Der Herr der Welt - Robert Hugh Benson - E-Book

Der Herr der Welt E-Book

Robert Hugh Benson

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Beschreibung

vollständige Fassung, kommentiert und in Neuer Deutscher Rechtschreibung Der Herr der Welt, (»Lord of the world«), gilt als wichtiger Vorläufer der großen dystopischen Romane des 20. Jahrhunderts wie George Orwells »1984« (1949) oder Aldous Huxleys »Brave New World« (1932). Zu Begin des 21. Jahrhunderts hat der amerikanische Politiker Julian Felsenburgh den Weltfrieden erreicht, zahllose Nationen unterwerfen sich seinem Diktat. Dies jedoch um den Preis einer technologisierten Gesellschaft, die nur auf den rationalen Verstand setzt und Religion als Aberglauben verteufelt und verfolgt. Waffenstarrende Zeppeline bevölkern die Lüfte, es gibt Elektroautomobile, drahtlose Kommunikation, aber auch Terror, Bespitzelung und Euthanasiehäuser. Als seinen letzten Gegner identifiziert Felsenburgh die katholische Kirche, ihre Irrationalität und ihr Glaube sieht er als Bedrohung. Als Konsequenz betreibt er deren vollständige Vernichtung. Was nun folgt, sind aberwitzige, endzeitliche Schlachten mit Luftschiffen gegen Rom und gegen den Vatikan. Es kommt zum Endkampf zwischen dem Papst und dem Weltpräsidenten. Benson sah in diesem Werk viele Schrecken der Zukunft voraus: Weltkriege, Massenvernichtungswaffen, Entmenschlichung der Gesellschaft, Entfremdung der Familien, Terrorismus und den »Kampf der Kulturen« Null Papier Verlag

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Robert Hugh Benson

Der Herr der Welt

Robert Hugh Benson

Der Herr der Welt

Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2021Übersetzung: F. R. von Lama, J. Schulze EV: Verlag Josef Rösel & Friedrich Pustet, Münschen, 1923 3. Auflage, ISBN 978-3-954185-49-8

www.null-papier.de

null-papier.de/katalog

Inhaltsverzeichnis

Über die­ses Buch

Über den Au­tor

Vor­wort zur sechs­ten und sie­ben­ten Auf­la­ge

Ein­lei­tung

Pro­log

Ers­tes Buch – Die An­kunft

Ers­tes Ka­pi­tel

Zwei­tes Ka­pi­tel

Drit­tes Ka­pi­tel

Vier­tes Ka­pi­tel

Fünf­tes Ka­pi­tel

Zwei­tes Buch – Der Zu­sam­men­stoß

Ers­tes Ka­pi­tel

Zwei­tes Ka­pi­tel

Drit­tes Ka­pi­tel

Vier­tes Ka­pi­tel

Fünf­tes Ka­pi­tel

Sechs­tes Ka­pi­tel

Sie­ben­tes Ka­pi­tel

Ach­tes Ka­pi­tel

Drit­tes Buch – Sieg

Ers­tes Ka­pi­tel

Zwei­tes Ka­pi­tel

Drit­tes Ka­pi­tel

Vier­tes Ka­pi­tel

Fünf­tes Ka­pi­tel

Sechs­tes Ka­pi­tel

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Ihr

Science Fic­ti­on & Fan­ta­sy bei Null Pa­pier

Ge­heim­nis­vol­le Strah­len

Aë­li­ta

Ugh-Lomi

Der Luft­krieg

Der Brand der Che­ops­py­ra­mi­de

Die Macht der Drei

Der ge­stoh­le­ne Ba­zil­lus

Be­fehl aus dem Dun­kel

Die Spur des Dschin­gis-Khan

Auf zwei Pla­ne­ten

Der letz­te Tag

Der Krieg der Wel­ten

Der Un­sicht­ba­re

Die ers­ten Men­schen auf dem Mond

Die In­sel des Dr. Mo­reau

Die Rie­sen kom­men!

Die Zeit­ma­schi­ne

Im Jah­re des Ko­me­ten

Jen­seits des Si­ri­us

Der Traum

und wei­te­re …

Über dieses Buch

Der Herr der Welt (»Lord of the world«) gilt als wich­ti­ger Vor­läu­fer der großen dys­to­pi­schen Ro­ma­ne des 20. Jahr­hun­derts wie Ge­or­ge Or­wells »1984« (1949) oder Al­dous Hux­leys »Bra­ve New World« (1932).

Zu Be­gin des 21. Jahr­hun­derts hat der ame­ri­ka­ni­sche Po­li­ti­ker Ju­li­an Fel­sen­bur­gh den Welt­frie­den er­reicht, zahl­lo­se Na­tio­nen un­ter­wer­fen sich sei­nem Dik­tat. Dies je­doch um den Preis ei­ner tech­no­lo­gi­sier­ten Ge­sell­schaft, die nur auf den ra­tio­na­len Ver­stand setzt und Re­li­gi­on als Aber­glau­ben ver­teu­felt und ver­folgt. Waf­fen­star­ren­de Zep­pe­li­ne be­völ­kern die Lüf­te, es gibt Elek­tro­au­to­mo­bi­le, draht­lo­se Kom­mu­ni­ka­ti­on, aber auch Ter­ror, Be­spit­ze­lung und Eutha­na­sie­häu­ser.

Als sei­nen letz­ten Geg­ner iden­ti­fi­ziert Fel­sen­bur­gh die ka­tho­li­sche Kir­che, ihre Ir­ra­tio­na­li­tät und ihr Glau­be sieht er als Be­dro­hung. Als Kon­se­quenz be­treibt er de­ren voll­stän­di­ge Ver­nich­tung.

Was nun folgt, sind aber­wit­zi­ge, end­zeit­li­che Schlach­ten mit Luft­schif­fen ge­gen Rom und ge­gen den Va­ti­kan. Es kommt zum End­kampf zwi­schen dem Papst und dem Welt­prä­si­den­ten.

Ben­son sah in die­sem Werk vie­le Schre­cken der Zu­kunft vor­aus: Welt­krie­ge, Mas­sen­ver­nich­tungs­waf­fen, Ent­mensch­li­chung der Ge­sell­schaft, Ent­frem­dung der Fa­mi­li­en, Ter­ro­ris­mus und den »Kampf der Kul­tu­ren«

*

Über den Autor

Ro­bert Hugh Ben­son (18.11.1871 - 19.09.1914) war ein eng­li­scher Pries­ter und Schrift­stel­ler. Er ist der vier­te und jüngs­te Sohn Ed­ward Whi­te Ben­sons, Kanz­ler der Ka­the­dra­le von Lin­coln und spä­te­rer Erz­bi­schof von Can­ter­bu­ry.

Ben­son stu­dier­te Theo­lo­gie und Alt­phi­lo­lo­gie am Tri­ni­ty Col­le­ge in Cam­bridge. Im Jah­re 1894 wur­de er Dia­kon, 1895 wur­de er von sei­nem Va­ter zum Pries­ter der Kir­che von Eng­land ge­weiht.

Sei­ne re­li­gi­ösen Zwei­fel an der Au­to­ri­tät der an­gli­ka­ni­schen Kir­che je­doch führ­ten zur Hin­wen­dung zum ka­tho­li­schen Glau­ben. Er trat am 11. Sep­tem­ber 1903 in die rö­misch-ka­tho­li­sche Kir­che ein und wur­de schließ­lich in Rom zum Pries­ter ge­weiht.

1907 schrieb er sein be­kann­tes­tes Werk, den End­zeitroman »Lord of the World« (»Der Herr der Welt«), wel­cher vie­le Auf­la­gen und Über­set­zun­gen er­fuhr und als wich­ti­ger Vor­läu­fer der großen dys­to­pi­schen Ro­ma­ne des 20. Jahr­hun­derts gilt.

Ro­bert Hugh Ben­son er­lag ei­nem Herz­in­farkt in­fol­ge ei­ner Lun­gen­ent­zün­dung.

Vorwort zur sechsten und siebenten Auflage

Durch die in den letz­ten Jah­ren an­hal­ten­de Teil­nah­me an »Herr der Welt« ist die erst kürz­lich not­wen­dig ge­wor­de­ne 4. und 5. Auf­la­ge er­schöpft und be­dingt des­halb nun­mehr die 6. und 7. Auf­la­ge. An­fangs viel um­strit­ten hat das Buch doch all­mäh­lich sich durch­zu­set­zen ge­wusst, nach­dem mehr und mehr das Ver­ständ­nis da­für ob­sieg­te, dass Ben­son nichts wei­ter im Auge hat, als zu zei­gen, wie die in den Mas­sen ver­kör­per­ten Ge­dan­ken un­se­rer Zeit sich un­ter be­stimm­ten Voraus­set­zun­gen aus­wir­ken müss­ten, wenn die Ent­wick­lung ohne be­son­de­re Be­hin­de­run­gen und Ablen­kun­gen wei­ter sich voll­zö­ge. Ihm schi­en die Ent­christ­li­chung der Welt in nicht all­zu fer­ner Zeit mit Not­wen­dig­keit Zu­stän­de her­bei­zu­füh­ren, die ih­ren na­tür­li­chen Ab­schluss mit dem von der Vor­se­hung be­stimm­ten Ende der Zei­ten fin­den wür­den. Die geist­vol­le Stu­die in Ro­man­form, für die der Ver­fas­ser selbst sei­ner­zeit mir ge­gen­über den Cha­rak­ter ei­ner po­li­ti­schen Pro­phe­zei­ung ab­lehn­te, ist ja durch die Welt­ent­wick­lung in man­cher Hin­sicht in be­son­de­re Be­zie­hung zu den heu­ti­gen Er­eig­nis­sen ge­tre­ten.

Ben­sons Zu­kunfts­ge­mäl­de hat nun­mehr nach bald zehn Jah­ren im Pa­ri­ser in­ter­na­tio­na­len Frei­mau­rer­kon­gress vom Juni — Juli 1917 sei­ne Be­stä­ti­gung und nach die­ser Sei­te hin auch sei­ne theo­re­ti­sche Recht­fer­ti­gung ge­fun­den. Das Pro­gramm der in­ter­na­tio­na­len frei­mau­re­ri­schen Wel­tre­pu­blik, die Be­sei­ti­gung der Mon­ar­chi­en, die Auf­rich­tung der Ge­walt­herr­schaft des So­zia­lis­mus in ganz Deutsch­land, der ge­plan­te Völ­ker­bund auf ei­ner jede Jen­seits­re­li­gi­on aus­schlie­ßen­den Grund­la­ge, die zu­neh­men­de Kne­be­lung und Matt­set­zung des Paps­tes durch einen be­son­de­ren Ver­trag, die Wil­son­schen Ide­en von mau­re­ri­scher Welt­ver­brü­de­rung, sei­ne gan­ze dem christ­li­chen Ide­en­krei­se ent­nom­me­ne Phra­seo­lo­gie bei Un­ter­drückung ih­res über­na­tür­li­chen In­hal­tes, all dies müss­te, so möch­te man mei­nen, Ben­son zum Vor­bil­de ge­dient ha­ben, wenn es nicht erst drei Jah­re nach sei­nem Tode sei­ne Fest­le­gung und Er­he­bung zum Kriegs­end­zie­le er­fah­ren hät­te, zu des­sen Durch­füh­rung durch die­sen »letz­ten Krieg« die Vor­be­din­gun­gen ge­schaf­fen wer­den sol­len. Des Deut­schen Kai­ser­rei­ches letz­ter Herr­scher hat jüngst noch ei­nem eng­li­schen Pres­se­ver­tre­ter sei­ne von Ben­son ge­wiss un­ab­hän­gi­ge Über­zeu­gung aus­ge­spro­chen, Er­re­ge­rin und Sie­ge­rin im Welt­krie­ge sei die Frei­mau­re­rei und al­lein die ka­tho­li­sche Kir­che habe sich ihr ge­gen­über bis­her zu be­haup­ten ver­mocht.

So wächst das Buch mehr und mehr in die Wirk­lich­keit hin­ein und wird von Tag zu Tag mehr das, was man ›ak­tu­ell‹ nennt. Das be­weist auch nicht zu­letzt die wach­sen­de Nach­fra­ge un­se­rer Zeit. So­mit über­ge­be ich die­se Dop­pelauf­la­ge der Öf­fent­lich­keit; möge sie recht vie­len neu­en Le­sern zum Ge­nuss aber auch zur erns­ten Ge­wis­sens­er­for­schung wer­den.

Füs­sen im Ja­nu­ar 1923 H. M. von Lama

Einleitung

Im Jah­re 1908 er­schi­en in Lon­don ein Ro­man: »The Lord of the World«, des­sen Au­tor, Ro­bert Hugh Ben­son, in li­te­ra­ri­schen Krei­sen schon seit ge­rau­mer Zeit einen nicht mehr ge­wöhn­li­chen Rang ein­nahm. Das Buch er­reg­te so­fort großes Auf­se­hen, was der Ver­fas­ser selbst vor­aus­ge­sagt hat­te, als er in der Vor­re­de schrieb:

»Ich bin voll­stän­dig da­von über­zeugt, dass dies ein au­ßer­or­dent­lich sen­sa­tio­nel­les Werk ist und aus die­sem Grun­de so­wohl, als auch nach an­de­ren Rich­tun­gen hin, ei­ner end­lo­sen Kri­tik aus­ge­setzt sein wird. Aber ich wuss­te nicht, wie ich an­ders die Prin­zi­pi­en, die ich dar­stel­len woll­te (und von de­ren Rich­tig­keit ich durch und durch über­zeugt bin), zum Aus­druck hät­te brin­gen kön­nen, als in­dem ich bei Dar­stel­lung ih­res Ent­wick­lungs­gan­ges die Form der Sen­sa­ti­on wähl­te. Ich habe mich je­doch be­müht, nicht zu schril­le Töne an­zu­schla­gen und, so­weit es mir mög­lich war, die An­schau­un­gen an­de­rer Leu­te mit Ach­tung und Scho­nung zu be­han­deln. Ob mir das ge­lun­gen, ist al­ler­dings eine an­de­re Fra­ge.«

Ehe wir uns mit der li­te­ra­ri­schen Per­sön­lich­keit Ben­sons nä­her be­fas­sen, mö­gen ei­ni­ge bio­gra­fi­sche Da­ten über die­sen be­deu­tends­ten ka­tho­li­schen Schrift­stel­ler des heu­ti­gen Eng­land vor­aus­ge­hen. Ro­bert Hugh Ben­son wur­de am 18. No­vem­ber 1871 zu Can­ter­bu­ry als der Sohn des 1896 ver­stor­be­nen an­gli­ka­ni­schen Erz­bi­schofs Whi­te Ben­son von Can­ter­bu­ry ge­bo­ren. Be­kannt­lich be­klei­det der In­ha­ber die­ses Erz­bi­schofs­sit­zes, den im Mit­tel­al­ter so große und glän­zen­de Geis­ter wie Duns­tan, Lan­frank, An­selm, Tho­mas Becket und an­de­re schmück­ten, die höchs­te Wür­de der an­gli­ka­ni­schen Hier­ar­chie, er ist »Pri­mas von ganz Eng­land« und tritt in der Ran­glis­te des Bri­ti­schen Rei­ches un­mit­tel­bar nach den Mit­glie­dern des Kö­nigs­hau­ses. Der jun­ge Ben­son ge­noss eine vor­treff­li­che Er­zie­hung. Nach­dem er das be­rühm­te Kol­leg zu Eton in Buck­ing­ham, die Pflanz­stät­te so vie­ler in der Ge­schich­te Eng­lands un­s­terb­lich ge­wor­de­ner Män­ner, be­sucht hat­te, wid­me­te er sich in Cam­bridge dem Stu­di­um der Theo­lo­gie. Hier, wo die Wie­ge des eng­li­schen Chris­ten­tums stand, um­rausch­te ihn der Geist ei­ner glän­zen­den Ver­gan­gen­heit, hier goss das Mit­tel­al­ter sei­nen vol­len Zau­ber in das emp­fäng­li­che Ge­müt des Jüng­lings. Ben­son wur­de nach Vollen­dung sei­ner Stu­di­en Vi­kar in Hack­ney Wick und in Kem­sing. Er brach­te eine nach Wis­sen und Wahr­heit dürs­ten­de See­le mit in sei­nen Be­ruf. Glü­hend vor Ei­fer gab er sich der Seel­sor­ger­tä­tig­keit hin. Aber nur zu bald muss­te er sich ge­ste­hen, dass die auf an­gli­ka­ni­scher, hoch­kirch­li­cher Sei­te be­tä­tig­te all­ge­mei­ne Auf­fas­sung des Pries­ter­amts sei­nem Ide­al nicht nach­kam. In Ben­son reg­te sich das Ge­fühl der Un­zu­frie­den­heit, das ihn be­wog, von sei­nem Amte zu­rück­zu­tre­ten und sich ei­nem Krei­se see­le­n­eif­ri­ger, gleich­ge­sinn­ter Män­ner an­zu­schlie­ßen, die un­ter der Lei­tung ei­nes Ober­haup­tes auf dem Ge­bie­te der in­ne­ren Mis­si­on ihre Kräf­te üb­ten.

Wi­d­ri­ge Ge­sund­heits­ver­hält­nis­se nö­tig­ten Ben­son zu ei­ner Er­ho­lungs­rei­se nach Ägyp­ten und dem Hei­li­gen Lan­de. Da er­eil­te ihn in Je­ru­sa­lem die Kun­de, dass das Ober­haupt je­ner Mis­si­ons­ge­nos­sen­schaft zum Ka­tho­li­zis­mus über­ge­tre­ten sei. Die­se Nach­richt lös­te eine schmerz­li­che Trau­rig­keit in Ben­son aus. Aber schon hat­te die Gna­de auch ihn be­rührt und sei­ne An­schau­ung, als sei die an­gli­ka­ni­sche Kir­che eine Schwes­ter, ja ein Glied der ka­tho­li­schen, der er an­zu­ge­hö­ren mein­te, wan­kend ge­macht.

Bei sei­ner Rück­kehr nach Eng­land fand er die Ge­nos­sen­schaft in Auf­lö­sung be­grif­fen, nach­dem noch mehr Mit­glie­der das Bei­spiel des Ober­haup­tes nach­ge­ahmt hat­ten. In Ben­son er­stark­te jetzt das Seh­nen nach der Er­neue­rung Eng­lands im ka­tho­li­schen Sin­ne im­mer mehr. Schon ge­hör­te sein Herz dem Ka­tho­li­zis­mus und mäch­tig zo­gen ihn des­sen Wahr­heit und Schön­heit in sei­nen Bann. Das »Zu­rück zur hei­li­gen Kir­che!« dem be­reits so vie­le Pro­tes­tan­ten ge­folgt sind, klang un­wi­der­steh­lich auch dem Soh­ne des an­gli­ka­ni­schen Pri­mas in der Brust. Doch ehe er den Letz­ten, den ent­schei­den­den Schritt wag­te, ging er auf Wunsch sei­ner in­nig ge­lieb­ten Mut­ter die an­ge­se­hens­ten Au­to­ri­tä­ten der Hoch­kir­che, meis­tens per­sön­li­che Freun­de sei­nes ver­stor­be­nen Va­ters, um ih­ren Rat an. Aber die Hoff­nung der Mut­ter, dass es ih­nen ge­lin­gen wer­de, den Sohn dem an­gli­ka­ni­schen Kir­chen­tum zu er­hal­ten, wur­de ver­ei­telt: Im Jah­re 1903 schied Ben­son aus dem­sel­ben aus, um zur ka­tho­li­schen Kir­che über­zu­tre­ten; ein Jahr spä­ter wur­de er in Rom zum Pries­ter ge­weiht. Als sol­cher leb­te er bis zu sei­nem Tode im Ok­to­ber 1914 in der Nähe von Bun­ting­ford bei Cam­bridge.

Es war in je­ner Zeit, da er die Wahr­heit in­ner­lich be­reits an­ge­nom­men hat­te, je­doch mit tau­send Fä­den noch an sei­nen bis­he­ri­gen Stand­punkt und so vie­les, was ihm lieb und teu­er ge­wor­den war, sich ge­bun­den sah, in je­ner Zeit auch, da er von den wi­der­stre­bends­ten Ge­füh­len und Re­gun­gen hin und her ge­wor­fen den­noch das un­ver­meid­li­che Ende klar er­kann­te, dass ihm ein Ma­nu­skript über die Zeit der Kö­ni­gin Eli­sa­beth un­ter die Hän­de kam. Es er­weck­te sein In­ter­es­se, und um sich dem Be­wusst­sein sei­nes un­er­träg­li­chen Ge­müts­zu­stan­des ei­ni­ger­ma­ßen zu ent­zie­hen, nahm er Ver­an­las­sung, eine Art his­to­ri­scher Er­zäh­lung über den Ge­gen­stand zu schrei­ben. So ent­stand sein ers­tes Buch »By what Aut­ho­ri­ty«, von dem Ben­son selbst be­kennt: »Die­se Ar­beit war, glau­be ich, ein aus­ge­zeich­ne­tes Si­cher­heits­ven­til für mei­ne Geis­tes­ver­fas­sung, und hät­te ich sie nicht ge­fun­den, ich weiß nicht, was ge­sche­hen wäre.« Es ist be­reits eine Apo­lo­gie des ka­tho­li­schen Stand­punk­tes und hat zum Ge­gen­stand die Haupt­schwä­che der an­gli­ka­ni­schen Po­si­ti­on, den Man­gel an Au­to­ri­tät.

Die Wir­kung des Bu­ches auf den Ver­fas­ser war eine aus­ge­zeich­ne­te, denn die stren­ge, kon­se­quen­te Durch­füh­rung der ein­zel­nen Cha­rak­tere, so­wie ih­res re­li­gi­ösen Stand­punk­tes hat­te klä­rend, rei­ni­gend und be­ru­hi­gend auf ihn ge­wirkt, den ge­won­ne­nen Stand­punkt er­heb­lich ge­stärkt, vie­le Vor­ur­tei­le in ihm nie­der­ge­ris­sen und ihn die Halt­lo­sig­keit vie­ler lieb ge­wor­de­ner Auf­fas­sun­gen er­ken­nen las­sen. Der Ab­schluss des Bu­ches fällt mit dem Ent­schlüs­se zu­sam­men, den un­ver­meid­li­chen Schritt in die Kir­che zu tun. Als Pro­tes­tant hat­te er be­gon­nen, doch auch als Ka­tho­lik leg­te er die Fe­der nicht nie­der und zwei wei­te­re his­to­ri­sche Ro­ma­ne ent­stan­den in der Fol­ge, »The Kings Achie­ve­ment« (Des Kö­nigs Werk), das die ge­walt­sa­me Ein­füh­rung des Pro­tes­tan­tis­mus in Eng­land schil­dert, und des­sen Fol­ge »The Queens Tra­ge­dy«, in de­ren Mit­tel­punkt Ma­ria die Ka­tho­li­sche steht.

In­dem Ben­son die­se Tri­lo­gie zum Dol­met­scher sei­ner ka­tho­li­schen An­schau­un­gen und Emp­fin­dun­gen mach­te, ver­folg­te er mit sei­nem Wer­ke of­fen­sicht­lich eine apo­lo­ge­ti­sche Ten­denz. Dass sie sich nir­gends auf­drängt, er­klärt sich wohl be­son­ders da­durch, dass er die­se Bü­cher nur für sich und zur Be­grün­dung sei­ner Über­zeu­gung sich selbst ge­gen­über ge­schrie­ben hat, nicht aber, um an­de­re zu be­leh­ren oder zu be­ein­flus­sen. Deut­lich und klar spricht auch dar­aus, was mit­ge­wirkt hat­te, ihn zur ka­tho­li­schen Kir­che zu­rück­zu­füh­ren: das Stu­di­um der va­ter­län­di­schen Ge­schich­te und be­son­ders der so­ge­nann­ten Re­for­ma­ti­on, von der vor­ur­teils­lo­se pro­tes­tan­ti­sche Eng­län­der selbst ur­tei­len, dass sie für Eng­land kei­nen Ruh­mes­ti­tel be­deu­te. Fa­ther Ben­sons his­to­ri­sches Ge­mäl­de, aus­ge­zeich­net vor al­lem durch Ver­ständ­nis- und lie­be­vol­les Er­fas­sen der eng­li­schen Kir­che des 16. Jahr­hun­derts, wur­de auch von der pro­tes­tan­ti­schen Kri­tik mit war­mem Bei­fall auf­ge­nom­men, die nicht zö­ger­te, dem Ver­fas­ser einen Platz zwi­schen dem großen Kar­di­nal und Kon­ver­ti­ten Ne­w­man und dem Schöp­fer des his­to­ri­schen Ro­mans. Wal­ter Scott, ein­zuräu­men.

Ro­bert Hugh Ben­sons li­te­ra­ri­sches Schaf­fen zeugt von ei­ner au­ßer­or­dent­li­chen Frucht­bar­keit und Reg­sam­keit sei­nes Geis­tes, zu­gleich aber auch von ei­ner merk­wür­di­gen Ener­gie im Stre­ben nach künst­le­ri­scher Vollen­dung. Ger­ne wen­det er sich in sei­nen Ro­ma­nen zeit­ge­mä­ßen Pro­ble­men zu, wie dem Sen­ti­men­ta­lis­mus, Kon­ven­tio­na­lis­mus, Spi­ri­tis­mus, wo­bei er sich mit Vor­lie­be von ei­nem mys­ti­schen Zuge trei­ben lässt.

Aber al­les, was Ben­son auf dem Ge­biet des his­to­ri­schen und mo­der­nen Ro­mans ge­schaf­fen, wird über­trof­fen von sei­nem Wer­ke: »Der Herr der Welt«. Die be­deu­tends­ten Ta­ges­blät­ter Eng­lands gin­gen ei­nig in be­geis­ter­ten Lo­bes­er­he­bun­gen über die­se gran­dio­se Dich­tung, die sich an das Kühns­te wagt, was ei­nem Dich­ter zu wa­gen ver­gönnt ist: an die Schil­de­rung des Wel­ten­des und der Er­schei­nung des All­mäch­ti­gen am Tage des Ge­rich­tes.

Weit da­von ent­fernt, etwa eine Pro­phe­zei­ung zu sein, sucht das Werk mit vi­sio­närer Ge­walt dem Lau­fe der Jahr­hun­der­te vor­an­zu­ei­len, um ein fan­ta­sie­vol­les Ge­mäl­de der Kul­tur­mensch­heit zu ent­wer­fen, wie sich die­se viel­leicht in ei­nem Jahr­hun­dert ent­wi­ckelt ha­ben mag. Vor dem in­ne­ren Schau­en des Dich­ters er­he­ben sich die gi­gan­ti­schen Tri­um­phe des mensch­li­chen Geis­tes, der die höchs­ten Spit­zen der Wis­sen­schaft er­klom­men ha­ben wird. Dann wird die Mensch­heit nur mehr zwei große re­li­gi­öse La­ger er­ken­nen, den Ka­tho­li­zis­mus und den Hu­ma­ni­ta­ris­mus, zu de­nen sich die Form strengs­ter Ge­setz­ge­bung und mit­leids­lo­ses Blut­ver­gie­ßen als die schärfs­ten Ge­gen­sät­ze ver­hal­ten. Für die ka­tho­li­sche Kir­che aber wird eine neue Zeit hef­tigs­ter Ver­fol­gung an­bre­chen, und dä­mo­ni­sche Mäch­te wer­den sich am Ende der Zei­ten auf sie stür­zen, mit al­len Macht­mit­teln des mensch­li­chen Fort­schrit­tes aus­ge­rüs­tet.

Mit hin­rei­ßen­der Be­red­sam­keit und ei­ner er­staun­li­chen Plas­tik stellt Ben­son je­nes Zeit­al­ter vor das er­schau­ern­de Ge­müt des Le­sers, der über­wäl­tigt wird von der dra­ma­ti­schen Wucht der Er­eig­nis­se. Welch ein furcht­ba­res Epos, wenn die Luft­schif­fe des fa­na­tisch has­sen­den Fein­des der Kir­che über dem ewi­gen Rom er­schei­nen, um es zu zer­stö­ren! Wer wür­de da nicht er­in­nert an die Of­fen­ba­rung Jo­han­nes’ von dem sie­ben­köp­fi­gen Tier: »Auch ward ihm ge­ge­ben, Krieg zu füh­ren mit den Hei­li­gen und sie zu über­win­den … Und es tat große Zei­chen, so­dass es so­gar Feu­er vom Him­mel fal­len mach­te vor den Au­gen der Men­schen« (13, 7.13.). Kein Mi­che­lan­ge­lo ver­möch­te die Schluss­ka­ta­stro­phe der Mensch­heit, die­ses große und schreck­li­che Bild, er­schüt­tern­der in Far­ben zu fas­sen, als der ge­nia­le eng­li­sche Pries­ter-Dich­ter sie im »Herrn der Welt« malt. Ge­wiss, die­ser Ro­man ist sen­sa­tio­nell im höchs­ten Gra­de, ohne dass da­durch dem künst­le­ri­schen Wer­te der Dich­tung Ab­bruch ge­schä­he. Es ist ein un­ge­heu­rer Stoff, der hier ge­bän­digt und mit ei­nem über­wäl­ti­gen­den Reich­tum at­men­den Le­bens aus­ge­stal­tet wor­den ist. Ge­bil­de­te Le­ser wer­den ho­hen Ge­nuss aus dem Ro­man schöp­fen und, was noch weit mehr ist, den An­stoß zu erns­tem, frucht­brin­gen­dem Den­ken emp­fan­gen.

Ot­to von Scha­ching

Prolog

»Sie müs­sen mir einen Au­gen­blick Zeit las­sen«, sag­te der Greis, in­dem er sich zu­rück­lehn­te.

Per­cy nahm wie­der auf sei­nem Stuh­le Platz und war­te­te, das Kinn auf die Hand ge­stützt.

Es war ein sehr stil­les Ge­mach, in wel­chem die drei Män­ner sa­ßen, und dem Ge­schmack der Zeit ent­spre­chend ein­fach aus­ge­stat­tet. Es hat­te we­der Fens­ter noch Türe, denn es wa­ren be­reits sech­zig Jah­re ver­gan­gen, seit­dem der Mensch zur Ein­sicht ge­kom­men war, dass der be­wohn­ba­re Raum sich nicht nur auf die Ober­flä­che der Erd­ku­gel be­schränk­te, und er hat­te in­fol­ge­des­sen ernst­lich zu gra­ben an­ge­fan­gen. Des al­ten Herrn Tem­ple­tons Haus stand un­ge­fähr vier­zig Fuß un­ter dem Ni­veau des Them­seu­fers, in ei­ner all­ge­mein als güns­tig be­zeich­ne­ten Lage, denn man hat­te nur hun­dert Me­ter weit zu ge­hen, bis man zur Hal­te­stel­le der zwei­ten Zen­tral-Mo­tor­bahn kam, und eine Vier­tel­mei­le bis zur Luft­schiffs­ta­ti­on von Black­fri­ars.1 Mr. Tem­ple­ton war je­doch über neun­zig Jah­re alt und ging jetzt nur sel­ten mehr aus. Die Wän­de des Zim­mers wa­ren voll­stän­dig mit dem matt­grü­nen, von der Sa­ni­täts­be­hör­de vor­ge­schrie­be­ner Email­le be­klei­det und mit dem vor vier­zig Jah­ren von Reu­ter er­fun­de­nen künst­li­chen Son­nen­licht er­leuch­tet; im Far­ben­ton glich es ei­nem Früh­lings­wal­de, und Wär­me und Ven­ti­la­ti­on wur­den durch das klas­si­sche Fries­git­ter so ge­re­gelt, dass die Tem­pe­ra­tur stets ge­nau acht­zehn Grad Cel­si­us be­trug. Mr. Tem­ple­ton war sehr ein­fach und be­gnüg­te sich da­mit, so zu le­ben, wie sein Va­ter es ge­tan hat­te. Die Mö­bel wa­ren, wenn auch in Be­zug auf Aus­füh­rung und Form et­was alt­mo­disch, dem Zeit­ge­brauch ent­spre­chend aus mit wei­chem As­bes­te­mail über­zo­ge­nem Ei­sen, da­her sehr dau­er­haft und be­quem, und hät­ten für Ma­ha­go­ni ge­hal­ten wer­den kön­nen. Auf bei­den Sei­ten des nie­de­ren, aus Bron­ze ge­fer­tig­ten elek­tri­schen Ka­mins, vor wel­chem die drei Her­ren sa­ßen, stan­den ei­ni­ge gut aus­ge­stat­te­te Bü­cher­schrän­ke, und in den Ecken des Zim­mers fan­den sich die hy­drau­li­schen Per­so­nen­auf­zü­ge, von wel­chen der eine in das Schlaf­zim­mer führ­te, wo­ge­gen man mit­telst des an­de­ren in den fünf­zig Fuß ober­halb ge­le­ge­nen Kor­ri­dors und aus die­sem auf den Kai ge­lang­te.

Fa­ther2 Per­cy Fran­klin, der äl­te­re der bei­den Pries­ter, eine ziem­lich im­po­san­te Er­schei­nung, war trotz höchs­tens fünf­und­drei­ßig Jah­ren be­reits voll­kom­men er­graut; aus sei­nen grau­en, von dunklen Brau­en über­schat­te­ten Au­gen leuch­te­te eine auf­fal­len­de Leb­haf­tig­keit, doch lie­ßen sei­ne stark mar­kier­ten Züge und die Ent­schlos­sen­heit, die sich in sei­nen Lip­pen aus­drück­te, kei­ne wei­te­ren Zwei­fel über die Fes­tig­keit sei­nes Wil­lens ent­ste­hen.

Fa­ther Fran­cis, der jün­ge­re hin­ge­gen, der in dem ho­hen Stuhl auf der an­de­ren Sei­te des Ka­mins saß, war ein Durch­schnitts­mensch; denn wenn auch sei­ne brau­nen Au­gen an­ge­nehm und aus­drucks­voll blick­ten, so konn­te man doch in sei­nem Ge­sich­te kei­ne Spur von Ent­schlos­sen­heit fin­den; sei­ne Mund­win­kel und sein Au­gen­auf­schlag lie­ßen viel­mehr einen Hang zu der dem schwä­che­ren Ge­schlecht ei­ge­nen Me­lan­cho­lie ver­mu­ten.

Mr. Tem­ple­ton war ein sehr be­jahr­ter Mann mit ener­gi­schen Zü­gen, tie­fen Run­zeln, wie je­der­mann glatt ras­tert, und so lag er nun, in eine Stepp­de­cke gehüllt, be­quem auf sei­nem Was­ser­kis­sen. End­lich er­griff er das Wort, in­dem er zu­erst einen Blick auf den zu sei­ner Lin­ken fit­zen­den Per­cy warf.

»Ja«, sag­te er, »es ist wohl schwer, sich an al­les ge­nau zu er­in­nern. In Eng­land wur­de un­se­re Par­tei wäh­rend der Ta­gung vom Jah­re 1927 zum ers­ten Male we­sent­lich be­un­ru­higt. Die­se zeig­te uns, wie tief die gan­ze so­zia­le At­mo­sphä­re vom Her­véis­mus3 durch­drun­gen war. Es hat­te wohl vor­her So­zia­lis­ten ge­ge­ben, aber kei­ner der­sel­ben konn­te mit dem grei­sen Gu­stav Her­vé ver­gli­chen wer­den, — we­nigs­tens war kei­ner so ein­fluss­reich ge­we­sen. Er lehr­te, wie Sie viel­leicht ge­le­sen ha­ben wer­den, ab­so­lu­ten Ma­te­ria­lis­mus und So­zia­lis­mus, die er bis zu ih­rem lo­gi­schen Aus­gang ver­folg­te. Der Pa­trio­tis­mus, sag­te er, wäre ein Über­rest der Bar­ba­rei und das wahr­haft Gute nur in sinn­li­chen Ver­gnü­gun­gen zu fin­den. Na­tür­lich wur­de er über­all aus­ge­lacht. Man sag­te, dass es ohne Re­li­gi­on un­mög­lich wäre, un­ter den Volks­mas­sen einen an­ge­mes­se­nen Be­weg­grund zu selbst der ein­fachs­ten Form so­zia­ler Ord­nung zu fin­den. Aber al­lem An­schein nach hat­te er recht. Nach dem Fall der fran­zö­si­schen Kir­che zu Be­ginn des Jahr­hun­derts und den Met­ze­lei­en von 1914 be­gann die Bour­geoi­sie sich zu or­ga­ni­sie­ren; die­se au­ßer­ge­wöhn­li­che Be­we­gung setz­te in al­lem Ernst ein und wur­de von den mitt­le­ren Volks­klas­sen wei­ter­ge­führt, un­ter Bei­sei­te­set­zung al­len Pa­trio­tis­mus, al­ler Rang­un­ter­schie­de und na­he­zu ohne Waf­fen. Na­tür­lich stand al­les un­ter der Lei­tung der Frei­mau­rer. Sie ver­brei­te­te sich nach Deutsch­land, wo be­reits der Ein­fluss von Karl Marx —«

»Ge­wiss, mein Herr«, un­ter­brach ihn Per­cy in sanf­ter Wei­se, »aber möch­ten Sie uns, bit­te, sa­gen, was in Eng­land ge­sch­ah.«

»Ja rich­tig, Eng­land. Nun, im Jah­re 1917 er­griff die Ar­bei­ter­par­tei die Zü­gel, und der Kom­mu­nis­mus nahm da­mit ei­gent­lich sei­nen An­fang. Da­ran kann ich mich al­ler­dings nicht mehr er­in­nern, doch pfleg­te mein Va­ter ihn von die­sem Zeit­punk­te an zu da­tie­ren. Es war nur ein Wun­der, dass alle die­se Be­we­gun­gen nicht schnel­ler um sich grif­fen, doch ich ver­mu­te, es steck­te noch ein gu­tes Stück To­ry­tum4 im Vol­ke.

Auch ver­geht ein Jahr­hun­dert ge­wöhn­lich nicht so schnell, wie man es er­war­tet, be­son­ders dann nicht, wenn es mit großen Auf­re­gun­gen be­gon­nen hat. Aber da­mals ent­stand die neue Ord­nung, und die Kom­mu­nis­ten ha­ben, mit Aus­nah­me des un­be­deu­ten­den Fal­les im Jah­re 1928, nie wie­der einen ernst­li­chen Rück­stoß er­lit­ten. Blen­kin grün­de­te ›Das neue Vol­k‹, und die ›Ti­mes‹ kam in Ver­fall, aber son­der­ba­rer­wei­se hielt sich das Ober­haus bis zum Jah­re 1935, wo es zum letz­ten Male fiel. Die Staats­kir­che hat­te sich im Jah­re 1929 end­gül­tig auf­ge­löst.« —

»Und wel­che Wir­kung hat­te dies in re­li­gi­öser Be­zie­hung?«, frag­te Per­cy schnell, da der Greis in­ne­hielt, sich räus­per­te und sei­nen In­ha­la­ti­ons­ap­pa­rat hö­her stell­te. Dem Pries­ter lag viel dar­an, bei die­sem Punk­te ste­hen­zu­blei­ben.

»Es war we­ni­ger ein Er­eig­nis«, er­wi­der­te der an­de­re, »als viel­mehr eine Wir­kung an und für sich. Se­hen Sie, nach­dem die Ri­tua­lis­ten, wie man sie zu nen­nen pfleg­te, ihr Mög­lichs­tes ge­tan hat­ten, um mit der Ar­bei­ter­par­tei vor­an­zu­kom­men, ver­ei­nig­ten sie sich nach dem Kon­gress von 1919, wo das Ni­zäi­sche Glau­bens­be­kennt­nis ab­kam, mit der Kir­che; und wah­re Be­geis­te­rung war nur un­ter ih­nen selbst zu fin­den. Aber in­so­fern als die end­gül­ti­ge Auf­lö­sung eine Wir­kung her­vor­brach­te, be­stand die­se, glau­be ich, dar­in, dass das, was von der Staats­kir­che üb­rig ge­blie­ben war, sich mit der Frei­en Kir­che ver­ei­nig­te, und die Freie Kir­che war, im Gan­zen ge­nom­men, nichts wei­ter als eine Schwär­me­rei. Nach den in den zwan­zi­ger Jah­ren statt­ge­hab­ten er­neu­ten An­grif­fen von deut­scher Sei­te her war die Bi­bel als Au­to­ri­tät voll­stän­dig auf­ge­ge­ben wor­den, und ei­ni­ge sind der Mei­nung, dass der Glau­be an die Gott­heit Chris­ti schon im Be­ginn des Jahr­hun­derts nur noch dem Na­men nach be­stand. Da­für hat­te die Ke­no­ti­sche5 Theo­rie schon ge­sorgt. Jene son­der­ba­re klei­ne Re­gung un­ter den An­hän­gern der Frei­en Kir­che hat­te so­gar schon frü­her be­gon­nen, da­mals, als die Pas­to­ren, die eben nur mit dem Strom schwam­men — die so­zu­sa­gen et­was Zug­luft spür­ten —, ihre bis­he­ri­gen Stel­lun­gen ver­lie­ßen. Es ist selt­sam un­ter den Be­rich­ten aus je­ner Zeit zu le­sen, wie man sie da­mals als Frei­den­ker be­grüß­te. Und ge­ra­de dies wa­ren sie nicht … Aber, wo war ich denn ste­hen­ge­blie­ben. Ja, rich­tig — nun, da­durch be­ka­men wir frei­es Feld, und die Kir­che mach­te wäh­rend ei­ni­ger Zeit au­ßer­or­dent­li­che Fort­schrit­te, — das heißt au­ßer­or­dent­lich im Hin­blick auf die Um­stän­de, denn Sie müs­sen be­den­ken, dass die Din­ge sich da­mals an­ders ver­hiel­ten, als es vor zehn oder zwan­zig Jah­ren der Fall ge­we­sen war. Ich will da­mit sa­gen, um mich kurz aus­zu­drücken, dass man schon be­gon­nen hat­te, die Bö­cke von den Scha­fen zu son­dern. Die re­li­gi­ösen Leu­te wa­ren ei­gent­lich durch­weg Ka­tho­li­ken und In­di­vi­dua­lis­ten, die Gott­lo­sen woll­ten von dem über­na­tür­li­chen über­haupt nichts wis­sen und wa­ren aus­schließ­lich Ma­te­ria­lis­ten und Kom­mu­nis­ten. Aber die Fort­schrit­te, die wir mach­ten, ver­dan­ken wir ei­ni­gen her­vor­ra­gen­den Män­nern, — De­la­ney, dem Phi­lo­so­phen, den bei­den Phil­an­thro­pen McAr­thur und Lar­gent und so wei­ter. Es schi­en wirk­lich, als ob De­la­ney und sei­ne An­hän­ger al­ler er­rei­chen wür­den. Erin­nern Sie sich an sei­ne Ana­lo­gie? Ja, rich­tig, al­les dies ist ja in den Text­bü­chern ent­hal­ten … Und dann hat­ten wir, am Ende des Va­ti­ka­ni­schen Kon­zils, wel­ches im neun­zehn­ten Jahr­hun­dert ein­be­ru­fen, aber nie ge­schlos­sen wor­den war, große Ver­lus­te durch die Ent­schei­dun­gen. Man pfleg­te es den ›Ex­odus der In­tel­lek­tu­el­len‹ zu nen­nen.« —

»Die bib­li­schen Ent­schei­dun­gen«, warf der jün­ge­re der bei­den Pries­ter ein.

»Zum Teil; aber der gan­ze Kon­flikt be­gann mit dem Auf­kom­men des Mo­der­nis­mus zu An­fang des Jahr­hun­derts; mehr noch aber war es die Ver­ur­tei­lung De­la­neys und im All­ge­mei­nen der Neu-Tran­szen­den­ta­lis­mus, wie man ihn da­mals auf­fass­te, üb­ri­gens starb je­ner au­ßer­halb der Kir­che, wie Sie wis­sen. Dann wur­de Sciot­tis Werk über ver­glei­chen­de Re­li­gi­ons­wis­sen­schaft ver­ur­teilt. Da­rauf mach­ten die Kom­mu­nis­ten Fort­schrit­te, wenn auch nur sehr lang­sa­me. Es mag Ih­nen, ver­mu­te ich, merk­wür­dig Vor­kom­men, aber Sie kön­nen sich die Auf­re­gung nicht vor­stel­len, als im Jah­re 1960 das Ge­setz, be­tref­fend den Han­del mit Ge­brauchs­mit­teln, in Kraft trat. Die Leu­te glaub­ten, dass jede Tat­kraft sto­cken müss­te, wenn so vie­le Be­rufs­stän­de ver­staat­licht wür­den; aber wie Sie wis­sen, war das nicht der Fall.«

»In wel­chem Jah­re war es, dass die Zwei­drit­tel­mehr­heits-Vor­la­ge durch­ging?«, frag­te Per­cy.

»O, lan­ge vor­her, im ers­ten oder zwei­ten Jah­re nach dem Fall des Ober­hau­ses. Es war dies, glau­be ich, not­wen­dig, sonst wä­ren die In­di­vi­dua­lis­ten noch voll­stän­dig ver­rückt ge­wor­den. Nun, das Ge­brauchs­mit­tel­ge­setz war nicht zu ver­mei­den. Schon da­mals, als die Ei­sen­bah­nen in Lan­des­be­sitz über­gin­gen, hat­te das Volk an­ge­fan­gen, das ein­zu­se­hen. Für eine Wei­le nahm das Hand­werk einen star­ken Auf­schwung, denn alle die In­di­vi­dua­lis­ten, wel­che sich zu ei­nem sol­chen eig­ne­ten, ver­leg­ten sich dar­auf (ge­ra­de da­mals war es, dass auch die Tol­ler Schu­le ge­grün­det wur­de); aber nach und nach wand­ten sie sich doch wie­der staat­li­chen An­stel­lun­gen zu. Die Ge­winn­gren­ze von sechs Pro­zent für Pri­vat­un­ter­neh­men hat­te eben nicht viel Ver­lo­cken­des — und der Staat zahl­te gut.« —

Per­cy schüt­tel­te den Kopf.

»Ja, aber ich be­grei­fe den ge­gen­wär­ti­gen Stand der Din­ge nicht. Sie sag­ten vor­hin, dass es nur mit klei­nen Schrit­ten vor­an­ging.«

»Ja«, mein­te der alte Herr, »Sie müs­sen an die Ar­men­ge­setz­ge­bung den­ken. Da­durch hat­ten die Kom­mu­nis­ten für alle Zu­kunft ge­won­nen. Man muss sa­gen, Braithwai­te ver­stand sich auf sein Ge­schäft.«

Der jun­ge Per­cy sah ihn fra­gend an.

»Die Ab­schaf­fung des Ar­beits­haus-Sys­tems!«, sag­te Mr. Tem­ple­ton. »Na­tür­lich ist das al­les für Sie alte Ge­schich­te; aber ich er­in­ne­re mich, als ob es ges­tern ge­we­sen wäre. Eben das war es, was der Mon­ar­chie und den Uni­ver­si­tä­ten ein Ende be­rei­te­te.«

»Ah«, sag­te Per­cy, »dar­über möch­te ich ger­ne ei­ni­ges von Ih­nen er­fah­ren.«

»So­fort. Also, Braithwai­tes Werk war dies: Nach dem al­ten Sys­tem wur­den alle Ar­men gleich­be­han­delt und fühl­ten dies. Nach dem neu­en Sys­tem gab es die drei Gra­de, die wir jetzt ha­ben, und die Er­tei­lung des Wahl­rech­tes an die bei­den hö­he­ren. Nur der ganz Wert­lo­se wur­de dem drit­ten Gra­de zu­ge­wie­sen und mehr oder we­ni­ger als Ver­bre­cher be­han­delt — na­tür­lich erst nach sorg­fäl­ti­ger Prü­fung. Dann kam die Re­or­ga­ni­sa­ti­on der Al­ters­un­ter­stüt­zun­gen. Also se­hen Sie dar­aus nicht, wie sehr das den Kom­mu­nis­ten zu­gu­te­kam? Die In­di­vi­dua­lis­ten — To­ries nann­te man sie, als ich noch ein Kna­be war — die In­di­vi­dua­lis­ten ha­ben seit­her kei­ne Aus­sich­ten mehr ge­habt. Heut­zu­ta­ge sind sie nur mehr ein lee­res Netz. Die ar­bei­ten­den Klas­sen in ih­rer Ge­samt­heit — und das be­deu­te­te: neun­und­neun­zig vom Hun­dert — hat­ten sie ge­gen sich.« Per­cy sah auf, aber sein Ge­gen­über fuhr fort: »Dann hat­ten wir das Ge­fäng­nis­re­form­ge­setz un­ter Mac­pher­son und die Ab­schaf­fung der To­dess­tra­fe; dann end­lich das Un­ter­richts­ge­setz von 1959, das den dog­ma­ti­schen Sä­ku­la­ris­mus ein­setz­te: die tat­säch­li­che Ab­schaf­fung des Erbrechts, ver­bun­den mit der Re­for­mie­rung der Ver­bind­lich­kei­ten Ver­stor­be­ner. —« »Ich er­in­ne­re mich nicht mehr an das alte Sys­tem, wie war es ei­gent­lich?« un­ter­brach Per­cy.

»Ja, man soll­te es nicht für mög­lich hal­ten, aber nach dem al­ten Sys­tem wa­ren alle gleich hoch be­steu­ert. Zu­erst kam die Erb­schaft­seinschät­zung, und dann wur­de die­se so um­ge­än­dert, dass die Steu­er auf er­erb­tes Ver­mö­gen drei­mal so hoch war, als die auf er­wor­be­nes Ver­mö­gen, wo­durch man im Jah­re 1989 die Leh­re Karl Mar­x’ an­ge­nom­men hat­te, — Ers­te­re trat aber im Jah­re 1977 in Kraft. Nun, durch all die­se Vor­gän­ge hielt Eng­land Schritt mit dem Kon­ti­nent; wir ka­men ge­ra­de noch zu­recht, uns an dem end­gül­ti­gen Ent­wurf, be­tref­fend den ame­ri­ka­ni­schen Frei­han­del, zu be­tei­li­gen. Wie Sie sich er­in­nern, war das die ers­te Wir­kung des Sie­ges der So­zi­al­de­mo­kra­tie in Deutsch­land.«

»Aber wie ge­lang­ten wir dazu, nicht in den Krieg im Os­ten ver­wi­ckelt zu wer­den?«, frag­te Per­cy et­was er­regt.

»Ja, das ist eine lan­ge Ge­schich­te, aber, mit ei­nem Wort, Ame­ri­ka hin­der­te uns dar­an, und auf die­se Wei­se gin­gen uns In­di­en und Aus­tra­li­en ver­lo­ren. Ich glau­be, seit dem Jah­re 1925 sind die Kom­mu­nis­ten ih­rem Fal­le nie so nahe ge­we­sen, wie da­mals. Aber Braithwai­te wuss­te in sehr klu­ger Wei­se sich her­aus­zu­ar­bei­ten, in­dem er uns das Pro­tek­to­rat von Süd­afri­ka ein für alle Mal er­warb, ob­wohl er da­mals schon ein al­ter Mann war.«

Mr. Tem­ple­ton un­ter­brach sich, um zu hus­ten, wäh­rend Fa­ther Fran­cis leicht seufz­te und auf sei­nem Stuhl hin und her rück­te.

»Und Ame­ri­ka?«, frag­te die­ser.

»Ja, das ist al­les sehr kom­pli­ziert. Ame­ri­ka war, wie Sie wis­sen, sich sei­ner Stär­ke be­wusst und an­nek­tier­te noch im sel­ben Jah­re Ka­na­da. Das war der schlimms­te Zeit­punkt für uns.«

Per­cy er­hob sich.

»Ha­ben Sie einen Ge­schichts­at­las, Mr. Tem­ple­ton?«, frag­te er.

Der Greis wies auf ein Bü­cher­brett. »Dort ist er.«

Ein paar Au­gen­bli­cke be­trach­te­te Per­cy schwei­gend die Kar­ten, in­dem er sie auf sei­nen Kni­en auf­schlug.

»Je­den­falls ist so al­les viel ein­fa­cher«, sag­te er zu sich selbst, wäh­rend er die viel­far­bi­ge Kar­te des be­gin­nen­den zwan­zigs­ten mit den drei großen Farb­flä­chen auf je­ner des ein­und­zwan­zigs­ten Jahr­hun­derts ver­glich.

Er fuhr mit dem Fin­ger über Asi­en ent­lang. Auf dem in Matt­gelb ge­zeich­ne­ten Ge­bie­te, das vom Ural im Wes­ten bis zur Be­ring­stra­ße6 im Os­ten reich­te und sich über In­di­en, Aus­tra­li­en und Neu­see­land er­streck­te, stand in großen Buch­sta­ben »Reich des Os­tens«. Sein Blick fiel auf das Rot; es war viel klei­ner, aber doch noch be­deu­tend ge­nug, da es nicht nur das ei­gent­li­che Eu­ro­pa, son­dern auch Russ­land bis zum Ural und ganz Afri­ka be­deck­te. Die in Blau ge­hal­te­ne Ame­ri­ka­ni­sche Re­pu­blik um­fass­te die Ge­samt­heit die­ses Kon­ti­nen­tes und ver­schwand ge­gen den Rand der west­li­chen Halb­ku­gel in ei­ner Un­zahl blau­er Punk­te, die aus dem wei­ßen Ozean auf­tauch­ten.

»Ja, ein­fa­cher ist es«, be­merk­te der alte Herr tro­cken.

Per­cy klapp­te das Buch zu und stell­te es ne­ben sei­nen Stuhl.

»Und jetzt, Mr. Tem­ple­ton, was wird zu­nächst ge­sche­hen?«

Der alte Tory-Staats­mann lä­chel­te.

»Weiß Gott«, sag­te er, »wenn der Os­ten sich ent­schließt, sich zu re­gen, kön­nen wir nichts ma­chen. Ich weiß über­haupt nicht, warum er sich noch nicht er­ho­ben hat. Ich glau­be, die Ur­sa­che liegt in re­li­gi­ösen Dif­fe­ren­zen.«

»Eu­ro­pa wird sich nicht spal­ten?«, frag­te der Pries­ter.

»Nein, nein. Wir wis­sen jetzt, wo auf un­se­rer Sei­te die Ge­fahr ist. Und Ame­ri­ka wird si­cher­lich auf un­se­rer Sei­te sein. Aber, wie dem auch sei, Gott hel­fe uns — oder Ih­nen, möch­te ich eher sa­gen —, wenn das Reich sich regt, es kennt nun end­lich sei­ne ei­ge­ne Stär­ke.«

Still­schwei­gen herrsch­te für ei­ni­ge Mo­men­te. Ein schwa­ches Zit­tern ging durch den Raum; eine der Rie­sen­lo­ko­mo­ti­ven pas­sier­te den über ih­nen ge­le­ge­nen brei­ten Bou­le­vard.

»Pro­phe­zei­en Sie!« brach Per­cy das Schwei­gen. »Ich mei­ne, be­züg­lich der Re­li­gi­on.«

Mr. Tem­ple­ton tat einen lan­gen Atem­zug aus sei­nem Ap­pa­rat; dann nahm er die Un­ter­hal­tung wie­der auf.

»Kurz ge­sagt«, be­gann er, »wir ha­ben drei re­li­gi­öse Mäch­te — den Ka­tho­li­zis­mus, den Hu­ma­ni­ta­ris­mus und die Re­li­gio­nen des Os­tens. Was die Letz­te­ren be­trifft, kann ich nichts pro­phe­zei­en, wenn ich auch glau­be, dass schließ­lich die Su­fis Sie­ger blei­ben wer­den. Et­was wird ge­sche­hen; der Eso­te­ri­zis­mus — und da­mit der Pan­the­is­mus — schrei­tet mäch­tig vor­an; und die Ver­schmel­zung der chi­ne­si­schen mit der ja­pa­ni­schen Dy­nas­tie wirft alle un­se­re Be­rech­nun­gen über den Hau­fen. Aber, und dar­an ist kein Zwei­fel, in Eu­ro­pa und Ame­ri­ka voll­zieht sich der Kampf zwi­schen den bei­den an­de­ren. Wir kön­nen al­les Üb­ri­ge bei­sei­te­las­sen. Und, wenn Sie wün­schen, dass ich mei­ne Mei­nung sage, ich glau­be, dass, mensch­lich ge­spro­chen, der Ka­tho­li­zis­mus rasch zu­rück­ge­hen wird. Es ist voll­kom­men wahr, dass der Pro­tes­tan­tis­mus tot ist. Die Mensch­heit hat end­lich er­kannt, dass eine über­na­tür­li­che Re­li­gi­on eine ab­so­lu­te Au­to­ri­tät er­for­dert, und dass die Frei­heit in Glau­bens­fra­gen nichts an­de­res ist, als der Be­ginn der Zer­set­zung. Und eben­so wahr ist es, dass, nach­dem die ka­tho­li­sche Kir­che die ein­zi­ge In­sti­tu­ti­on ist, wel­che für sich über­na­tür­li­che Au­to­ri­tät mit all ih­ren er­bar­mungs­lo­sen Kon­se­quen­zen in An­spruch nimmt, sie al­lein die An­hän­ger­schaft so ziem­lich al­ler Chris­ten be­sitzt, die sich noch ir­gend einen über­na­tür­li­chen Glau­ben be­wahrt ha­ben. Es gibt wohl ei­ni­ge Bes­ser­wis­ser, be­son­ders in Ame­ri­ka und bei uns, aber sie kom­men nicht in Be­tracht. Das ist al­les ganz gut; aber and­rer­seits dür­fen Sie nicht ver­ges­sen, dass der Hu­ma­ni­ta­ris­mus ent­ge­gen den Er­war­tun­gen al­ler im Be­griff ist, selbst eine, wenn auch der über­na­tür­li­chen ent­ge­gen­ge­setz­te, Re­li­gi­on zu wer­den. Er ist nichts an­de­res, als Pan­the­is­mus; er schafft sich un­ter dem Deck­man­tel der Frei­mau­re­rei einen ei­ge­nen Ri­tus, er hat sein ei­ge­nes Cre­do: ›Gott ist der Men­sch‹, und so fort. Er bie­tet da­her re­li­gi­ösem For­schen in ge­wis­ser Be­zie­hung wirk­li­chen Stoff, er idea­li­siert, ohne da­bei ir­gend­wel­che An­for­de­run­gen an geis­ti­ge Fä­hig­keit zu stel­len. Dazu kommt, dass ihm alle Kir­chen und Ka­the­dra­len, die uns­ri­gen aus­ge­nom­men, zur Ver­fü­gung ste­hen, und dass man dort end­lich an­ge­fan­gen hat, dem Ge­füh­le Rech­nung zu tra­gen. Es ist ihm au­ßer­dem mög­lich, sei­ne Sym­bo­le zur Schau zu tra­gen, was wir nicht dür­fen. Ich glau­be, in spä­tes­tens zehn Jah­ren wird er ge­setz­lich an­er­kannt sein.

Nun be­den­ken Sie, dass wir Ka­tho­li­ken be­reits ab­neh­men; seit mehr als fünf­zig Jah­ren ge­hen wir ste­tig zu­rück. Nach mei­ner Schät­zung ma­chen wir un­ge­fähr ein Vier­zigs­te! Ame­ri­kas aus, — und das ist das Re­sul­tat der ka­tho­li­schen Be­we­gung vom An­fang der zwan­zi­ger Jah­re. In Frank­reich und Spa­ni­en exis­tie­ren wir nicht mehr, ge­schwei­ge denn in Deutsch­land. Wir hal­ten al­ler­dings un­se­re Stel­lung im Os­ten, aber selbst da bil­den wir ein hal­b­es Pro­zent — die Sta­tis­ti­ken sa­gen es we­nigs­tens — und die­ses ist sehr ver­streut. In Ita­li­en. Es ist rich­tig, Rom ge­hört wie­der uns, das ist aber auch al­les; hier ha­ben wir das ge­sam­te Ir­land und un­ge­fähr einen Ka­tho­li­ken auf sech­zig Ein­woh­ner in Eng­land, Wa­les und Schott­land, aber wir hat­ten noch vor sieb­zig Jah­ren einen auf vier­zig. Dazu kom­men die enor­men Fort­schrit­te der Psy­cho­lo­gie, die seit min­des­tens ei­nem Jahr­hun­dert sich di­rekt ge­gen uns rich­ten. An­fangs, se­hen Sie, herrsch­te der rei­ne und nack­te Ma­te­ria­lis­mus, — die­ser ver­sag­te mehr oder we­ni­ger, — er war zu roh, — bis ihm die Psy­cho­lo­gie zu Hil­fe kam. Nun­mehr be­an­sprucht die Psy­cho­lo­gie das gan­ze üb­ri­ge Ge­biet, und der Sinn für Über­na­tür­li­ches scheint sich für jene zu er­klä­ren. So ste­hen die Din­ge. Nein, Fa­ther, wir neh­men ab; und wir wer­den wei­ter ab­neh­men, und ich glau­be, wir müs­sen je­den Mo­ment auf eine Ka­ta­stro­phe ge­fasst sein.«

»Aber —«, be­gann Per­cy.

»Sie hal­ten das für die Schwä­che ei­nes al­ten Man­nes, der am Ran­de des Gra­bes steht. Nun, es ist, wie ich den­ke. Ich sehe kei­ne Hoff­nung. In der Tat, es scheint mir so­gar, dass ge­ra­de jetzt et­was Uner­war­te­tes über uns her­ein­bre­chen wird. Nein, ich sehe kei­ne Hoff­nung, bis —«

Per­cy blick­te rasch auf.

»Bis un­ser Hei­land wie­der­kehrt«, sag­te der alte Staats­mann. —

Fa­ther Fran­zis seufz­te aber­mals und Schwei­gen trat ein.

»Und der Fall der Uni­ver­si­tä­ten?«, frag­te Per­cy nach ei­ner Wei­le.

»Mein lie­ber Herr, das war ge­nau wie beim Fall der Klös­ter un­ter Hein­rich VIII. — die­sel­ben Er­geb­nis­se, die­sel­ben Be­weis­grün­de, die­sel­ben Zwi­schen­fäl­le. Sie wa­ren die Boll­wer­ke des In­di­vi­dua­lis­mus, wie die Klös­ter jene des Papst­tums wa­ren, und sie wur­den mit der­sel­ben Scheu und dem glei­chen Neid be­trach­tet. Dann be­gann die ge­wöhn­li­che Art von Be­mer­kun­gen über die Men­ge des dort ge­trun­ke­nen Port­weins, und so­gleich sag­te man, die Uni­ver­si­tä­ten hät­ten sich über­lebt, dass ihre In­sas­sen Mit­tel und Zweck ver­wech­sel­ten, — und man hat­te sehr viel mehr Grund, das zu sa­gen. Je­den­falls, wo über­na­tür­li­cher Glau­be be­steht, sind Klös­ter eine ein­fa­che Kon­se­quenz des­sel­ben; der Zweck ei­ner rein welt­li­chen Er­zie­hung aber ist wohl die Schaf­fung von et­was Wahr­nehm­ba­rem — ent­we­der Cha­rak­ter oder Kennt­nis­sen; und es kam da­hin, dass es un­mög­lich mehr be­wie­sen wer­den konn­te, dass die Leis­tun­gen der Uni­ver­si­tä­ten de­ren Exis­tenz ge­recht­fer­tigt hät­ten. Die Un­ter­schei­dung zwi­schen ον und μη7 ist noch nicht Zweck an sich, und die Men­schen, die durch ein sol­ches Stu­di­um ge­bil­det wur­den, wa­ren nicht das, was das Eng­land des Zwan­zigs­ten Jahr­hun­derts brauch­te. Und ich möch­te nicht ein­mal be­haup­ten, dass die­sel­ben etwa mir be­son­ders ent­spra­chen (und ich bin im­mer ein un­ent­weg­ter In­di­vi­dua­list ge­we­sen) — aus­ge­nom­men viel­leicht durch ihr Pa­thos.«

»Ja?«, sag­te Per­cy.

»O, an Pa­thos fehl­te es am al­ler­we­nigs­ten. Die Hoch­schu­len von Cam­bridge und die Ko­lo­ni­al­aka­de­mie von Ox­ford wa­ren die letz­te Hoff­nung, und end­lich gin­gen auch die­se ein. Die al­ten Her­ren Pro­fes­so­ren, die ›D­ons‹, zo­gen mit ih­ren Bü­chern um­her, aber nie­mand frag­te mehr nach ih­nen, — sie wa­ren zu ein­sei­tig theo­re­tisch; ei­ni­ge lan­de­ten in Ar­men­häu­sern ers­ten oder zwei­ten Gra­des, um an­de­re nah­men sich mit­lei­di­ge Geist­li­che an, auch wur­de ein Ver­such ge­macht, sie ge­mein­sam in Dub­lin un­ter­zu­brin­gen, aber auch die­ser schei­ter­te, und bald hat­te man ih­rer ganz ver­ges­sen. Die Ge­bäu­lich­kei­ten wur­den, wie Ih­nen ja be­kannt, für alle mög­li­chen Zwe­cke ver­wen­det. Ox­ford war dann für ei­ni­ge Zeit Ma­schi­nen­fa­brik, und Cam­bridge eine Art staat­li­ches La­bo­ra­to­ri­um. Ich war ja sei­ner­zeit, wie Sie wis­sen, selbst in Kings Col­le­ge, und dar­um hät­ten die­se Din­ge für mich nicht schreck­li­cher sein kön­nen; im­mer­hin freut es mich, dass we­nigs­tens die Ka­pel­le of­fen­blieb, wenn auch nur als Mu­se­um. Es war wirk­lich nicht hübsch, in den Chor­stüh­len ana­to­mi­sche Prä­pa­ra­te auf­ge­stellt zu se­hen. Nun, ich den­ke, viel häss­li­cher war es auch nicht, als Sto­len und Tor­rö­cke dar­in hän­gen zu se­hen.«

»Und was ge­sch­ah mit Ih­nen?«

»O, ich kam sehr bald ins Par­la­ment und be­saß zu­dem et­was ei­ge­nes Ver­mö­gen. Aber für man­chen der an­de­ren war es sehr hart; sie hat­te eine ge­rin­ge Pen­si­on, we­nigs­tens alle die­je­ni­gen, die ar­beits­un­fä­hig wa­ren. Und doch, ich weiß nicht, ich glau­be, es muss­te so kom­men. Sie wa­ren ja nur we­nig mehr als pit­to­res­ke Über­bleib­sel, die nicht ein­mal die Gna­de re­li­gi­öser Über­zeu­gung hat­ten.«

Per­cy seufz­te wie­der und blick­te in das Ge­sicht des al­ten Man­nes, der, froh ge­launt, Erin­ne­run­gen al­ter Zei­ten auf­frisch­te. Plötz­lich, das The­ma wech­selnd, frag­te er: »Wie den­ken Sie hin­sicht­lich des eu­ro­päi­schen Par­la­ments?«

Der alte Herr be­gann von Neu­em.

»O! … ich den­ke, das wird auch noch kom­men, wenn der rich­ti­ge Mann ge­fun­den wer­den kann, der es durch­setzt. Das gan­ze ab­ge­lau­fe­ne Jahr­hun­dert dräng­te, wie Sie se­hen, dar­auf hin. Und der Pa­trio­tis­mus ist schnell aus­ge­stor­ben; aber er muss­te ver­schwin­den, wie die Skla­ve­rei und an­de­res un­ter dem Ein­fluss der ka­tho­li­schen Kir­che ver­schwun­den sind. Nun ist es ge­sche­hen ohne die Kir­che und die Fol­ge da­von ist, dass die Welt im Be­grif­fe steht, sich ge­gen uns zu wen­den, es ist ein or­ga­ni­sier­ter Ant­ago­nis­mus, — eine Art ka­tho­li­scher, all­ge­mei­ner An­ti­kir­che. Die De­mo­kra­tie hat be­sorgt, was die gött­li­che Mon­ar­chie ge­tan ha­ben soll­te. Wenn das Pro­jekt ver­wirk­licht wird, glau­be ich, mag uns noch ein­mal so et­was wie eine Ver­fol­gung be­vor­ste­hen … Aber ich wie­der­ho­le, viel­leicht ret­tet uns die Er­he­bung des Fer­nen Os­tens, wenn sie zu­stan­de kommt … Ich weiß nicht …«

Ei­nen Au­gen­blick noch blieb Per­cy ru­hig sit­zen, dann stand er plötz­lich auf.

»Ich muss ge­hen, Mr. Tem­ple­ton«, sag­te er, sich nun der Welt­spra­che Es­pe­ran­to be­die­nend, »es ist be­reits nach neun­zehn Uhr. Mei­nen bes­ten Dank. Kom­men Sie mit, Fa­ther?«

Die­ser in sei­nem dun­kel­grau­en Ge­wand, das den Pries­tern zu tra­gen ge­stat­tet war, er­hob sich eben­falls und nahm sei­nen Hut.

»Also, Fa­ther«, be­gann der alte Herr noch­mals, »kom­men Sie wie­der ein­mal, wenn ich Ih­nen heu­te nicht etwa zu schwatz­haft ge­we­sen bin. Ver­mu­te ich recht, Sie ha­ben noch Ihren Brief zu schrei­ben?«

Per­cy nick­te. »Die Hälf­te be­sorg­te ich schon heu­te Mor­gen«, sag­te er, »aber ich fühl­te, es fehl­te mir noch ein wei­te­rer Über­blick, wie er zum völ­li­gen Ver­ständ­nis un­be­dingt not­wen­dig ist, und ich dan­ke Ih­nen herz­lich, dass Sie ihn mir ge­ge­ben ha­ben. Es ist wirk­lich eine große Ar­beit, die­ser täg­li­che Be­richt an den Kar­di­nal-Pro­tek­tor, und ich den­ke schon dar­an, zu re­si­gnie­ren, wenn man es mir ge­stat­tet.«

»Mein lie­ber Herr, tun Sie das nicht. Wenn ich mir er­lau­ben darf, es Ih­nen ins Ge­sicht zu sa­gen, ich glau­be, Sie be­sit­zen sehr schar­fen Ver­stand; und ehe Rom nicht all­sei­tig un­ter­rich­tet ist, kann es nichts tun. Ich be­zweifle, ob Ihre Kol­le­gen hier­in so ge­nau wä­ren, wie Sie.«

Per­cy lä­chel­te, durch He­ben sei­ner dunklen Au­gen­brau­en ab­weh­rend.

»Kom­men Sie, ge­hen wir«, sag­te er.

Die bei­den Pries­ter trenn­ten sich an der Schwel­le des Kor­ri­dors, und Per­cy stand eine oder zwei Mi­nu­ten, in die wohl­be­kann­te Herbst­land­schaft hin­aus­bli­ckend und sich be­mü­hend, sie ganz zu er­fas­sen. Was er dort un­ten ge­hört hat­te, schi­en ihm so ei­gen­tüm­lich die­se Vi­si­on glän­zen­den Ge­dei­hens, die da vor ihm lag, zu be­leuch­ten.

Es schi­en hel­ler Tag zu sein. Künst­li­ches Son­nen­licht hat­te al­les über­wun­den, und Lon­don kann­te jetzt kei­nen Un­ter­schied mehr zwi­schen Dun­kel­heit und Licht. Er be­fand sich in ei­ner Art email­lier­ter Ar­ka­de, grob ge­pflas­tert mit ei­ner Kaut­schuk­mas­se, die den Fuß­tritt laut­los mach­te. Un­ter ihm, am Fuße der Trep­pe, ström­te eine end­lo­se Dop­pel­li­nie von Leu­ten, durch ein Ge­län­der ge­trennt, nach rechts und links hin, ge­räusch­los, ab­ge­se­hen von dem Ge­mur­mel der Es­pe­ran­to­wor­te, die sie wäh­rend des Ge­hens aus­tausch­ten. Durch die kla­ren, mas­si­ven Schei­ben des öf­fent­li­chen Gang­stei­ges sah man auf eine brei­te, glat­te Stra­ße von dunklem Aus­se­hen, nach den Sei­ten hin an­stei­gend und in der Mit­te ge­furcht, die be­zeich­nen­der­wei­se leer war. Und als er so dort stand, tön­te ein Geräusch fern­her von Alt-West­mins­ter, gleich dem Sum­men ei­nes Rie­sen­bie­nen­stockes und mit dem Nä­her­kom­men stär­ker wer­dend. Im nächs­ten Au­gen­blick saus­te ein durch­sich­ti­ges, nach al­len Sei­ten Licht aus­strah­len­des Et­was vor­über, und dann nahm das Geräusch wie­der ab, in Sum­men und schließ­lich Schwei­gen über­ge­hend, — der große Staats­mo­tor vom Sü­den war vor­bei­ge­rast, um die Post nach dem öst­li­chen Lon­don zu be­för­dern. Dies war eine re­ser­vier­te Stra­ße, nur Staats­fahr­zeu­ge durf­ten sie be­nüt­zen, und auch die­sen war eine Schnel­lig­keit von nicht mehr als hun­dert eng­li­schen Mei­len in der Stun­de ge­stat­tet.

Al­les an­de­re Geräusch war in die­ser kau­tschuk­ge­pflas­ter­ten Stadt un­ter­drückt; die Zir­ku­la­ti­ons­we­ge für Fuß­gän­ger wa­ren hun­dert Yards ent­fernt, und der Un­ter­grund­ver­kehr lag zu tief, um sich an­ders als durch ein schwa­ches Vi­brie­ren fühl­bar zu ma­chen. Die­se Vi­bra­ti­on zu be­sei­ti­gen und den Lärm der ge­wöhn­li­chen Fahr­zeu­ge ab­zu­schwä­chen, das war wäh­rend der letz­ten zwan­zig Jah­re das Stre­ben der staat­li­chen Sach­ver­stän­di­gen ge­we­sen.

Und ehe er wei­ter­ging, ver­nahm er wie­der über sich einen lang ge­zo­ge­nen, auf­fal­lend wohl­klin­gen­den und durch­drin­gen­den Laut, und als er sein Auge von dem Schim­mer des ru­hig da­hin­flie­ßen­den Stro­mes, der al­lein al­len Wand­lun­gen stand­ge­hal­ten hat­te, er­hob, sah er hoch über sich in den schwe­ren, lich­ten Wol­ken einen lan­gen, schlan­ken Ge­gen­stand von sanf­tem Licht um­ge­ben gen Nor­den schwe­ben und auf aus­ge­spann­ten Schwin­gen ent­schwin­den. Die­ser wohl­tö­nen­de Klang ging von ei­nem der Luft­schif­fe der eu­ro­päi­schen Li­nie aus, das sei­ne An­kunft in der Haupt­stadt Groß­bri­tan­ni­ens an­zeig­te.

»Bis un­ser Hei­land wie­der­kehrt«, dach­te er bei sich selbst, und das Elend über­kam einen Mo­ment sein Herz. Wie schwer war es doch, den Blick auf je­nen fer­nen Ho­ri­zont ge­rich­tet zu hal­ten, wäh­rend die­se Welt vor ihm lag, so be­stri­ckend in ih­rem Glan­ze und ih­rer Kraft. O, noch vor ei­ner Stun­de hat­te er sich mit Fa­ther Fran­cis dar­über un­ter­hal­ten, dass ein Un­ter­schied be­ste­he zwi­schen äu­ße­rer und in­ne­rer Grö­ße, und dass ein im­po­nie­ren­des Äu­ße­res nicht ein un­be­deu­ten­des In­ne­res aus­schlie­ße; und er war so fest über­zeugt von die­sem sei­nem Stand­punk­te, — und den­noch blieb ein Zwei­fel, bis er ihn end­lich selbst zum Schwei­gen zwang, in­dem er in sei­nem Her­zen zu dem ar­men Man­ne von Na­za­reth em­por­fleh­te, er möge sein Herz dem Her­zen ei­nes Kin­des gleich be­wah­ren.

Sei­ne Züge nah­men den Aus­druck der Ent­schlos­sen­heit an. Wie lan­ge wohl Fa­ther Fran­cis sei­nen Stand­punkt wür­de auf­recht­er­hal­ten kön­nen, dach­te er bei sich und stieg die Trep­pe hin­ab. —

Stadt­teil in der In­nen­stadt Lon­d­ons  <<<

Die eng­li­schen Ka­tho­li­ken le­gen den Welt­geist­li­chen den Ti­tel: Fa­ther (Va­ter) bei.  <<<

an­ti­mi­li­ta­ris­ti­sche Be­we­gung, be­nannt nach ih­rem Be­grün­der Gu­sta­ve Her­vé  <<<

kon­ser­va­ti­ve Par­tei des bri­ti­schen Par­la­ments  <<<

Ver­zicht auf gött­li­che At­tri­bu­te bei der Men­sch­wer­dung Je­sus Chris­tus  <<<

Meeren­ge zwi­schen der öst­lichs­ten Stel­le Asi­ens und dem west­lichs­ten Punkt des ame­ri­ka­ni­schen Fest­lands  <<<

Grie­chisch ›sein‹ und ›nicht‹  <<<

Erstes Buch – Die Ankunft

Erstes Kapitel

1.

Oli­ver Brand, der neue Ab­ge­ord­ne­te für Croy­don, saß in sei­nem Stu­dier­zim­mer und sah über sei­ne Schreib­ma­schi­ne hin­weg aus dem Fens­ter. Sein Haus, ge­gen Nor­den ge­rich­tet, war am äu­ßers­ten Ende ei­nes Aus­läu­fers der Sur­rey­hü­gel, die jetzt in­fol­ge der Tun­nels und Durch­brü­che kaum mehr zu er­ken­nen wa­ren; nur einen Kom­mu­nis­ten konn­te die jet­zi­ge Aus­sicht noch be­geis­tern. Un­mit­tel­bar un­ter­halb der brei­ten Fens­ter fiel das um­grenz­te Ge­län­de auf etwa hun­dert Fuß hin und in eine Mau­er aus­ge­hend steil ab, wäh­rend jen­seits der­sel­ben, so­weit das Auge reich­te, die Welt — der Mensch und sei­ne Wer­ke — Tri­um­phe fei­er­te. Zwei brei­te Schie­nen­we­ge, ei­ner Renn­bahn glei­chend, je­der min­des­tens eine Vier­tel­mei­le breit und zwan­zig Fuß tiefer als das um­lie­gen­de Ge­län­de ge­legt, lie­fen nach ei­nem, eine Mei­le wei­ter ent­fern­ten Ve­rei­ni­gungs­punkt, wo sie sich kreuz­ten. Der eine der­sel­ben, der lin­ke, war die Haupt­li­nie nach Brighton, im Kurs­buch mit großen Buch­sta­ben be­zeich­net, der rech­te die Ne­ben­li­nie nach Tun­bridge und Has­tings. Jede die­ser bei­den Li­ni­en war in ih­rer Mit­te durch eine Ze­ment­mau­er ge­teilt, auf de­ren ei­ner Sei­te auf Stahl­schie­nen die elek­tri­sche Tram­bahn hin­führ­te; die an­de­re Sei­te bil­de­te den in drei Tei­le ge­teil­ten Au­to­mo­bil­fahr­weg. In dem Ers­ten fuh­ren, mit ei­ner Schnel­lig­keit von hun­dert­fünf­zig eng­li­schen Mei­len in der Stun­de, die staat­li­chen Wa­gen, im zwei­ten Pri­vat­au­to­mo­bil, de­nen nicht mehr als sech­zig Mei­len in der Stun­de ge­stat­tet wa­ren, im Drit­ten war der bil­li­ge Staats­wa­gen­ver­kehr, mit drei­ßig Mei­len, un­ter­ge­bracht, mit Sta­tio­nen nach je fünf Mei­len. Da­ran schloss sich der für Fuß­gän­ger, Rad­fah­rer und ge­wöhn­li­che Fuhr­wer­ke be­stimm­te Weg, auf wel­chem kein Fahr­zeug die Schnel­lig­keit von zwölf Mei­len in der Stun­de über­schrei­ten durf­te. Jen­seits die­ser großen Strän­ge dehn­te sich ein un­ab­seh­ba­res Meer von Dä­chern hin, aus dem hier und da nie­de­re Tür­me als Kenn­zei­chen der öf­fent­li­chen Ge­bäu­de her­vor­tra­ten, und von Ca­ter­ham zur Lin­ken bis zu dem ge­ra­de­aus lie­gen­den Croy­don er­schi­en al­les rein und klar in der rauch­frei­en Luft; fern ge­gen Wes­ten und Nor­den ho­ben sich die nie­de­ren Vor­stadt­hü­gel vom April­him­mel ab.

In An­be­tracht der zahl­rei­chen Be­völ­ke­rung hör­te man er­staun­lich we­nig Geräusch; ab­ge­se­hen von dem Krei­schen der Stahl­schie­nen bei dem je­des­ma­li­gen Vor­bei­sau­sen ei­nes Zu­ges nach dem Nor­den oder Sü­den und dem zeit­wei­li­gen an­ge­neh­men Laut der dem Kreu­zungs­punk­te zu­ei­len­den großen Mo­to­ren, konn­te man in die­sem Ar­beits­zim­mer we­nig mehr wahr­neh­men, als viel­leicht ein sanf­tes, lei­ses, dem Bie­nen­sum­men in ei­nem Gar­ten glei­chen­des Mur­meln.

Oli­ver war ein Freund jeg­li­cher Art mensch­li­cher Tä­tig­keit, von al­lem, was da­nach aus­sah oder klang, und so horch­te er jetzt auf­merk­sam und lä­chel­te, in die kla­re Luft hin­aus­star­rend, vor sich hin. Dann kehr­te die ge­wöhn­li­che Ent­schlos­sen­heit in sei­ne Züge zu­rück, sei­ne Fin­ger be­rühr­ten von Neu­em die Tas­ten und fuh­ren in der Vor­be­rei­tung der Rede fort.

Er hat­te es mit der Lage sei­nes Hau­ses sehr güns­tig ge­trof­fen. Es stand in dem Mit­tel­punkt ei­nes je­ner ko­los­sa­len Spinn­ge­we­be, die das Land be­deck­ten, und hät­te sei­nen Zwe­cken nicht bes­ser ent­spre­chen kön­nen. Es be­fand sich nahe ge­nug bei Lon­don, um au­ßer­or­dent­lich bil­lig zu sein, — denn alle wohl­ha­ben­den Leu­te hat­ten sich we­nigs­tens hun­dert Mei­len weit von dem ge­räusch­voll pul­sie­ren­den Her­zen Eng­lands nie­der­ge­las­sen — und doch hät­te er es sich nicht ru­hi­ger wün­schen kön­nen. Nach der einen Sei­te hin war er zehn Mi­nu­ten von West­mins­ter, nach der an­de­ren zwan­zig Mi­nu­ten von der See ent­fernt, und sein Wahl­kreis lag wie eine Re­lief­kar­te vor ihm aus­ge­brei­tet. Da au­ßer­dem die großen Lon­do­ner End­sta­tio­nen nur zehn Mi­nu­ten weit weg la­gen, hat­te er die Haupt­li­ni­en nach je­der grö­ße­ren Stadt Eng­lands be­quem zur Hand. Für einen nicht ge­ra­de sehr be­mit­tel­ten Po­li­ti­ker, der heu­te in Edin­bur­gh und mor­gen in Mar­seil­le spre­chen soll­te, wohn­te wohl kaum ein Mann in Eu­ro­pa so güns­tig wie er.

Er war von an­ge­neh­mem Äu­ße­ren, ein be­gin­nen­der Drei­ßi­ger, mit schwar­zem, straf­fem Haar, glat­tra­siert, ma­ger, männ­lich, sym­pa­thisch, hat­te blaue Au­gen und wei­ßen Teint. Heu­te nun schi­en er mit sich selbst und der Welt ganz be­son­ders zu­frie­den zu sein. Sei­ne Lip­pen be­weg­ten sich ab und zu wäh­rend der Ar­beit, sei­ne Au­gen wur­den bald grö­ßer, bald klei­ner vor Er­re­gung, und mehr als ein­mal hielt er inne, starr­te hin­aus, lä­chel­te und er­rö­te­te.

Eine Türe öff­ne­te sich; ein Mann mitt­le­ren Al­ters trat et­was ängst­lich mit ei­nem Stoß Pa­pie­re her­ein, leg­te die­se, ohne ein Wort zu sa­gen, auf den Tisch und wand­te sich wie­der der Türe zu. Oli­ver mach­te ihm mit der Hand ein Zei­chen, nach­dem er noch die letz­te Tas­te ge­drückt hat­te.

»Nun, Mr. Phil­lips?«, be­gann er.

»Es sind Nach­rich­ten aus dem Os­ten ein­ge­gan­gen, Sir«, er­wi­der­te der Se­kre­tär.

Oli­ver warf einen Blick nach der Sei­te und leg­te sei­ne Hand auf die Pa­pie­re.

»Ir­gend­wel­che voll­stän­di­ge Nach­richt?«, frag­te er.

»Nein, es gab wie­der eine Un­ter­bre­chung; Mr. Fel­sen­bur­ghs Name wird ge­nannt.«

Oli­ver schi­en es nicht ge­hört zu ha­ben; er nahm die dün­nen, be­druck­ten Blät­ter plötz­lich auf und fing an, sie durch­zu­se­hen.

»Der Vier­te von oben, Mr. Brand«, sag­te der Se­kre­tär.

Oli­ver mach­te eine un­ge­dul­di­ge Be­we­gung, und wie auf ein ge­ge­be­nes Zei­chen ver­ließ der an­de­re das Zim­mer.

Der vier­te Bo­gen von oben, grün mit ro­tem Druck, schi­en Oli­vers vol­le Auf­merk­sam­keit in An­spruch zu neh­men, denn zwei- oder drei­mal las er ihn durch, wäh­rend er re­gungs­los in sei­nem Stuhl zu­rück­lehn­te. Dann seufz­te er und ließ sei­nen Blick wie­der durchs Fens­ter schwei­fen, als sich aber­mals die Türe öff­ne­te, und eine jun­ge Dame von statt­li­cher Er­schei­nung ein­trat.

»Nun, mein Lie­ber?«, be­gann sie.

Oli­ver schüt­tel­te den Kopf und biss die Lip­pen zu­sam­men.

»Nichts Be­stimm­tes«, sag­te er, »so­gar we­ni­ger als sonst. Höre.«

Den grü­nen Bo­gen zur Hand neh­mend, fing er an, laut zu le­sen, wäh­rend die jun­ge Dame zu sei­ner Lin­ken in ei­nem Stuhl am Fens­ter Platz nahm. Sie war ein Ge­schöpf von aus­neh­men­der An­mut, groß und schlank, mit erns­ten, see­len­vol­len, grau­en Au­gen, wohl­ge­form­ten Lip­pen und ei­ner wür­de­vol­len Hal­tung in Kopf und Schul­tern. Sie hat­te lang­sam das Zim­mer durch­schrit­ten, als Oli­ver das Pa­pier zur Hand nahm, und lehn­te sich nun in ih­rem brau­nen Klei­de zu­rück, ein Bild vollen­de­ter Vor­nehm­heit und Gra­zie. Sie schi­en mit ei­nem wohl­über­leg­ten Aus­druck der Ge­duld zu­zu­hö­ren, aber aus ih­ren Au­gen sprach ein re­ges In­ter­es­se.

»Ir­kutsk, — 14. April. — Ges­tern — wie — ge­wöhn­lich — aber — mut­maß­li­cher — Ab­fall — von Sufi — Par­tei. — Trup­pen — wei­ter — zu­sam­men­zie­hen. — Fel­sen­bur­gh — An­spra­che — Bud­dhis­ten — Men­ge. — Vo­ri­gen Frei­tag — An­schlag — auf — Lla­ma — durch — An­ar­chis­ten. — Fel­sen­bur­gh — ab­ge­reist — nach — Mos­kau — wie — ver­ab­re­det, — er — so, das ist al­les«, schloss Oli­ver är­ger­lich. »Wie ge­wöhn­lich, eine Un­ter­bre­chung.«

»Ich ver­ste­he nicht das min­des­te«, sag­te sie, »wer ist ei­gent­lich Fel­sen­bur­gh?«

»Mein lie­bes Kind, das fragt man sich all­ge­mein. Man weiß nur, dass er im letz­ten Mo­ment der ame­ri­ka­ni­schen Ab­ord­nung bei­ge­ge­ben wur­de. Der ›He­rald‹ brach­te vo­ri­ge Wo­che sei­ne Le­bens­be­schrei­bung, die aber als nicht den Tat­sa­chen ent­spre­chend be­zeich­net wur­de. So viel ist ge­wiss, dass er noch sehr jung und bis­her nie her­vor­ge­tre­ten ist.«

»Nun, jetzt ist er her­vor­ge­tre­ten.«

»Ge­wiss, es scheint, als wäre er der Ma­cher der gan­zen Sa­che. Von den an­de­ren hört man nie ein Wort. Es ist ein Glück, dass er auf der rich­ti­gen Sei­te steht.«

»Und was ist dei­ne Mei­nung?«

Oli­ver blick­te wie­der nach­denk­lich durch das Fens­ter. »Ich glau­be, es ist ein Ver­steck­spiel«, sag­te er. »Das ein­zi­ge Ei­gen­tüm­li­che an der Sa­che ist nur, dass kaum je­mand sie sich wirk­lich vor­zu­stel­len scheint. Sie über­steigt al­lem Ver­mu­ten nach jede Ein­bil­dungs­kraft. Da­ran ist nicht zu zwei­feln, dass der Os­ten wäh­rend der letz­ten fünf Jah­re sich zu ei­nem Ein­fall in Eu­ro­pa ge­rüs­tet hat. Nur durch Ame­ri­ka wur­de er da­von zu­rück­ge­hal­ten; es ist ein letz­ter Ver­such, ihn we­nigs­tens zu hem­men. Wa­rum aber Fel­sen­bur­gh sich vor­drängt —« brach er ab. »Je­den­falls muss er ein gu­ter Lin­guist sein. Dies ist we­nigs­tens das fünf­te Mal, dass er zu ei­ner Men­ge spricht. Vi­el­leicht ist er nur der ame­ri­ka­ni­sche Dol­met­scher. Gott! Ich möch­te wis­sen, wer er ist.«

»Hat er noch einen an­de­ren Na­men?«

»Ju­li­an, glau­be ich, eine De­pe­sche sag­te es.«

»Wie ge­lang­te die­se her?«

Oli­ver schüt­tel­te den Kopf.

»Pri­vat­un­ter­neh­men«, sag­te er. »Die eu­ro­päi­schen Agen­tu­ren ha­ben die Ar­beit ein­ge­stellt. Je­des Te­le­gra­fen­amt wird Tag und Nacht be­wacht. Scha­ren von Flug­schif­fen kreu­zen an je­der Gren­ze. Das Reich hat of­fen­bar die Ab­sicht, die An­ge­le­gen­heit ohne uns zu ord­nen.«

»Und wenn es schlimm geht?«

»Mei­ne lie­be Ma­bel, — wenn die Höl­le los­bricht —« er mach­te eine ab­weh­ren­de Be­we­gung.

»Und was tut die Re­gie­rung?«

»Man ar­bei­tet Tag und Nacht; eben­so das üb­ri­ge Eu­ro­pa; es wäre fürch­ter­lich, wenn es zum Krie­ge käme.«

»Und stehst du kei­nen Aus­weg?«

»Ich sehe zwei Wege«, ant­wor­te­te Oli­ver lang­sam. »Ent­we­der sie fürch­ten sich vor Ame­ri­ka und über­le­gen es sich, das Feu­er zu schü­ren, oder Sie wer­den durch die Nächs­ten­lie­be dazu ge­bracht, ihre Hand zu­rück­zu­hal­ten; wenn man sie nur dazu brin­gen könn­te, zu be­grei­fen, dass im Zu­sam­men­ar­bei­ten die ein­zi­ge Hoff­nung für die Welt liegt. Aber ihre ver­damm­ten Re­li­gio­nen —«

Die jun­ge Frau seufz­te und sah hin­aus über das wei­te Dä­cher­meer zu ih­ren Fü­ßen.

Die Lage war in der Tat so ernst, als sie nur sein konn­te. Je­nes ge­wal­ti­ge Reich, be­ste­hend aus ei­nem Staa­ten­bund un­ter der Lei­tung des Soh­nes des Him­mels — es war durch Ver­schmel­zung der ja­pa­ni­schen mit der chi­ne­si­schen Dy­nas­tie und den Fall Russ­lands ent­stan­den —, hat­te sei­ne Kräf­te ge­fes­tigt und war sich sei­ner ei­ge­nen Macht wäh­rend der letz­ten fünf­und­drei­ßig Jah­re be­wusst ge­wor­den, seit­dem in der Tat es sei­ne dür­re gel­be Hand auf Aus­tra­li­en und In­di­en ge­legt hat­te. Wäh­rend die üb­ri­ge Welt die Un­ver­nunft des Krieg­füh­rens ken­nen ge­lernt, hat­te jene, nach­dem die rus­si­sche Re­pu­blik dem ver­ein­ten An­griff der gel­ben Ras­se un­ter­le­gen war, an sich ge­ris­sen, was ihr er­reich­bar war. Es schi­en jetzt, als ob die Zi­vi­li­sa­ti­on des ab­ge­lau­fe­nen Jahr­hun­derts noch­mals in das Cha­os zu­rück­ge­schwemmt wer­den soll­te, aus dem sie ent­stan­den. Nicht, als ob man sich Sor­ge mach­te we­gen der gel­ben Ras­se. Es wa­ren de­ren Herr­scher, wel­che, nach ei­ner na­he­zu ewig dau­ern­den Lethar­gie be­gon­nen hat­ten, sich zu re­gen, und es war schwer, ein­zu­se­hen, wo­durch die­se nun­mehr wie­der hät­ten zur Ruhe ge­bracht wer­den kön­nen. Es lag au­ßer­dem et­was Grim­mer­re­gen­des in dem Gerücht, dass re­li­gi­öser Fa­na­tis­mus die Trieb­fe­der der Be­we­gung sei, und dass der so lan­ge ge­dul­di­ge Os­ten sich end­lich dar­an ma­che, durch die mo­der­nen Aus­gleichs­mit­tel von Feu­er und Schwert die­je­ni­gen zu be­keh­ren, die zum größ­ten Tei­le je­den re­li­gi­ösen Glau­ben, au­ßer den an die Mensch­heit, ab­ge­legt hat­ten.

Für Oli­ver war die Sa­che ein­fach zum Ver­stan­des­ver­lie­ren. Wenn er aus sei­nem Fens­ter her­nie­der­blick­te und, so­weit der Ho­ri­zont reich­te, die­ses Lon­don so fried­lich vor sich lie­gen sah, wenn sei­ne Ge­dan­ken über Eu­ro­pa hin­flo­gen und über­all dem voll­kom­me­nen Tri­umph des Men­schen­ver­stan­des und sei­ner Wer­ke über die un­ge­nieß­ba­ren Am­men­mär­chen des Chris­ten­tums be­geg­ne­ten, da schi­en es ihm un­er­träg­lich, dass es auch nur eine Mög­lich­keit ge­ben soll­te, all das wie­der zu­rück­zu­wer­fen in das un­mo­der­ne, ja bar­ba­ri­sche Ge­strei­te der Sek­ten und Dog­men, denn nichts an­de­res als die­ses wür­de die Fol­ge sein, wenn der Os­ten sei­ne Hand auch noch auf Eu­ro­pa leg­te. Ja, selbst der Ka­tho­li­zis­mus wür­de wie­der auf­le­ben, sag­te er sich, die­ser ei­gen­tüm­li­che Glau­be, der stets neu auf­ge­flammt war, so oft die Ver­fol­gung zum ver­nich­ten­den Schla­ge ge­gen ihn aus­ge­holt hat­te; und nach Oli­vers Da­für­hal­ten war von al­len Glau­bens­for­men der Ka­tho­li­zis­mus die gro­tes­kes­te und er­nied­ri­gends­te. Die­se Aus­sicht be­un­ru­hig­te ihn in sei­nem In­ners­ten weit mehr als der Ge­dan­ke an die phy­si­sche Ka­ta­stro­phe und das Blut­ver­gie­ßen, das über Eu­ro­pa her­ein­bre­chen muss­te mit dem Her­auf­zie­hen des Os­tens. Es gab nur eine Hoff­nung, von re­li­gi­öser Sei­te her, wie er Ma­bel dut­zend­mal aus­ein­an­der­ge­setzt hat­te, und sie be­stand dar­in, dass es dem quie­tis­ti­schen Pan­the­is­mus, der im Ver­lau­fe des letz­ten Jahr­hun­derts im Os­ten wie im Wes­ten, un­ter Mo­ham­me­da­nern, Bud­dhis­ten, Hin­dus, un­ter den An­hän­gern des Kon­fu­zi­us und an­de­rer Re­li­gio­nen sol­che Rie­sen­fort­schrit­te ge­macht hat­te, ge­lin­gen wür­de, den re­li­gi­ösen Wahn­sinn, von dem die­se exo­te­ri­schen Brü­der des Os­tens be­fal­len wa­ren, zu be­sie­gen. Pan­the­is­mus war nach Oli­vers Be­grif­fen das, was er selbst war; ihm war »Gott« die Sum­me des in ste­ter Wei­ter­ent­wick­lung be­grif­fe­nen, ge­schaf­fe­nen Le­bens, und un­per­sön­li­che Ein­heit war das We­sen des Seins die­ses »Got­tes«. Ehr­geiz war ihm die große Hä­re­sie, wel­che die Men­schen im Ge­gen­satz zu­ein­an­der brach­te und den Fort­schritt hin­der­te, denn nach sei­ner Mei­nung lag der Fort­schritt in dem voll­kom­me­nen Auf­ge­hen des Ein­zel­nen in der Fa­mi­lie, der Fa­mi­lie im Ge­mein­we­sen, im Staa­te, des Staa­tes im Kon­ti­nent, und des Kon­tin­ents in der Welt. Die Welt end­lich war selbst und zu je­der Zeit nicht mehr als der Aus­druck un­per­sön­li­chen Le­bens. Es war in der Tat der ka­tho­li­sche Ge­dan­ke un­ter Bei­sei­te­las­sung des über­na­tür­li­chen, eine Zu­sam­men­fas­sung ir­di­scher Schick­sa­le, ein Auf­ge­ben des In­di­vi­dua­lis­mus auf der einen Sei­te und des über­na­tür­li­chen auf der än­dern. Es war ein Ver­rat, ein Ap­pell von dem im­ma­nen­ten an den tran­szen­den­ten Gott. Es gab kei­nen tran­szen­den­ten Gott, Gott war, so­weit er er­kannt wer­den konn­te — der Mensch.

Und doch wa­ren die­se bei­den Ehe­gat­ten in ge­wis­sem Sin­ne — sie hat­ten den nun­mehr vom Staa­te aus­drück­lich als lös­bar an­er­kann­ten Ver­trag ein­ge­gan­gen — sehr weit ent­fernt von der dump­fen Träg­heit, die man bei rei­nen Ma­te­ria­lis­ten zu fin­den pflegt. Für sie pul­sier­te in der Welt ein ein­zi­ges hei­ßes, glü­hen­des Le­ben, das, je nach­dem, zu Blu­men und Tie­ren und Men­schen er­blüht, ein Strom herr­li­cher Le­bens­kraft, der, ei­ner tie­fen Quel­le ent­sprin­gend, al­les be­wäs­sert, was Be­we­gung und Ge­fühl in sich trägt. Die­se Wel­t­an­schau­ung war umso be­ste­chen­der, fand umso mehr An­klang, als sie den Sin­nen de­rer ver­ständ­lich war, die aus ihr ge­bo­ren wa­ren. Wohl hat­te auch sie Ge­heim­nis­se auf­zu­wei­sen, aber es wa­ren Ge­heim­nis­se, die eher an­lock­ten als ab­schreck­ten, denn aus ih­nen för­der­te jede neue Ent­de­ckung, die der Mensch ma­chen konn­te, stets neue Herr­lich­kei­ten zu­ta­ge. Selbst un­be­seel­te, leb­lo­se Ob­jek­te, wie die Fos­si­li­en, der elek­tri­sche Strom, die fer­nen Ster­ne, all dies wur­de vom Welt­geis­te als Staub ein­fach bei­sei­te ge­wor­fen, al­les, was für Got­tes All­ge­gen­wart zeug­te und sei­ne Na­tur ver­kün­de­te. Wie gründ­lich hat­te z. B. nur die von dem Astro­no­men Klein vor zwan­zig Jah­ren ge­mach­te An­kün­di­gung, dass das Be­wohnt­sein ge­wis­ser Pla­ne­ten eine fest­ste­hen­de Tat­sa­che ge­wor­den sei, die Mei­nung der Mensch­heit von sich selbst ge­än­dert! Aber die ein­zi­ge Be­din­gung des Fort­schrit­tes und des Wie­der­auf­bau­es von Je­ru­sa­lem war für den Pla­ne­ten, den der Zu­fall zur Wohn­stät­te der Mensch­heit be­stimmt hat­te, nicht das Schwert, das Chris­tus ge­bracht oder das Mo­ham­med schwang, son­dern der Frie­de, der ein Pro­dukt der Ver­nunft, de­ren Gren­zen er nicht über­stieg, der Frie­de, der aus dem Be­wusst­sein her­vor­ging, dass der Mensch al­les sei und nur durch ge­gen­sei­ti­ges Ver­tra­gen und Ent­ge­gen­kom­men im­stan­de sei, sich wei­ter zu ent­wi­ckeln. Für Oli­ver und sein Weib er­schi­en das ab­ge­lau­fe­ne Jahr­hun­dert wie eine Of­fen­ba­rung; im­mer mehr wa­ren die al­ten, aber­gläu­bi­schen Vor­stel­lun­gen ab­ge­brö­ckelt, im­mer wei­ter war das neue Licht ge­drun­gen; der Geist der Welt war auf­ge­gan­gen, die Son­ne war im Wes­ten ver­sun­ken und nun — mit Schre­cken und Ab­scheu muss­ten sie von Neu­em die Wol­ken sich zu­sam­men­zie­hen se­hen, dort, von wo al­ler Aber­glau­be aus­ge­gan­gen war.

Ma­bel stand plötz­lich auf und kam zu ih­rem Man­ne her­über.

»Mein Lie­ber«, sag­te sie, »du musst nicht ver­zagt sein; es wird auch das vor­über­ge­hen, wie al­les an­de­re vor­über­ge­gan­gen ist. Es ist schon sehr viel ge­won­nen, dass sie auf Ame­ri­ka über­haupt hö­ren, und die­ser Mr. Fel­sen­bur­gh scheint mir auf der rich­ti­gen Sei­te zu ste­hen.«

Oli­ver er­griff ihre Hand und küss­te sie.

2.

Oli­ver schi­en wäh­rend des Mit­tags­ti­sches eine hal­be Stun­de spä­ter in sehr ge­drück­ter Stim­mung zu sein. Sei­ne Mut­ter, eine alte Frau von na­he­zu acht­zig Jah­ren, die sich nie vor Mit­tag se­hen ließ, schi­en es so­fort zu be­mer­ken, denn, nach­dem sie ihn ein paar­mal an­ge­se­hen und ei­ni­ge Wor­te mit ihm ge­wech­selt, ver­sank sie in Schwei­gen und wid­me­te sich ih­rem Tel­ler.

Ein an­ge­neh­mes, klei­nes Zim­mer war es, in dem sie sa­ßen, dicht hin­ter je­nem Oli­vers und, dem all­ge­mei­nen Brauch zu­fol­ge, ganz in Grün ge­hal­ten. Die Fens­ter gin­gen auf einen klei­nen Gar­ten hin­ter dem Hau­se und auf die mit wil­dem Wein be­wach­se­ne Mau­er, wel­che die­ses Be­sitz­tum von dem nächs­ten trenn­te. Auch die Mö­bel wa­ren ganz dem all­ge­mei­nen Ge­brauch ent­spre­chend; ein be­que­mer, runder Tisch stand in der Mit­te, um ihn drei hohe Lehn­stüh­le mit her­auf­ge­schla­ge­nen Arm­stüt­zen, wäh­rend das Mit­tel­stück des­sel­ben, auf ei­ner run­den Säu­le von ziem­li­chem Um­fang ru­hend, das Ge­schirr trug. Seit drei­ßig Jah­ren schon war es in den Häu­sern der Bes­ser­ge­stell­ten ge­bräuch­lich ge­wor­den, das Spei­se­zim­mer ober­halb der Kü­che an­zu­le­gen, und das Ser­vie­ren der Gän­ge ver­mit­telst ei­nes in der Mit­te des Ess­ti­sches be­find­li­chen hy­drau­li­schen Auf­zu­ges zu be­werk­stel­li­gen. Der Fuß­bo­den be­stand ganz aus dem in Ame­ri­ka er­fun­de­nen ge­räusch­lo­sen, sau­be­ren und für Auge und Fuß an­ge­neh­men As­best-Kork­prä­pa­rat.

Ma­bel brach das Schwei­gen.

»Und dei­ne Rede für mor­gen?«, frag­te sie, in­dem sie zu ih­rer Ga­bel griff.

Oli­ver nahm einen et­was leb­haf­te­ren Aus­druck an und wur­de ge­sprä­chi­ger.

Wie es schi­en, fing Bir­ming­ham an, un­ru­hig zu wer­den. Von Neu­em er­hob man die For­de­rung des Frei­han­dels mit Ame­ri­ka; man be­gnüg­te sich nicht mehr mit den in­ne­r­eu­ro­päi­schen Ver­kehrs­er­leich­te­run­gen, und es war Oli­vers Auf­ga­be, sie zu be­ru­hi­gen. Es wäre nutz­los, nahm er sich vor ih­nen zu sa­gen, in eine Agi­ta­ti­on ein­zu­tre­ten, so­lan­ge die Fra­ge des Os­tens nicht er­le­digt wäre; sie soll­ten doch die Re­gie­rung ge­ra­de jetzt nicht mit sol­chen Klei­nig­kei­ten be­läs­ti­gen. Er hat­te au­ßer­dem den Auf­trag, ih­nen zu er­klä­ren, dass die Re­gie­rung ganz auf ih­rer Sei­te ste­he und ent­schlos­sen sei, bald zu­zu­stim­men.

»Dick­köp­fe sind sie«, sag­te er är­ger­lich, »hart­nä­ckig und selbst­süch­tig; sie sind wie die Kin­der, die zehn Mi­nu­ten vor Tisch noch nach dem Es­sen schrei­en; es wird ja un­be­dingt dazu kom­men, wenn sie nur ein we­nig Ge­duld ha­ben woll­ten.«

»Und wirst du ih­nen die­ses sa­gen?«

»Dass sie Dick­köp­fe sind? Selbst­ver­ständ­lich!«

Ma­bel blick­te ih­ren Gat­ten mit ei­nem wohl­ge­fäl­li­gen Lä­cheln an. Sie wuss­te nur zu gut, dass er sei­ne Be­liebt­heit zum großen Tei­le sei­ner Of­fen­her­zig­keit ver­dank­te: Den Leu­ten ge­fiel es, sich von ei­nem ge­nia­len, küh­nen Man­ne, der in ma­gne­ti­scher Erei­fe­rung vor ih­nen her­um­sprang und ges­ti­ku­lier­te, Schelt­wor­te und Grob­hei­ten sa­gen zu las­sen.

»Wie wirst du hin­fah­ren?«, frag­te sie.

»Flug­schiff. Ich wer­de mit dem um acht­zehn von Black­fri­ars ab­fah­ren; um neun­zehn ist die Ver­samm­lung, und um ein­und­zwan­zig bin ich wie­der zu­rück.«

Er ließ sich die Vor­spei­se sehr gut schme­cken, und sei­ne Mut­ter sah mit dem ge­dul­di­gen Lä­cheln ei­ner al­ten Frau auf.

Ma­bel be­gann, lei­se mit den Fin­gern auf der Da­mast­de­cke zu trom­meln.

»Sei so gut und be­ei­le dich, mein Lie­ber«, sag­te sie, »ich muss um drei Uhr in Brighton sein.«

Oli­ver schluck­te den letz­ten Bis­sen hin­ab, schob sei­nen Tel­ler in die Mit­te der Tisch­plat­te zu­rück, blick­te um­her, ob auch die üb­ri­gen Tel­ler dort un­ter­ge­bracht sei­en, und griff mit der Hand un­ter den Tisch.

So­fort und ohne je­des Geräusch ver­schwand das Mit­tel­stück, und die Drei war­te­ten mit der ge­wohn­ten Gleich­gül­tig­keit, wäh­rend das Klir­ren der Tel­ler von un­ten her­auf­klang.

Die alte Mrs. Brand war eine rüs­tig aus­se­hen­de Dame und trotz der Run­zeln noch von fri­scher Ge­sichts­far­be; sie trug eine auf dem Haupt be­fes­tig­te Man­til­la, wie sie etwa vor fünf­zig Jah­ren Mode war; doch auch an ihr konn­te man die­sen Mor­gen eine ge­drück­te Stim­mung be­mer­ken. Die Vor­spei­se war nach ih­rer An­sicht nicht recht ge­lun­gen, der neue Nähr­stoff nicht so gut wie der frü­he­re, er war ein klein we­nig san­dig; nach Tisch woll­te sie ein­mal da­nach se­hen.

Da ver­nahm man wie­der das Klir­ren, ein schwa­ches, schie­ben­des Geräusch, und das Mit­tel­stück er­schi­en wie­der an sei­nem Plat­ze, eine wun­der­ba­re Nach­ah­mung ei­nes Bra­thuh­nes tra­gend. —