wollte er daran hochklettern. Aber Monsieur Seurel dämpfte die Klasse, indem er entschied:

«Also Mouchebœuf wird fahren!»

Und jeder ging still wieder auf seinen Platz.

Um vier Uhr stand ich mit Meaulnes allein auf dem großen, eisig kalten Hof, wo der Regen stellenweise den Boden fortgeschwemmt hatte. Wir betrachteten beide schweigend das feucht glänzende Dorf, das nun ein böiger Wind trockenblies. Da kam der kleine Coffin in Kapuze, ein Stück Brot in der Hand, aus seinem Haus, strich die Mauern entlang und trat pfeifend vor die Türe des Stellmachers. Meaulnes öffnete das Tor, rief ihn an, und einen Augenblick darauf hatten wir alle drei es uns hinten in der rot erleuchteten und warmen Werkstatt, die nur ab und zu von eisigen Windstößen durchfegt wurde, gemütlich gemacht. Coffin und ich saßen nahe der Esse, die schlammbedeckten Füße in den weißen Hobelspänen; Meaulnes, die Hände in den Taschen, lehnte still an der Eingangstür. Von Zeit zu Zeit ging auf der Straße eine Frau aus dem Dorf vorbei, die, den Kopf vor dem Winde gesenkt, vom Metzger kam; dann blickten wir auf, um zu sehen, wer es war.

Niemand sagte etwas. Der Schmied und sein Geselle, der eine den Blasebalg ziehend, der andere das Eisen hämmernd, warfen große unregelmäßige Schatten auf die Mauer … Ich erinnere mich an diesen Abend als an einen der zentralen Abende meiner Jugendzeit. Eine Mischung von Vergnügen und Angst erfüllte mich: Ich fürchtete, dass mein Kamerad mir diese armselige Freude, im Wagen zur Bahnstation zu fahren, rauben würde; und trotzdem erwartete ich von ihm, ohne dass ich es mir einzugestehen wagte, irgendein außerordentliches Unternehmen, das alles umstürzen sollte.

Von Zeit zu Zeit wurde die friedliche und regelmäßige Arbeit in der Werkstatt für einen Augenblick unterbrochen. Der Schmied ließ mit kleinen hellen und heftigen Schlägen seinen Hammer auf den Amboss fallen. Er betrachtete das Stück Eisen, das er bearbeitet hatte, wobei er es seiner Lederschürze näherte, und sagte, den Kopf aufrichtend, zu uns, um ein wenig zu verschnaufen:

«Nun, wie geht’s denn, Jungs?»

Der Geselle behielt die Hand an der Kette des Blasebalgs, stützte seine linke Faust auf die Hüfte und lachte uns an.

Dann fuhren sie mit der schweren und lärmenden Arbeit fort.

Während einer dieser Pausen sahen wir durch die offen stehende Tür Millie, wie sie, in einen Schal gehüllt, bei dem heftigen Wind mit kleinen Paketen beladen vorüberging.

Der Schmied fragte:

«Wird Monsieur Charpentier bald kommen?»

«Morgen!», antwortete ich, «mit meiner Großmutter! Ich werde sie vom Vier-Uhr-zwei-Zug mit dem Wagen abholen.»

«Wohl in Fromentins Wagen?»

Ich antwortete schnell:

«Nein, in dem des alten Martin!»

«Oh, dann werdet ihr nicht so bald zurück sein!»

Und alle beide, er und sein Geselle, brachen in Gelächter aus.

Der Geselle bemerkte langsam, um auch etwas zu sagen:

«Mit Fromentins Stute hätte man sie gleich in Vierzon abholen können. Dort hat der Zug eine Stunde Aufenthalt, und es ist fünfzehn Kilometer von hier. Ihr wäret zurück gewesen, bevor Martins Esel überhaupt angespannt ist.»

«Ja», sagte der andere, «das ist eine Stute, die wenigstens laufen kann!»

«Und ich glaube, dass Fromentin sie gern leihen würde.»

Hier hörte die Unterhaltung auf. Von Neuem war die Werkstatt voller Funken und Lärm, und jeder hing nur noch den eigenen Gedanken nach.

Aber als es Zeit wurde heimzugehen und ich mich erhob, um dem großen Meaulnes ein Zeichen zu geben, beachtete er mich zunächst gar nicht. An die Tür gelehnt und mit gesenktem Kopf schien er vollständig durch unser letztes Gespräch in Anspruch genommen zu sein. Als ich ihn so sah, wie er in tiefes Nachdenken versunken war, wie er durch Meilen von Nebeln diese friedlichen Leute bei der Arbeit betrachtete, erinnerte ich mich plötzlich jenes Bildes aus Robinson Crusoe, wo man den jungen Engländer sieht, wie er vor seiner großen Reise «den Laden eines Korbmachers besucht».

Und seitdem habe ich noch oft daran zurückgedacht.

VIERTES KAPITEL

Die Flucht

Wie eine Barke auf dem Meer liegt am andern Tage um ein Uhr die Klasse des Oberkursus inmitten der gefrorenen Landschaft klar und hell da. Zwar riecht es weder nach Salzlake noch nach altem Öl wie auf einem Fischerboot, aber nach auf dem Ofen gebratenen Heringen und den versengten Wollkleidern der Schüler, die sich, von draußen kommend, zu dicht am Ofen gewärmt haben. Die Aufsatzhefte sind verteilt worden, denn das Ende des Jahres naht heran. Und während Monsieur Seurel die Rechenaufgaben an die Tafel schreibt, tritt nur teilweise Stille ein, untermischt mit Geflüster, halblauten Ausrufen, und von Sätzen unterbrochen, von denen man nur die ersten Worte sagt, um seinen Nachbarn zu erschrecken:

«Monsieur Seurel! Der Soundso hat mich …»

Während Monsieur Seurel seine Aufgaben anschreibt, denkt er an andere Dinge. Von Zeit zu Zeit dreht er sich um und betrachtet die Schüler mit einer zugleich strengen und abwesenden Miene; und sofort hört das verhaltene Stimmengewirr für eine Sekunde auf, um gleich wieder neu einzusetzen, zunächst ganz leise wie das Schnurren einer Katze.

Ich sitze inmitten dieser Unruhe schweigend am Ende eines der Tische der Jüngsten, nahe den großen Fenstern, und brauche mich nur ein wenig aufzurichten, um den Garten, weiter unten den Bach und dahinter die Felder zu sehen.

Von Zeit zu Zeit stelle ich mich auf die Zehenspitzen und schaue ängstlich zum Hof La Belle-Étoile hinüber. Gleich zu Beginn des Unterrichtes hatte ich bemerkt, dass Meaulnes nach der Mittagspause nicht zurückgekehrt war. Sein Tischnachbar hat es sicher auch bemerkt, aber er hat noch nichts gesagt, weil er mit seinem Aufsatz beschäftigt war. Aber sobald er den Kopf hebt, muss die Nachricht durch die ganze Klasse laufen, und irgendeiner wird sicher, wie es so üblich ist, nicht zögern, mit lauter Stimme die ersten Worte des Satzes zu rufen:

«Monsieur Seurel! Der Meaulnes …»

Ich weiß, dass Meaulnes weggegangen ist, oder besser gesagt, ich habe ihn im Verdacht, abgehauen zu sein. Gleich nach Beendigung des Mittagessens ist er wahrscheinlich über die kleine Mauer geklettert, hat bei La Vieille-Planche den Bach überquert und ist querfeldein bis nach La Belle-Étoile gelaufen. Dort wird er die Stute verlangt haben, um Monsieur und Madame Charpentier abzuholen. Er lässt sie sicher in diesem Augenblick anspannen.

La Belle-Étoile liegt dort drüben auf der andern Seite des Baches am Abhang des Hügels; es ist ein großes Gut, das im Sommer hinter den Ulmen und Eichen auf dem Hof und grünen Hecken versteckt an einem kleinen Wege liegt, der in der einen Richtung auf die Landstraße zum Bahnhof, in der andern zu einer kleineren Ortschaft führt. Umgeben von hohen Mauern mit Stützpfeilern, deren Fuß mit Mist bedeckt ist, verschwindet das große herrschaftliche Gebäude spätestens im Juni hinter Laub, und von der Schule aus hört man bei Anbruch der Nacht nur das Poltern der Karren und die Rufe der Kuhhirten. Aber heute sehe ich durch das Fenster unter den entblätterten Bäumen die hohe gräuliche Mauer des Hofes, das Eingangstor und dann durch freie Stellen in der Hecke ein Stück des vom Raureif weißen Weges, der mit dem Bach gleichlaufend nach der Landstraße zum Bahnhof führt. Noch bewegt sich nichts in der klaren Winterlandschaft, noch ist nichts verändert.

Jetzt hat Monsieur Seurel seine zweite Aufgabe fertig angeschrieben. Er gibt gewöhnlich deren drei. Wenn er vielleicht heute zufällig nur zwei gäbe … dann würde er sofort auf sein Katheder zurückkehren und Meaulnes’ Abwesenheit bemerken. Er würde zwei Jungen durch das Dorf schicken, um ihn zu suchen, und ihnen würde es sicher gelingen, ihn zu entdecken, bevor die Stute angespannt ist …

Monsieur Seurel lässt nach Abschrift der zweiten Aufgabe einen Augenblick seinen ermüdeten Arm sinken; dann fängt er zu meiner großen Erleichterung einen neuen Absatz an und beginnt wieder zu schreiben, wobei er bemerkt:

«Dies hier ist nur ein Kinderspiel!»

… Zwei kleine schwarze Striche, die die Mauer von La Belle-Étoile überragen und die zwei emporgerichteten Deichselstangen eines Wagens sein müssen, sind verschwunden. Ich bin jetzt sicher, dass man dort die Vorbereitungen zu Meaulnes’ Abfahrt trifft. Da ist auch die Stute, deren Kopf und Brust zwischen den beiden Pfeilern des Eingangs sichtbar werden und die dann stehen bleibt, während zweifellos hinten am Wagen ein zweiter Sitz für die Reisenden, die Meaulnes angeblich herbringen will, befestigt wird. Endlich kommt das ganze Gespann langsam aus dem Hof, verschwindet einen Augenblick hinter der Hecke und erscheint mit derselben Langsamkeit wieder auf dem Stückchen weißen Weges, das in einer Lücke der Hecke zu sehen ist. Und da erkenne ich in diesem schwarzen Umriss, der die Zügel führt, einen Ellenbogen nachlässig auf die Seite des Wagens gestützt, wie es die Bauern zu tun pflegen, meinen Kameraden Augustin Meaulnes.

Noch einen Augenblick, dann verschwindet alles hinter der Hecke. Zwei Männer, die am Tor von La Belle-Étoile stehen geblieben sind, um den Wagen abfahren zu sehen, unterhalten sich jetzt mit wachsender Lebhaftigkeit. Einer von ihnen entschließt sich endlich, beide Hände als Schalltrichter vor den Mund zu halten, um Meaulnes zu rufen, und läuft ihm dann einige Schritte auf dem Wege nach … Aber da ändert Meaulnes, der mit seinem Wagen langsam auf die Landstraße in Richtung zur Bahnstation gelangt ist und den man von dem kleinen Weg aus wohl nicht mehr sehen kann, plötzlich seine Haltung. Einen Fuß nach vorn gestellt, aufgerichtet wie ein römischer Wagenlenker und mit beiden Händen die Zügel schüttelnd, treibt er sein Pferd zu schnellstem Laufe an und verschwindet in einem Augenblick auf der anderen Seite des Abhanges. Der Mann, der gerufen hat, läuft ihm jetzt wieder auf dem Wege nach; der andere hat sich in Galopp gesetzt und scheint quer über die Felder zu uns herüber zu laufen.

Wenige Minuten später, gerade in dem Augenblick, als Monsieur Seurel sich von der Tafel abwendet und die Hände reibt, um die Kreide zu entfernen, in dem Augenblick, als drei Stimmen zugleich vom Ende der Klasse aus rufen:

«Monsieur Seurel! Der große Meaulnes ist fort!»,

tritt der Mann in blauem Kittel in die Tür, die er schnell und weit öffnet. Seinen Hut ziehend, fragt er auf der Schwelle:

«Entschuldigen Sie, Monsieur Seurel, haben Sie einen Schüler beauftragt, den Wagen zu erbitten, um nach Vierzon zu fahren und Ihre Eltern zu holen? Uns ist plötzlich der Verdacht gekommen …»

«Aber keineswegs!», antwortet Monsieur Seurel.

Und sofort entsteht in der Klasse ein schrecklicher Wirrwarr. Die drei Ersten, die nahe am Ausgang sitzen und gewöhnlich die Aufgabe haben, mit Steinwürfen Ziegen oder Schweine fortzujagen, die im Hof das Hellerkraut abfressen, sind zur Tür gestürzt. Nach dem harten Trampeln ihrer eisenbeschlagenen Holzschuhe auf den Fliesen hört man draußen noch auf dem Sand gedämpft ihre eiligen Schritte, die um die Kurve beim kleinen Gittertor zur Landstraße rutschen. Der ganze Rest der Klasse drängt sich an den Gartenfenstern. Einige sind auf die Tische geklettert, um besser zu sehen.

Aber es ist zu spät. Der große Meaulnes ist entwischt.

«Du wirst trotzdem mit Mouchebœuf zum Bahnhof fahren», sagt Monsieur Seurel zu mir. «Meaulnes kennt den Weg nach Vierzon nicht. Er wird sich an den Straßenkreuzungen verfahren und wird nicht zum Drei-Uhr-Zug eintreffen.»

Aus der Tür ihres Klassenzimmers steckt Millie den Kopf heraus, um zu fragen:

«Was ist denn los?»

Auf der Dorfstraße beginnen die Leute zusammenzulaufen. Der Bauer steht noch immer da und bewegt seinen Hut in der Hand wie ein Sturkopf, der Gerechtigkeit fordert.

FÜNFTES KAPITEL

Der Wagen kommt zurück

Als ich die Großeltern von der Station abgeholt hatte und sie nach dem Essen vor dem Kamin alles in den kleinsten Einzelheiten zu erzählen begannen, was sie seit den letzten Ferien erlebt hatten, wurde ich gewahr, dass ich ihnen gar nicht zuhörte.

Die kleine Gittertür des Hofes befand sich unweit der Tür zum Esszimmer; beim Öffnen knarrte sie. Gewöhnlich wartete ich, wenn wir abends, wie alle Menschen auf dem Lande, beisammen saßen, heimlich auf dieses Knarren. Es folgte dann immer ein Geräusch von klappernden Holzschuhen, die auf der Schwelle gereinigt wurden, manchmal ein Geflüster wie von Leuten, die vorher noch etwas verabreden, ehe sie eintreten. Und dann klopfte es. Es war ein Nachbar oder die Lehrerinnen – auf jeden Fall jemand, der kam, um uns den langen Abend zu verkürzen.

An jenem Abend nun hatte ich nichts von draußen zu erhoffen, weil alle, die ich liebte, in unserem Haus vereinigt waren; und trotzdem lauschte ich unaufhörlich auf alle Geräusche der Nacht und erwartete, dass sich unsere Tür öffne.

Der alte Großvater saß da mit dem struppigen Aussehen eines großen Hirten aus der Gascogne; seine Füße hatte er schwer vor sich hingestellt, den Stock zwischen den Beinen, und beugte sich zur Seite, um seine Pfeife am Schuh auszuklopfen. Mit seinen feucht glänzenden, gütigen Augen bestätigte er alles, was die Großmutter erzählte, von der Reise, von ihren Hühnern, von den Nachbarn und von den Bauern, die noch nicht die Pacht bezahlt hatten. Aber ich war nicht bei ihnen.

Ich stellte mir vor, wie der kleine Bauernkarren heranrollte und plötzlich vor der Tür hielte. Meaulnes würde vom Wagen springen und eintreten, als ob nichts geschehen sei! … Oder vielleicht würde er erst die Stute nach La Belle-Étoile zurückbringen, und ich müsste dann bald seinen Schritt auf der Landstraße und das Knarren des Gittertores hören …

Aber nichts geschah. Der Großvater starrte vor sich hin, und seine Augenlider blieben oft lange geschlossen, als ob der Schlaf herannahe. Die Großmutter wiederholte etwas verschüchtert ihren letzten Satz, den niemand beachtet hatte.

«Ihr seid wegen des Jungen besorgt?», fragte sie endlich.

Auf dem Bahnhof hatte ich sie nämlich vergebens ausgefragt; sie hatte aber bei der Ankunft in Vierzon niemanden gesehen, der dem großen Meaulnes glich. Mein Kamerad hatte sich wahrscheinlich unterwegs verspätet. Sein Versuch war misslungen. Auf der Rückfahrt hatte meine Enttäuschung in mir rumort, während die Großmutter sich mit Mouchebœuf unterhielt. Auf der vom Raureif weißen Landstraße flatterten kleine Vögel um die Hufe des dahintrottenden Esels. Von Zeit zu Zeit hörte man in der großen Ruhe des frostigen Nachmittags aus der Ferne den Ruf einer Hirtin oder eines Buben aus einem Tannendickicht, der seinem Kameraden im nächsten Dickicht etwas zurief. Und jedes Mal ließ mich dieser Schrei, der von den öden Hügeln widerhallte, erschauern, als ob es die Stimme Meaulnes’ gewesen wäre, der mich aufforderte, ihm in die Ferne zu folgen …

Während ich mir alles dies wieder ins Gedächtnis rief, wurde es Zeit, schlafen zu gehen. Schon war der Großvater in das rote Zimmer gegangen, unseren Salon, der ganz feucht und eisig blieb, weil er seit dem vorigen Winter verschlossen war. Man hatte, damit er es sich dort bequem machen konnte, die Spitzendecken von den Lehnstühlen genommen, die Teppiche aufgerollt und Zerbrechliches beiseitegeräumt. Seinen Stock hatte er an einen Stuhl gelehnt, seine großen Schuhe unter einen Lehnstuhl gestellt und gerade sein Licht ausgelöscht. Wir waren im Begriff, uns mit einem «Gute Nacht!» zu trennen, als uns ein Wagengeräusch verstummen ließ.

Es hörte sich an, als ob zwei Fuhrwerke sich in langsamem Trab folgten. Dann verlangsamte sich der Schritt und kam schließlich unter dem Esszimmerfenster zum Stehen, das nach der Landstraße ging, aber zugenagelt war.

Mein Vater hatte die Lampe genommen und öffnete sofort die schon verschlossene Tür. Dann stieß er das Gittertor auf und hob am Rande der Stufen das Licht über den Kopf, um zu sehen, was da vor sich ging.

Da standen zwei Wagen; das Pferd des einen war hinter dem ersten Wagen angebunden. Ein Mann war herabgesprungen und zögerte …

«Ist hier die Gemeindeverwaltung?», fragte er im Näherkommen.

«Können Sie mir sagen, wo Monsieur Fromentin, der Pächter von La Belle-Étoile, wohnt? Ich habe seinen Wagen und seine Stute führerlos an einem Weg bei der Landstraße nach Saint-Loup-des-Bois gefunden. Mit meiner Laterne habe ich Namen und Ort auf dem Schild lesen können, und da es auf meinem Wege lag, so habe ich das Gespann hierher gebracht, um einen Unfall zu verhüten, aber ich habe mich dadurch arg verspätet.»

Wir standen ganz verdutzt da. Mein Vater ging näher und beleuchtete den Bauernkarren mit seiner Lampe.

«Keine Spur von einem Kutscher», sagte der Mann, «nicht einmal eine Decke. Das Tier ist müde und lahmt ein bisschen.»

Ich hatte mich vorgedrängt und betrachtete mit den andern dieses verloren gegangene Gespann, das wie ein von der Flut angespültes Überbleibsel zu uns zurückkehrte – das erste und vielleicht letzte Überbleibsel des Meaulnes’schen Abenteuers.

«Wenn es bis zu Fromentin zu weit ist», sagte der Mann, «so will ich den Wagen hier lassen. Ich habe schon viel Zeit verloren und man wird bei mir zu Hause beunruhigt sein.»

Mein Vater stimmte zu. So könnten wir noch an diesem Abend das Gespann nach La Belle-Étoile zurückbringen, ohne zu sagen, was geschehen war. Später würde man entscheiden, was man den Leuten erzählen und an Meaulnes’ Mutter schreiben sollte … Der Mann schlug das Glas Wein aus, das wir ihm anboten, und trieb sein Pferd an.

Mein Großvater erkundigte sich hinten aus seinem Zimmer, wo er die Kerze wieder angezündet hatte, während wir wortlos ins Haus traten und mein Vater den Wagen zum Gut brachte:

«Nun, ist der Junge wieder zurückgekehrt?»

Die Frauen verständigten sich eine Sekunde lang mit Blicken:

«Gewiss, er war bei seiner Mutter, schlaf nur gut und beunruhige dich nicht!»

«Nun, desto besser, das dachte ich mir schon», sagte er.

Und befriedigt löschte er sein Licht aus und drehte sich auf die andere Seite, um einzuschlafen.

Die gleiche Erklärung gaben wir den Leuten im Dorf. Mit einem Brief an die Mutter des Entflohenen beschlossen wir aber noch zu warten und behielten unsere Unruhe drei lange Tage für uns. Ich sehe noch meinen Vater, wie er gegen elf Uhr mit seinem nachtfeuchten Schnurrbart vom Gut zurückkam und sich mit Millie in sehr leisem, beunruhigtem und zornigem Ton besprach …

SECHSTES KAPITEL

Jemand klopft ans Fenster

Der vierte Tag war einer der kältesten in jenem Winter. Die ersten Ankömmlinge am frühen Morgen wärmten sich auf, indem sie um den Brunnen herumschlitterten. Sie warteten auf das Anzünden des Schulofens, auf den sie sich dann stürzten.

Wir standen zu mehreren hinter der Schultür, um zu beobachten, wie die Jungen vom Land ankamen. Sie waren noch ganz beeindruckt von der Landschaft mit Raureif, von gefrorenen Teichen und Hasen, die ins Unterholz flüchteten. Ihren Kitteln entströmte ein Geruch nach Heu und Stall, der die Luft in der Klasse erfüllte, als sie sich um den rotglühenden Ofen drängten. Und an jenem Morgen hatte einer von ihnen in einem Korb ein erfrorenes Eichhörnchen mitgebracht, das er unterwegs gefunden hatte. Ich erinnere mich, wie er versuchte, das lang gezogene, steife Tier mit den Krallen an einem Pfosten der Pausenhalle aufzuhängen.

Dann begann eine der langweiligen Unterrichtsstunden des Winters …

Ein plötzlicher Schlag gegen das Fenster ließ uns den Kopf heben. An der Tür sahen wir den großen Meaulnes vor dem Eintreten den Raureif von seinem Kittel schütteln – mit erhobenem Haupt und wie geblendet.

Die beiden Schüler auf der am nächsten bei der Tür stehenden Bank stürzten hin, um zu öffnen: Am Eingang hörte man ein unverständliches Getuschel, und endlich entschloss sich der Flüchtling, ins Schulhaus einzutreten.

Der frische Luftzug, der vom verlassenen Hof hereinkam, die Strohhalme an den Kleidern des großen Meaulnes und besonders der Gesichtsausdruck dieses ermüdeten, hungrigen, aber entzückten Wanderers – all das erweckte in uns ein seltsames Gefühl der Freude und Neugier.

Monsieur Seurel war die zwei Stufen vom Katheder heruntergestiegen, von wo aus er uns gerade diktierte, und Meaulnes ging mit einer aggressiven Miene auf ihn zu. Ich erinnere mich, wie schön ich in diesem Augenblick den großen Mitschüler fand, trotz seines erschöpften Aussehens und seiner, wohl infolge im Freien verbrachter Nächte, geröteten Augen.

Er ging bis zum Katheder vor und sagte mit sicherem Ton wie zur Auskunft:

«Ich bin zurückgekehrt, Monsieur Seurel!»

«Das sehe ich wohl», antwortete Monsieur Seurel, indem er ihn musterte, «setzen Sie sich auf Ihren Platz!»