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vollständige Fassung, kommentiert und in Neuer Deutscher Rechtschreibung Der Herr der Welt, (»Lord of the world«), gilt als wichtiger Vorläufer der großen dystopischen Romane des 20. Jahrhunderts wie George Orwells »1984« (1949) oder Aldous Huxleys »Brave New World« (1932). Zu Begin des 21. Jahrhunderts hat der amerikanische Politiker Julian Felsenburgh den Weltfrieden erreicht, zahllose Nationen unterwerfen sich seinem Diktat. Dies jedoch um den Preis einer technologisierten Gesellschaft, die nur auf den rationalen Verstand setzt und Religion als Aberglauben verteufelt und verfolgt. Waffenstarrende Zeppeline bevölkern die Lüfte, es gibt Elektroautomobile, drahtlose Kommunikation, aber auch Terror, Bespitzelung und Euthanasiehäuser. Als seinen letzten Gegner identifiziert Felsenburgh die katholische Kirche, ihre Irrationalität und ihr Glaube sieht er als Bedrohung. Als Konsequenz betreibt er deren vollständige Vernichtung. Was nun folgt, sind aberwitzige, endzeitliche Schlachten mit Luftschiffen gegen Rom und gegen den Vatikan. Es kommt zum Endkampf zwischen dem Papst und dem Weltpräsidenten. Benson sah in diesem Werk viele Schrecken der Zukunft voraus: Weltkriege, Massenvernichtungswaffen, Entmenschlichung der Gesellschaft, Entfremdung der Familien, Terrorismus und den »Kampf der Kulturen« Null Papier Verlag
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Robert Hugh Benson
Der Herr der Welt
Robert Hugh Benson
Der Herr der Welt
Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2021Übersetzung: F. R. von Lama, J. Schulze EV: Verlag Josef Rösel & Friedrich Pustet, Münschen, 1923 3. Auflage, ISBN 978-3-954185-49-8
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Inhaltsverzeichnis
Über dieses Buch
Über den Autor
Vorwort zur sechsten und siebenten Auflage
Einleitung
Prolog
Erstes Buch – Die Ankunft
Erstes Kapitel
Zweites Kapitel
Drittes Kapitel
Viertes Kapitel
Fünftes Kapitel
Zweites Buch – Der Zusammenstoß
Erstes Kapitel
Zweites Kapitel
Drittes Kapitel
Viertes Kapitel
Fünftes Kapitel
Sechstes Kapitel
Siebentes Kapitel
Achtes Kapitel
Drittes Buch – Sieg
Erstes Kapitel
Zweites Kapitel
Drittes Kapitel
Viertes Kapitel
Fünftes Kapitel
Sechstes Kapitel
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Ihr
Geheimnisvolle Strahlen
Aëlita
Ugh-Lomi
Der Luftkrieg
Der Brand der Cheopspyramide
Die Macht der Drei
Der gestohlene Bazillus
Befehl aus dem Dunkel
Die Spur des Dschingis-Khan
Auf zwei Planeten
Der letzte Tag
Der Krieg der Welten
Der Unsichtbare
Die ersten Menschen auf dem Mond
Die Insel des Dr. Moreau
Die Riesen kommen!
Die Zeitmaschine
Im Jahre des Kometen
Jenseits des Sirius
Der Traum
und weitere …
Der Herr der Welt (»Lord of the world«) gilt als wichtiger Vorläufer der großen dystopischen Romane des 20. Jahrhunderts wie George Orwells »1984« (1949) oder Aldous Huxleys »Brave New World« (1932).
Zu Begin des 21. Jahrhunderts hat der amerikanische Politiker Julian Felsenburgh den Weltfrieden erreicht, zahllose Nationen unterwerfen sich seinem Diktat. Dies jedoch um den Preis einer technologisierten Gesellschaft, die nur auf den rationalen Verstand setzt und Religion als Aberglauben verteufelt und verfolgt. Waffenstarrende Zeppeline bevölkern die Lüfte, es gibt Elektroautomobile, drahtlose Kommunikation, aber auch Terror, Bespitzelung und Euthanasiehäuser.
Als seinen letzten Gegner identifiziert Felsenburgh die katholische Kirche, ihre Irrationalität und ihr Glaube sieht er als Bedrohung. Als Konsequenz betreibt er deren vollständige Vernichtung.
Was nun folgt, sind aberwitzige, endzeitliche Schlachten mit Luftschiffen gegen Rom und gegen den Vatikan. Es kommt zum Endkampf zwischen dem Papst und dem Weltpräsidenten.
Benson sah in diesem Werk viele Schrecken der Zukunft voraus: Weltkriege, Massenvernichtungswaffen, Entmenschlichung der Gesellschaft, Entfremdung der Familien, Terrorismus und den »Kampf der Kulturen«
*
Robert Hugh Benson (18.11.1871 - 19.09.1914) war ein englischer Priester und Schriftsteller. Er ist der vierte und jüngste Sohn Edward White Bensons, Kanzler der Kathedrale von Lincoln und späterer Erzbischof von Canterbury.
Benson studierte Theologie und Altphilologie am Trinity College in Cambridge. Im Jahre 1894 wurde er Diakon, 1895 wurde er von seinem Vater zum Priester der Kirche von England geweiht.
Seine religiösen Zweifel an der Autorität der anglikanischen Kirche jedoch führten zur Hinwendung zum katholischen Glauben. Er trat am 11. September 1903 in die römisch-katholische Kirche ein und wurde schließlich in Rom zum Priester geweiht.
1907 schrieb er sein bekanntestes Werk, den Endzeitroman »Lord of the World« (»Der Herr der Welt«), welcher viele Auflagen und Übersetzungen erfuhr und als wichtiger Vorläufer der großen dystopischen Romane des 20. Jahrhunderts gilt.
Robert Hugh Benson erlag einem Herzinfarkt infolge einer Lungenentzündung.
Durch die in den letzten Jahren anhaltende Teilnahme an »Herr der Welt« ist die erst kürzlich notwendig gewordene 4. und 5. Auflage erschöpft und bedingt deshalb nunmehr die 6. und 7. Auflage. Anfangs viel umstritten hat das Buch doch allmählich sich durchzusetzen gewusst, nachdem mehr und mehr das Verständnis dafür obsiegte, dass Benson nichts weiter im Auge hat, als zu zeigen, wie die in den Massen verkörperten Gedanken unserer Zeit sich unter bestimmten Voraussetzungen auswirken müssten, wenn die Entwicklung ohne besondere Behinderungen und Ablenkungen weiter sich vollzöge. Ihm schien die Entchristlichung der Welt in nicht allzu ferner Zeit mit Notwendigkeit Zustände herbeizuführen, die ihren natürlichen Abschluss mit dem von der Vorsehung bestimmten Ende der Zeiten finden würden. Die geistvolle Studie in Romanform, für die der Verfasser selbst seinerzeit mir gegenüber den Charakter einer politischen Prophezeiung ablehnte, ist ja durch die Weltentwicklung in mancher Hinsicht in besondere Beziehung zu den heutigen Ereignissen getreten.
Bensons Zukunftsgemälde hat nunmehr nach bald zehn Jahren im Pariser internationalen Freimaurerkongress vom Juni — Juli 1917 seine Bestätigung und nach dieser Seite hin auch seine theoretische Rechtfertigung gefunden. Das Programm der internationalen freimaurerischen Weltrepublik, die Beseitigung der Monarchien, die Aufrichtung der Gewaltherrschaft des Sozialismus in ganz Deutschland, der geplante Völkerbund auf einer jede Jenseitsreligion ausschließenden Grundlage, die zunehmende Knebelung und Mattsetzung des Papstes durch einen besonderen Vertrag, die Wilsonschen Ideen von maurerischer Weltverbrüderung, seine ganze dem christlichen Ideenkreise entnommene Phraseologie bei Unterdrückung ihres übernatürlichen Inhaltes, all dies müsste, so möchte man meinen, Benson zum Vorbilde gedient haben, wenn es nicht erst drei Jahre nach seinem Tode seine Festlegung und Erhebung zum Kriegsendziele erfahren hätte, zu dessen Durchführung durch diesen »letzten Krieg« die Vorbedingungen geschaffen werden sollen. Des Deutschen Kaiserreiches letzter Herrscher hat jüngst noch einem englischen Pressevertreter seine von Benson gewiss unabhängige Überzeugung ausgesprochen, Erregerin und Siegerin im Weltkriege sei die Freimaurerei und allein die katholische Kirche habe sich ihr gegenüber bisher zu behaupten vermocht.
So wächst das Buch mehr und mehr in die Wirklichkeit hinein und wird von Tag zu Tag mehr das, was man ›aktuell‹ nennt. Das beweist auch nicht zuletzt die wachsende Nachfrage unserer Zeit. Somit übergebe ich diese Doppelauflage der Öffentlichkeit; möge sie recht vielen neuen Lesern zum Genuss aber auch zur ernsten Gewissenserforschung werden.
Füssen im Januar 1923 H. M. von Lama
Im Jahre 1908 erschien in London ein Roman: »The Lord of the World«, dessen Autor, Robert Hugh Benson, in literarischen Kreisen schon seit geraumer Zeit einen nicht mehr gewöhnlichen Rang einnahm. Das Buch erregte sofort großes Aufsehen, was der Verfasser selbst vorausgesagt hatte, als er in der Vorrede schrieb:
»Ich bin vollständig davon überzeugt, dass dies ein außerordentlich sensationelles Werk ist und aus diesem Grunde sowohl, als auch nach anderen Richtungen hin, einer endlosen Kritik ausgesetzt sein wird. Aber ich wusste nicht, wie ich anders die Prinzipien, die ich darstellen wollte (und von deren Richtigkeit ich durch und durch überzeugt bin), zum Ausdruck hätte bringen können, als indem ich bei Darstellung ihres Entwicklungsganges die Form der Sensation wählte. Ich habe mich jedoch bemüht, nicht zu schrille Töne anzuschlagen und, soweit es mir möglich war, die Anschauungen anderer Leute mit Achtung und Schonung zu behandeln. Ob mir das gelungen, ist allerdings eine andere Frage.«
Ehe wir uns mit der literarischen Persönlichkeit Bensons näher befassen, mögen einige biografische Daten über diesen bedeutendsten katholischen Schriftsteller des heutigen England vorausgehen. Robert Hugh Benson wurde am 18. November 1871 zu Canterbury als der Sohn des 1896 verstorbenen anglikanischen Erzbischofs White Benson von Canterbury geboren. Bekanntlich bekleidet der Inhaber dieses Erzbischofssitzes, den im Mittelalter so große und glänzende Geister wie Dunstan, Lanfrank, Anselm, Thomas Becket und andere schmückten, die höchste Würde der anglikanischen Hierarchie, er ist »Primas von ganz England« und tritt in der Rangliste des Britischen Reiches unmittelbar nach den Mitgliedern des Königshauses. Der junge Benson genoss eine vortreffliche Erziehung. Nachdem er das berühmte Kolleg zu Eton in Buckingham, die Pflanzstätte so vieler in der Geschichte Englands unsterblich gewordener Männer, besucht hatte, widmete er sich in Cambridge dem Studium der Theologie. Hier, wo die Wiege des englischen Christentums stand, umrauschte ihn der Geist einer glänzenden Vergangenheit, hier goss das Mittelalter seinen vollen Zauber in das empfängliche Gemüt des Jünglings. Benson wurde nach Vollendung seiner Studien Vikar in Hackney Wick und in Kemsing. Er brachte eine nach Wissen und Wahrheit dürstende Seele mit in seinen Beruf. Glühend vor Eifer gab er sich der Seelsorgertätigkeit hin. Aber nur zu bald musste er sich gestehen, dass die auf anglikanischer, hochkirchlicher Seite betätigte allgemeine Auffassung des Priesteramts seinem Ideal nicht nachkam. In Benson regte sich das Gefühl der Unzufriedenheit, das ihn bewog, von seinem Amte zurückzutreten und sich einem Kreise seeleneifriger, gleichgesinnter Männer anzuschließen, die unter der Leitung eines Oberhauptes auf dem Gebiete der inneren Mission ihre Kräfte übten.
Widrige Gesundheitsverhältnisse nötigten Benson zu einer Erholungsreise nach Ägypten und dem Heiligen Lande. Da ereilte ihn in Jerusalem die Kunde, dass das Oberhaupt jener Missionsgenossenschaft zum Katholizismus übergetreten sei. Diese Nachricht löste eine schmerzliche Traurigkeit in Benson aus. Aber schon hatte die Gnade auch ihn berührt und seine Anschauung, als sei die anglikanische Kirche eine Schwester, ja ein Glied der katholischen, der er anzugehören meinte, wankend gemacht.
Bei seiner Rückkehr nach England fand er die Genossenschaft in Auflösung begriffen, nachdem noch mehr Mitglieder das Beispiel des Oberhauptes nachgeahmt hatten. In Benson erstarkte jetzt das Sehnen nach der Erneuerung Englands im katholischen Sinne immer mehr. Schon gehörte sein Herz dem Katholizismus und mächtig zogen ihn dessen Wahrheit und Schönheit in seinen Bann. Das »Zurück zur heiligen Kirche!« dem bereits so viele Protestanten gefolgt sind, klang unwiderstehlich auch dem Sohne des anglikanischen Primas in der Brust. Doch ehe er den Letzten, den entscheidenden Schritt wagte, ging er auf Wunsch seiner innig geliebten Mutter die angesehensten Autoritäten der Hochkirche, meistens persönliche Freunde seines verstorbenen Vaters, um ihren Rat an. Aber die Hoffnung der Mutter, dass es ihnen gelingen werde, den Sohn dem anglikanischen Kirchentum zu erhalten, wurde vereitelt: Im Jahre 1903 schied Benson aus demselben aus, um zur katholischen Kirche überzutreten; ein Jahr später wurde er in Rom zum Priester geweiht. Als solcher lebte er bis zu seinem Tode im Oktober 1914 in der Nähe von Buntingford bei Cambridge.
Es war in jener Zeit, da er die Wahrheit innerlich bereits angenommen hatte, jedoch mit tausend Fäden noch an seinen bisherigen Standpunkt und so vieles, was ihm lieb und teuer geworden war, sich gebunden sah, in jener Zeit auch, da er von den widerstrebendsten Gefühlen und Regungen hin und her geworfen dennoch das unvermeidliche Ende klar erkannte, dass ihm ein Manuskript über die Zeit der Königin Elisabeth unter die Hände kam. Es erweckte sein Interesse, und um sich dem Bewusstsein seines unerträglichen Gemütszustandes einigermaßen zu entziehen, nahm er Veranlassung, eine Art historischer Erzählung über den Gegenstand zu schreiben. So entstand sein erstes Buch »By what Authority«, von dem Benson selbst bekennt: »Diese Arbeit war, glaube ich, ein ausgezeichnetes Sicherheitsventil für meine Geistesverfassung, und hätte ich sie nicht gefunden, ich weiß nicht, was geschehen wäre.« Es ist bereits eine Apologie des katholischen Standpunktes und hat zum Gegenstand die Hauptschwäche der anglikanischen Position, den Mangel an Autorität.
Die Wirkung des Buches auf den Verfasser war eine ausgezeichnete, denn die strenge, konsequente Durchführung der einzelnen Charaktere, sowie ihres religiösen Standpunktes hatte klärend, reinigend und beruhigend auf ihn gewirkt, den gewonnenen Standpunkt erheblich gestärkt, viele Vorurteile in ihm niedergerissen und ihn die Haltlosigkeit vieler lieb gewordener Auffassungen erkennen lassen. Der Abschluss des Buches fällt mit dem Entschlüsse zusammen, den unvermeidlichen Schritt in die Kirche zu tun. Als Protestant hatte er begonnen, doch auch als Katholik legte er die Feder nicht nieder und zwei weitere historische Romane entstanden in der Folge, »The Kings Achievement« (Des Königs Werk), das die gewaltsame Einführung des Protestantismus in England schildert, und dessen Folge »The Queens Tragedy«, in deren Mittelpunkt Maria die Katholische steht.
Indem Benson diese Trilogie zum Dolmetscher seiner katholischen Anschauungen und Empfindungen machte, verfolgte er mit seinem Werke offensichtlich eine apologetische Tendenz. Dass sie sich nirgends aufdrängt, erklärt sich wohl besonders dadurch, dass er diese Bücher nur für sich und zur Begründung seiner Überzeugung sich selbst gegenüber geschrieben hat, nicht aber, um andere zu belehren oder zu beeinflussen. Deutlich und klar spricht auch daraus, was mitgewirkt hatte, ihn zur katholischen Kirche zurückzuführen: das Studium der vaterländischen Geschichte und besonders der sogenannten Reformation, von der vorurteilslose protestantische Engländer selbst urteilen, dass sie für England keinen Ruhmestitel bedeute. Father Bensons historisches Gemälde, ausgezeichnet vor allem durch Verständnis- und liebevolles Erfassen der englischen Kirche des 16. Jahrhunderts, wurde auch von der protestantischen Kritik mit warmem Beifall aufgenommen, die nicht zögerte, dem Verfasser einen Platz zwischen dem großen Kardinal und Konvertiten Newman und dem Schöpfer des historischen Romans. Walter Scott, einzuräumen.
Robert Hugh Bensons literarisches Schaffen zeugt von einer außerordentlichen Fruchtbarkeit und Regsamkeit seines Geistes, zugleich aber auch von einer merkwürdigen Energie im Streben nach künstlerischer Vollendung. Gerne wendet er sich in seinen Romanen zeitgemäßen Problemen zu, wie dem Sentimentalismus, Konventionalismus, Spiritismus, wobei er sich mit Vorliebe von einem mystischen Zuge treiben lässt.
Aber alles, was Benson auf dem Gebiet des historischen und modernen Romans geschaffen, wird übertroffen von seinem Werke: »Der Herr der Welt«. Die bedeutendsten Tagesblätter Englands gingen einig in begeisterten Lobeserhebungen über diese grandiose Dichtung, die sich an das Kühnste wagt, was einem Dichter zu wagen vergönnt ist: an die Schilderung des Weltendes und der Erscheinung des Allmächtigen am Tage des Gerichtes.
Weit davon entfernt, etwa eine Prophezeiung zu sein, sucht das Werk mit visionärer Gewalt dem Laufe der Jahrhunderte voranzueilen, um ein fantasievolles Gemälde der Kulturmenschheit zu entwerfen, wie sich diese vielleicht in einem Jahrhundert entwickelt haben mag. Vor dem inneren Schauen des Dichters erheben sich die gigantischen Triumphe des menschlichen Geistes, der die höchsten Spitzen der Wissenschaft erklommen haben wird. Dann wird die Menschheit nur mehr zwei große religiöse Lager erkennen, den Katholizismus und den Humanitarismus, zu denen sich die Form strengster Gesetzgebung und mitleidsloses Blutvergießen als die schärfsten Gegensätze verhalten. Für die katholische Kirche aber wird eine neue Zeit heftigster Verfolgung anbrechen, und dämonische Mächte werden sich am Ende der Zeiten auf sie stürzen, mit allen Machtmitteln des menschlichen Fortschrittes ausgerüstet.
Mit hinreißender Beredsamkeit und einer erstaunlichen Plastik stellt Benson jenes Zeitalter vor das erschauernde Gemüt des Lesers, der überwältigt wird von der dramatischen Wucht der Ereignisse. Welch ein furchtbares Epos, wenn die Luftschiffe des fanatisch hassenden Feindes der Kirche über dem ewigen Rom erscheinen, um es zu zerstören! Wer würde da nicht erinnert an die Offenbarung Johannes’ von dem siebenköpfigen Tier: »Auch ward ihm gegeben, Krieg zu führen mit den Heiligen und sie zu überwinden … Und es tat große Zeichen, sodass es sogar Feuer vom Himmel fallen machte vor den Augen der Menschen« (13, 7.13.). Kein Michelangelo vermöchte die Schlusskatastrophe der Menschheit, dieses große und schreckliche Bild, erschütternder in Farben zu fassen, als der geniale englische Priester-Dichter sie im »Herrn der Welt« malt. Gewiss, dieser Roman ist sensationell im höchsten Grade, ohne dass dadurch dem künstlerischen Werte der Dichtung Abbruch geschähe. Es ist ein ungeheurer Stoff, der hier gebändigt und mit einem überwältigenden Reichtum atmenden Lebens ausgestaltet worden ist. Gebildete Leser werden hohen Genuss aus dem Roman schöpfen und, was noch weit mehr ist, den Anstoß zu ernstem, fruchtbringendem Denken empfangen.
Otto von Schaching
»Sie müssen mir einen Augenblick Zeit lassen«, sagte der Greis, indem er sich zurücklehnte.
Percy nahm wieder auf seinem Stuhle Platz und wartete, das Kinn auf die Hand gestützt.
Es war ein sehr stilles Gemach, in welchem die drei Männer saßen, und dem Geschmack der Zeit entsprechend einfach ausgestattet. Es hatte weder Fenster noch Türe, denn es waren bereits sechzig Jahre vergangen, seitdem der Mensch zur Einsicht gekommen war, dass der bewohnbare Raum sich nicht nur auf die Oberfläche der Erdkugel beschränkte, und er hatte infolgedessen ernstlich zu graben angefangen. Des alten Herrn Templetons Haus stand ungefähr vierzig Fuß unter dem Niveau des Themseufers, in einer allgemein als günstig bezeichneten Lage, denn man hatte nur hundert Meter weit zu gehen, bis man zur Haltestelle der zweiten Zentral-Motorbahn kam, und eine Viertelmeile bis zur Luftschiffstation von Blackfriars.1 Mr. Templeton war jedoch über neunzig Jahre alt und ging jetzt nur selten mehr aus. Die Wände des Zimmers waren vollständig mit dem mattgrünen, von der Sanitätsbehörde vorgeschriebener Emaille bekleidet und mit dem vor vierzig Jahren von Reuter erfundenen künstlichen Sonnenlicht erleuchtet; im Farbenton glich es einem Frühlingswalde, und Wärme und Ventilation wurden durch das klassische Friesgitter so geregelt, dass die Temperatur stets genau achtzehn Grad Celsius betrug. Mr. Templeton war sehr einfach und begnügte sich damit, so zu leben, wie sein Vater es getan hatte. Die Möbel waren, wenn auch in Bezug auf Ausführung und Form etwas altmodisch, dem Zeitgebrauch entsprechend aus mit weichem Asbestemail überzogenem Eisen, daher sehr dauerhaft und bequem, und hätten für Mahagoni gehalten werden können. Auf beiden Seiten des niederen, aus Bronze gefertigten elektrischen Kamins, vor welchem die drei Herren saßen, standen einige gut ausgestattete Bücherschränke, und in den Ecken des Zimmers fanden sich die hydraulischen Personenaufzüge, von welchen der eine in das Schlafzimmer führte, wogegen man mittelst des anderen in den fünfzig Fuß oberhalb gelegenen Korridors und aus diesem auf den Kai gelangte.
Father2 Percy Franklin, der ältere der beiden Priester, eine ziemlich imposante Erscheinung, war trotz höchstens fünfunddreißig Jahren bereits vollkommen ergraut; aus seinen grauen, von dunklen Brauen überschatteten Augen leuchtete eine auffallende Lebhaftigkeit, doch ließen seine stark markierten Züge und die Entschlossenheit, die sich in seinen Lippen ausdrückte, keine weiteren Zweifel über die Festigkeit seines Willens entstehen.
Father Francis, der jüngere hingegen, der in dem hohen Stuhl auf der anderen Seite des Kamins saß, war ein Durchschnittsmensch; denn wenn auch seine braunen Augen angenehm und ausdrucksvoll blickten, so konnte man doch in seinem Gesichte keine Spur von Entschlossenheit finden; seine Mundwinkel und sein Augenaufschlag ließen vielmehr einen Hang zu der dem schwächeren Geschlecht eigenen Melancholie vermuten.
Mr. Templeton war ein sehr bejahrter Mann mit energischen Zügen, tiefen Runzeln, wie jedermann glatt rastert, und so lag er nun, in eine Steppdecke gehüllt, bequem auf seinem Wasserkissen. Endlich ergriff er das Wort, indem er zuerst einen Blick auf den zu seiner Linken fitzenden Percy warf.
»Ja«, sagte er, »es ist wohl schwer, sich an alles genau zu erinnern. In England wurde unsere Partei während der Tagung vom Jahre 1927 zum ersten Male wesentlich beunruhigt. Diese zeigte uns, wie tief die ganze soziale Atmosphäre vom Hervéismus3 durchdrungen war. Es hatte wohl vorher Sozialisten gegeben, aber keiner derselben konnte mit dem greisen Gustav Hervé verglichen werden, — wenigstens war keiner so einflussreich gewesen. Er lehrte, wie Sie vielleicht gelesen haben werden, absoluten Materialismus und Sozialismus, die er bis zu ihrem logischen Ausgang verfolgte. Der Patriotismus, sagte er, wäre ein Überrest der Barbarei und das wahrhaft Gute nur in sinnlichen Vergnügungen zu finden. Natürlich wurde er überall ausgelacht. Man sagte, dass es ohne Religion unmöglich wäre, unter den Volksmassen einen angemessenen Beweggrund zu selbst der einfachsten Form sozialer Ordnung zu finden. Aber allem Anschein nach hatte er recht. Nach dem Fall der französischen Kirche zu Beginn des Jahrhunderts und den Metzeleien von 1914 begann die Bourgeoisie sich zu organisieren; diese außergewöhnliche Bewegung setzte in allem Ernst ein und wurde von den mittleren Volksklassen weitergeführt, unter Beiseitesetzung allen Patriotismus, aller Rangunterschiede und nahezu ohne Waffen. Natürlich stand alles unter der Leitung der Freimaurer. Sie verbreitete sich nach Deutschland, wo bereits der Einfluss von Karl Marx —«
»Gewiss, mein Herr«, unterbrach ihn Percy in sanfter Weise, »aber möchten Sie uns, bitte, sagen, was in England geschah.«
»Ja richtig, England. Nun, im Jahre 1917 ergriff die Arbeiterpartei die Zügel, und der Kommunismus nahm damit eigentlich seinen Anfang. Daran kann ich mich allerdings nicht mehr erinnern, doch pflegte mein Vater ihn von diesem Zeitpunkte an zu datieren. Es war nur ein Wunder, dass alle diese Bewegungen nicht schneller um sich griffen, doch ich vermute, es steckte noch ein gutes Stück Torytum4 im Volke.
Auch vergeht ein Jahrhundert gewöhnlich nicht so schnell, wie man es erwartet, besonders dann nicht, wenn es mit großen Aufregungen begonnen hat. Aber damals entstand die neue Ordnung, und die Kommunisten haben, mit Ausnahme des unbedeutenden Falles im Jahre 1928, nie wieder einen ernstlichen Rückstoß erlitten. Blenkin gründete ›Das neue Volk‹, und die ›Times‹ kam in Verfall, aber sonderbarerweise hielt sich das Oberhaus bis zum Jahre 1935, wo es zum letzten Male fiel. Die Staatskirche hatte sich im Jahre 1929 endgültig aufgelöst.« —
»Und welche Wirkung hatte dies in religiöser Beziehung?«, fragte Percy schnell, da der Greis innehielt, sich räusperte und seinen Inhalationsapparat höher stellte. Dem Priester lag viel daran, bei diesem Punkte stehenzubleiben.
»Es war weniger ein Ereignis«, erwiderte der andere, »als vielmehr eine Wirkung an und für sich. Sehen Sie, nachdem die Ritualisten, wie man sie zu nennen pflegte, ihr Möglichstes getan hatten, um mit der Arbeiterpartei voranzukommen, vereinigten sie sich nach dem Kongress von 1919, wo das Nizäische Glaubensbekenntnis abkam, mit der Kirche; und wahre Begeisterung war nur unter ihnen selbst zu finden. Aber insofern als die endgültige Auflösung eine Wirkung hervorbrachte, bestand diese, glaube ich, darin, dass das, was von der Staatskirche übrig geblieben war, sich mit der Freien Kirche vereinigte, und die Freie Kirche war, im Ganzen genommen, nichts weiter als eine Schwärmerei. Nach den in den zwanziger Jahren stattgehabten erneuten Angriffen von deutscher Seite her war die Bibel als Autorität vollständig aufgegeben worden, und einige sind der Meinung, dass der Glaube an die Gottheit Christi schon im Beginn des Jahrhunderts nur noch dem Namen nach bestand. Dafür hatte die Kenotische5 Theorie schon gesorgt. Jene sonderbare kleine Regung unter den Anhängern der Freien Kirche hatte sogar schon früher begonnen, damals, als die Pastoren, die eben nur mit dem Strom schwammen — die sozusagen etwas Zugluft spürten —, ihre bisherigen Stellungen verließen. Es ist seltsam unter den Berichten aus jener Zeit zu lesen, wie man sie damals als Freidenker begrüßte. Und gerade dies waren sie nicht … Aber, wo war ich denn stehengeblieben. Ja, richtig — nun, dadurch bekamen wir freies Feld, und die Kirche machte während einiger Zeit außerordentliche Fortschritte, — das heißt außerordentlich im Hinblick auf die Umstände, denn Sie müssen bedenken, dass die Dinge sich damals anders verhielten, als es vor zehn oder zwanzig Jahren der Fall gewesen war. Ich will damit sagen, um mich kurz auszudrücken, dass man schon begonnen hatte, die Böcke von den Schafen zu sondern. Die religiösen Leute waren eigentlich durchweg Katholiken und Individualisten, die Gottlosen wollten von dem übernatürlichen überhaupt nichts wissen und waren ausschließlich Materialisten und Kommunisten. Aber die Fortschritte, die wir machten, verdanken wir einigen hervorragenden Männern, — Delaney, dem Philosophen, den beiden Philanthropen McArthur und Largent und so weiter. Es schien wirklich, als ob Delaney und seine Anhänger aller erreichen würden. Erinnern Sie sich an seine Analogie? Ja, richtig, alles dies ist ja in den Textbüchern enthalten … Und dann hatten wir, am Ende des Vatikanischen Konzils, welches im neunzehnten Jahrhundert einberufen, aber nie geschlossen worden war, große Verluste durch die Entscheidungen. Man pflegte es den ›Exodus der Intellektuellen‹ zu nennen.« —
»Die biblischen Entscheidungen«, warf der jüngere der beiden Priester ein.
»Zum Teil; aber der ganze Konflikt begann mit dem Aufkommen des Modernismus zu Anfang des Jahrhunderts; mehr noch aber war es die Verurteilung Delaneys und im Allgemeinen der Neu-Transzendentalismus, wie man ihn damals auffasste, übrigens starb jener außerhalb der Kirche, wie Sie wissen. Dann wurde Sciottis Werk über vergleichende Religionswissenschaft verurteilt. Darauf machten die Kommunisten Fortschritte, wenn auch nur sehr langsame. Es mag Ihnen, vermute ich, merkwürdig Vorkommen, aber Sie können sich die Aufregung nicht vorstellen, als im Jahre 1960 das Gesetz, betreffend den Handel mit Gebrauchsmitteln, in Kraft trat. Die Leute glaubten, dass jede Tatkraft stocken müsste, wenn so viele Berufsstände verstaatlicht würden; aber wie Sie wissen, war das nicht der Fall.«
»In welchem Jahre war es, dass die Zweidrittelmehrheits-Vorlage durchging?«, fragte Percy.
»O, lange vorher, im ersten oder zweiten Jahre nach dem Fall des Oberhauses. Es war dies, glaube ich, notwendig, sonst wären die Individualisten noch vollständig verrückt geworden. Nun, das Gebrauchsmittelgesetz war nicht zu vermeiden. Schon damals, als die Eisenbahnen in Landesbesitz übergingen, hatte das Volk angefangen, das einzusehen. Für eine Weile nahm das Handwerk einen starken Aufschwung, denn alle die Individualisten, welche sich zu einem solchen eigneten, verlegten sich darauf (gerade damals war es, dass auch die Toller Schule gegründet wurde); aber nach und nach wandten sie sich doch wieder staatlichen Anstellungen zu. Die Gewinngrenze von sechs Prozent für Privatunternehmen hatte eben nicht viel Verlockendes — und der Staat zahlte gut.« —
Percy schüttelte den Kopf.
»Ja, aber ich begreife den gegenwärtigen Stand der Dinge nicht. Sie sagten vorhin, dass es nur mit kleinen Schritten voranging.«
»Ja«, meinte der alte Herr, »Sie müssen an die Armengesetzgebung denken. Dadurch hatten die Kommunisten für alle Zukunft gewonnen. Man muss sagen, Braithwaite verstand sich auf sein Geschäft.«
Der junge Percy sah ihn fragend an.
»Die Abschaffung des Arbeitshaus-Systems!«, sagte Mr. Templeton. »Natürlich ist das alles für Sie alte Geschichte; aber ich erinnere mich, als ob es gestern gewesen wäre. Eben das war es, was der Monarchie und den Universitäten ein Ende bereitete.«
»Ah«, sagte Percy, »darüber möchte ich gerne einiges von Ihnen erfahren.«
»Sofort. Also, Braithwaites Werk war dies: Nach dem alten System wurden alle Armen gleichbehandelt und fühlten dies. Nach dem neuen System gab es die drei Grade, die wir jetzt haben, und die Erteilung des Wahlrechtes an die beiden höheren. Nur der ganz Wertlose wurde dem dritten Grade zugewiesen und mehr oder weniger als Verbrecher behandelt — natürlich erst nach sorgfältiger Prüfung. Dann kam die Reorganisation der Altersunterstützungen. Also sehen Sie daraus nicht, wie sehr das den Kommunisten zugutekam? Die Individualisten — Tories nannte man sie, als ich noch ein Knabe war — die Individualisten haben seither keine Aussichten mehr gehabt. Heutzutage sind sie nur mehr ein leeres Netz. Die arbeitenden Klassen in ihrer Gesamtheit — und das bedeutete: neunundneunzig vom Hundert — hatten sie gegen sich.« Percy sah auf, aber sein Gegenüber fuhr fort: »Dann hatten wir das Gefängnisreformgesetz unter Macpherson und die Abschaffung der Todesstrafe; dann endlich das Unterrichtsgesetz von 1959, das den dogmatischen Säkularismus einsetzte: die tatsächliche Abschaffung des Erbrechts, verbunden mit der Reformierung der Verbindlichkeiten Verstorbener. —« »Ich erinnere mich nicht mehr an das alte System, wie war es eigentlich?« unterbrach Percy.
»Ja, man sollte es nicht für möglich halten, aber nach dem alten System waren alle gleich hoch besteuert. Zuerst kam die Erbschaftseinschätzung, und dann wurde diese so umgeändert, dass die Steuer auf ererbtes Vermögen dreimal so hoch war, als die auf erworbenes Vermögen, wodurch man im Jahre 1989 die Lehre Karl Marx’ angenommen hatte, — Erstere trat aber im Jahre 1977 in Kraft. Nun, durch all diese Vorgänge hielt England Schritt mit dem Kontinent; wir kamen gerade noch zurecht, uns an dem endgültigen Entwurf, betreffend den amerikanischen Freihandel, zu beteiligen. Wie Sie sich erinnern, war das die erste Wirkung des Sieges der Sozialdemokratie in Deutschland.«
»Aber wie gelangten wir dazu, nicht in den Krieg im Osten verwickelt zu werden?«, fragte Percy etwas erregt.
»Ja, das ist eine lange Geschichte, aber, mit einem Wort, Amerika hinderte uns daran, und auf diese Weise gingen uns Indien und Australien verloren. Ich glaube, seit dem Jahre 1925 sind die Kommunisten ihrem Falle nie so nahe gewesen, wie damals. Aber Braithwaite wusste in sehr kluger Weise sich herauszuarbeiten, indem er uns das Protektorat von Südafrika ein für alle Mal erwarb, obwohl er damals schon ein alter Mann war.«
Mr. Templeton unterbrach sich, um zu husten, während Father Francis leicht seufzte und auf seinem Stuhl hin und her rückte.
»Und Amerika?«, fragte dieser.
»Ja, das ist alles sehr kompliziert. Amerika war, wie Sie wissen, sich seiner Stärke bewusst und annektierte noch im selben Jahre Kanada. Das war der schlimmste Zeitpunkt für uns.«
Percy erhob sich.
»Haben Sie einen Geschichtsatlas, Mr. Templeton?«, fragte er.
Der Greis wies auf ein Bücherbrett. »Dort ist er.«
Ein paar Augenblicke betrachtete Percy schweigend die Karten, indem er sie auf seinen Knien aufschlug.
»Jedenfalls ist so alles viel einfacher«, sagte er zu sich selbst, während er die vielfarbige Karte des beginnenden zwanzigsten mit den drei großen Farbflächen auf jener des einundzwanzigsten Jahrhunderts verglich.
Er fuhr mit dem Finger über Asien entlang. Auf dem in Mattgelb gezeichneten Gebiete, das vom Ural im Westen bis zur Beringstraße6 im Osten reichte und sich über Indien, Australien und Neuseeland erstreckte, stand in großen Buchstaben »Reich des Ostens«. Sein Blick fiel auf das Rot; es war viel kleiner, aber doch noch bedeutend genug, da es nicht nur das eigentliche Europa, sondern auch Russland bis zum Ural und ganz Afrika bedeckte. Die in Blau gehaltene Amerikanische Republik umfasste die Gesamtheit dieses Kontinentes und verschwand gegen den Rand der westlichen Halbkugel in einer Unzahl blauer Punkte, die aus dem weißen Ozean auftauchten.
»Ja, einfacher ist es«, bemerkte der alte Herr trocken.
Percy klappte das Buch zu und stellte es neben seinen Stuhl.
»Und jetzt, Mr. Templeton, was wird zunächst geschehen?«
Der alte Tory-Staatsmann lächelte.
»Weiß Gott«, sagte er, »wenn der Osten sich entschließt, sich zu regen, können wir nichts machen. Ich weiß überhaupt nicht, warum er sich noch nicht erhoben hat. Ich glaube, die Ursache liegt in religiösen Differenzen.«
»Europa wird sich nicht spalten?«, fragte der Priester.
»Nein, nein. Wir wissen jetzt, wo auf unserer Seite die Gefahr ist. Und Amerika wird sicherlich auf unserer Seite sein. Aber, wie dem auch sei, Gott helfe uns — oder Ihnen, möchte ich eher sagen —, wenn das Reich sich regt, es kennt nun endlich seine eigene Stärke.«
Stillschweigen herrschte für einige Momente. Ein schwaches Zittern ging durch den Raum; eine der Riesenlokomotiven passierte den über ihnen gelegenen breiten Boulevard.
»Prophezeien Sie!« brach Percy das Schweigen. »Ich meine, bezüglich der Religion.«
Mr. Templeton tat einen langen Atemzug aus seinem Apparat; dann nahm er die Unterhaltung wieder auf.
»Kurz gesagt«, begann er, »wir haben drei religiöse Mächte — den Katholizismus, den Humanitarismus und die Religionen des Ostens. Was die Letzteren betrifft, kann ich nichts prophezeien, wenn ich auch glaube, dass schließlich die Sufis Sieger bleiben werden. Etwas wird geschehen; der Esoterizismus — und damit der Pantheismus — schreitet mächtig voran; und die Verschmelzung der chinesischen mit der japanischen Dynastie wirft alle unsere Berechnungen über den Haufen. Aber, und daran ist kein Zweifel, in Europa und Amerika vollzieht sich der Kampf zwischen den beiden anderen. Wir können alles Übrige beiseitelassen. Und, wenn Sie wünschen, dass ich meine Meinung sage, ich glaube, dass, menschlich gesprochen, der Katholizismus rasch zurückgehen wird. Es ist vollkommen wahr, dass der Protestantismus tot ist. Die Menschheit hat endlich erkannt, dass eine übernatürliche Religion eine absolute Autorität erfordert, und dass die Freiheit in Glaubensfragen nichts anderes ist, als der Beginn der Zersetzung. Und ebenso wahr ist es, dass, nachdem die katholische Kirche die einzige Institution ist, welche für sich übernatürliche Autorität mit all ihren erbarmungslosen Konsequenzen in Anspruch nimmt, sie allein die Anhängerschaft so ziemlich aller Christen besitzt, die sich noch irgend einen übernatürlichen Glauben bewahrt haben. Es gibt wohl einige Besserwisser, besonders in Amerika und bei uns, aber sie kommen nicht in Betracht. Das ist alles ganz gut; aber andrerseits dürfen Sie nicht vergessen, dass der Humanitarismus entgegen den Erwartungen aller im Begriff ist, selbst eine, wenn auch der übernatürlichen entgegengesetzte, Religion zu werden. Er ist nichts anderes, als Pantheismus; er schafft sich unter dem Deckmantel der Freimaurerei einen eigenen Ritus, er hat sein eigenes Credo: ›Gott ist der Mensch‹, und so fort. Er bietet daher religiösem Forschen in gewisser Beziehung wirklichen Stoff, er idealisiert, ohne dabei irgendwelche Anforderungen an geistige Fähigkeit zu stellen. Dazu kommt, dass ihm alle Kirchen und Kathedralen, die unsrigen ausgenommen, zur Verfügung stehen, und dass man dort endlich angefangen hat, dem Gefühle Rechnung zu tragen. Es ist ihm außerdem möglich, seine Symbole zur Schau zu tragen, was wir nicht dürfen. Ich glaube, in spätestens zehn Jahren wird er gesetzlich anerkannt sein.
Nun bedenken Sie, dass wir Katholiken bereits abnehmen; seit mehr als fünfzig Jahren gehen wir stetig zurück. Nach meiner Schätzung machen wir ungefähr ein Vierzigste! Amerikas aus, — und das ist das Resultat der katholischen Bewegung vom Anfang der zwanziger Jahre. In Frankreich und Spanien existieren wir nicht mehr, geschweige denn in Deutschland. Wir halten allerdings unsere Stellung im Osten, aber selbst da bilden wir ein halbes Prozent — die Statistiken sagen es wenigstens — und dieses ist sehr verstreut. In Italien. Es ist richtig, Rom gehört wieder uns, das ist aber auch alles; hier haben wir das gesamte Irland und ungefähr einen Katholiken auf sechzig Einwohner in England, Wales und Schottland, aber wir hatten noch vor siebzig Jahren einen auf vierzig. Dazu kommen die enormen Fortschritte der Psychologie, die seit mindestens einem Jahrhundert sich direkt gegen uns richten. Anfangs, sehen Sie, herrschte der reine und nackte Materialismus, — dieser versagte mehr oder weniger, — er war zu roh, — bis ihm die Psychologie zu Hilfe kam. Nunmehr beansprucht die Psychologie das ganze übrige Gebiet, und der Sinn für Übernatürliches scheint sich für jene zu erklären. So stehen die Dinge. Nein, Father, wir nehmen ab; und wir werden weiter abnehmen, und ich glaube, wir müssen jeden Moment auf eine Katastrophe gefasst sein.«
»Aber —«, begann Percy.
»Sie halten das für die Schwäche eines alten Mannes, der am Rande des Grabes steht. Nun, es ist, wie ich denke. Ich sehe keine Hoffnung. In der Tat, es scheint mir sogar, dass gerade jetzt etwas Unerwartetes über uns hereinbrechen wird. Nein, ich sehe keine Hoffnung, bis —«
Percy blickte rasch auf.
»Bis unser Heiland wiederkehrt«, sagte der alte Staatsmann. —
Father Franzis seufzte abermals und Schweigen trat ein.
»Und der Fall der Universitäten?«, fragte Percy nach einer Weile.
»Mein lieber Herr, das war genau wie beim Fall der Klöster unter Heinrich VIII. — dieselben Ergebnisse, dieselben Beweisgründe, dieselben Zwischenfälle. Sie waren die Bollwerke des Individualismus, wie die Klöster jene des Papsttums waren, und sie wurden mit derselben Scheu und dem gleichen Neid betrachtet. Dann begann die gewöhnliche Art von Bemerkungen über die Menge des dort getrunkenen Portweins, und sogleich sagte man, die Universitäten hätten sich überlebt, dass ihre Insassen Mittel und Zweck verwechselten, — und man hatte sehr viel mehr Grund, das zu sagen. Jedenfalls, wo übernatürlicher Glaube besteht, sind Klöster eine einfache Konsequenz desselben; der Zweck einer rein weltlichen Erziehung aber ist wohl die Schaffung von etwas Wahrnehmbarem — entweder Charakter oder Kenntnissen; und es kam dahin, dass es unmöglich mehr bewiesen werden konnte, dass die Leistungen der Universitäten deren Existenz gerechtfertigt hätten. Die Unterscheidung zwischen ον und μη7 ist noch nicht Zweck an sich, und die Menschen, die durch ein solches Studium gebildet wurden, waren nicht das, was das England des Zwanzigsten Jahrhunderts brauchte. Und ich möchte nicht einmal behaupten, dass dieselben etwa mir besonders entsprachen (und ich bin immer ein unentwegter Individualist gewesen) — ausgenommen vielleicht durch ihr Pathos.«
»Ja?«, sagte Percy.
»O, an Pathos fehlte es am allerwenigsten. Die Hochschulen von Cambridge und die Kolonialakademie von Oxford waren die letzte Hoffnung, und endlich gingen auch diese ein. Die alten Herren Professoren, die ›Dons‹, zogen mit ihren Büchern umher, aber niemand fragte mehr nach ihnen, — sie waren zu einseitig theoretisch; einige landeten in Armenhäusern ersten oder zweiten Grades, um andere nahmen sich mitleidige Geistliche an, auch wurde ein Versuch gemacht, sie gemeinsam in Dublin unterzubringen, aber auch dieser scheiterte, und bald hatte man ihrer ganz vergessen. Die Gebäulichkeiten wurden, wie Ihnen ja bekannt, für alle möglichen Zwecke verwendet. Oxford war dann für einige Zeit Maschinenfabrik, und Cambridge eine Art staatliches Laboratorium. Ich war ja seinerzeit, wie Sie wissen, selbst in Kings College, und darum hätten diese Dinge für mich nicht schrecklicher sein können; immerhin freut es mich, dass wenigstens die Kapelle offenblieb, wenn auch nur als Museum. Es war wirklich nicht hübsch, in den Chorstühlen anatomische Präparate aufgestellt zu sehen. Nun, ich denke, viel hässlicher war es auch nicht, als Stolen und Torröcke darin hängen zu sehen.«
»Und was geschah mit Ihnen?«
»O, ich kam sehr bald ins Parlament und besaß zudem etwas eigenes Vermögen. Aber für manchen der anderen war es sehr hart; sie hatte eine geringe Pension, wenigstens alle diejenigen, die arbeitsunfähig waren. Und doch, ich weiß nicht, ich glaube, es musste so kommen. Sie waren ja nur wenig mehr als pittoreske Überbleibsel, die nicht einmal die Gnade religiöser Überzeugung hatten.«
Percy seufzte wieder und blickte in das Gesicht des alten Mannes, der, froh gelaunt, Erinnerungen alter Zeiten auffrischte. Plötzlich, das Thema wechselnd, fragte er: »Wie denken Sie hinsichtlich des europäischen Parlaments?«
Der alte Herr begann von Neuem.
»O! … ich denke, das wird auch noch kommen, wenn der richtige Mann gefunden werden kann, der es durchsetzt. Das ganze abgelaufene Jahrhundert drängte, wie Sie sehen, darauf hin. Und der Patriotismus ist schnell ausgestorben; aber er musste verschwinden, wie die Sklaverei und anderes unter dem Einfluss der katholischen Kirche verschwunden sind. Nun ist es geschehen ohne die Kirche und die Folge davon ist, dass die Welt im Begriffe steht, sich gegen uns zu wenden, es ist ein organisierter Antagonismus, — eine Art katholischer, allgemeiner Antikirche. Die Demokratie hat besorgt, was die göttliche Monarchie getan haben sollte. Wenn das Projekt verwirklicht wird, glaube ich, mag uns noch einmal so etwas wie eine Verfolgung bevorstehen … Aber ich wiederhole, vielleicht rettet uns die Erhebung des Fernen Ostens, wenn sie zustande kommt … Ich weiß nicht …«
Einen Augenblick noch blieb Percy ruhig sitzen, dann stand er plötzlich auf.
»Ich muss gehen, Mr. Templeton«, sagte er, sich nun der Weltsprache Esperanto bedienend, »es ist bereits nach neunzehn Uhr. Meinen besten Dank. Kommen Sie mit, Father?«
Dieser in seinem dunkelgrauen Gewand, das den Priestern zu tragen gestattet war, erhob sich ebenfalls und nahm seinen Hut.
»Also, Father«, begann der alte Herr nochmals, »kommen Sie wieder einmal, wenn ich Ihnen heute nicht etwa zu schwatzhaft gewesen bin. Vermute ich recht, Sie haben noch Ihren Brief zu schreiben?«
Percy nickte. »Die Hälfte besorgte ich schon heute Morgen«, sagte er, »aber ich fühlte, es fehlte mir noch ein weiterer Überblick, wie er zum völligen Verständnis unbedingt notwendig ist, und ich danke Ihnen herzlich, dass Sie ihn mir gegeben haben. Es ist wirklich eine große Arbeit, dieser tägliche Bericht an den Kardinal-Protektor, und ich denke schon daran, zu resignieren, wenn man es mir gestattet.«
»Mein lieber Herr, tun Sie das nicht. Wenn ich mir erlauben darf, es Ihnen ins Gesicht zu sagen, ich glaube, Sie besitzen sehr scharfen Verstand; und ehe Rom nicht allseitig unterrichtet ist, kann es nichts tun. Ich bezweifle, ob Ihre Kollegen hierin so genau wären, wie Sie.«
Percy lächelte, durch Heben seiner dunklen Augenbrauen abwehrend.
»Kommen Sie, gehen wir«, sagte er.
Die beiden Priester trennten sich an der Schwelle des Korridors, und Percy stand eine oder zwei Minuten, in die wohlbekannte Herbstlandschaft hinausblickend und sich bemühend, sie ganz zu erfassen. Was er dort unten gehört hatte, schien ihm so eigentümlich diese Vision glänzenden Gedeihens, die da vor ihm lag, zu beleuchten.
Es schien heller Tag zu sein. Künstliches Sonnenlicht hatte alles überwunden, und London kannte jetzt keinen Unterschied mehr zwischen Dunkelheit und Licht. Er befand sich in einer Art emaillierter Arkade, grob gepflastert mit einer Kautschukmasse, die den Fußtritt lautlos machte. Unter ihm, am Fuße der Treppe, strömte eine endlose Doppellinie von Leuten, durch ein Geländer getrennt, nach rechts und links hin, geräuschlos, abgesehen von dem Gemurmel der Esperantoworte, die sie während des Gehens austauschten. Durch die klaren, massiven Scheiben des öffentlichen Gangsteiges sah man auf eine breite, glatte Straße von dunklem Aussehen, nach den Seiten hin ansteigend und in der Mitte gefurcht, die bezeichnenderweise leer war. Und als er so dort stand, tönte ein Geräusch fernher von Alt-Westminster, gleich dem Summen eines Riesenbienenstockes und mit dem Näherkommen stärker werdend. Im nächsten Augenblick sauste ein durchsichtiges, nach allen Seiten Licht ausstrahlendes Etwas vorüber, und dann nahm das Geräusch wieder ab, in Summen und schließlich Schweigen übergehend, — der große Staatsmotor vom Süden war vorbeigerast, um die Post nach dem östlichen London zu befördern. Dies war eine reservierte Straße, nur Staatsfahrzeuge durften sie benützen, und auch diesen war eine Schnelligkeit von nicht mehr als hundert englischen Meilen in der Stunde gestattet.
Alles andere Geräusch war in dieser kautschukgepflasterten Stadt unterdrückt; die Zirkulationswege für Fußgänger waren hundert Yards entfernt, und der Untergrundverkehr lag zu tief, um sich anders als durch ein schwaches Vibrieren fühlbar zu machen. Diese Vibration zu beseitigen und den Lärm der gewöhnlichen Fahrzeuge abzuschwächen, das war während der letzten zwanzig Jahre das Streben der staatlichen Sachverständigen gewesen.
Und ehe er weiterging, vernahm er wieder über sich einen lang gezogenen, auffallend wohlklingenden und durchdringenden Laut, und als er sein Auge von dem Schimmer des ruhig dahinfließenden Stromes, der allein allen Wandlungen standgehalten hatte, erhob, sah er hoch über sich in den schweren, lichten Wolken einen langen, schlanken Gegenstand von sanftem Licht umgeben gen Norden schweben und auf ausgespannten Schwingen entschwinden. Dieser wohltönende Klang ging von einem der Luftschiffe der europäischen Linie aus, das seine Ankunft in der Hauptstadt Großbritanniens anzeigte.
»Bis unser Heiland wiederkehrt«, dachte er bei sich selbst, und das Elend überkam einen Moment sein Herz. Wie schwer war es doch, den Blick auf jenen fernen Horizont gerichtet zu halten, während diese Welt vor ihm lag, so bestrickend in ihrem Glanze und ihrer Kraft. O, noch vor einer Stunde hatte er sich mit Father Francis darüber unterhalten, dass ein Unterschied bestehe zwischen äußerer und innerer Größe, und dass ein imponierendes Äußeres nicht ein unbedeutendes Inneres ausschließe; und er war so fest überzeugt von diesem seinem Standpunkte, — und dennoch blieb ein Zweifel, bis er ihn endlich selbst zum Schweigen zwang, indem er in seinem Herzen zu dem armen Manne von Nazareth emporflehte, er möge sein Herz dem Herzen eines Kindes gleich bewahren.
Seine Züge nahmen den Ausdruck der Entschlossenheit an. Wie lange wohl Father Francis seinen Standpunkt würde aufrechterhalten können, dachte er bei sich und stieg die Treppe hinab. —
Stadtteil in der Innenstadt Londons <<<
Die englischen Katholiken legen den Weltgeistlichen den Titel: Father (Vater) bei. <<<
antimilitaristische Bewegung, benannt nach ihrem Begründer Gustave Hervé <<<
konservative Partei des britischen Parlaments <<<
Verzicht auf göttliche Attribute bei der Menschwerdung Jesus Christus <<<
Meerenge zwischen der östlichsten Stelle Asiens und dem westlichsten Punkt des amerikanischen Festlands <<<
Griechisch ›sein‹ und ›nicht‹ <<<
Oliver Brand, der neue Abgeordnete für Croydon, saß in seinem Studierzimmer und sah über seine Schreibmaschine hinweg aus dem Fenster. Sein Haus, gegen Norden gerichtet, war am äußersten Ende eines Ausläufers der Surreyhügel, die jetzt infolge der Tunnels und Durchbrüche kaum mehr zu erkennen waren; nur einen Kommunisten konnte die jetzige Aussicht noch begeistern. Unmittelbar unterhalb der breiten Fenster fiel das umgrenzte Gelände auf etwa hundert Fuß hin und in eine Mauer ausgehend steil ab, während jenseits derselben, soweit das Auge reichte, die Welt — der Mensch und seine Werke — Triumphe feierte. Zwei breite Schienenwege, einer Rennbahn gleichend, jeder mindestens eine Viertelmeile breit und zwanzig Fuß tiefer als das umliegende Gelände gelegt, liefen nach einem, eine Meile weiter entfernten Vereinigungspunkt, wo sie sich kreuzten. Der eine derselben, der linke, war die Hauptlinie nach Brighton, im Kursbuch mit großen Buchstaben bezeichnet, der rechte die Nebenlinie nach Tunbridge und Hastings. Jede dieser beiden Linien war in ihrer Mitte durch eine Zementmauer geteilt, auf deren einer Seite auf Stahlschienen die elektrische Trambahn hinführte; die andere Seite bildete den in drei Teile geteilten Automobilfahrweg. In dem Ersten fuhren, mit einer Schnelligkeit von hundertfünfzig englischen Meilen in der Stunde, die staatlichen Wagen, im zweiten Privatautomobil, denen nicht mehr als sechzig Meilen in der Stunde gestattet waren, im Dritten war der billige Staatswagenverkehr, mit dreißig Meilen, untergebracht, mit Stationen nach je fünf Meilen. Daran schloss sich der für Fußgänger, Radfahrer und gewöhnliche Fuhrwerke bestimmte Weg, auf welchem kein Fahrzeug die Schnelligkeit von zwölf Meilen in der Stunde überschreiten durfte. Jenseits dieser großen Stränge dehnte sich ein unabsehbares Meer von Dächern hin, aus dem hier und da niedere Türme als Kennzeichen der öffentlichen Gebäude hervortraten, und von Caterham zur Linken bis zu dem geradeaus liegenden Croydon erschien alles rein und klar in der rauchfreien Luft; fern gegen Westen und Norden hoben sich die niederen Vorstadthügel vom Aprilhimmel ab.
In Anbetracht der zahlreichen Bevölkerung hörte man erstaunlich wenig Geräusch; abgesehen von dem Kreischen der Stahlschienen bei dem jedesmaligen Vorbeisausen eines Zuges nach dem Norden oder Süden und dem zeitweiligen angenehmen Laut der dem Kreuzungspunkte zueilenden großen Motoren, konnte man in diesem Arbeitszimmer wenig mehr wahrnehmen, als vielleicht ein sanftes, leises, dem Bienensummen in einem Garten gleichendes Murmeln.
Oliver war ein Freund jeglicher Art menschlicher Tätigkeit, von allem, was danach aussah oder klang, und so horchte er jetzt aufmerksam und lächelte, in die klare Luft hinausstarrend, vor sich hin. Dann kehrte die gewöhnliche Entschlossenheit in seine Züge zurück, seine Finger berührten von Neuem die Tasten und fuhren in der Vorbereitung der Rede fort.
Er hatte es mit der Lage seines Hauses sehr günstig getroffen. Es stand in dem Mittelpunkt eines jener kolossalen Spinngewebe, die das Land bedeckten, und hätte seinen Zwecken nicht besser entsprechen können. Es befand sich nahe genug bei London, um außerordentlich billig zu sein, — denn alle wohlhabenden Leute hatten sich wenigstens hundert Meilen weit von dem geräuschvoll pulsierenden Herzen Englands niedergelassen — und doch hätte er es sich nicht ruhiger wünschen können. Nach der einen Seite hin war er zehn Minuten von Westminster, nach der anderen zwanzig Minuten von der See entfernt, und sein Wahlkreis lag wie eine Reliefkarte vor ihm ausgebreitet. Da außerdem die großen Londoner Endstationen nur zehn Minuten weit weg lagen, hatte er die Hauptlinien nach jeder größeren Stadt Englands bequem zur Hand. Für einen nicht gerade sehr bemittelten Politiker, der heute in Edinburgh und morgen in Marseille sprechen sollte, wohnte wohl kaum ein Mann in Europa so günstig wie er.
Er war von angenehmem Äußeren, ein beginnender Dreißiger, mit schwarzem, straffem Haar, glattrasiert, mager, männlich, sympathisch, hatte blaue Augen und weißen Teint. Heute nun schien er mit sich selbst und der Welt ganz besonders zufrieden zu sein. Seine Lippen bewegten sich ab und zu während der Arbeit, seine Augen wurden bald größer, bald kleiner vor Erregung, und mehr als einmal hielt er inne, starrte hinaus, lächelte und errötete.
Eine Türe öffnete sich; ein Mann mittleren Alters trat etwas ängstlich mit einem Stoß Papiere herein, legte diese, ohne ein Wort zu sagen, auf den Tisch und wandte sich wieder der Türe zu. Oliver machte ihm mit der Hand ein Zeichen, nachdem er noch die letzte Taste gedrückt hatte.
»Nun, Mr. Phillips?«, begann er.
»Es sind Nachrichten aus dem Osten eingegangen, Sir«, erwiderte der Sekretär.
Oliver warf einen Blick nach der Seite und legte seine Hand auf die Papiere.
»Irgendwelche vollständige Nachricht?«, fragte er.
»Nein, es gab wieder eine Unterbrechung; Mr. Felsenburghs Name wird genannt.«
Oliver schien es nicht gehört zu haben; er nahm die dünnen, bedruckten Blätter plötzlich auf und fing an, sie durchzusehen.
»Der Vierte von oben, Mr. Brand«, sagte der Sekretär.
Oliver machte eine ungeduldige Bewegung, und wie auf ein gegebenes Zeichen verließ der andere das Zimmer.
Der vierte Bogen von oben, grün mit rotem Druck, schien Olivers volle Aufmerksamkeit in Anspruch zu nehmen, denn zwei- oder dreimal las er ihn durch, während er regungslos in seinem Stuhl zurücklehnte. Dann seufzte er und ließ seinen Blick wieder durchs Fenster schweifen, als sich abermals die Türe öffnete, und eine junge Dame von stattlicher Erscheinung eintrat.
»Nun, mein Lieber?«, begann sie.
Oliver schüttelte den Kopf und biss die Lippen zusammen.
»Nichts Bestimmtes«, sagte er, »sogar weniger als sonst. Höre.«
Den grünen Bogen zur Hand nehmend, fing er an, laut zu lesen, während die junge Dame zu seiner Linken in einem Stuhl am Fenster Platz nahm. Sie war ein Geschöpf von ausnehmender Anmut, groß und schlank, mit ernsten, seelenvollen, grauen Augen, wohlgeformten Lippen und einer würdevollen Haltung in Kopf und Schultern. Sie hatte langsam das Zimmer durchschritten, als Oliver das Papier zur Hand nahm, und lehnte sich nun in ihrem braunen Kleide zurück, ein Bild vollendeter Vornehmheit und Grazie. Sie schien mit einem wohlüberlegten Ausdruck der Geduld zuzuhören, aber aus ihren Augen sprach ein reges Interesse.
»Irkutsk, — 14. April. — Gestern — wie — gewöhnlich — aber — mutmaßlicher — Abfall — von Sufi — Partei. — Truppen — weiter — zusammenziehen. — Felsenburgh — Ansprache — Buddhisten — Menge. — Vorigen Freitag — Anschlag — auf — Llama — durch — Anarchisten. — Felsenburgh — abgereist — nach — Moskau — wie — verabredet, — er — so, das ist alles«, schloss Oliver ärgerlich. »Wie gewöhnlich, eine Unterbrechung.«
»Ich verstehe nicht das mindeste«, sagte sie, »wer ist eigentlich Felsenburgh?«
»Mein liebes Kind, das fragt man sich allgemein. Man weiß nur, dass er im letzten Moment der amerikanischen Abordnung beigegeben wurde. Der ›Herald‹ brachte vorige Woche seine Lebensbeschreibung, die aber als nicht den Tatsachen entsprechend bezeichnet wurde. So viel ist gewiss, dass er noch sehr jung und bisher nie hervorgetreten ist.«
»Nun, jetzt ist er hervorgetreten.«
»Gewiss, es scheint, als wäre er der Macher der ganzen Sache. Von den anderen hört man nie ein Wort. Es ist ein Glück, dass er auf der richtigen Seite steht.«
»Und was ist deine Meinung?«
Oliver blickte wieder nachdenklich durch das Fenster. »Ich glaube, es ist ein Versteckspiel«, sagte er. »Das einzige Eigentümliche an der Sache ist nur, dass kaum jemand sie sich wirklich vorzustellen scheint. Sie übersteigt allem Vermuten nach jede Einbildungskraft. Daran ist nicht zu zweifeln, dass der Osten während der letzten fünf Jahre sich zu einem Einfall in Europa gerüstet hat. Nur durch Amerika wurde er davon zurückgehalten; es ist ein letzter Versuch, ihn wenigstens zu hemmen. Warum aber Felsenburgh sich vordrängt —« brach er ab. »Jedenfalls muss er ein guter Linguist sein. Dies ist wenigstens das fünfte Mal, dass er zu einer Menge spricht. Vielleicht ist er nur der amerikanische Dolmetscher. Gott! Ich möchte wissen, wer er ist.«
»Hat er noch einen anderen Namen?«
»Julian, glaube ich, eine Depesche sagte es.«
»Wie gelangte diese her?«
Oliver schüttelte den Kopf.
»Privatunternehmen«, sagte er. »Die europäischen Agenturen haben die Arbeit eingestellt. Jedes Telegrafenamt wird Tag und Nacht bewacht. Scharen von Flugschiffen kreuzen an jeder Grenze. Das Reich hat offenbar die Absicht, die Angelegenheit ohne uns zu ordnen.«
»Und wenn es schlimm geht?«
»Meine liebe Mabel, — wenn die Hölle losbricht —« er machte eine abwehrende Bewegung.
»Und was tut die Regierung?«
»Man arbeitet Tag und Nacht; ebenso das übrige Europa; es wäre fürchterlich, wenn es zum Kriege käme.«
»Und stehst du keinen Ausweg?«
»Ich sehe zwei Wege«, antwortete Oliver langsam. »Entweder sie fürchten sich vor Amerika und überlegen es sich, das Feuer zu schüren, oder Sie werden durch die Nächstenliebe dazu gebracht, ihre Hand zurückzuhalten; wenn man sie nur dazu bringen könnte, zu begreifen, dass im Zusammenarbeiten die einzige Hoffnung für die Welt liegt. Aber ihre verdammten Religionen —«
Die junge Frau seufzte und sah hinaus über das weite Dächermeer zu ihren Füßen.
Die Lage war in der Tat so ernst, als sie nur sein konnte. Jenes gewaltige Reich, bestehend aus einem Staatenbund unter der Leitung des Sohnes des Himmels — es war durch Verschmelzung der japanischen mit der chinesischen Dynastie und den Fall Russlands entstanden —, hatte seine Kräfte gefestigt und war sich seiner eigenen Macht während der letzten fünfunddreißig Jahre bewusst geworden, seitdem in der Tat es seine dürre gelbe Hand auf Australien und Indien gelegt hatte. Während die übrige Welt die Unvernunft des Kriegführens kennen gelernt, hatte jene, nachdem die russische Republik dem vereinten Angriff der gelben Rasse unterlegen war, an sich gerissen, was ihr erreichbar war. Es schien jetzt, als ob die Zivilisation des abgelaufenen Jahrhunderts nochmals in das Chaos zurückgeschwemmt werden sollte, aus dem sie entstanden. Nicht, als ob man sich Sorge machte wegen der gelben Rasse. Es waren deren Herrscher, welche, nach einer nahezu ewig dauernden Lethargie begonnen hatten, sich zu regen, und es war schwer, einzusehen, wodurch diese nunmehr wieder hätten zur Ruhe gebracht werden können. Es lag außerdem etwas Grimmerregendes in dem Gerücht, dass religiöser Fanatismus die Triebfeder der Bewegung sei, und dass der so lange geduldige Osten sich endlich daran mache, durch die modernen Ausgleichsmittel von Feuer und Schwert diejenigen zu bekehren, die zum größten Teile jeden religiösen Glauben, außer den an die Menschheit, abgelegt hatten.
Für Oliver war die Sache einfach zum Verstandesverlieren. Wenn er aus seinem Fenster herniederblickte und, soweit der Horizont reichte, dieses London so friedlich vor sich liegen sah, wenn seine Gedanken über Europa hinflogen und überall dem vollkommenen Triumph des Menschenverstandes und seiner Werke über die ungenießbaren Ammenmärchen des Christentums begegneten, da schien es ihm unerträglich, dass es auch nur eine Möglichkeit geben sollte, all das wieder zurückzuwerfen in das unmoderne, ja barbarische Gestreite der Sekten und Dogmen, denn nichts anderes als dieses würde die Folge sein, wenn der Osten seine Hand auch noch auf Europa legte. Ja, selbst der Katholizismus würde wieder aufleben, sagte er sich, dieser eigentümliche Glaube, der stets neu aufgeflammt war, so oft die Verfolgung zum vernichtenden Schlage gegen ihn ausgeholt hatte; und nach Olivers Dafürhalten war von allen Glaubensformen der Katholizismus die groteskeste und erniedrigendste. Diese Aussicht beunruhigte ihn in seinem Innersten weit mehr als der Gedanke an die physische Katastrophe und das Blutvergießen, das über Europa hereinbrechen musste mit dem Heraufziehen des Ostens. Es gab nur eine Hoffnung, von religiöser Seite her, wie er Mabel dutzendmal auseinandergesetzt hatte, und sie bestand darin, dass es dem quietistischen Pantheismus, der im Verlaufe des letzten Jahrhunderts im Osten wie im Westen, unter Mohammedanern, Buddhisten, Hindus, unter den Anhängern des Konfuzius und anderer Religionen solche Riesenfortschritte gemacht hatte, gelingen würde, den religiösen Wahnsinn, von dem diese exoterischen Brüder des Ostens befallen waren, zu besiegen. Pantheismus war nach Olivers Begriffen das, was er selbst war; ihm war »Gott« die Summe des in steter Weiterentwicklung begriffenen, geschaffenen Lebens, und unpersönliche Einheit war das Wesen des Seins dieses »Gottes«. Ehrgeiz war ihm die große Häresie, welche die Menschen im Gegensatz zueinander brachte und den Fortschritt hinderte, denn nach seiner Meinung lag der Fortschritt in dem vollkommenen Aufgehen des Einzelnen in der Familie, der Familie im Gemeinwesen, im Staate, des Staates im Kontinent, und des Kontinents in der Welt. Die Welt endlich war selbst und zu jeder Zeit nicht mehr als der Ausdruck unpersönlichen Lebens. Es war in der Tat der katholische Gedanke unter Beiseitelassung des übernatürlichen, eine Zusammenfassung irdischer Schicksale, ein Aufgeben des Individualismus auf der einen Seite und des übernatürlichen auf der ändern. Es war ein Verrat, ein Appell von dem immanenten an den transzendenten Gott. Es gab keinen transzendenten Gott, Gott war, soweit er erkannt werden konnte — der Mensch.
Und doch waren diese beiden Ehegatten in gewissem Sinne — sie hatten den nunmehr vom Staate ausdrücklich als lösbar anerkannten Vertrag eingegangen — sehr weit entfernt von der dumpfen Trägheit, die man bei reinen Materialisten zu finden pflegt. Für sie pulsierte in der Welt ein einziges heißes, glühendes Leben, das, je nachdem, zu Blumen und Tieren und Menschen erblüht, ein Strom herrlicher Lebenskraft, der, einer tiefen Quelle entspringend, alles bewässert, was Bewegung und Gefühl in sich trägt. Diese Weltanschauung war umso bestechender, fand umso mehr Anklang, als sie den Sinnen derer verständlich war, die aus ihr geboren waren. Wohl hatte auch sie Geheimnisse aufzuweisen, aber es waren Geheimnisse, die eher anlockten als abschreckten, denn aus ihnen förderte jede neue Entdeckung, die der Mensch machen konnte, stets neue Herrlichkeiten zutage. Selbst unbeseelte, leblose Objekte, wie die Fossilien, der elektrische Strom, die fernen Sterne, all dies wurde vom Weltgeiste als Staub einfach beiseite geworfen, alles, was für Gottes Allgegenwart zeugte und seine Natur verkündete. Wie gründlich hatte z. B. nur die von dem Astronomen Klein vor zwanzig Jahren gemachte Ankündigung, dass das Bewohntsein gewisser Planeten eine feststehende Tatsache geworden sei, die Meinung der Menschheit von sich selbst geändert! Aber die einzige Bedingung des Fortschrittes und des Wiederaufbaues von Jerusalem war für den Planeten, den der Zufall zur Wohnstätte der Menschheit bestimmt hatte, nicht das Schwert, das Christus gebracht oder das Mohammed schwang, sondern der Friede, der ein Produkt der Vernunft, deren Grenzen er nicht überstieg, der Friede, der aus dem Bewusstsein hervorging, dass der Mensch alles sei und nur durch gegenseitiges Vertragen und Entgegenkommen imstande sei, sich weiter zu entwickeln. Für Oliver und sein Weib erschien das abgelaufene Jahrhundert wie eine Offenbarung; immer mehr waren die alten, abergläubischen Vorstellungen abgebröckelt, immer weiter war das neue Licht gedrungen; der Geist der Welt war aufgegangen, die Sonne war im Westen versunken und nun — mit Schrecken und Abscheu mussten sie von Neuem die Wolken sich zusammenziehen sehen, dort, von wo aller Aberglaube ausgegangen war.
Mabel stand plötzlich auf und kam zu ihrem Manne herüber.
»Mein Lieber«, sagte sie, »du musst nicht verzagt sein; es wird auch das vorübergehen, wie alles andere vorübergegangen ist. Es ist schon sehr viel gewonnen, dass sie auf Amerika überhaupt hören, und dieser Mr. Felsenburgh scheint mir auf der richtigen Seite zu stehen.«
Oliver ergriff ihre Hand und küsste sie.
Oliver schien während des Mittagstisches eine halbe Stunde später in sehr gedrückter Stimmung zu sein. Seine Mutter, eine alte Frau von nahezu achtzig Jahren, die sich nie vor Mittag sehen ließ, schien es sofort zu bemerken, denn, nachdem sie ihn ein paarmal angesehen und einige Worte mit ihm gewechselt, versank sie in Schweigen und widmete sich ihrem Teller.
Ein angenehmes, kleines Zimmer war es, in dem sie saßen, dicht hinter jenem Olivers und, dem allgemeinen Brauch zufolge, ganz in Grün gehalten. Die Fenster gingen auf einen kleinen Garten hinter dem Hause und auf die mit wildem Wein bewachsene Mauer, welche dieses Besitztum von dem nächsten trennte. Auch die Möbel waren ganz dem allgemeinen Gebrauch entsprechend; ein bequemer, runder Tisch stand in der Mitte, um ihn drei hohe Lehnstühle mit heraufgeschlagenen Armstützen, während das Mittelstück desselben, auf einer runden Säule von ziemlichem Umfang ruhend, das Geschirr trug. Seit dreißig Jahren schon war es in den Häusern der Bessergestellten gebräuchlich geworden, das Speisezimmer oberhalb der Küche anzulegen, und das Servieren der Gänge vermittelst eines in der Mitte des Esstisches befindlichen hydraulischen Aufzuges zu bewerkstelligen. Der Fußboden bestand ganz aus dem in Amerika erfundenen geräuschlosen, sauberen und für Auge und Fuß angenehmen Asbest-Korkpräparat.
Mabel brach das Schweigen.
»Und deine Rede für morgen?«, fragte sie, indem sie zu ihrer Gabel griff.
Oliver nahm einen etwas lebhafteren Ausdruck an und wurde gesprächiger.
Wie es schien, fing Birmingham an, unruhig zu werden. Von Neuem erhob man die Forderung des Freihandels mit Amerika; man begnügte sich nicht mehr mit den innereuropäischen Verkehrserleichterungen, und es war Olivers Aufgabe, sie zu beruhigen. Es wäre nutzlos, nahm er sich vor ihnen zu sagen, in eine Agitation einzutreten, solange die Frage des Ostens nicht erledigt wäre; sie sollten doch die Regierung gerade jetzt nicht mit solchen Kleinigkeiten belästigen. Er hatte außerdem den Auftrag, ihnen zu erklären, dass die Regierung ganz auf ihrer Seite stehe und entschlossen sei, bald zuzustimmen.
»Dickköpfe sind sie«, sagte er ärgerlich, »hartnäckig und selbstsüchtig; sie sind wie die Kinder, die zehn Minuten vor Tisch noch nach dem Essen schreien; es wird ja unbedingt dazu kommen, wenn sie nur ein wenig Geduld haben wollten.«
»Und wirst du ihnen dieses sagen?«
»Dass sie Dickköpfe sind? Selbstverständlich!«
Mabel blickte ihren Gatten mit einem wohlgefälligen Lächeln an. Sie wusste nur zu gut, dass er seine Beliebtheit zum großen Teile seiner Offenherzigkeit verdankte: Den Leuten gefiel es, sich von einem genialen, kühnen Manne, der in magnetischer Ereiferung vor ihnen herumsprang und gestikulierte, Scheltworte und Grobheiten sagen zu lassen.
»Wie wirst du hinfahren?«, fragte sie.
»Flugschiff. Ich werde mit dem um achtzehn von Blackfriars abfahren; um neunzehn ist die Versammlung, und um einundzwanzig bin ich wieder zurück.«
Er ließ sich die Vorspeise sehr gut schmecken, und seine Mutter sah mit dem geduldigen Lächeln einer alten Frau auf.
Mabel begann, leise mit den Fingern auf der Damastdecke zu trommeln.
»Sei so gut und beeile dich, mein Lieber«, sagte sie, »ich muss um drei Uhr in Brighton sein.«
Oliver schluckte den letzten Bissen hinab, schob seinen Teller in die Mitte der Tischplatte zurück, blickte umher, ob auch die übrigen Teller dort untergebracht seien, und griff mit der Hand unter den Tisch.
Sofort und ohne jedes Geräusch verschwand das Mittelstück, und die Drei warteten mit der gewohnten Gleichgültigkeit, während das Klirren der Teller von unten heraufklang.
Die alte Mrs. Brand war eine rüstig aussehende Dame und trotz der Runzeln noch von frischer Gesichtsfarbe; sie trug eine auf dem Haupt befestigte Mantilla, wie sie etwa vor fünfzig Jahren Mode war; doch auch an ihr konnte man diesen Morgen eine gedrückte Stimmung bemerken. Die Vorspeise war nach ihrer Ansicht nicht recht gelungen, der neue Nährstoff nicht so gut wie der frühere, er war ein klein wenig sandig; nach Tisch wollte sie einmal danach sehen.
Da vernahm man wieder das Klirren, ein schwaches, schiebendes Geräusch, und das Mittelstück erschien wieder an seinem Platze, eine wunderbare Nachahmung eines Brathuhnes tragend. —