Der Herr Jesus kommt nicht - Margarete Zorn - E-Book

Der Herr Jesus kommt nicht E-Book

Margarete Zorn

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Beschreibung

Dieses Buch entstand, weil ich etwas, das mir als Kind so gefallen hatte, wiederentdeckt habe. Stille zwischen den Worten. Abgeschaut bei meinem Vater, der im geheiligten Raum einer Kirche auf diese Weise die Wunder des Himmels verkündigte, wobei ich zuhörend eigene Geschichten erfand. Nach dem Ausscheiden aus dem Berufsleben habe ich begonnen zu schreiben. Angeleitet und gezügelt in einer Schreibwerkstatt im Schloss Agathenburg unter der Leitung der Schriftstellerin Jutta Heinrich, übte ich mich in der Kunst des Übertretens und des Weglassens. Hier sind die nicht weggelassenen Dinge.

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Vorwort

Margarete Zorn, geb. 1939 in der Mark Brandenburg

Dieses Buch entstand, weil ich etwas, das mir als Kind so gefallen hatte, wiederentdeckt habe.

Stille zwischen den Worten. Abgeschaut bei meinem Vater, der im geheiligten Raum einer Kirche auf diese Weise die Wunder des Himmels verkündigte, wobei ich zuhörend eigene Geschichten erfand.

Nach dem Ausscheiden aus dem Berufsleben habe ich begonnen zu schreiben.

Angeleitet und gezügelt in einer Schreibwerkstatt im Schloss Agathenburg unter der Leitung der Schriftstellerin Jutta Heinrich, übte ich mich in der Kunst des Übertretens und des Weglassens.

Hier sind die nicht weggelassenen Dinge.

Inhaltsverzeichnis

Der Herr Jesus kommt nicht

Die Giraffe

Eltern

Auf Rollen

Meine Tante Juliana

Ein Foto

Der Besuch

Eine Verweigerung

Labil

Warten

Soziales Plastik

Ein Schiff wird kommen

Ein Rasen schlägt zurück

Die Beichte

Hermann

Der Maler Acht

Worpswede in neuem Gewand

UNESCO Weltkulturerbe

Mein Name ist Hansen

Stefan

Ada

Karl – Eine Reise

Danksagung

Der Herr Jesus kommt nicht

Nun ja, pflegten die Eltern in Anwesenheit von Onkeln, Tanten und Gästen zu sagen, wenn von mir, dem entzückenden und außergewöhnlich fantasiebegabten Kind die Rede war, nun ja, das sei doch ein Gottesgeschenk, man müsse sich nicht beunruhigen. Dabei beließen sie es. Wie zum Trost strich man mir sanft über das Haar, mit Ausnahme meines Vaters, einem alten Vater, geboren noch im vorletzten Jahrzehnt des neunzehnten Jahrhunderts, Frontsoldat im Ersten Weltkrieg, wovon er kein Aufhebens machte, auch nicht von den vier Einschussnarben an seinem Körper.

Der Eltern Sorge war der neue Krieg, Frieden ihr Gebet. Und so entging ihnen, in welchem Netz häuslicher Rituale und ersonnener Geschichten sich ihr Kind verfangen hatte.

Sündhaft auf das Frömmste beschränkt.

Ich sah mich von Engeln umgeben, denen ich, wenn sie meinen langen Zopf entflochten hatten, zum Verwechseln ähnlich sah. Der Liebe Gott saß auf einem Stuhl neben meinem Bett und bewachte meinen Schlaf.

Und wenn mein Vater den Herrn Jesus mittags und abends zu uns an den Tisch bat, so war das unmissverständlich, auch für den Herrn Jesus, dessen Anwesenheit anzuzweifeln niemandem einfiel.

Für den Fall, dass kein Stuhl für unseren Gast frei gewesen wäre, hätte ich auf den meinen verzichtet.

Um den Herrn Jesus anschauen zu können, boten sich mir zwei Möglichkeiten: Ein Blick in das Schlafzimmer meines Vaters, was dessen Abwesenheit voraussetzte, oder der sonntägliche Kirchgang, was dessen dortige Anwesenheit voraussetzte.

Geputzte Schuhe, Ohreninspektion, Hände vorzeigen, das Sonntagskleid anziehen, das alles war es mir wert, wenn ich den wunderschönen Herrn Jesus in der Kirche sehen wollte. Voller Ungeduld umkreiste ich dann meine Mutter, die damit beschäftigt war, ihren Hut aufzusetzen, nie war sie zufrieden mit dem Ergebnis, die Bandschleife musste exakt an einer ganz bestimmten Stelle über dem rechten Ohre sitzen und das dauerte eben.

War ihr das endlich gelungen, mussten wir uns beeilen, große Schritte, kleine Schritte, über den Gartenweg, auf eine Chaussee, und schon war sie da, die Brücke, die den Fluss quert, unser Zuhause von dem Dorf und der Kirche trennt, aber auch das Dorf und die Kirche von der Welt. Gewöhnlich fand alle Eile hier ein Ende. Auch ging man nicht einfach über die Brücke, man überschritt sie, Zügel wurden angezogen, Autos fuhren langsamer, die Leute stiegen sogar von ihrem Rad ab. Für Kinder war sie mehr als nur eine simple Betonbrücke. Es ging hinüber und herüber mit Reifen, Stelzen, Schlitten, Dreirad. Auch Spucken war beliebt, es war so etwas wie das Abwerfen von kleinen Kümmernissen, wenn wir uns weit über das Geländer neigten und schauten, wie diese kleine brausige Prise auf das Wasser platschte und mit der Strömung unter der Brücke verschwand. Im Sommer sprangen mutige Jungen von einem der Pfeiler in das Wasser, noch einmal und noch einmal, bis ihre Lippen begannen sich blau zu färben und sie sich widerwillig und zittrig dem Frieren ergeben mussten.

Hinter der Brücke galt es, sich zu entscheiden, entweder ging man nach rechts oder nach links, denn geradeaus liefe man gegen einen Gartenzaun. Entlang der Dorfstraße reihen sich die Hofstellen. Am Ende der linken Seite steht die Gastwirtschaft mit dem angebauten Tanzsaal, eine Bühne gibt es ebenfalls. Im Wirtshausgarten, auf der anderen Straßenseite am Fluss, kann man im Sommer Kaffee trinken und Blechkuchen essen. Von dem staubigen Wendekreis aus sieht man auf Felder und Wiesen. Von der Brücke aus auf der rechten Seite stehen neben den 14 Hofstellen Schule, Kirche und am Ende ein Fischerhaus, ohne Wendepunkt hört sie einfach auf. Am Horizont verschmelzen Himmel und Erde miteinander. Wir wenden uns nach rechts, vorbei an der Schule, von der ich mir alles versprach, ja, im Herbst endlich würde ich schlauer sein als der Fuchs es ist, gleich am ersten Tag!

In den schmal eingezäunten Vorgärten der Wohnhäuser blüht meist etwas Rotes oder Gelbes oder Weißes in kreisförmig angelegten Beeten. Wie irrtümlich steht vor jeder Hauswand eine Bank, nach getaner Arbeit sitzt und ruht man hier nicht öffentlich. Die Haustüren sind stets verschlossen. Ausgenommen hoher Besuch hätte sich angesagt oder der Arzt, welcher mit dem Auto käme, oder mein Vater, wenn der Arzt nichts mehr hatte tun können.

Sonntag ist Kirchtag und da hat es still zu sein hinter den großen Hoftoren.

Alltags überlagern sich Menschenstimmen und Tier-laute auf den Höfen, am schlimmsten die Kettenhunde, bellend rasen sie an einem Drahtseil hin und her, wenn man die seitlich in das große Hoftor eingelassene kleine Tür auch nur anrührte. Das machte die Botengänge, wie Eier und Milch holen, Grüße überbringen, zu unbeliebten Pflichten. Auch musste alles schnell gehen, denn das ist unter anderem die Arbeitsstelle für Knechte und Mägde, da durfte man nicht lange im Wege stehen. Wie gerne wäre ich in die Scheunen und die Ställe gegangen, hätte mit den anderen Kindern im Heu getobt, Verstecken gespielt, die Pferde gestreichelt, den Ferkeln zugeschaut, Enten und Gänse über die Straße zum Fluss gescheucht. Aber dann doch lieber nicht, denn wenn es dem Bauern zu bunt wurde, setzte es schon mal die Peitsche.

Die kleine, weiß verputzte Barockkirche steht mitten auf dem Friedhof, ein Hauptweg führt an mit Besonderheiten ausgestatteten Grabstellen auf das Portal zu.

Noch während des Glockengeläutes waren wir eingetreten und nahmen in der ersten Bank Platz. Unserer Bank. Diese erste Bank unterscheidet sich von den nachfolgenden durch eine Rundumeinfassung, in die ein Türchen eingelassen ist. Im Grunde ist das Privileg des Reservierens überflüssig, denn Platz ist reichlich, außer am Heiligen Abend, da strömen sie nur so heran, die Leute, das ganze Dorf. Dann ist die eisige Winterluft vor dem Kirchenportal erfüllt von dem bunten und aufgeregten Treiben der Kinder. Drinnen erst, wenn man Platz genommen hat, die dicken Wachskerzen am hohen Tannenbaum ihr warmes Licht verbreiten, das Orgelvorspiel mit einem langgezogenem Ton endet, mein Vater die Bühne betritt, erst dann setzt weihevolle Stille ein, ja, so könnte man es sagen.

An diesem Tag nun war er vorausgegangen, um mit der Organistin und dem Kirchendiener die Abfolge des Gottesdienstes zu besprechen und in der Sakristei den schwarzen Talar und ein Beffchen anzulegen. Es war schon vorgekommen, dass er das Beffchen vergessen hatte. Mutter deutete dann mit einer sichelförmigen Geste auf ihren eigenen Hals, woraufhin er noch einmal in der Sakristei verschwand und ordnungsgemäß gekleidet wieder heraustrat.

Stillsitzen fiel mir schwer. Weil es in der Kirche aber nicht nur am Heiligen Abend viel zu entdecken gab, mir niemand die Sicht auf den Vater und alles Heilige nahm, hatte ich keine Langeweile. All das Weiße, das Goldene, das Licht, das durch die hohen Fenster hereinfiel und der Liebe Gott, der zwar unsichtbar blieb und doch, wie ich wusste, in diesem Augenblick auf mich herunterschaut, verzückten mich. Er, der Schutzengel um Schutzengel geschickt hatte, wenn ich in Gefahr gewesen war, nicht wenige Male, wie die Eltern behaupteten. Dieser liebe Gott würde seine schützende Hand auch über meinen Vater halten, wenn er, am Altar unter dem großen Jesusbild, dem Grund meines Hierseins, um Gnade für die Sünder unter uns Menschen bat. Übermächtig und schwer hätte es ihn, wenn es sich aus seiner Verankerung lösen würde, erschlagen können. Der Gedanke hielt sich nicht lange, lieber malte ich mir doch aus, wie es auf dem Bild weitergehen könnte. Denn da findet ein Weltuntergang statt, ja so muss ein Weltuntergang aussehen, dachte ich. Düsterer Himmel, jagende Wolken, zuckende Blitze, aufgepeitschtes Wasser, ein Boot mit geborstenem Mast, nichts, an dem sich die darin befindlichen fünf Männer noch hätten festhalten können. Ein Inferno, gleich den Bombenangriffen draußen in der Welt. Aber hier ist Jesus anwesend, Gott sei Dank! Vorn im Bild, lebensgroß, eine lichte Gestalt, bekleidet mit einem hellblauen, weitem, langem Gewand, einem über die Schulter geschlagenen Tuch, welches zu seinen Füßen in einer grünblau und weiß schillernden Wellenschaumkrone endet. Mit ausgebreiteten Armen schreitet er barfüßig über das Wasser direkt auf das von einer hohen Welle nach oben gehobene Boot zu, aus welchem sich ihm zehn nackte Arme entgegenstrecken, zum Greifen nah. Ein, zwei Schritte, und der Herr Jesus würde die Männer retten. Niemand möchte sehen, was passiert, wenn das nicht geschähe, so meine quälerischen Gedanken. Jede Kleinigkeit auf dem Bild absuchend, schaute ich den in höchster Not befindlichen Männern in die weit aufgerissenen Münder, hörte ihre Schreie, weswegen ich mir mit beiden Händen die Ohren zuhielt, hoffend, dass sich dadurch um Gotteswillen mein Vater nicht beim Predigen gemeint fühlt. Bis zur Segnung und dem Amen lebte ich in der Erwartung, dass da auf dem Bild alles gut werden wird, jedenfalls bis zum nächsten Mal. Das Wunder der Rettung würde mein Geheimnis bleiben. Immer wieder, und immer neu.

Und doch kamen Zweifel auf, denn zuhause, über dem schwarz lackierten Eisenbett im Schlafzimmer meines Vaters hing ein anderes Jesusbild. Im Vergleich zu dem in der Kirche war es klein, kaum größer als eines meiner Märchenbücher. Trotzdem erblickte man es sofort, denn außer dem Bett, einem Schrank und einem Waschtisch war sonst nichts in dem Raum. Das Bild zeigt den Herrn Jesus am Kreuz. Schwarz auf Weiß. Ringsum nichts, kein Himmel, keine Erde, kein Wasser, nur er, der Herr Jesus mit Nägeln an ein Kreuz geschlagen. Das ist das ganze Bild.

Ich konnte nicht hinschauen, ohne dass meine Hände und Füße sich vor Schmerz zu krümmen begannen.

Zuhause fragte ich meinen Vater, wie diese beiden Bilder, das große in der Kirche über dem Altar und das kleine über seinem Bett in seinem Schlafzimmer zu verstehen seien, ob der Herr Jesus auf dem Bild in seinem Schlafzimmer so leiden muss, weil er den Männern auf dem Bild in der Kirche in Wirklichkeit vielleicht doch nicht zu Hilfe gekommen war.

Am Abend bei Tisch machten sich zwei Gebete nahezu gleichzeitig auf den Weg in den Himmel. Eines davon lautete:

Komm Herr Jesus sei unser Gast und segne, was du uns bescheret hast. Amen.

Das andere, ein stilles, zum Verbrennen heißes und von Suppendampf beflügeltes:

Lieber Herr Jesus, komm besser nicht, denn wer deinetwegen sein eigenes Kind schlägt, dem kannst du nicht trauen.

Amen.

Die Giraffe

Ich war noch klein und hübsch, als ich einem nicht viel älterem, aber sehr groß gewachsenen Mädchen begegnet bin. Vielleicht war es schon ein Schulkind. Es spielte mit seinen Eltern Verstecken im Park. Ich verglich es mit einer Giraffe. Giraffen sind große Tiere, man kann sie nicht übersehen, in der Savanne nicht und nicht in diesem Park. Aber das war offenbar falsch, denn das Mädchen wurde von seinen Eltern gesucht und gesucht, vielleicht konnten sie sich unter ihrem Kind nur ein Kind vorstellen.

Das Giraffen-Mädchen verbarg sich hinter kahlen Sträuchern, dünnen Bäumchen, und, das war nun wirklich zum Lachen, auch hinter meinem Rücken. Wenn die Eltern das Mädchen nach langem Hin und Her endlich in ihre Arme schlossen und es küssten, nannten sie es Satansbraten, unseren kleinen Satans-braten, haben wir ihn doch endlich wieder!