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Anna Eufemia Carolina von Adlersfeld stammte aus altem schlesischen Adel. Um 1900 zählte sie zu den beliebtesten deutschen Unterhaltungsschriftstellerinnen. Neben unzähligen Liebesromanen und den Kriminalromanen um den kauzigen Privatdetektiv Franz Xaver Windmüller veröffentlichte sie 1982 den "Katechismus des guten Tons", der immer wieder neu aufgelegt und später unter dem Titel "Der gute Ton und seine Sitte" veröffentlicht wurde. Gedacht war er für die bürgerlichen Aufsteiger als Leitfaden für Benimmregeln. Zwar finden sich unter den hundertfünfundsiebzig Paragraphen auch konkrete Anleitungen, zum Beispiel über die Haltung bei Tisch, welche Kleidung zum Diner angelegt werden soll, ob es zum guten Ton gehört, sich zu parfümieren, und auch wie man eine Audienz beim Papst bekommt. Doch in vielen Kapiteln von teilweise beachtlicher Länge stecken gesellschaftlich-philosophische Überlegungen eines respektvollen Umgangs miteinander, die das glatte Parkett der Umgangsformen verlassen. Für Frau von Adlersfeld gehört die Frage, inwiefern man seinen Mut vor der Welt beweisen sollte genau so zum Thema wie falsche Wohltätigkeit. Das ziemlich unterhaltsam geschriebene Brevier erlaubt uns einen intimen Blick in längst vergangene Zeiten, wobei der amüsierte Leser einiges finden wird, was nichts an Aktualität verloren hat.Plaudereien aus dem adeligen Nähkästchen – ein Brevier des guten Tones von 1900.Eufemia von Adlersfeld-Ballestrem (1854–1941) war eine deutsche Schriftstellerin, die um 1900 zu den beliebtesten deutschen Unterhaltungsschriftstellerinnen zählte. Sie war eine der wenigen deutschen Autorinnen des 19. Jahrhunderts, die ihre Werke nicht unter einem Pseudonym verfasste. Ihr erstes Werk "Die Nichten des Kardinals" veröffentlichte sie bereits mit 17 Jahren 1871 unter ihrem Geburtsnamen Eufemia Gräfin Ballestrem. Es folgten Gedichte, Novellen, Humoresken und über 40 Romane. Etwa ab 1910 legte sich die Autorin ganz auf das Schreiben von Romanen und Belletristik fest und veröffentlichte in der Regel einen Roman pro Jahr. Ihre wichtigsten Romane sind zweifelsohne die sogenannten "Windmüller"-Romane um den Gentleman-Detektiv Dr. Xaver Windmüller, die meist in aristokratischen Kreisen spielen. Mit den Romanen "Falkner vom Falkenhof", "Trix" und "Die weißen Rosen von Ravensberg" lieferte sie für die damalige Zeit außerordentliche Bestseller, von denen bis zu 120 Auflagen erschienen.-
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Seitenzahl: 216
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Eufemia von Adlersfeld-Ballestrem
Vierte, verbesserte Auflage
Saga
Der gute Ton und die feine Sitte
German
© 1916 Eufemia von Adlersfeld-Ballestrem
Alle Rechte der Ebookausgabe: © 2016 SAGA Egmont, an imprint of Lindhardt og Ringhof A/S Copenhagen
All rights reserved
ISBN: 9788711517598
1. Ebook-Auflage, 2016
Format: EPUB 3.0
Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für andere als persönliche Nutzung ist nur nach Absprache mit Lindhardt und Ringhof und Autors nicht gestattet.
SAGA Egmont www.saga-books.com – a part of Egmont, www.egmont.com
Motto:
»Bleibt natürlich!«
Die Legende erzählt, dass der Apostel Johannes, als sein hohes Alter ihm das Lehr- und Predigtamt unmöglich machte, sich dennoch hinaustragen liess unter seine andächtige Gemeinde und inmitten derselben durch unablässige Wiederholung der Worte: »Kindlein, liebt einander« die Grundlehre des Christentums zusammenfasste.
Die Legende fiel mir ein, als ich obiges Motto niederschrieb, denn auch die ganze Lehre vom »Guten Ton und der feinen Sitte« liegt in den wenigen Worten: »Bleibt natürlich!« Nun gibt es ja freilich auch eine Natürlichkeit, die der guten Sitte sehr entbehrt; dass es aber in diesem Sinne nicht gemeint ist, brauche ich wohl nicht besonders zu versichern, wohl aber, dass die feinste Sitte und der beste Ton unerträglich werden, wenn sie angelernt und gekünstelt, nicht aber natürlich sind.
Hierin ist meines Erachtens der wunde Punkt all der bisher erschienenen Werke über dieses Thema zu suchen. Die Literatur über den »guten Ton« ist, seit Knigges „Umgang mit Menschen“ erschien, mehr und mehr angewachsen, und viele dieser Werke sind in ihrer Art meisterhaft, sie gereichen jeder Bibliothek zur Zierde. Aber sie haben fast alle denselben Fehler, dass sie durch zu viel Beiwerk den Lernenden verwirren und dadurch unsicher machen, ihn der Natürlichkeit bei der Anwendung des Gelernten berauben. Denn wir dürfen nie vergessen, dass ein Lehrbuch über den »Guten Ton und die feine Sitte« nicht für die geschrieben ist, denen dieselben schon in der Kinderstube zur zweiten Natur anerzogen, sondern für die bestimmt ist, die sich durch Talent und Fleiss hinaufgerungen haben in die Kreise der Gebildeten und diesen nun auch in bezug auf die feine Sitte ebenbürtig werden wollen.
In diesem Sinne entstand auf Anregung der Verlagshandlung dieses Büchlein, das in der klaren und leichtfasslichen Form des Katechismus eine Anleitung geben will, sich die in den Kreisen der Gebildeten unerlässlichen Formen anzueignen. Möchten unsere Bemühungen, das Werkchen nützlich und praktisch zu gestalten, von Erfolg gekrönt sein, um diesen aber zu erreichen, muss der Lernende uns in die Hand arbeiten, indem er natürlich bleibt, d. h. nicht glaubt, das ihm Fehlende durch geziertes Wesen und geschnörkelte Worte ersetzen oder vertuschen zu können. Denn der gute Ton und die feine Sitte vertragen weit eher einen Verstoss aus Unwissenheit als ein Surrogat, dessen Firnis die Unnatur ist, die allzeit nicht nur abstossend, sondern geradezu lächerlich wirkt. Darum also, ihr, die ihr den guten Ton und die feine Sitte zu besitzen wünscht: bleibt natürlich! Ihr werdet euer Ziel viel eher erreichen, wenn ihr die persönliche Natürlichkeit gewissermassen als das Blatt betrachtet, auf welches ihr das Gesetz des guten Tons in euer Gedächtnis schreibt, denn noch niemals hat sich jemand dem Zauber entziehen können, den die Natürlichkeit verleiht. Ein Künstler, der nicht natürlich ist in der Ausübung seiner Kunst, wird niemals anders als äusserlich wirken können, wie viel mehr muss dann nicht der Künstler des guten Tones bemüht sein, die Natürlichkeit zu bewahren, die ihn erst über die Maschine erhebt und ihn den Kreisen, mit denen er gleichwertig verkehren will, menschlich nahe bringt.
Also, bleibt natürlich, dann kann auch ich froh auf den Erfolg dieses Büchleins vertrauen.
Eufemia von Adlersfeld,geb. Gräfin Ballestrem.
Man versteht darunter den Anstandsbegriff der zivilisierten Welt, der, wenn auch vielleicht bei den verschiedenen Nationen in manchen Dingen abweichend, sich in demselben Grundgedanken begegnet und damit ein unverkennbares Bindeglied zwischen den Gebildeten ist, gleichviel, welche Sprache dieselben reden.
Gewiss. Diese Kenntnis ist sogar ganz unerlässlich, wenn man in den Kreisen der Gebildeten nicht nur geduldet, sondern als einer der ihrigen aufgenommen sein will.
In gewissem Sinne, ja. Denn der innerlich rohe Mensch ohne Bildung wird seine Natur auch nach aussen hin durch ein rohes Benehmen verraten, während ein sonst Ungebildeter, aber vornehm und gütig Denkender wohl rauh und ungeschickt sich benehmen kann, kaum aber verletzend für das feinere Gefühl anderer.
Äusserlich und oberflächlich — vielleicht. Innerlich schon schwerer, da die äussere Form nur dann wirksam sein kann, wenn sie mit der inneren Veredlung Schritt hält.
Ein Widerspruch wohl kaum, aber ein Vergleich, der sich am klarsten durch das Gleichnis vom echten und vom unechten Schmucke verständlich macht: das unechte Geschmeide ist nur vergoldet und nutzt sich bei der ersten Gelegenheit ab; das echte Gold aber wird nur poliert, um seinen Wert auch äusserlich zu zeigen. Dieses Buch ist in dem redlichen Bestreben verfasst, durch seinen Inhalt nicht nur äusserlich zu vergolden, sondern das von seinen Schlacken befreite Gold zu polieren.
Jedenfalls im engeren Verkehr mit Menschen von Erziehung. Wo aber die Verbindungen dazu fehlen, sollte man sich durch die aufmerksame Lektüre der darauf bezüglichen Bücher das Fehlende zu erwerben suchen, ehe man sich in die Kreise des guten Tons und der feinen Sitte begibt.
Weil nicht alle geneigt sind, die in diesem Falle gebotene Nachsicht walten zu lassen, und sich der Neuling in diesen Kreisen unnötig bitteren Demütigungen aussetzen würde.
Durchaus nicht, denn zum guten Tone gehört auch das feine Verständnis für die Lage des Neulings und die Bereitwilligkeit, ihm, statt ihn zu demütigen, über die Schwierigkeiten hinwegzuhelfen. Die Entschuldigung der Nachsichtslosen, sie hätten zu verlangen, dass ein Mensch nicht ohne die Kenntnis der Form, die den Gebildeten kennzeichnet, in ihre Kreise käme, entbehrt indes, wenn auch der Nächstenliebe, so doch nicht ganz der Berechtigung. Die mangelhafte Form in manchen Dingen (bei Tisch z. B.) ist für die Zusehenden oft eine unerträgliche Qual, und darum kann nur der gute Rat, sich vor dem Eintritt in die feingebildeten Kreise deren Formen anzueignen, dringend wiederholt werden.
Gewiss nicht; wenigstens sollte die absichtliche Missachtung und Verletzung der äussern Form nicht ungestraft bleiben, denn diese ist der Kitt, der die gute Gesellschaft verbindet, ihre Leidenschaften im Zügel hält und ihr die Überlegenheit verleiht, die sie trotz aller Schmähungen der Umstürzler zweifellos geniesst. Wer sich also in geistigem Hochmut und der Überhebung seiner gänzlich missverstandenen Menschenwürde über die äussere Form hinwegsetzen will, zerschneidet das Tischtuch zwischen sich und den Kreisen, die vermöge ihrer inneren und äusseren Bildung dazu berufen sind, die Stützen des Thrones, des Staates und der Kirche, mit einem Worte, der Ruhe und Ordnung zu sein.
Dies ist leider sehr häufig der Fall bei solchen, die sich durch einen berühmten Namen oder durch sonst welchen Vorzug der Geburt oder der Stellung weit über den anderen stehend glauben. Die gute Gesellschaft ist aber an solchen, sie nur in Misskredit bei ihren Widersachern bringenden Mitgliedern selbst schuld, wenn sie sich deren Ungezogenheiten gefallen lässt.
Abhilfe gegen anmassendes und lümmelhaftes Betragen einzelner lässt sich sehr gut und sicher dadurch schaffen, dass man mit rücksichtsloser, aber stets in den Grenzen der Höflichkeit bleibender Schärfe gegen die Verletzung des guten Tones auftritt, und dadurch erziehend auf die Ungezogenen wirkt. Das Taktgefühl wird die richtige Form der Zurechtweisung in dem vorliegenden Falle mit Sicherheit finden und genau wissen, wann und wo sie in scherzhafte, scharfe, zuredende oder empörte Worte zu kleiden ist.
Es ist eine Hauptbedingung desselben; und nicht nur das, es ist fast eine Lebensbedingung, denn nichts wird mehr gefürchtet und gemieden, als ein taktloser Mensch, der mit unfehlbarer Sicherheit immer den wunden oder schmerzhaften Punkt berührt, wo er mit andern zusammentrifft.
Man versteht darunter das Geschick, Gespräche, Andeutungen und Fragen zu vermeiden, die dem andern aus irgendwelchem Grunde peinlich sind, sowie ihn nicht mit Personen zusammenzubringen, von denen man weiss, dass er ihnen nicht gern begegnet. Der taktvolle Mensch wird auch, wenn er, ohne es zu wollen, das Gefühl eines andern verletzt hat, durch eine kurze herzliche Entschuldigung, eine geschickte Wendung des Themas oder was sonst die Situation ergibt, sein Versehen gut zu machen suchen, unter allen Umständen aber vermeiden, durch ein Zuviel die Sache zu verschlimmern.
Es lässt sich durch einen festen und guten Willen fast jede Eigenschaft anerziehen, so dass sie zur Gewohnheit wird. Den angeborenen Takt wird in vollkommenem Sinne der anerzogene wohl kaum ersetzen können, weil er ein wesenloser Begriff und ein Gefühl ist, für das nicht alle Naturen gleichartig besaitet sind. Doch wird, wie gesagt, ein redlicher und fester Wille den psychischen Mangel erfolgreich bekämpfen können.
Nur insofern, als er von allen Anstand, Takt und gute Manieren ohne Ausnahme verlangt. Aber da sich bekanntlich nicht eines für alle schickt, wie z. B. einem jungen Mädchen in Gesellschaft andere Dinge obliegen als einer Greisin, und ein General sich anders benehmen muss als ein Leutnant, so hat der gute Ton für jedes Alter und für jede Lebensstellung seine besonderen Gesetze.
Da es meines Wissens für die verschiedenen Lebensalter und Stände keine gedruckten Verhaltungsmassregeln gibt, so wird man am besten tun, sich durch persönliche Beobachtung die Kenntnis dieser Gesetze anzueignen. Die vorliegenden Blätter enthalten die für jeden gebildeten Menschen notwendigen Anstandsregeln für alle die Lagen, in die der Verkehr mit der guten Gesellschaft ihn bringt; die kleinen Abweichungen für die verschiedenen Stände ergeben sich daraus von selbst und sind unschwer zu bemerken.
Da die Verfasserin sich bemüht hat, ihren Katechismus des guten Tons und der feinen Sitte von jedem verwirrenden Ballast freizuhalten und veraltete Anstandsbegriffe oder solche, die nur von lächerlicher Prüderie diktiert waren, gar nicht darin aufgenommen hat, so wird es sich empfehlen, das Gesagte als notwendig und dringend gefordert anzusehen.
Es würde zu weit führen, diese zu erklären. Man vertraue der Verfasserin, dass es sich auf nichts wesentliches bezieht, auf nichts, was den Anstand an sich beeinflussen könnte. Jede Zeit hat ihre Zeichen, auch im geselligen Verkehr; es ist unsere Aufgabe zu sagen, was die Gegenwart von dem Gebildeten fordert, nicht was man in vergangenen Zeitabschnitten von ihm gefordert hat.
Wer fein beobachtet, dem wird es nicht entgangen sein, dass der gesellige Verkehr sich nach und nach gegen früher viel zwangloser, d. h. viel natürlicher gestaltet hat, und das entschieden zu seinem Vorteil. Dies ist zweifellos der allgemeinen Zeiiströmung zuzuschreiben, die in Kunst, Wissenschaft und Leben nach der Natur strebt und in allem danach trachtet, Vorurteile zu besiegen. Man hört heute oft ältere Leute sagen: „Das hätte man zu meiner Zeit nicht sagen und tun dürfen.“ Aber als diese Leute jung waren, sagten ihre Eltern sicherlich dasselbe. Die Zeit ändert eben die Ansichten über vieles im Leben; noch im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts hätte kein regierender Fürst seinen Erben auf dieselbe Schulbank mit dem Sohne seines ersten besten Untertans gesetzt, und während heute der unbeschränkte Gebrauch eines Taschentuches jedem Gebildeten zur Pflicht gemacht wird und kein Mensch sich wundert, dieses notwendige Wäschestück in einer Hand zu sehen, so gab es eine Zeit, wo das blosse Wort »Taschentuch« schon für unanständig galt und der Gebrauch desselben nur nach dem Verlassen des Zimmers gestattet war. Selbst heute noch trifft man Leute, die förmlich unter dem Tisch verschwinden, wenn sie sich die Nase putzen wollen, damit nur um Gotteswillen kein Mensch das Taschentuch sieht. Man muss daher bemüht sein, nicht hinter der Zeit zurückzubleiben, und sorgsam darauf zu achten, was sie von uns fordert; nur wenn man mit der Zeit geht, schreitet sie nicht über uns weg, und das allein kann uns, wenn wir älter werden, vor Ärger und Enttäuschung bewahren und vor dem so oft gehörten: „Das verstehe ich nicht mehr, das war zu meiner Zeit anders.“ Der Allgemeinbegriff über den guten Ton ist wohl zu allen Zeiten derselbe geblieben, aber der gute Ton selbst ist gottlob natürlicher geworden. Wenn trotzdem ein vor einigen Jahren erschienenes Lehrbuch über den Anstand verbietet, von »Beinen« zu sprechen, weil das unanständig sei, und das schlichte »Ja« für rüde erklärt und durch das gezierte »Allerdings« ersetzt haben will, so können wir mit dem besten Gewissen nur den guten Rat geben, sich durch solch übertriebene und unnatürliche Anstandsregeln nicht irreführen zu lassen. Denn wenn es schon unanständig wäre, von Beinen zu sprechen, so wäre es dies von Beinkleidern erst recht, und ein Mensch, der gar vom Hosenbandorden spricht, wäre ein abschreckendes Beispiel für alle Jünger des guten Tons. Dennoch ist es noch niemand eingefallen, diese höchste englische Dekoration den »Unaussprechlichen Bandorden« zu nennen.
Gewiss gibt es unter den Geboten des guten Tons noch eine Menge üppig wuchernden Unkrautes, das der einzelne zwar nicht zu entfernen die Macht hat, wohl aber die Zeit. So lange diese zopfigen Regeln aber noch bestehen und man deren Beachtung von uns fordert, müssen wir uns ihnen fügen, besonders, wenn man ein Neuling im Salon ist. Eine freiere Anwendung aller Regeln des guten Tons darf sich nur der gestatten, der für ein Muster desselben gilt.
Weil nur genaue Kenner des guten Tones wissen können, wie weit sie im Überschreiten seiner Regeln gehen dürfen, ohne den notwendigen und wohltätigen Zwang derselben zu gefährden.
Weil es wunderbare Blüten treiben würde, wenn es einem jeden überlassen wäre, sich die Gesetze des Anstandes nach seinen eigenen Ansichten zu reformieren und zur Anwendung zu bringen. Die Gesellschaft würde bald einem Freistaate ohne Sitten und Gesetze gleichen, einer absoluten Anarchie im schlimmsten Sinne des Wortes. Für jeden geordneten Staat ist der Zwang der Gesetze eine dringende Notwendigkeit; ebenso sind für eine gebildete Gesellschaft im weitern Sinne Gesetze des guten Tons und der feinen Sitte unerlässlich. Selbst wilde Völker haben fast ausnahmslos gewisse Begriffe und Gesetze des Anstandes in ihrem Sinne; wir, die wir auf der Höhe der Kultur zu stehen uns rühmen, sollten daher gar nicht den Wunsch hegen, uns von einem Zwange zu befreien, der unsere Sitten nur verfeinern und uns auf eine höhere Stufe der Kultur heben kann.
Die äussere Erscheinung des gebildeten Menschen ist sein Empfehlungsbrief. Ein nachlässig gekleideter oder gar die Gesetze der Reinlichkeit verletzender Mensch wird immer einen so schlechten Eindruck machen, dass seine inneren Eigenschaften nur schwer über die äussere Erscheinung siegen werden, soweit nämlich, als die Aufnahme des Betreffenden in die Kreise der guten Gesellschaft in Betracht kommt.
Es mag vielleicht so scheinen, doch ist es für die Würde der Gesellschaft notwendig, dieselbe auch durch die äussere Erscheinung zu wahren. Auf welche Stufe würden wir wohl hinabsinken, wenn wir darüber hinwegsehen wollten! Der Anzug, den man trägt, kann, wenn teure Stoffe ausserhalb unserer Mittel liegen, aus dem einfachsten Material bestehen, doch muss er tadellos sitzen und noch tadelloser sauber sein; wem es nicht möglich ist, diese letztere geringe Anforderung des guten Tons an die äussere Erscheinung zu erfüllen, der bleibt anständigen Kreisen besser ganz fern.
Man vermeide vor allem das Auffallende und eine sogenannte schäbige Eleganz. Nichts macht einen jammervolleren Eindruck, als wenn jemand in seinem Anzuge mehr scheinen will als er ist, eine Bemühung, mit der immer nur das Gegenteil erreicht wird.
Alles, was in die Lebensstellung des einzelnen nicht passt, ist auffallend an sich. Wenn also jemand, dessen beschränkte Mittel bekannt sind, in Gesellschaft mit unechtem Schmuck behängt erscheint, so macht er sich dadurch auffallend. Auffallend kann man aber auch durch die Wahl der Farben, durch den Schnitt der Kleidung, durch Kopfbedeckungen, durch sein ganzes Betragen werden; all dies ist streng zu vermeiden, wenn man Anspruch darauf machen will, ein Mitglied der guten Gesellschaft zu sein. Wenn man in betreff des Benehmens nicht genug ermahnen kann, natürlich zu bleiben, so sollte die Kunst einfach zu bleiben in der äussern Erscheinung, stets als Schwestergebot neben jenes gestellt werden. Wir werden in diesem Abschnitt noch öfter Gelegenheit nehmen, darauf zurückzukommen.
Die Sauberkeit. Bitte, lieber Leser, rümpfe nicht die Nase, und sage nicht, das verstehe sich von selbst. Natürlich versteht sich das von selbst, aber es gibt sehr viele Leute, die den Begriff »Sauberkeit« völlig falsch verstehen und sich sehr viel auf ihre Reinlichkeit einbilden, wenn sie beim Aufstehen ihr Gesicht zur Not in die Waschschüssel tauchen. Wem ein tägliches Vollbad nicht zur Verfügung steht, der sollte es durch sonstigste peinlichste Waschungen zu ersetzen suchen und namentlich auf den Kopf, die Zähne und die Hände eine Sorgfalt verwenden, die niemals ein Zeitverlust sein kann, schon aus dem Grunde, weil eine Vernachlässigung in dieser Beziehung sich an der Gesundheit rächt. Nichts ist abstossender als solch ein menschlicher Schmutzfink; denn wenn man sich im Verkehr mit jemand immer von neuem über seine Unsauberkeit hinwegsetzen und einen gewissen Ekel überwinden muss, um den sonstigen Eigenschaften eines solchen Menschen gerecht werden zu können, so erschwert das doch den Verkehr bis zur unerträglichen Pein.
Man trage niemals andere, als tadellos saubere und des Flickens unbedürftige Wäsche. Ein zerknülltes Vorhemd, ein an den Rändern unsauberer Kragen und ebensolche Manschetten können anderen vollständig den Appetit verderben und machen den besten Anzug salopp, während reine, gutgeplättete Wäsche den einfachsten und billigsten Anzug nett und elegant erscheinen lässt. Die Klage, dass reine Wäsche ein teurer Artikel sei, beruht zum grössten Teil auf Vorurteil; man bemühe sich, für andere, nutzlose und oft läppische Dinge die Ausgaben zu vermeiden und das Ersparte lieber für einen öfteren Wäschewechsel zu verwenden, und man wird die Wohltat desselben bald zu sehr empfinden, um sich und seinen Nebenmenschen, denen man doch auch gewisse Rücksichten schuldet, einen Luxus versagen zu können, der streng genommen eine Notwendigkeit ist.
Ganz und gar nicht; das oben gesagte gilt für jedermann, ob man seine Wäsche sieht oder nicht. Denn man ist doch nicht nur für andere reinlich, sondern in erster Linie für sich selbst. Es gibt ja leider genug Leute, die alles und alles nur der Menschen wegen tun und lassen, diese aber treten damit ihren eignen freien Willen, mehr noch, ihre Menschenwürde in den Staub. Man hüte sich also, in der Rücksicht auf das Urteil anderer zuviel zu tun. Jeder aber, der sich einer vernünftigen Einsicht nicht mit Gewalt verschliesst, wird zugestehen müssen, dass man saubere Wäsche zunächst seiner selbst wegen trägt. Wem es nicht einleuchten will, dass man diese Verpflichtung auch dann hat, wenn die Wäsche bei der Kleidung unsichtbar ist, der sei an ein Sprichwort erinnert, das ihn vielleicht bekehrt. Es lautet: „Oben hui und unten pfui.“ Die Nutzanwendung mag sich ein jeder selbst daraus ziehen.
Dass sie gut genäht und schön geplättet ist. Eine schlechte Plätterei, bei der man die Abdrücke des Eisens sieht oder Streifen von Waschblau oder gar Krusten von Stärke, kann die beste Arbeit verderben. Es gibt Hausfrauen, die ihre Ehre darin suchen, dass alles im Hause gearbeitet wird; gewiss ein lobenswerter Ehrgeiz, so lange er mit dem Können Schritt hält. Ich kann es aber für keine Schande halten, Oberhemden, Kragen und Manschetten einer Kunstplätterin ausser dem Hause anzuvertrauen, wenn sich im Hause niemand auf regelrechtes Plätten versteht, und dessen Mitglieder gute, aber übelgeplättete Wäsche tragen müssen, nur weil andere Hausfrauen denken könnten, man verstünde seine Sache nicht. Man stellt jetzt aber an die elfenbeingleiche Glätte der Plättwäsche so hohe Ansprüche, dass zu ihrer Herstellung die technischen Fachkenntnisse gehören, die sich nur durch eine ausschliessliche Beschäftigung mit dem einen Gegenstande erwerben lassen, eine Leistung, die in einem kleinen Haushalt zu viel Zeit wegnimmt und daher unmöglich ist. Eine solche tadellose, »auf neu« geplättete Wäsche bezahlt sich aber auch, da sie viel länger sauber bleibt als mangelhaft gestärkte und geplättete Wäsche. Man vermeide übrigens bei den Vorhemden alle Künsteleien, als da sind: durchbrochene und feste Stickereien, kunstvolle Hohlnähte, Faltenmuster usw. Schöne, feine Steppnähte, feine, gerade Saumnähte wirken immer am vornehmsten, gestickte Einsätze oder gar bunte Hemden mit auffallenden Sport- und Tiermustern verraten immer einen schlechten Geschmack und würdigen den Menschen zum »Gigerl« herab, diesem unversiegbaren Quell des Spottes für alle Witzblätter und vernünftigen Leute.
Wir haben in dem Abschnitt »Allgemeines« schon gesagt, dass es eine Zeit gab, in der dieses notwendige Übel vom guten Ton geradezu verpönt war. Heutzutage würde man einen gebildeten Menschen, der sich keines Taschentuches bedient, für gesellschaftlich unmöglich erklären. Was das Taschentuch selbst anbelangt, so sei es von Mittelgrösse; ein Herr wähle es von feinem Leinen oder Batistleinen mit weiss gesticktem, einfachem Monogramm oder Initialen in der einen Ecke; den Damen allein bleibe es überlassen, feine Batisttücher mit Spitzen oder Stickereien verziert zur Gesellschaftstoilette zu tragen. Mit breiten, bunten Rändern, Hufeisen, Pferdeköpfen und anderen monströsen Dingen bedruckte Taschentücher sind unfein und geschmacklos. Auch die breiten schwarzen Trauerränder an den Taschentüchern können wir nur für eine Geschmacksverirrung halten, gegen die Protest erhoben werden muss. Oder ist es nicht abgeschmackt, seiner Trauer dadurch Ausdruck geben zu wollen, dass man sich die Nase mit einem schwarzberänderten Tuch wischt? Um der Welt zu sagen, dass man um ein liebes Wesen trauert, genügt ein würdevoller schwarzer Anzug, wie ihn die Landessitte vorschreibt. Durch solche Lächerlichkeiten, wie die obengenannte, macht man aber den Schmerz zu einem Popanz.
Der Anzug sowohl bei Damen als auch bei Herren soll in allen Teilen unauffällig, ordentlich, einfach und gut passend sein. Man muss jene für eine Modenärrin oder einen Modenarren erklären, die sich jede neue Tollheit einer erfindungsreichen Industrie auf den Leib hängen, weil sie glauben, man könne sonst nicht »schick« sein. Solche Leute sind im Gegenteil sehr wenig »schick«, und wüssten sie, wie der gute Geschmack über sie lächelt und witzelt, sie würfen den Affenplunder gewiss gleich ins Feuer. Ebensowenig aber, als man sich zum Sklaven der Mode machen soll, darf man sie verachten oder sich über sie hinwegsetzen. Man muss die herrschende Mode sogar mitmachen, will man nicht auffallen, aber man muss die Mode seiner eigenen Erscheinung dienstbar machen, indem man ihr nur das entnimmt, was uns kleidsam ist. Denn was schlanke Menschen kleidet, kann starken direkt zur Unzierde gereichen; zudem hat man bei der Wahl seiner Kleidung nicht nur seine Figur, sondern auch sein Gesicht zu berücksichtigen. Infolge der grossen Verschiedenartigkeit der Menschen wäre es natürlich ein Unding, direkte Verhaltungsmassregeln über Einzelheiten im Anzuge geben zu wollen; auch über die Wahl der Farben entscheidet die Kleidsamkeit und hauptsächlich die Gelegenheit, zu der ein Anzug angelegt wird.
Weil man sich viel eher vor dem Forum des guten Tons in der Wahl der Farbe seines Anzuges täuschen darf, als über den Ort und die Gelegenheit, zu denen man darin erscheint. Denn es wird jedem einleuchten, dass grelle Farben, die eine Gesellschaft oder den Ballsaal angenehm beleben, auf der Strasse oder in öffentlichen Lokalen durchaus unangebracht sind.
Man wähle ihn in dunklen oder unbestimmten Farben, von einfachem Schnitt und unter gänzlicher Vermeidung auffallender Schmucksachen. Zeigt schon das Überladen mit Gold und Juwelen im Zimmer und im Salon schlechten Geschmack, so wirkt es auf der Strasse geradezu ordinär. Kravattennadeln, Uhrketten und einfache Broschen sind der einzige, auf der Strasse erlaubte Schmuck. Man sorge dafür, dass er gediegen, aber nicht prahlerisch sei.
Damen machen alle Besuche in Strassentoilette resp. Promenadenanzug, der, wie schon oben gesagt, in einem einfach gearbeiteten, aber vortrefflich sitzenden Kostüm von neutralen Farben mit möglichst wenig Ausputz besteht; Hut und Umhang soll dem Alter der Trägerin durchaus entsprechen, die Handschuhe müssen tadellos sein. Bei Regenwetter legt man den Regenmantel, den Schirm und die nassen Gummischuhe vor dem Eintritt in das Zimmer ab. Herren erscheinen bei Besuchen in schwarzem Überrock, Zylinder, halbhellen Handschuhen und tadelloser Wäsche. Besuche, selbst bei Vorgesetzten oder sehr hochgestellten Personen, im Frack sind nicht mehr üblich und ein überwundener Standpunkt. Bei Kondolenzbesuchen haben sowohl Damen als auch Herren darauf zu achten, dass ihr Anzug schwarz sei, zum mindesten aber keine bunten Farben aufweise. Es bezeigt dies die von jedem Gebildeten der Trauer eines andern schuldige Achtung.