Der häusliche Herd (Pot-Bouille: Die Rougon-Macquart Band 10) - Emile Zola - E-Book
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Der häusliche Herd (Pot-Bouille: Die Rougon-Macquart Band 10) E-Book

Émile Zola

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Beschreibung

Dieses eBook: "Der häusliche Herd (Pot-Bouille: Die Rougon-Macquart Band 10)" ist mit einem detaillierten und dynamischen Inhaltsverzeichnis versehen und wurde sorgfältig korrekturgelesen. Der häusliche Herd, auch bekannt als Ein feines Haus, ist ein Roman von Émile Zola und zugleich der zehnte Teil des Rougon-Macquart-Zyklus. Der Roman bietet ein Bild der bürgerlichen Gesellschaft im zweiten Kaiserreich. Die Restaurationsbestrebungen unter Präsident Mac-Mahon mit dem Versuch, die "Moralordnung" im Land wiederherzustellen, inspirierte Zola zu der Geschichte. Die Handlung vollzieht sich größtenteils in einem Mietshaus in der Rue de Choiseul. Der Originaltitel bezeichnet einen Eintopf, in dem verschiedene Zutaten lange zusammen köcheln und spielt auf die verschiedenen Bewohner des Hauses, die als Vertreter der monarchistischen Moralordnung dienen, an. Der Schein des Anstands in dem feinen Haus ist nur ein äußerlicher. Verschiedene Bewohner haben Affären miteinander. Eine Ehe wurde aus finanziellen Gründen geschlossen, wobei der Bräutigam um die Mitgift betrogen wurde. Die Dienstboten sprechen schlecht über ihre Herrschaften. Als der Jurist Duverdy sich bei einem Selbstmordversuch schwer verletzt, gilt die erste Sorge seiner Frau nicht ihrem verletzen Mann, sondern der Vermeidung eines Skandals. Eine alleinstehende schwangere Näherin wird aus dem Haus gewiesen. Ein ominöser Mieter, der nur einmal in der Woche sein gemietetes Apartment aufsucht, um zu "arbeiten", wird toleriert, bis sich herausstellt, dass er sich dort nicht, wie allgemein angenommen, mit einer Geliebten trifft. Er ist vielmehr Schriftsteller, der für ein schmutziges Buch über das Bürgertum recherchiert (Zola selbst). Émile Édouard Charles Antoine Zola (1840-1902) war ein französischer Schriftsteller und Journalist. Zola gilt als einer der großen französischen Romanciers des 19. Jahrhunderts und als Leitfigur und Begründer der gesamteuropäischen literarischen Strömung des

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Emile Zola

Der häusliche Herd (Pot-Bouille: Die Rougon-Macquart Band 10)

Übersetzer: Armin Schwarz
e-artnow, 2014
ISBN 978-80-268-0893-0

Inhaltsverzeichnis

Erstes Kapitel
Zweites Kapitel
Drittes Kapitel
Viertes Kapitel
Fünftes Kapitel
Sechstes Kapitel
Siebentes Kapitel
Achtes Kapitel
Neuntes Kapitel
Zehntes Kapitel
Elftes Kapitel
Zwölftes Kapitel
Dreizehntes Kapitel
Vierzehntes Kapitel
Fünfzehntes Kapitel
Sechzehntes Kapitel
Siebzehntes Kapitel
Achtzehntes Kapitel

Erstes Kapitel

Inhaltsverzeichnis

In der Neuen Augustin-Straße waren die Wagen ins Stocken geraten, wodurch auch die mit drei Koffern bepackte Droschke aufgehalten ward, die Octave vom Lyoner Bahnhof brachte. Trotz des kühlen, unfreundlichen Novemberabends ließ der junge Mann ein Wagenfenster herab. Er war überrascht, wie dunkel es plötzlich ward in diesem Stadtviertel mit den engen, von Menschen wimmelnden Straßen. Das Fluchen der Kutscher, die auf ihre sich bäumenden Rosse einhieben, das drängende Gewühl auf den Fußsteigen, die lange Reihe der hart nebeneinander befindlichen Kaufläden mit den vielen Angestellten und Kunden: all das betäubte ihn schier. Er hatte sich Paris sauberer gedacht und war keineswegs auf einen so regen Handel gefaßt, der sozusagen zur Befriedigung der weitestgehenden Wünsche gerüstet schien.

Der Kutscher neigte sich zurück und fragte:

Es ist wohl in der Choiseulpassage?

Nein, in der Choiseulstraße! Ich glaube, ein neues Haus.

Die Droschke hatte nur um die Ecke zu biegen; es war das zweite Haus in der Gasse, ein großer, vierstöckiger Bau, dessen steinerne Vorderseite inmitten des verwitternden Mörtels der alten Nachbarhäuser eine kaum gerötete Blässe bewahrte. Octave, der den Wagen verlassen hatte, musterte unwillkürlich dieses Haus, von der Seidenwarenniederlage angefangen, die das Erdgeschoß und das Zwischengeschoß einnahm, bis zu den zurückweichenden Fenstern des vierten Stockwerkes, die sich auf eine schmale Terrasse öffneten. Der mit einem Gitter aus prächtig gearbeitetem Gußeisen versehene Balkon im ersten Stock ruhte auf zwei Figuren, die Frauenköpfe darstellten. Die Einrahmungen der Fenster zeigten eine verwickelte durchbrochene Terracotta-Arbeit; oberhalb des mit Zieraten noch mehr überladenen Einfahrtstores waren zwei Liebesgötter angebracht, die eine Rolle hielten, auf der die Hausnummer – bei Nacht durch eine von innen angebrachte Gasflamme beleuchtet – zu lesen war.

In diesem Augenblick trat ein starker, blonder Herr aus dem Hause, der plötzlich stehen blieb, als er Octave sah.

Wie, Sie sind's? rief er aus. Ich habe Sie erst für morgen erwartet.

Ja, ich habe Plassans einen Tag früher verlassen. Ist vielleicht das Zimmer nicht bereit?

Doch; ich habe es vor zwei Wochen gemietet und auch sogleich möbliert, wie Sie es verlangten. Ich will Sie einführen.

Trotz der Einsprache Octaves kehrte er ins Haus zurück. Der Kutscher hatte inzwischen die drei Koffer vom Wagen geholt. In der Hausmeistersloge stand ein Mann von würdevollem Aussehen mit einem langen, rasierten Diplomatengesicht und las den »Moniteur«. Er geruhte indessen, sich im Lesen zu unterbrechen, als er sah, daß unter dem Haustore Koffer abgeladen wurden. Er trat näher und richtete an seine Wohnpartei, den »Architekten vom dritten Stock« – wie er ihn nannte – die Frage:

Ist das die Person, Herr Campardon?

Ja, Herr Gourd, das ist Herr Octave Mouret, für den ich das Zimmer im vierten Stock gemietet habe. Er wird dort schlafen und bei uns speisen. Herr Mouret ist ein Freund der Familie meiner Frau. Er sei Ihnen bestens empfohlen.

Octave blickte sich in der Toreinfahrt um. Die Wände waren mit unechtem Marmor verkleidet, das Deckengewölbe mit Rosetten geziert. Der gepflasterte Hof machte den Eindruck der Sauberkeit und kühlen Vornehmheit; vor der Stalltüre war ein Kutscher damit beschäftigt, mit einem Fell ein Pferdegebiß zu putzen. Offenbar verirrte sich niemals ein Sonnenstrahl in diesen Raum.

Mittlerweile hatte Herr Gourd die Koffer gemustert. Er hatte mit dem Fuße daran gestoßen und ihr Gewicht schien ihm Achtung einzuflößen. Er sagte, er wolle einen Dienstmann holen, der die Koffer über die Dienstbotentreppe hinaufschaffe.

Dann rief er in die Loge hinein:

Ich gehe fort, Frau Gourd.

Diese Loge bestand zunächst aus einem kleinen Salon mit hellen Spiegelscheiben; den Boden bedeckte ein Plüschteppich mit roten Blumen; die Möbel waren von Mahagoniholz. Durch eine halboffene Tür bemerkte man einen Teil des Schlafzimmers, wo ein Bett mit roten Ripsvorhängen stand. Frau Gourd, sehr dick, mit einer bändergezierten Haube auf dem Kopfe, lag in einem Sessel ausgestreckt, die Hände müßig über den Bauch gekreuzt.

Kommen Sie mit hinauf! sagte der Architekt.

Er öffnete die aus Mahagoniholz gezimmerte Türe des Vorraumes, und da er merkte, daß die schwarze Samtmütze und die hellblauen Pantoffel des Herrn Gourd auf den jungen Mann einen lebhaften Eindruck gemacht hatten, fügte er hinzu:

Ja, es ist der ehemalige Kammerdiener des Herzogs von Vaugelade.

Ah, sagte Octave einfach.

Jawohl, und er hat die Witwe eines kleinen Aufsehers von Mort-la-Ville geheiratet. Sie besitzen dort auch ein Haus; doch warten sie, bis sie 3000 Franken Rente erworben haben, dann werden sie sich dorthin zurückziehen ... Sehr anständige Hausmeistersleute!

Stiegenhaus und Treppe waren von einem auffälligen Luxus. Am Treppenabsatze stand eine weibliche Figur, eine Art vergoldeter Neapolitanerin, die auf dem Kopfe einen Krug trug, aus dem drei mit mattgeschliffenen Gläsern versehene Gaslampenarme sich abhoben. Die rund aufsteigende Treppenwand war mit unechtem Marmor verkleidet und bis hinauf in regelmäßige Felder eingeteilt, weiß mit rosa Einfassung. Das aus Gußeisen hergestellte, mit Mahagoniholz belegte Treppengeländer glich altem Silber, geziert mit Knospen aus Goldblättern. Die Stufen waren mit einem durch Kupferringe festgehaltenen, roten Teppich belegt. Was Octave beim Eintritt in den Vorraum am meisten überraschte, war eine Treibhauswärme, ein lauer Hauch, der ihn anwehte.

Ist denn die Treppe geheizt?

Freilich, erwiderte Campardon. Heutzutage muß jeder Hausbesitzer, der auf seinen Namen etwas hält, sich zu solcher Ausgabe verstehen. Dieses Haus ist vornehm, sehr vornehm.

Er blickte rund umher, um gleichsam mit den Augen eines Baumeisters die Mauern zu prüfen.

Sie werden sehen, mein Lieber; durchaus vornehm ... Auch die Bewohner sind durchwegs vornehme Leute ...

Während sie langsam hinaufstiegen, zählte er ihm die Bewohner des Hauses auf. In jedem Stockwerke waren zwei Wohnungen; die eine ging auf die Straße, die andere auf den Hof; die lackierten Türen von Mahagoniholz lagen einander gegenüber. Zunächst gab er flüchtige Aufschlüsse über Herrn Louis Vabre. Es war der ältere Sohn des Hauseigentümers; er hatte im Frühjahr das Seidenwarengeschäft im Erdgeschoß eröffnet und nahm auch das ganze Zwischengeschoß ein. Im ersten Stockwerk bewohnte Herr Theophile Vabre, der andere Sohn des Hauseigentümers, mit seiner Gemahlin die Hofwohnung; die Vorderwohnung hatte der Hausbesitzer selbst inne, ein vormaliger Notar von Versailles, der übrigens bei seinem Schwiegersohn wohnte, Herrn Duverdy, Rat am Berufungshofe.

Jawohl, Berufungsgerichtsrat und noch nicht über 45 Jahre! sagte Campardon. Das ist hübsch, wie?

Er stieg zwei Stufen empor, dann wandte er sich plötzlich um und sagte:

Wasserleitung und Gasbeleuchtung ist in allen Stockwerken.

Auf jedem Treppenabsatz stand unter dem hohen Fenster, durch dessen matte Scheibe ein gedämpftes Licht eindrang, ein schmales Bänkchen von rotem Samt. Der Architekt erteilte die Aufklärung, daß betagte Leute, welche die Treppe emporsteigen, hier ausruhen könnten.

Als er über das zweite Stockwerk gehen wollte, ohne seine Bewohner zu nennen, fragte Octave, nach der Tür der großen Wohnung zeigend:

Und da?

Ach, da? Leute, die man nie sieht, die niemand kennt ... Die übrigen Mieter würden gern auf diese Nachbarschaft verzichten ... Mein Gott! Flecke sind überall zu finden ...

Dann fügte er in verächtlichem Tone hinzu:

Der Herr macht Bücher, glaube ich.

Im dritten Stockwerk lächelte er wieder zufrieden. Die Hofwohnung war in zwei Teile abgesondert. Da wohnte Madame Juzeur, eine recht unglückliche kleine Frau, und daneben ein sehr vornehmer Herr, dessen Name nicht bekannt ist. Er hat ein Zimmer inne, wohin er nur einmal in der Woche Geschäfte halber kommt. Während dieser Aufklärungen hatte Campardon die Tür der andern Wohnung geöffnet.

Hier sind wir bei mir, sagte er. Warten Sie, bis ich Ihren Schlüssel hole. Wir wollen zuerst in Ihr Zimmer hinaufgehen, nachher will ich Sie mit meiner Frau bekannt machen.

Während der zwei Minuten, die er allein blieb, stand Octave unter dem Eindrucke der tiefen Stille, die auf der Treppe herrschte. Er neigte sich über das Geländer, angeweht von der Wärme, die von unten aufstieg; dann blickte er empor und horchte, ob keinerlei Geräusch von oben zu vernehmen sei. Es herrschte die tiefe Stille eines bürgerlichen Salons, der sorgfältig verschlossen ist, und wohin von außen kein Hauch zu dringen vermag. Es war, als ob hinter den schön lackierten Mahagonitüren unermeßliche Tiefen von Ehrenhaftigkeit lägen.

Sie werden vortreffliche Nachbarn haben, sagte Campardon, der jetzt mit dem Schlüssel kam. In der Vorderwohnung logiert die Familie Josserand; der Vater ist Kassier in der Glasfabrik Sankt-Joseph und hat zwei heiratsfähige Töchter; neben Ihnen wohnt eine kleine Beamtenfamilie, die Pichons. Die Leute sind nicht reich, aber gut erzogen... Man muß doch alle Wohnungen vermieten, selbst in einem Hause wie diesem.

Vom dritten Stockwerk angefangen verschwand der rote Teppich; an seine Stelle trat eine einfache graue Leinwand. Octave fühlte sich dadurch ein klein wenig in seiner Eigenliebe verletzt. Die Treppe hatte ihn allmählich mit Achtung erfüllt; er hatte sich darüber gefreut, in einem so »vornehmen« Hause zu wohnen, wie der Architekt es genannt hatte. Hinter diesem einhergehend, bemerkte er auf dem Gange, der zu seinem Zimmer führte, durch eine halboffene Türe eine junge Frau, die vor einer Wiege stand. Bei dem Geräusch der Tritte blickte sie auf. Sie war blond und hatte helle, ausdruckslose Augen; er erhaschte nur diesen Blick, denn die junge Frau stieß plötzlich errötend die Türe zu mit der verschämten Miene einer überraschten Person.

Campardon wandte sich um und wiederholte:

Wasserleitung und Gasbeleuchtung ist in allen Stockwerken, mein Lieber.

Dann zeigte er auf eine Türe, die nach der Dienstbotentreppe führte. Oben befanden sich die Zimmer des Dienstgesindes. Jetzt blieb er am Ende des Flures stehen und sagte:

Endlich sind wir bei Ihnen.

Das viereckige, ziemlich große Zimmer hatte eine graue Papiertapete mit blauen Blumen und Möbel aus Mahagoni. Neben dem Schlafzimmer war eine Art Toilettenkabinett eingerichtet, so groß, daß man sich daselbst die Hände waschen konnte. Octave ging geradeaus zum Fenster, durch das ein trübes, grünliches Licht hereinfiel. Traurig und sauber gähnte der Hof unter ihm mit seinem regelmäßigen Pflaster und seinem Brunnen, dessen kupferner Hahn bis herauf glänzte. Noch immer kein lebendes Wesen, kein Geräusch; nichts als die gleichförmigen Fenster ohne einen Vogelbauer, ohne einen Blumentopf, den eintönigen Anblick ihrer weißen Vorhänge darbietend. Um die große kahle Mauer des Nachbarhauses zur Linken zu verdecken, welche das Viereck des Hofes abschloß, hatte man daselbst die Fensterreihen wiederholt durch gemalte falsche Fenster mit ewig geschlossenen Läden, hinter denen das verschlossene Leben der benachbarten Wohnungen sich fortzusetzen schien.

Ich werde ja prächtig wohnen! rief Octave entzückt aus. Nicht wahr? sagte Campardon. Mein Gott! Ich habe alles so veranstaltet, als ob es für mich selbst geschehe, überdies bin ich den Weisungen nachgekommen, die Sie mir in Ihren Briefen gegeben haben ... Also die Einrichtung gefällt Ihnen. Nun, Sie haben alles, was ein junger Mann braucht. Später werden Sie selbst das Nötige nachschaffen.

Octave drückte ihm unter Ausdrücken des Dankes und der Entschuldigungen für die verursachte Mühe sehr warm die Hände, worauf der Architekt mit ernster Miene sagte:

Hier, mein Lieber, müssen Sie sich geräuschlos bewegen, und vor allem keine Weiber ... Wenn Sie einmal ein Frauenzimmer mitbrächten, auf Ehre! das würde das ganze Haus in Aufruhr versetzen.

Seien Sie beruhigt, murmelte der junge Mann etwas zerstreut.

Wahrhaftig, ich selbst wäre dadurch bloßgestellt. Sie haben das Haus gesehen. Durchwegs Bürgersleute und von einer Anständigkeit, die, unter uns gesagt, oft zu weit getrieben wird. Man hört niemals ein Wort, niemals das geringste Geräusch – ganz wie Sie es gesehen und gehört haben. Ei ja! Herr Gourd liefe sogleich zu Herrn Vabre, und dann säßen wir beide in der Tinte! ... Ich bitte Sie daher noch einmal um meiner Ruhe willen: achten Sie das Haus!

Ergriffen von so großer Rechtschaffenheit, gelobte Octave hoch und teuer, das Haus zu achten. Campardon aber blickte vorsichtig umher und sagte dann mit gedämpfter Stimme:

Auswärts – hat sich niemand um Sie zu kümmern. Paris ist groß, man findet Platz genug ... Was mich betrifft – ich bin Künstler und nehme es nicht so genau!

Jetzt wurden die Koffer durch einen Dienstmann heraufgeschafft. Als alles an Ort und Stelle war, half der Architekt in väterlicher Weise dem jungen Mann bei seiner Toilette. Als diese beendet war, erhob er sich und sagte:

Jetzt wollen wir hinabgehen, um meine Frau zu sehen.

Im dritten Stockwerk fanden sie die Zofe, ein schmächtiges, kokettes Mädchen mit brünetter Hautfarbe. Die Zofe erklärte, Madame sei beschäftigt. Weil er ohnehin schon in Erklärungen begriffen war und seinen jungen Freund rasch mit allem vertraut machen wollte, zeigte der Architekt dem Gaste die Wohnung. Vor allem den großen, in Weiß und Gold gehaltenen Salon, mit schön gegliederten Friesen reich verziert, zwischen einem kleinen grünen Salon gelegen, aus dem er ein Arbeitszimmer gemacht hatte, und dem Schlafzimmer, wohin sie jetzt nicht eintreten konnten, das aber – wie Campardon seinem jungen Freunde sagte – ziemlich schmal und mit einer malvenfarbenen Tapete bekleidet war. Dann kamen sie in den Speisesaal, der ganz mit unechtem Holzgetäfel geziert war und eine sehr verwickelte Ausschmückung von Feldern und Rosetten zeigte.

Das ist ja herrlich! rief Octave entzückt aus.

An der Decke durchschnitten zwei lange Risse die Rosetten; in einer Ecke der Decke war die Malerei abgesprungen, so daß der Mörtel sichtbar war.

Ja, es wirkt, sagte der Architekt langsam, wobei er nach der Decke schaute. Sie begreifen: diese Häuser sind für die Wirkung gebaut ... aber es wäre nicht ratsam, die Mauern gar zu streng zu prüfen. Das Haus steht kaum zwölf Jahre und beginnt schon, die Haut abzuwerfen. Die Vorderseite wird aus schönen Steinen mit Bildhauerarbeiten hergestellt, das Stiegenhaus dreifach lackiert, die Wohnräume werden vergoldet und bemalt: Das zieht die Leute an und flößt ihnen Vertrauen ein. Unser Haus ist noch ziemlich fest und wird länger dauern als wir.

Sie kamen jetzt wieder durch das Vorzimmer, das durch ein Fenster mit matten Scheiben das Licht empfing. Links befand sich noch ein Hofzimmer, wo seine Tochter Angela schlief; das Zimmer war ganz weiß und glich in dem trüben Lichte dieses Novemberabends einer Gruft. Am Ende des Ganges lag die Küche, wohin der Baumeister seinen Gast durchaus führen wollte, damit er alles sehe.

Treten Sie nur ein! sagte er, die Türe aufstoßend.

Ein greulicher Lärm drang aus der Küche. Das Fenster stand trotz der Kälte weit offen. An dem Geländer des Fensters standen das brünette Stubenmädchen und eine dicke alte Köchin und neigten sich in den finstern Abgrund eines engen, innern Hofes hinaus, auf den Stockwerk für Stockwerk die Fenster sämtlicher Küchen des Hauses sich öffneten. Alle beide schrieen zu gleicher Zeit in den Abgrund hinab, aus dessen Tiefe übermütige Stimmen herauftönten, untermengt von Gelächter und Flüchen. Es war, als ob ein Ausguß seines Inhaltes entleert werde. Das Dienstgesinde des ganzen Hauses war versammelt, um sich gehen zu lassen. Octave gedachte augenblicklich der bürgerlichen Wohlanständigkeit, die auf der großen Treppe herrschte.

Jetzt wandten die beiden Frauenzimmer sich um, als ob eine Ahnung ihnen die Anwesenheit der beiden Herren verraten hätte. Sie waren überrascht, als sie ihren Gebieter in Gesellschaft eines fremden Herrn sahen. Die Fenster flogen zu, und es trat wieder tiefes Stillschweigen ein.

Was gibt's, Lisa? fragte Campardon.

Gnädiger Herr, sagte die Zofe in erregtem Tone, es ist wieder dieser Schmutzfink Adele. Sie hat die Eingeweide eines Kaninchens durch das Fenster hinuntergeworfen. Gnädiger Herr sollten mit Herrn Josserand darüber reden.

Campardon blieb ernst: er schien sich in die Sache nicht einmengen zu wollen. Er kehrte in sein Arbeitszimmer zurück und sagte zu Octave:

Sie haben jetzt alles gesehen. In allen Stockwerken sind die Wohnungen einander gleich. Ich bezahle 2500 Franken und wohne im dritten Stock! Die Miete wird von Tag zu Tag teurer. Herr Vabre zieht sicherlich 22 000 Franken Erträgnis aus diesem Hause. Es wird noch im Werte steigen; denn man spricht davon, daß vom Börsenplatz bis zur neuen Oper eine breite Straße angelegt werden soll ... Wenn man bedenkt, daß er den Grund vor zwölf Jahren um einen wahren Pappenstiel an sich gebracht hat! ...

Als sie eintraten, bemerkte Octave über einem Zeichentisch im vollen Lichte des Fensters ein Bild der heiligen Jungfrau mit dem flammenden Herzen. Der junge Mann vermochte eine Regung der Überraschung nicht zu unterdrücken. Er blickte Campardon an, den er in Plassans als einen lustigen Vogel gekannt hatte.

Ach ja! Ich habe Ihnen noch nicht mitgeteilt – sagte Campardon leicht errötend – daß ich zum bischöflichen Architekten in dem Sprengel von Evreux ernannt worden bin. Die Sache ist nicht sehr einträglich, sie bringt kaum mehr als 2000 Franken jährlich. Aber es ist nichts dabei zu tun, wie von Zeit zu Zeit eine kleine Reise dahin; ich habe übrigens dort einen Inspektor. Aber sehen Sie, es ist von großem Nutzen, wenn man auf seine Karte setzen kann: Regierungs-Architekt. Das verschafft mir sehr viel Beschäftigung von Seiten der höheren Klassen.

Dabei schaute er auf das Bild der heiligen Jungfrau mit dem flammenden Herzen und fügte hinzu: Ich kümmere mich übrigens nicht viel um ihren Hokuspokus ...

Octave lachte, und der Architekt empfand eine gewisse Reue über seine letzten Worte. Warum vertraute er sich diesem jungen Mann an? Er blickte ihn forschend an, suchte sich zu fassen und kam auf die Sache zurück.

Das heißt: ich kümmere mich und kümmere mich wieder nicht ... Mein Gott, ich kann schon, wenn ich will ... Sie werden sehen, mein Freund, wenn Sie etwas älter werden, werden Sie auch so tun wie alle Welt.

Er sprach von seinen 42 Jahren, von der Leere seiner früheren Existenz und tat überhaupt sehr trübselig, was mit seiner blühenden Gesundheit ganz und gar nicht übereinstimmte. An seinem Künstlerkopfe, den er sich allmählich zugestutzt hatte, mit den flatternden Haaren und dem Barte nach Heinrich IV. sah man deutlich den platten Schädel und die vierschrötige Kinnlade des Spießbürgers mit dem beschränkten Verstande und den gefräßigen Begierden. In seiner Jugend war er von einer tollen Ausgelassenheit gewesen.

Die Augen Octaves blieben an einem Exemplar der »Gazette de France« haften, das unter den Bauplänen auf dem Tische lag. Campardon, immer mehr geniert, läutete der Kammerzofe, um zu fragen, ob Madame schon fertig sei. Die Antwort lautete, Madame werde sogleich erscheinen, der Doktor sei schon weggegangen.

Ist Frau Campardon vielleicht leidend? fragte Octave.

Nein, sie befindet sich wie sonst, sagte der Architekt im Tone der Langweile.

Ah, was fehlt ihr denn?

Campardon geriet wieder in Verlegenheit und antwortete nicht direkt.

Sie wissen ja, den Frauen fehlt immer etwas ... So ist sie seit dreizehn Jahren, seitdem meine Tochter geboren wurde. Übrigens befindet sie sich vortrefflich. Sie werden sogar finden, daß sie fett wird.

Octave drang nicht weiter in ihn. Eben kam Lisa wieder ins Zimmer und brachte eine Karte. Der Architekt entschuldigte sich, eilte in den Salon und bat den jungen Mann, inzwischen mit seiner Frau zu plaudern. Octave erblickte durch die rasch geöffnete und wieder geschlossene Tür des Salons den dunklen Schatten eines Talars.

Im nämlichen Augenblicke trat Madame Campardon durch das Vorzimmer ein. Er erkannte sie nicht wieder. Als er sie – noch als blutjunger Mensch – in Plassans bei ihrem Vater, Herrn Domergue, gesehen hatte – der bei der Brücken- und Straßenbauverwaltung angestellt war – da war sie mager und häßlich, und obwohl schon 20 Jahre alt, so gebrechlich wie ein Backfisch, der noch unter den Nachwirkungen der Mannbarkeitskrise steht. Jetzt fand er sie fett wieder mit der hellen, ruhigen Farbe einer Nonne, mit einem zärtlichen Ausdruck in den Augen, Grübchen in den Wangen und der Miene einer lüsternen Katze. Sie war nicht hübsch geworden, aber sie war um die dreißig Jahre gereift, hatte eine gewisse sanfte Fülle, die wohltuende Frische einer Herbstfrucht gewonnen. Es fiel ihm bloß auf, daß sie einen etwas schweren, watschelnden Gang hatte; sie trug einen langen Schlafrock von resedafarbener Seide, der ihr einen gewissen Ausdruck lässigen Schmachtens verlieh.

Ei, Sie sind ja ein Mann geworden! rief sie fröhlich aus, indem sie dem jungen Mann beide Hände reichte. Seit unserer letzten Reise sind Sie ordentlich in die Höhe geschossen!

Dabei betrachtete sie den großen, braunen, hübschen Jüngling mit dem sorgfältig gepflegten Schnurr- und Kinnbart. Als er sein Alter nannte – 22 Jahre – stieß sie einen Ruf der Überraschung aus. Sie hätte ihm mindestens 25 Jahre zugeschrieben. Er, den die bloße Anwesenheit einer Frau – und wäre es die letzte der Mägde – in Entzücken versetzte, lachte kindlich hell auf und ließ die zärtlichen Blicke seiner mattgelben, samtweichen Augen auf ihr ruhen.

Ach ja, sagte er; ich bin gewachsen. Erinnern Sie sich noch, wie Ihre Base Gasparine mir Marmorkügelchen zum Spielen abkaufte?

Dann erzählte er ihr Neuigkeiten von ihren Eltern. Herr und Frau Domergue lebten sehr zufrieden in dem Häuschen, wohin sie sich zurückgezogen hatten; sie beklagten sich bloß über ihre Einsamkeit und grollten noch jetzt Herrn Campardon ein wenig, weil er ihnen einst während eines kurzen geschäftlichen Aufenthaltes in Plassans ihr Röschen genommen ... Dann suchte der junge Mann das Gespräch wieder auf die Base Gasparine zu lenken. Er war sehr neugierig über den Ausgang eines seinerzeit unaufgeklärt gebliebenen Abenteuers. Der Architekt hatte eine Leidenschaft für Gasparine, ein schönes, armes Mädchen gefaßt; dann heiratete er plötzlich die magere Rosa, die eine Mitgift von 30 000 Franken hatte; es gab eine tränenreiche Szene, ein Aufsehen erregendes Zerwürfnis und endlich die Flucht der verlassenen Gasparine nach Paris zu einer Tante, die sich als Näherin erhielt. – Frau Campardon, deren mattrosa Farbe völlig ruhig blieb, schien nicht zu verstehen. Er konnte von ihr nichts erfahren.

Und Ihre Eltern? fragte sie jetzt ihrerseits. Wie befinden sich Herr und Frau Mouret?

Vortrefflich, ich danke Ihnen! erwiderte er. Meine Mutter ist immer in ihrem Garten zu finden. Sie würden das Häuschen in der Bannstraße ganz so wiederfinden, wie Sie es zuletzt gesehen haben.

Frau Campardon, die – wie es schien – nicht lange stehen konnte, ohne zu ermüden, hatte auf einem hohen Zeichensessel Platz genommen und die Beine unter dem Schlafrock vor sich hingestreckt; er rückte einen niederen Sessel näher und befand sich so gleichsam zu ihren Füßen; er erhob den Kopf, wenn er zu ihr sprach, mit seiner gewöhnlichen Miene der Verehrung. Trotz seiner breiten Schultern hatte er das Benehmen einer Frau, einen gewissen weiblichen Sinn und wußte sich in kürzester Zeit in die Gunst der Frauen zu setzen. Nach Verlauf von zehn Minuten plauderten die beiden wie zwei alte Freundinnen.

Ich bin also Ihr Kostgänger! sagte er, indem er mit seiner schönen Hand, deren Fingernägel einen durchaus tadellosen Schnitt zeigten, sich den Bart strich. Wir werden uns gut vertragen, Sie sollen sehen ... Es war sehr liebenswürdig von Ihnen, sich des Rangen von Plassans zu erinnern und beim ersten Wort sich mit seinen Angelegenheiten zu beschäftigen.

Doch sie wehrte ab.

Nein, danken Sie mir nicht. Ich bin viel zu träge und rühre mich kaum mehr von der Stelle. Achilles hat alles geordnet. Es genügte übrigens die Mitteilung meiner Mutter, daß Sie bei einer Familie Unterkunft suchen; wir beschlossen sogleich, Ihnen unser Haus zu öffnen. Sie kommen nicht zu fremden Leuten, und wir gewinnen einen Gesellschafter.

Da sprach er von seinen Angelegenheiten. Nach beendeten Studien hatte er, einem Wunsche seiner Eltern gehorchend, drei Jahre zu Marseille in einem großen Handlungshause zugebracht, das in der Nähe von Plassans bedruckten Kattun fabrikmäßig herstellte. Er war leidenschaftlich für den Handel eingenommen, besonders für den Handel mit Luxusartikeln für die Damenwelt, wo man durch einschmeichelnde Worte und Blicke fast unmerklich Eroberungen macht. Er erzählte ferner unter strahlendem Lachen, wie er fünftausend Franken verdient habe, ohne die er – der unter dem Scheine eines liebenswürdigen Brausekopfes von einer wahrhaft jüdischen Vorsicht war – es niemals gewagt haben würde, nach Paris zu kommen.

Denken Sie sich, die Leute hatten eine Sorte Kattun am Lager, in Pompadour-Manier gehalten, ein veraltetes Muster, wunderschön – aber es wollte niemand anbeißen. Die Ware lag seit Jahren im Keller. Als ich mich einmal anschickte, eine Geschäftsreise in die Var-Gegend und in die niederen Alpen zu machen, hatte ich den Einfall, den ganzen »Krempel« auf eigene Rechnung zu kaufen. Ich hatte einen närrischen Erfolg! Die Frauen rissen sich um den Stoff ... Es gibt jetzt dort unten keine Frau, die nicht meinen Kattun am Leibe hätte ... Ich habe sie allerdings sehr fein »eingefädelt«! Sie waren sämtlich in meiner Tasche, ich hätte mit ihnen machen können, was ich wollte! ...

Er lachte, während Frau Campardon, entzückt und verwirrt durch den Gedanken an diesen Pompadour-Kattun, ihn darüber näher ausfragte. »Kleine Sträußchen auf ungebleichter Leinwand, nicht wahr?« Sie hatte diesen Stoff überall gesucht, um sich einen Sommerschlafrock daraus machen zu lassen.

Ich bin zwei Jahre gereist, das ist genug. Überdies muß ich mir auch Paris erobern ... Ich will mir sofort irgendein Geschäft suchen.

Wie? rief sie; hat Ihnen Achilles nicht erzählt? Er hat ja eine Stelle für Sie! Kaum zwei Schritte von hier!

Er dankte und tat sehr überrascht. Ihm sei, als lebe er im Schlaraffenland – sagte er – und er werde vielleicht gar am Abend eine Frau mit hunderttausend Franken Rente in seinem Zimmer antreffen.

In diesem Augenblick trat ein langes, häßliches Mädchen von 14 Jahren ein mit Haaren von einem faden Blond; sie stieß einen leisen Schrei der Überraschung aus, als sie den fremden, jungen Mann sah.

Tritt nur ein, fürchte dich nicht, sagte Frau Campardon. Es ist Herr Octave Mouret, von dem du uns sprechen hörtest.

Dann sagte sie zu dem jungen Manne:

Meine Tochter Angela ... Wir haben sie auf unserer letzten Reise nicht mitgenommen, sie war zu schwach! Doch jetzt füllt sie sich ein wenig.

Angela hatte sich mit der linkisch verlegenen Manier der Mädchen dieses »undankbaren Alters« hinter den Sessel ihrer Mutter geflüchtet, von wo sie kein Auge von dem heiteren, jungen Manne ließ. Bald kam auch Herr Campardon, sichtlich in guter Stimmung. Er konnte nicht an sich halten und erzählte seiner Frau in kurzen Sätzen das angenehme Vorkommnis. Der Vikar zu Sankt-Rochus, Abbé Manduit, sei hier gewesen und habe einen Auftrag gebracht. Es handle sich vorläufig nur um Wiederherstellungsarbeiten, aber die Sache könne noch weit führen. Dann schien er etwas verdrossen darüber, daß er vor Octave geplaudert hatte; er schlug in die Hände und rief:

Was fangen wir jetzt an?

Sie wollten ja ausgehen, sagte Octave. Ich will Sie nicht hindern.

Achilles, fiel Frau Campardon ein, was ist's mit der Stelle bei Hédouin? ...

Richtig! rief der Architekt aus. Mein Lieber, ich habe für Sie die Stelle eines ersten Angestellten in einem Modewarenhause. Ich kenne dort jemanden, der für Sie gesprochen hat ... Man erwartet Sie. Es ist noch nicht vier Uhr. Soll ich Sie sogleich vorstellen?

Octave zögerte; in seiner Ängstlichkeit hinsichtlich der Toilette war er nicht ganz sicher, ob er sich in diesem Augenblicke zeigen könne. Er entschloß sich indes zu gehen, als Frau Campardon ihm versicherte, daß er durchaus »tadellos« sei. Sie bot ihrem Gatten nachlässig die Stirn, die dieser mit vieler Zärtlichkeit küßte.

Auf Wiedersehen, mein Kätzchen ... auf Wiedersehen, mein Mädel ...

Wir speisen um sieben Uhr, fügte sie hinzu, die Herren bis in den Salon begleitend, wo diese ihre Hüte nahmen.

Angela folgte mechanisch. Allein ihr Klavierlehrer erwartete sie, und bald darauf trommelte sie schon mit ihren dürren Fingern auf dem Instrument. Octave, der im Vorzimmer stehen blieb, um noch einmal zu danken, vermochte sich bei der Musik kaum verständlich zu machen. Auf der Treppe, die er jetzt hinabstieg, schien das Klavier ihn zu verfolgen; in der lauen Stille des Treppenhauses bei Frau Juzeur, bei der Familie Vabre, bei Duverdy antworteten andere Pianos; in jedem Stockwerke wurden andere Melodien gespielt, die fern und gedämpft hinter den geschlossenen Türen hervortönten.

Unten wandte sich Campardon in die Neue Augustinstraße. Er schwieg mit der sinnenden Miene eines Menschen, der einen Übergang sucht.

Erinnern Sie sich noch an Fräulein Gasparine? fragte er endlich. Sie ist erste Ladenmamsell im Hause Hédouin ... Sie werden sie sogleich sehen.

Octave hielt den Augenblick für geeignet, um seine Neugierde zu befriedigen.

Ah, sagte er; wohnt sie bei Ihnen?

Nein, nein! rief der Architekt lebhaft und fast beleidigt aus.

Als er merkte, daß der junge Mann von dieser Heftigkeit überrascht schien, fuhr er etwas verlegen in ruhigerem Tone fort:

Nein, sie und meine Frau sehen einander nicht mehr... Sie wissen, in den Familien kommt dergleichen vor... Ich bin ihr begegnet und konnte nicht umhin, die dargereichte Hand zu nehmen, – nicht wahr? um so weniger, als es ihr keineswegs brillant geht, dem armen Mädchen. So kommt es, daß die beiden Frauen jetzt nur durch mich Nachricht voneinander erhalten ... Bei so alten Zwistigkeiten muß man es der Zeit überlassen, die Wunden zu heilen.

Octave entschloß sich, ihn rundheraus über seine Heirat zu befragen, doch der Architekt schnitt das Gespräch kurz ab und sagte:

Da sind wir!

Man befand sich an der Ecke der Neuen Augustin- und Michodière-Straße vor einer Modewarenhandlung, deren Türe sich auf das schmale Dreieck des Gaillonplatzes öffnete. Eine im Zwischengeschoß angebrachte Firmatafel, die zwei Fenster verdeckte, trug in verblaßten Goldbuchstaben die Inschrift: » Zum Paradies der Damen, gegründet im Jahre 1822.« Auf den Spiegelscheiben der Auslagen war in roten Buchstaben folgende Firma zu lesen: Deleuze, Hédouin & Co.

Das Geschäft hat kein modernes Äußere, ist aber sehr ehrenhaft und solid, erläuterte Campardon in aller Eile. Herr Hédouin, vormals Angestellter, hat die Tochter des älteren Deleuze geheiratet, der vor zwei Jahren gestorben ist, so daß das Geschäft jetzt von den Jungen geleitet wird; der alte Deleuze und noch ein anderer Teilhaber halten sich völlig fern ... Sie werden Frau Hédouin sehen. Das ist eine ganze Frau ... Treten wir ein!

Herr Hédouin befand sich Leinwandkäufe halber in Lille. Die beiden Herren wurden von Frau Hédouin empfangen. Sie stand mitten im Laden mit einer Feder hinter dem Ohr und erteilte zwei Ladenburschen, die mit dem Ordnen von Stoffen in Fächern beschäftigt waren, ihre Befehle. Octave fand sie so groß, so wunderbar schön mit ihrem regelmäßigen Gesicht, ihrem gescheitelten Haar, so ernst lächelnd in ihrem schwarzen Kleide, auf das ein glatter Kragen mit einer kleinen Herrenkrawatte herabfiel, daß er – sonst keineswegs schüchtern – bei der Vorstellung verlegen stammelte.

Sie sind frei, sagte sie mit ihrer ruhigen Miene und der gewohnten Anmut einer Handelsfrau, – benutzen Sie also die Zeit bis zum Essen dazu, sich mit unserem Geschäfte ein wenig bekannt zu machen.

Sie rief einen Angestellten herbei, damit er Octave als Führer diene; nachdem sie auf eine Frage des Herrn Campardon höflich erwidert hatte, daß Fräulein Gasparine Geschäftswege zu machen habe, wandte sie sich um und fuhr fort, in ihrer kurzen, freundlichen Weise Befehle zu erteilen.

Nicht dorthin, Alexander ... Legen Sie die Seidenstoffe hinauf! ... Das ist nicht die gleiche Sorte ... Geben Sie acht! ...

Campardon verabschiedete sich von Octave mit dem Versprechen, ihn zum Essen abzuholen. Der junge Mann hatte zwei Stunden Zeit, das Warenlager zu besichtigen. Er fand die Räume schlecht beleuchtet, klein, überfüllt mit Waren, die den Verkehr hinderten. Er begegnete wiederholt Frau Hédouin, die geschäftig und geräuschlos durch die engen Gänge huschte, ohne mit ihrem Kleide irgendwo hängen zu bleiben. Sie war offenbar die Seele dieses großen Geschäftes, dessen Personal dem leisesten Winke ihrer feinen, weißen Hände gehorchte. Octave war verletzt darüber, daß sie ihn nicht weiter beachtete. Als er gegen sieben Uhr aus den unteren Räumen heraufkam, sagte man ihm, daß Herr Campardon im ersten Stock bei Fräulein Gasparine sei. Im ersten Stock war eine Wäscheniederlage eingerichtet, die unter der Leitung des Fräulein Gasparine stand. Auf der Höhe der Wendeltreppe blieb er, noch durch einen Stoß von gleichmäßig aufgestapelten Kalikostücken verborgen, plötzlich stehen, – er hörte, wie Campardon Fräulein Gasparine duzte.

Ich schwöre dir: nein! rief er, sich vergessend, fast laut.

Es entstand jetzt ein Stillschweigen.

Wie befindet sie sich? fragte Gasparine.

Mein Gott, immer gleichmäßig. Es kommt und vergeht wieder ... Sie fühlt wohl, daß alles vorüber ist. Das wird nie wieder gut werden.

Gasparine sagte im Tone des Mitleides:

Mein armer Freund, du bist zu beklagen. Da du übrigens in anderer Weise die Sache beizulegen wußtest... Sage ihr, wie sehr ich über ihren leidenden Zustand bekümmert bin ...

Campardon ließ sie nicht ausreden; er faßte sie bei der Schulter und küßte sie leidenschaftlich auf die Lippen. Sie erwiderte seinen Kuß und murmelte:

Morgen früh um sechs Uhr, wenn du kannst ... Ich werde zu Bett bleiben. Poche dreimal an.

Octave, zuerst höchlich befremdet, begriff jetzt. Er hustete und trat vor. Da bot sich ihm eine weitere Überraschung. Aus der Cousine Gasparine war eine dürre, magere, knochige Person mit vorspringenden Kinnladen und steifem Haar geworden; von ihrer früheren Schönheit hatte sie nichts behalten als ihre prächtigen Augen, die jetzt in einem erdfahl gewordenen Antlitze saßen. Mit ihrer Stirne, auf der die Eifersucht zu lesen war, mit dem leidenschaftlichen und gebieterischen Ausdruck ihres Mundes brachte sie den jungen Mann in Verwirrung, während Rosa mit ihrer etwas späten Entwicklung einer kühlen Blonden ihn entzückt hatte.

Gasparine benahm sich höflich, aber ohne besondere Wärme. Sie erwähnte Plassans und sprach mit dem jungen Mann über die Tage von ehemals. – Als die Herren sich entfernten, reichte sie beiden die Hand.

Unten sagte Frau Hédouin zu Octave in gleichgültigem Tone:

Also morgen, mein Herr; es ist nicht nötig, daß Sie heute wiederkommen.

Als sie die Straße betraten, wo das Gerassel der Wagen ihre Stimmen übertönte und sie im Gewühl der Menge hin und her gestoßen wurden, konnte Octave nicht umhin zu bemerken, daß Frau Hédouin eine sehr schöne Frau, aber wenig liebenswürdig sei. Die hell erleuchteten Auslagefenster der frisch dekorierten, in ein Meer von Gaslicht getauchten Kaufläden warfen Lichtscheine von viereckiger Form auf das schwarze, schmutzige Pflaster; dann gab es wieder finstere Stellen auf der Straße; diese rührten von alten Läden mit unbeleuchteten Auslagen her, wo nur im Innern des Geschäftsladens einige rauchende Lampen brannten, die sich von außen wie ferne Sterne ausnahmen. In der Neuen Augustinstraße, kurz bevor sie in die Choiseul-Straße einbogen, grüßte der Architekt vor einem Laden dieser Art.

Eine junge Frau, schmächtig und elegant, in ein Seidenmäntelchen gehüllt, stand auf der Schwelle und zog einen dreijährigen Knaben an sich aus Furcht, daß er unter die Räder geraten könne. Sie plauderte mit einer älteren Dame – ohne Zweifel der Inhaberin des Geschäftes – die sie duzte. In dem dunklen Rahmen der Ladentür konnte Octave bei dem tanzenden Widerschein der benachbarten Gasflammen die Züge der jungen Frau nicht unterscheiden; sie schien hübsch zu sein; er sah nur zwei leuchtende Augen, die im Dunkel einen Augenblick wie zwei Flammen auf ihn gerichtet waren. Hinter ihr lag der Geschäftsladen feucht und dunkel wie ein Keller; und aus dem Laden drang ein unbestimmter Geruch von Salpeter.

Das ist Frau Valerie, Gemahlin des Herrn Theophil Vabre, jüngern Sohnes des Hauseigentümers, – Sie erinnern sich ja: die Leute vom ersten Stock. Eine reizende Dame! sagte Campardon, als sie einige Schritte weitergegangen waren. Sie ist in diesem Laden aufgewachsen, einem der bestbesuchten Geschäfte des Stadtviertels, das ihre Eltern, Herr und Frau Louhette, noch immer führen, um eine Beschäftigung zu haben. Sie haben ein Vermögen dabei gewonnen, kann ich Ihnen sagen.

Doch Octave hatte kein Verständnis für diese Art des Handels in diesen Löchern des alten Paris, wo ein Restchen alten Stoffes als Firma genügte. Er erklärte, daß er um keinen Preis der Welt in einem solchen Kellergewölbe leben wolle. Da müsse man saubere Krankheiten davontragen ...

Unter solchen Gesprächen stiegen sie die Treppe empor. Sie wurden schon erwartet. Frau Campardon hatte ein graues Seidenkleid angelegt, sich kokett frisiert und überhaupt sehr sorgfältig herausgeputzt. Campardon küßte sie mit der Innigkeit eines zärtlichen Gatten auf den Hals.

Guten Abend, mein Kätzchen! ... Guten Abend, Mädelchen! ...

Man begab sich in das Speisezimmer.

Das Essen verlief sehr angenehm. Frau Campardon sprach zuerst von der Familie Deleuze und Hédouin, einer von dem ganzen Stadtviertel geachteten Familie, deren Mitglieder sehr bekannt waren; ein Vetter sei Papierhändler in der Gaillon-Straße, ein Oheim Regenschirmhändler in der Choiseul-Passage, Neffen und Nichten, die sämtlich in der Umgebung sich niedergelassen hätten. Alsdann nahm das Gespräch eine andere Wendung; man beschäftigte sich mit Angela, die steif auf ihrem Stuhle saß und mit eckigen Bewegungen aß. Ihre Mutter erzog sie zu Hause, es war sicherer; ohne mehr darüber sagen zu wollen, blinzelte sie mit den Augen, um zu verstehen zu geben, daß die Fräulein in den Erziehungsanstalten schlimme Sachen lernen. Das junge Mädchen hatte inzwischen heimlich den Teller auf dem Messer ins Gleichgewicht gestellt. Lisa, die bediente, hätte ihn beinahe zerbrochen, und rief:

Es ist Ihre Schuld, Fräulein!

Ein unbändiges Gelächter, mühsam zurückgehalten, zog über das Gesicht Angelas. Frau Campardon begnügte sich, den Kopf zu schütteln; als Lisa hinausgegangen war, um den Nachtisch zu bringen, spendete sie der Zofe großes Lob: sehr geschickt, sehr tätig, ein echtes Pariser Mädchen, das sich immer zurechtzufinden wisse. Die Köchin Viktoria hingegen könne man schon missen, da sie bei ihrem vorgerückten Alter nicht mehr ganz sauber sei; doch habe sie den Herrn zur Welt kommen sehen, sie sei ein Familienrest, den sie respektierten. Als die Kammerfrau wieder mit gebratenen Äpfeln hereinkam, flüsterte Frau Campardon dem jungen Mann ins Ohr:

Tadelloses Betragen! Ich habe noch nichts entdeckt ... Ein Ausgangstag im Monat, um ihre alte Tante, die sehr weit wohnt, zu besuchen.

Octave betrachtete Lisa. Als er sie sah, nervös, mit platter Brust, erloschenen Augen, kam ihm der Gedanke, daß sie bei ihrer alten Tante saubere Dinge treiben müsse. Übrigens billigte er die Ansichten der Mutter, die ihm ihre Gedanken mitteilte: ein junges Mädchen lege der Mutter eine so schwere Verantwortlichkeit auf, man müsse selbst den Hauch der Straße von ihr fernhalten. Während dieser Zeit zwickte Angela die Lisa jedesmal, wenn sie sich neben ihren Stuhl bückte, um einen Teller zu wechseln, mit solcher Vertraulichkeit in die Schenkel, ohne daß die eine oder die andere ihren Ernst verlor oder auch nur mit einer Wimper zuckte.

Man muß tugendhaft sein für sich selbst, sagte gedehnt der Architekt ohne scheinbaren Übergang. Ich kümmere mich nicht um die öffentliche Meinung, ich bin ein Künstler.

Nach Tisch blieb man bis Mitternacht im Salon. Es war eine ungewöhnliche Schwelgerei, um die Ankunft Octaves zu feiern. Frau Campardon schien sehr müde; nach und nach überließ sie sich, auf einem Sofa zurückgelehnt, ihrer Mattigkeit.

Leidest du, mein Kätzchen? fragte ihr Gatte.

Nein, sagte sie mit matter Stimme. Es ist immer das nämliche.

Sie sah ihn an, dann fragte sie halblaut:

Hast du sie bei den Hédouins gesehen?

Ja ... Sie hat nach dir gefragt.

Tränen stiegen in Rosas Augen.

Sie befindet sich wohl, nicht wahr?

Gemach, gemach! sagte der Architekt, indem er sie wiederholt auf die Haare küßte, vergessend, daß sie nicht allein seien. Du regst dich wieder auf ... Weißt du denn nicht, daß ich dich liebe, mein armes Mädel!

Octave, der bescheiden ans Fenster gegangen war, wie um auf die Gasse zu sehen, kam, weil seine Neugierde wieder erweckt war, zurück, um das Gesicht der Frau Campardon zu beobachten, und fragte sich, ob sie wisse.

Aber sie hatte ihr freundliches und leidendes Aussehen wieder angenommen.

Endlich wünschte Octave ihnen eine gute Nacht. Er befand sich noch mit seiner Nachtkerze in der Hand auf dem Gang, als er das Rauschen von Seidenkleidern hörte, welche die Treppen fegten. Aus Höflichkeit drückte er sich in einen Winkel. Es waren augenscheinlich die Damen vom vierten Stock: Frau Josserand und ihre beiden Töchter, die von einer Unterhaltung zurückkehrten. Als sie vorbeikamen, schaute die Mutter, eine beleibte, gewichtige Frau, ihn an, während das ältere Fräulein sich mit einer trockenen Miene abwandte, das jüngere hingegen ihn ungeniert im Lichte der Kerze anlachte. Sie war reizend, ein anziehendes Gesichtchen, klare Farbe, dunkle Haare, von einem blonden Widerschein vergoldet; sie hatte die kühne Anmut, den freien Gang einer jungen Frau, die von einem Ball zurückkehrt, in einer verwickelten Toilette mit Schleifen und Spitzen, wie junge Mädchen sie sonst nicht tragen. Die Schleppen verschwanden längs der Rampe, und eine Türe schloß sich. Der Ausdruck des Frohsinns in den Augen dieses Mädchens hatte Octave sehr heiter gestimmt.

Langsam ging auch er hinauf. Eine einzige Gasflamme brannte, die Treppe lag in der schwülen Hitze still da. Sie schien ihm jetzt keuscher mit ihren züchtigen Türen, diesen reichen Mahagonitüren, die sich vor ehrbaren Schlafzimmern schlossen. Kein Seufzer drang hindurch; es war das Schweigen wohlerzogener Leute, die ihren Atem anhalten. Doch ließ sich jetzt ein leises Geräusch vernehmen; er beugte sich hinab und bemerkte Herrn Gourd in Pantoffeln und Schlafmütze, wie er die letzte Gasflamme auslöschte. Dann versank alles; das Haus verfiel in die Feierlichkeit der Finsternis, gleichsam völlig aufgehend in der Vornehmheit und der Züchtigkeit seines Schlafes.

Octave konnte schwer einschlafen. Er warf sich fieberhaft umher, das Gehirn erfüllt mit den neuen Gestalten, die er gesehen hatte. Warum zeigten sich die Campardon so freundlich? Träumten sie vielleicht davon, ihm später ihre Tochter anzuhängen? Und diese arme Frau, – welche drollige Krankheit mochte sie haben? Vielleicht nahm ihn der Gatte ins Haus, um seine Frau zu beschäftigen und zu erheitern. Dann verwirrten sich seine Gedanken noch mehr, er sah Schatten vorüberziehen! Die kleine Frau Pichon, seine Nachbarin, mit ihren klaren, leeren Blicken; die schöne Frau Hédouin, ernst und tadellos in ihrem schwarzen Kleide; und die feurigen Augen der Frau Valérie; und das freudige Lachen des Fräulein Josserand. Wieviele waren in wenigen Stunden auf dem Pariser Pflaster aufgeschossen! Immer war sein Traum: daß Damen ihn bei der Hand nehmen würden, um ihn in seinen Unternehmungen vorwärts zu bringen. Aber diese kamen immer wieder und mischten sich mit einer ermüdenden Hartnäckigkeit ein. Er wußte nicht, welche er wählen solle; er bemühte sich, seine zärtliche Stimme, seine schmeichelnden Gebärden beizubehalten. Dann aber gab er ungeduldig und erbittert seiner Schroffheit, seiner rohen Verachtung gegen die Frauen nach, die sich unter dem Scheine verliebter Verehrung barg.

Werden sie mich endlich schlafen lassen, rief er laut, indem er sich wieder heftig auf den Rücken warf. Die erste, die will ... Mir ist es gleich ... Alle zusammen, wenn es ihnen gefällt! ... Laßt mich schlafen; morgen ist auch ein Tag ...

Zweites Kapitel

Inhaltsverzeichnis

Als Frau Josserand, ihre Töchter voran, die Abendgesellschaft bei Frau Dambreville verließ – die im vierten Stockwerk eines Hauses der Rivoli-Straße an der Ecke der Oratoriumsstraße wohnte – warf sie in einem plötzlichen Ausbruch ihres seit zwei Stunden zurückgehaltenen Zornes die Haustüre wütend zu. Berta, ihre jüngere Tochter, hatte wieder einmal eine Partie verfehlt.

Nun, was macht ihr da, rief sie zornig ihren Töchtern zu, die unter der Torwölbung stehen geblieben waren und den vorüberfahrenden Droschken nachblickten. So geht doch!... Glaubt ihr gar, daß ich eine Droschke nehmen werde... Um noch weitere zwei Franken auszugeben, was?

Das wird hübsch werden bei dem Schmutz, meinte Hortense, die ältere Tochter. Meine Schuhe werden es kaum überstehen.

Vorwärts! rief die Mutter wütend. Wenn ihr keine Schuhe mehr habt, bleibt ihr im Bett, – damit ist es gut. Was nützt es auch, daß man euch unter die Leute führt?!

Berta und Hortense ließen die Köpfe hängen und wandten sich der Oratoriumsstraße zu; sie hoben ihre langen Röcke so hoch über ihre Krinolinen, wie es möglich war und gingen mit eingezogenen Schultern, fröstelnd unter ihren dünnen Mantillen dahin. Hinter ihnen kam Frau Josserand, eingehüllt in einen alten Pelz von abgetragenem Grauwerk. Alle drei waren ohne Hüte, das Haar bedeckt mit einem Spitzenschleier, einer Haartracht, die bewirkt, daß die wenigen Fußgänger, die in so vorgerückter Abendstunde heimkehrten, sich überrascht umwandten, um diesen Damen nachzublicken, welche die Häuser entlang, eine hinter der andern, mit gekrümmtem Rücken sorgfältig dem Schmutz auszuweichen suchten und dahineilten. Die Erbitterung der Mutter stieg noch, wenn ihr einfiel, wie oft sie seit drei Jahren in ähnlicher Weise den Heimweg angetreten hatten mit zerknitterten Toiletten durch den Morast der Straßen, verhöhnt von verspäteten Lümmeln. Nein! Sie hatte jetzt entschieden genug davon, ihre Töchter in allen vier Enden von Paris herumzuschleppen, ohne sich eine Droschke gönnen zu dürfen, aus Furcht, sich am folgenden Tage eine Speise beim Essen absparen zu müssen.

Und das bringt Heiratspartien zusammen, sagte sie laut, von Frau Dambreville mit sich selber sprechend, gleichsam um sich zu trösten, während ihre Töchter, von ihr fast unbeachtet, in die Honoriusstraße einbogen. Saubere Partien übrigens! Eine Schar Zieraffen, die, Gott weiß woher, zu ihr kommen. Ach, wenn man nicht gezwungen wäre! ... Da ist zum Beispiel ihr neuester Erfolg, diese junge Frau, mit der sie prunkte, gleichsam um uns zu zeigen, daß es nicht immer fehlschlägt ein sauberes Exemplar, ein unglückliches Kind, das nach einem Fehltritt, den es begangen, wieder auf sechs Monate ins Kloster gesteckt werden mußte, um frisch gebleicht zu werden.

Als die Mädchen über den Königsplatz gingen, entlud sich ein Platzregen. Das gab ihnen den Rest. Bei jedem Schritte ausgleitend, völlig durchnäßt, blieben sie wieder stehen und blickten den Droschken nach, die leer vorbeifuhren.

Vorwärts! schrie die Mutter unbarmherzig. Wir sind ja jetzt ganz nahe zu Hause, es lohnt nicht mehr die Mühe, vierzig Sous zu bezahlen. Euer Bruder Leo ist auch ein sauberer Filz! Aus Furcht, den Wagen bezahlen zu müssen, hat er sich geweigert, mit uns zu kommen. Wenn er bei dieser Dame findet, was er sucht – umso besser! Aber sauber scheint mir die Sache nicht. Eine Frau über die Fünfzig, die nur junge Leute empfängt! Eine ehemalige Nichtsnutzige, die irgendeine hohe Persönlichkeit mit diesem Schwachkopf Dambreville verheiratet und ihn dafür zum Bürochef gemacht hat.

Hortense und Berta trabten im Regen hintereinander her und schienen nichts von all dem zu hören. Wenn ihre Mutter sich in solcher Weise das Herz erleichterte, alle Rücksichten außer acht lassend, der schönen Erziehung vergessend, die sie ihnen zu geben meinte, dann waren sie gewohnt, taub zu sein. In der finstern und öden Leitergasse verlor Berta endlich die Geduld.

Nein, das ist nett! Jetzt verliere ich einen Schuhabsatz! ... Ich kann nicht weiter!

Frau Josserand ward schrecklich.

Wollt ihr wohl gehen! ... Hört ihr mich klagen? ... Paßt es mir, zu solcher Stunde und bei solchem Wetter in den Straßen umherzupatschen? ... Ja, wenn ihr einen Vater hättet wie andere Väter! Aber nein, der Herr bleibt zu Hause, um der Ruhe zu pflegen. Immer habe ich das Vergnügen, euch in Gesellschaft zu führen; er will nichts davon wissen. Ich erkläre euch, daß ich es satt habe bis an den Hals. Euer Vater soll mit euch gehen, wenn er will. Ich habe keine Lust, Häuser zu besuchen, wo ich nur Gift und Galle bekomme! ... Soll ich auch das nicht von diesem Manne haben können, der mich über seine Fähigkeiten getäuscht hat? ... Nein, den würde ich auch nicht wieder zum Manne nehmen, wenn ich von vorne anfangen sollte.

Die jungen Mädchen widersprachen nicht mehr. Sie kannten zur Genüge dieses unversiegbare Kapitel über die zerstörten Hoffnungen ihrer Mutter. Die Spitzenschleier klebten durchnäßt an ihren Gesichtern, die Schuhe waren voll Wasser – so gingen sie schweigend die Annenstraße entlang. In der Choiseul-Straße sollte vor ihrem Hause Frau Josserand eine letzte Demütigung erfahren: da ward sie von dem Wagen der Familie Duverdy bespritzt, die eben von einer Abendgesellschaft heimkehrte.

Obgleich kreuzlahm und wütend, fanden die Damen Josserand, Mutter und Töchter, ihre Anmut wieder, als sie auf der Treppe Octave begegneten. Als aber einmal die Türe hinter ihnen geschlossen war, drängten sie sich in aller Hast, überall an die Möbel stoßend, durch die dunklen Zimmer und eilten in den Speisesaal, wo Herr Josserand bei dem matten Lichte einer kleinen Lampe schrieb.

Verfehlt! schrie Frau Josserand, auf einen Stuhl sinkend.

Mit einer hastigen Bewegung riß sie sich den Schleier vom Kopfe, warf den Pelz auf eine Stuhllehne hin und erschien nun in einem feuerroten, mit schwarzem Samt besetzten Kleide, sehr dick, sehr tief ausgeschnitten, mit Schultern, die noch immer schön waren und den glänzenden Schenkeln eines Reitpferdes glichen. Ihr viereckiges Gesicht mit den hängenden Wangen und der dicken Nase drückte die tragische Wut einer Königin aus, die sich Zwang auferlegt, um nicht in die Sprache eines Fischweibes zu verfallen.

Ah! sagte einfach Herr Josserand, verblüfft durch diesen stürmischen Eintritt.

Er zuckte unruhig mit den Wimpern. Er fühlte sich vernichtet beim Anblicke seiner Frau, deren ungeheurer Busen ihn plattzudrücken drohte. In einem alten abgeschossenen Überrock, den er zu Hause trug, das Gesicht fast völlig verwischt durch fünfunddreißig Jahre Bürodienst, – so saß er da und betrachtete sie einen Augenblick mit seinen großen, blauen, glanzlosen Augen. Dann strich er seine ergrauenden Haarlocken hinter die Ohren zurück, und da er in seiner argen Verlegenheit kein Wort zu sägen wußte, suchte er seine Arbeit wieder aufzunehmen.

Verstehst du denn nicht? fuhr Frau Josserand in herbem Tone fort; ich sage, daß wir wieder eine Partie verfehlt haben, – und das ist die vierte!

Ja, ich weiß, die vierte! murmelte er; es ist verdrießlich, sehr verdrießlich! ...

Um der vernichtenden Nacktheit seiner Frau zu entgehen, wandte er sich mit einem freundlichen Lächeln zu seinen Töchtern. Sie hatten inzwischen gleichfalls ihre Spitzenschleier und Mäntel abgelegt; die ältere war in blauer, die jüngere in rosa Toilette; diese Toiletten von allzu freiem Schnitt und überladener Ausstattung waren an sich eine Herausforderung. Hortense hatte eine gelbe Gesichtsfarbe; das Gesicht war verunstaltet durch die dicke Nase, die sie von der Mutter geerbt und die ihr den Ausdruck geringschätzigen Eigensinns verlieh. Sie war kaum dreiundzwanzig Jahre alt, schien aber achtundzwanzig alt zu sein. Berta hingegen, die um zwei Jahre jünger war, bewahrte ihre kindliche Anmut; sie hatte wohl die nämlichen Züge, aber viel feiner und war glänzend weiß; die grobe Maske der Familie dürfte bei ihr erst viel später zum Vorschein kommen.

Wann wirst du uns endlich eines Blickes würdigen? schrie Frau Josserand ihrem Gatten zu. Um des Himmels willen, laß die Schreiberei, die mich schon nervös macht.

Aber, meine Liebe, sagte er sanft, ich mache Adreßschleifen.

Ach, ja! Adreßschleifen zu drei Franken das Tausend! ... Willst du vielleicht mit diesen drei Franken deine Töchter unter die Haube bringen?

Der von der Lampe schwach beleuchtete Tisch war in der Tat bedeckt mit bedruckten Adreßschleifen von grauem Papier, auf die Herr Josserand die Namen schrieb; er machte diese Arbeit im Auftrage eines großen Verlegers, der mehrere Zeitschriften herausgab. Da seine Bezüge als Kassierer nicht ausreichten, um den Haushalt zu bestreiten, verbrachte er ganze Nächte mit dieser undankbaren Arbeit, im geheimen und von der Furcht getrieben, daß man die Verlegenheiten seines Hausstandes merken könne.

Drei Franken sind drei Franken, sagte er langsam. Diese drei Franken bieten euch die Mittel, Bänder für eure Roben zu kaufen und euren Gästen, die ihr jeden Dienstag empfangt, Kuchen vorzusetzen.

Er bedauerte sogleich, was er gesagt, denn er fühlte, daß er damit seine Frau im Innersten ihres Herzens getroffen, in ihrem Stolze verletzt habe. Ein Blutstrom rötete ihre Schultern; sie schien auf dem Punkte, in eine Flut von bitteren Reden auszubrechen; doch in einer Regung der Würde bemeisterte sie sich und begnügte sich zu stammeln:

Ach, mein Gott, mein Gott! ...

Sie blickte auf ihre Töchter und zermalmte ihren Gatten durch ein Zucken ihrer furchtbaren Schultern, als wolle sie sagen: »Hört ihr ihn, den Kretin?« Die Mädchen nickten stumm. Als er sich geschlagen sah, legte Herr Josserand zögernd die Feder weg und faltete den »Temps« auseinander, welches Blatt er jeden Abend aus dem Büro brachte.

Saturnin schläft? fragte Frau Josserand trocken. Saturnin war ihr jüngerer Sohn.

Er schläft schon lange, sagte der Vater. Ich habe auch Adele fortgeschickt ... Und Leo? Habt ihr ihn nicht im Hause der Dambreville gesehen?

Er schläft ja dort! ließ sie sich wütend vernehmen.

Überrascht fragte der Vater:

Du glaubst?

Hortense und Berta waren wieder taub geworden. Sie lächelten indessen still vor sich hin und taten, als ob sie damit beschäftigt seien, ihre Schuhe auszuziehen, die in einem erbärmlichen Zustande waren. Um dem Gespräch eine andere Wendung zu geben, suchte Frau Josserand einen anderen Streit mit ihrem Gatten. Sie ersuchte ihn, seine Zeitung jeden Morgen wieder mitzunehmen und sie tagsüber nicht herumliegen zu lassen wie eben gestern wieder eine Nummer, in der von einem abscheulichen Prozeß zu lesen war, den seine Töchter hätten lesen können. Darin zeige sich, wie wenig moralischen Sinn er habe.

Geht man denn zu Bett? fragte Hortense. Ich bin hungrig.

O, und erst ich! sagte Berta. Ich sterbe vor Hunger.

Was, ihr habt Hunger? schrie die Mutter entrüstet. Habt ihr denn auf der Abendgesellschaft keinen Kuchen gegessen? Ei, sind das dumme Gänse! Aber, man muß ja essen! Ich habe gegessen.

Die jungen Mädchen erhoben Einspruch. Sie seien hungrig und würden krank davon. Das Ende war, daß die Mutter sie in die Küche begleitete, um zu sehen, ob nichts übrig geblieben sei. Sogleich machte der Vater sich wieder an seine Adreßschleifen. Er wußte recht gut, daß ohne diese Adreßschleifen der Luxus des Haushaltes längst verschwunden wäre; und darum harrte er trotz ihrer Verachtung und des ungerechten Gezänkes bis zum dämmernden Morgen bei dieser geheimen Arbeit aus, glücklich wie nur ein Rechtschaffener es sein kann, wenn er daran dachte, daß ein Endchen Spitze mehr vielleicht einer seiner Töchter zu einer guten Heirat verhalf. Da man sich schon von der Nahrung einiges abzwackte, ohne den Bedürfnissen der Toilette und der Dienstagsempfänge gerecht zu werden, fügte er sich in diese Märtyrerarbeit, in Lumpen gehüllt, während seine Frau und Töchter die Salons besuchten und Blumen im Haar trugen.

Aber da ist es ja scheußlich schmutzig! schrie Frau Josserand, in die Küche eintretend. Ich kann es bei diesem Schmutzfinken Adele nicht durchsetzen, daß sie das Fenster halb offen läßt. Sie behauptet, daß es dann am Morgen in der Küche so kalt sei wie in einer Eisgrube.

Sie öffnete das Fenster. Da stieg aus dem engen Lichthofe eine eisige Feuchtigkeit, ein muffiger Kellergeruch herauf. In dem Lichtschein, den die von Berta angezündete Kerze auf die Wand warf, sah man die riesigen Schatten der nackten Schultern der Mutter tanzen.

Und welche Schlamperei hier herrscht, fuhr Frau Josserand fort, ihre Nase in alle Winkel, selbst an die schmutzigsten Orte steckend. Den Küchentisch hat sie seit zwei Wochen nicht gescheuert ... Da sind Teller von vorgestern .. Wahrhaftig, das ist ekelhaft! ... Und ihr Ausguß! Riecht einmal in ihren Ausguß!

Sie geriet immer mehr in Zorn und stieß das Eßgeschirr mit ihren reichlich gepuderten, mit Goldreifen geschmückten Armen hin und her; schleppte ihr feuerrotes Kleid durch alle Flecke, blieb an den umherliegenden Küchengeräten hängen und gab so den mühsam zusammengestoppelten Luxus in dieser schmutzigen Umgebung preis. Beim Anblick eines schartigen Messers brach endlich ihr Zorn los.

Morgen früh werfe ich sie hinaus!

Da wirst du weit kommen, bemerkte Hortense ruhig. Wir können keine Magd behalten. Sie ist die erste, die drei Monate geblieben ist ... Wenn sie ein wenig reinlich sind und einmal eine weiße Soße zu machen verstehen, suchen sie das Weite.

Frau Josserand spitzte die Lippen. In der Tat hatte Adele allein, eben aus der Bretagne angekommen, blöd und unsauber in dem von stolzem Elend starrenden Haushalte dieser Spießbürgerleute ausgehalten, die ihre Unverwendbarkeit und Unflätigkeit mißbrauchten, sie hungern zu lassen. Schon zwanzigmal hatten sie – aus Anlaß eines Kammes, der auf dem Brot gefunden oder wegen eines abscheulichen Essens, das ihnen eine Kolik verursachte – davon gesprochen, sie davonjagen zu wollen; dann behielten sie die Magd doch immer wieder, weil sie verlegen waren, durch wen sie sie ersetzen sollten; denn selbst die Diebinnen weigerten sich, zu ihnen in den Dienst zu gehen, in diesen Käfig, wo selbst die Zuckerstückchen abgezählt wurden.

Ich finde nichts! sagte Bertha, in einem Küchenschrank suchend.

Dieser Schrank zeigte die trübselige Leere und den falschen Luxus der Familien, wo man die schlechteste Sorte Fleisch kauft, um Blumen auf den Tisch stellen zu können. Man sah nichts als einige Porzellanteller mit Goldleisten völlig leer, ein Brotmesser mit abgegriffenem Heft, kleine Fläschchen, in denen Essig und Öl längst versiegt waren, und nicht eine vergessene Brotkrume, kein Stück Obst, kein Restchen Käse – nichts. Man sah wohl, daß der nie gesättigte Hunger Adeles hier gründlich aufgeräumt hatte.

Hat sie denn das ganze Kaninchen aufgegessen? rief Frau Josserand.

Richtig! sagte Hortense, es ist ein Schwanzstück davon übrig geblieben ... Ach, da ist es. Es hätte mich auch gewundert, daß sie es wagen sollte ... Ich nehme es. Es ist wohl kalt, aber das schadet nichts.

Nun suchte Berta etwas zu essen, aber vergebens. Endlich entdeckte sie eine Flasche, in der ihre Mutter einen alten Rest eingekochter Frucht aufgelöst hatte, um Himbeersaft für ihre Abendgesellschaften herzustellen. Berta nahm ein halbes Glas voll davon und sagte:

Ein Gedanke! Da will ich mein Brot eintunken ... Wenn nichts anderes da ist! ...

Doch Frau Josserand schaute sie streng an.

Geniere dich nicht! Nimm lieber gleich das ganze Glas voll, wenn du schon dabei bist Ich werde dann unseren Gästen frisches Wasser vorsetzen ...

Glücklicherweise ward eine neue Missetat Adeles entdeckt, wodurch die Strafpredigt unterbrochen wurde. Als sich Frau Josserand in der Küche immerfort hin und her drehte, um ein neues Verbrechen der Magd zu entdecken, erblickte sie auf dem Küchentisch ein Buch. Das schlug dem Faß den Boden aus.

Ei, das schmutzige Tier! Sie hat schon wieder meinen Lamartine in die Küche herausgebracht!

Sie nahm das Buch und begann es abzureiben und abzuwischen, wobei sie immerfort wiederholte, sie habe der Magd schon zwanzigmal verboten, das Buch herumzuschleppen, um ihre Rechnungen darauf zu schreiben, Berta und Hortense hatten inzwischen das Stückchen Brot geteilt, das übriggeblieben war; dann nahmen sie ihr mageres Essen mit und sagten, sie wollten sich erst auskleiden, bevor sie äßen. Die Mutter warf einen letzten Blick auf den kalten Herd und kehrte in den Speisesaal zurück, den »Lamartine« fest unter ihren dicken Arm pressend.

Herr Josserand fuhr fort zu schreiben. Er hatte gehofft, daß seine Frau sich begnügen werde, durch das Zimmer gehend, um sich schlafen zu legen, ihm einen Blick tiefer Verachtung zuteil werden zu lassen. Allein sie ließ sich ihm gegenüber von neuem auf einen Sessel nieder und sah ihn starr an, ohne ein Wort zu sprechen. Er fühlte die Wucht ihres Blickes und ward von einer solchen Beklemmung ergriffen, daß seine Feder auf dem dünnen Papier der Adreßschleifen unruhig tanzte.

Du also hast Adele verhindert, eine Creme für morgen abend zu machen? sagte sie endlich.

Er blickte betroffen auf.

Ich, meine Liebe?

Jawohl, du wirst wieder leugnen wie gewöhnlich. Weshalb sonst hätte sie die Creme nicht bereitet, die ich befohlen habe? ... Du weißt wohl, daß wir morgen vor der Abendgesellschaft den Onkel Bachelard zum Essen zu Gaste haben, dessen Geburtstag diesmal sehr ungelegen gerade auf den Empfangstag fällt. Wenn wir keine Creme haben, müssen wir Fruchteis haben, und da sind gleich fünf Franken mehr hinausgeworfen.

Er machte nicht einmal den Versuch, sich zu rechtfertigen. Da er nicht wagte, seine Arbeit wieder aufzunehmen, und anderseits sich nicht entschließen konnte, sie im Stiche zu lassen, begann er mit dem Federhalter zu spielen. Es entstand ein Schweigen.

Morgen früh, sagte Frau Josserand trocken, wirst du mir den Gefallen erweisen, bei den Campardon vorzusprechen und sie in höflicher Weise zu erinnern, – wenn du es kannst – daß wir am Abend auf sie zählen ... Der junge Mann, den sie erwartet haben, ist angekommen. Bitte sie, ihn mitzubringen. Ich will, daß er kommt.

Welcher junge Mann?

Ein junger Mann. Es würde zu lange dauern, dir das näher zu erklären ... Ich habe meine Erkundigungen eingezogen. Ich muß alles versuchen, da du mir deine Töchter auf dem Halse läßt, ohne sich um ihre Verheiratung mehr zu kümmern als um die des Großtürken.

Dieser Gedanke brachte sie wieder in Zorn.

Du siehst, ich bezwinge mich ... Aber ich habe es satt bis hinauf! ... Sage mir nichts! Sage mir gar nichts, oder ich breche los! ...

Er sagte nichts, sie aber brach dennoch los.

Das wird nachgerade unerträglich! Ich mache dich rechtzeitig aufmerksam, daß ich eines Tages durchgehen werde und zwar bald und dir deine Töchter auf dem Halse lasse! ... Bin ich für ein solches Bettlerleben geschaffen? ... Ich muß jeden Sou in vier Teile zerschneiden, muß mir ein Paar Stiefelchen versagen, kann meine Freunde nicht anständig empfangen – und alles deinetwegen! ... Schüttele nicht den Kopf! Bringe mich nicht noch mehr in Wut! Ja,