"Der Himmel ist hier anders blau ..." - Cornelia Dürkhauser - E-Book

"Der Himmel ist hier anders blau ..." E-Book

Cornelia Dürkhauser

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Beschreibung

Dieses Buch beruht auf den wahren Erlebnissen einer Ärztin, die sich in ihrer Freizeit für geflüchtete Menschen einsetzt. Es erhebt keinen Anspruch auf Allgemeingültigkeit, es ist auch kein Leitfaden, den man in die Hand nimmt, um Antworten zu finden. Im Gegenteil, es wirft Fragen auf, ist subjektiv, manchmal auch emotional. Einige hundert Menschen hat Cornelia Dürkhauser in der von ihr selbst neben ihrer Kliniktätigkeit gegründeten und betriebenen Flüchtlingsambulanz versorgt, viele chronisch Kranke durch ihr Asylverfahren begleitet, die vierzig Bewohner einer Übergangseinrichtung als Sozialarbeiterin betreut, medizinische Aufklärung für geflüchtete Frauen ins Leben gerufen - ehrenamtlich. Aus ganz persönlicher Perspektive beschreibt sie Sichtweisen, Perspektiven und Gedanken. Für das, was sie tut, wird sie von den einen verehrt, von den anderen verachtet. Eine Sammlung von Zitaten, alle von Flüchtlingen gegenüber der Autorin persönlich geäußert, rundet das Buch ab. WICHTIG: Alle Begebenheiten sind real, sämtliche Namen jedoch geändert. Die Details der geschilderten Fälle sind so bearbeitet, dass ein Rückschluss auf die tatsächliche Person nicht möglich ist.

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Über die Autorin

„Eigentlich sollte man einen Menschen nicht bemitleiden, besser ist es, ihm zu helfen.“ (Maxim Gorki)

Geboren 1971, erlangte sie 1996 die Approbation als Ärztin. 2002 folgte die Facharztanerkennung im Fach Anästhesiologie. Von Kindheit an interessierte sie sich für fremde Kulturen, insbesondere für Ethnologie Südostasiens, und bereits im Studium engagierte sie sich für Waisenkinder in aller Welt. Von 2002 bis 2007 leitete sie den Aufbau eines Krankenhauses in Kambodscha. Seit 2015 arbeitet sie ehrenamtlich mit Geflüchteten und erlangte 2016 die Zusatzqualifikation „Interkulturelle Kompetenz im Gesundheitswesen“. Die Autorin ist Mutter eines Kindes und angestellt an einer Klinik der Grund- und Regelversorgung in Sachsen.

Wichtig:

Alle Namen sind geändert. Sollten Namensgleichheiten oder Ähnlichkeiten zu real existierenden Personen auftreten, so sind diese zufällig, unbeabsichtigt und stehen in keinem Bezug zum Inhalt dieses Buches. Auf Orts- und Straßenangaben wurde ganz bewusst weitgehend verzichtet. Sofern diese jedoch zwingend nötig sind, wurden auch sie geändert. Die Details der geschilderten Fälle sind so bearbeitet, dass ein Rückschluss auf die tatsächliche Person nicht möglich ist. Der besseren Lesbarkeit halber wird im gesamten Buch, unabhängig von deren Status, von „Flüchtlingen“ gesprochen.

Inhaltsverzeichnis

Helfen Sie mir, so helfen Sie mir doch!

Faris

Intensivstation

Handlungsbedarf

Anfeindungen

Im Hotel

Gegen Windmühlen

Rückfall

Hunger

Angst und Ungewissheit

Du lügst!

Klopfen Sie einmal und warten Sie dann

Hausbesuche

Polizeieinsatz vor der Arztpraxis

Exkurs: Das Fremde und die Angst

Panik

Zuspitzung

Ambulanz

Sprechstundenalltag

Sprechstunde ohne Sprache?

Sozialarbeit

Das Gutachten

Willkür

137 und ein Baby

Auf der Straße

2Funkstille

Die Impfstoffposse

Schokolade

Walid

Rosen im Januar

Exkurs: Unser Selbstverständnis und die Erwartung der anderen

Die Krise

Der kleine Unterschied

Die Wasserflasche

Spezifische Probleme von Flüchtlingen

Selber schuld!

Wiederannäherung

Überraschendes Ende

Women only!

Zala

Abschied für immer

Rückblick und Ausblick

Eine ganz persönliche Bilanz

AnhangZitate

Danksagung

1 – Helfen Sie mir, so helfen Sie mir doch!

Ein verwirrter, hilfloser Mann wird an einem späten Maiabend auf einer Wiese liegend aufgefunden und per Rettungswagen ins Krankenhaus gebracht. Er ist nicht in der Lage, seinen Namen zu nennen, wirkt abwesend-ängstlich und lässt niemanden an sich heran. Jeder verbale oder körperliche Kontaktversuch wird heftig abgewehrt. Er hat 1,6 Promille Alkohol im Blut, der Drogentest ist negativ, alle anderen Befunde sind ebenfalls in Ordnung. Auffällig ist, dass dem Patienten an beiden Händen Finger fehlen. Unter der Diagnose „Alkoholvergiftung“ wird er zum Ausschlafen auf die Wachstation gelegt.

Am nächsten Morgen ist der Mann wach, wieder voll orientiert und kooperativ. Er nennt seinen Namen und sein Geburtsdatum. Er erklärt, woher er kommt und dass er hier einen Asylantrag gestellt hat. Herr Rahimi wirkt ruhig und gefasst, als er mir gegenüber sitzt, lässt sich bereitwillig untersuchen und beantwortet alle Fragen prompt. Er selbst fragt mehrfach nach, was ihm passiert sei und wie er ins Krankenhaus gekommen ist. Er vermeidet es jedoch, mich direkt anzusehen.

Herr Rahimi spricht gut Englisch, ein ganz normales Arzt-Patienten-Gespräch:

„Hatten Sie schon einmal irgendwelche Operationen?“

„Nein.“

„Noch nie?“

„Nein, noch nie.“

„Waren Sie schon einmal in einem Krankenhaus, oder hatten Sie sonst irgendeine medizinische Behandlung? Oder Unfälle? Verletzungen ...?“

„Nein, ich war noch nie in einem Krankenhaus und auch sonst noch nie krank.“

„Auch keine Unfälle oder Verletzungen?“

„Nein, keine.“

Es fehlen aber Finger an beiden Händen. Irgendwie müssen die ja amputiert worden sein? Ich habe den Eindruck, dass Herr Rahimi mich sehr gut versteht. Sprachliche Missverständnisse schließe ich deshalb aus.

„Also ..., Sie waren noch nie in medizinischer Behandlung und hatten auch noch keine Operationen oder so ...?“

„Nein.“

„Aber ... Was ist denn dann mit Ihren Händen passiert?“

Herr Rahimi ringt um Luft, springt plötzlich auf, zwingt sich mit Mühe zurück auf seinen Stuhl, schlägt die fingerlosen Hände vor sein Gesicht, aber kann seine Tränen nicht verbergen.

Ich bin irritiert und möchte mich entschuldigen, möchte ihm sagen, dass er meine Fragen nicht beantworten muss, aber er kommt mir zuvor.

Leise, flüsternd:

„Ich wurde gefoltert, meine Finger wurden mir im Gefängnis abgeschnitten!“

Dabei schaut er mir mit gehetzten Augen voller Panik direkt ins Gesicht. Mit Augen, aus denen das blanke Entsetzen und die nackte Angst sprechen. Solch eine Antwort, solch eine Möglichkeit lag bis eben jenseits meiner Vorstellungskraft.

„Das tut mir sehr leid, Herr Rahimi! Ich wollte Sie nicht verletzen. Bitte entschuldigen Sie meine Frage ...“

Sein gequältes Gesicht ist noch immer auf mich gerichtet. „Ich habe gestern Abend zum ersten Mal in meinem Leben eine Flasche Bier getrunken. Ich wollte vergessen ...“

Und weiter, laut schluchzend, fleht er mich an:

„Helfen Sie mir! So helfen Sie mir doch!!! Bitte helfen Sie mir!“

Ich bin tief betroffen. Ich muss ihm helfen, ich kann ihm gar keine andere Antwort geben.

„Ja, ich werde Ihnen helfen.“

Aber ich habe keine Ahnung, wie ich ihm helfen soll. Ich habe das Gefühl, dass sich alles um mich dreht. Helfen! Unbedingt! Der Mann wurde gefoltert. Er braucht Hilfe, dringend. Nur wie? Ich weiß es nicht. Ich führe drei, vier Telefonate, alle laufen ins Leere, keiner fühlt sich zuständig, jeder zuckt die Schultern. Auch der Klinikpsychologe. Niemand hatte schon einmal so einen Fall, keiner weiß, was zu tun ist, an wen man sich wenden kann. Ich habe auch keine Idee. Ich bin alleine auf der Station und habe mich noch um 20 andere Patienten zu kümmern. Aber ich muss ihm helfen. Es ist meine Pflicht. Und ich habe es ihm versprochen. Wie? Ich weiß es nicht.

Am Nachmittag des gleichen Tages entlasse ich Herrn Rahimi. Muss ihn entlassen, weil es keine Indikation mehr für einen stationären Aufenthalt gibt – seine Alkoholvergiftung hat er überwunden. Ich entlasse ihn in die Wohnung, die er sich mit drei anderen Asylbewerbern unterschiedlicher Nationalitäten und Sprachen teilt und unter denen es ständig Spannungen gibt. Entlasse ihn ins Nichts, denn eine Behandlung steht ihm, der sich noch im laufenden Verfahren befindet, offiziell gar nicht zu. Entlasse ihn mit dem Versprechen, ihm zu helfen – aber ohne einen blassen Schimmer, wie ich das machen soll.

Er ist wieder zurückhaltend, ruhig und gefasst und vermeidet es, mich direkt anzuschauen.

Was nun folgt, ist eine Woche intensiver Recherchen, zahlreicher Telefonate, diffuser Verweise, schroffer Ablehnungen, resignierten Armehebens. Jede freie Minute verbringe ich damit, irgendeine Art von Hilfe für Herrn Rahimi zu organisieren. Ich muss, denn ich habe es ihm schließlich versprochen…

Letztlich finde ich beim Medinetz1 der nächstgelegenen Großstadt Verständnis und offene Ohren. Im Einzelfall ist man gern bereit, Menschen aus dem Umland mit zu versorgen, aber im großen Stil ist man dazu leider nicht in der Lage, da man innerhalb der Stadt schon an seine Grenzen stößt. Deswegen bittet man mich, keine Werbung zu machen und möglichst nicht zu viele Patienten zu schicken. Ich sichere das zu und vereinbare einen Termin für Herrn Rahimi zur Erstvorstellung. Voller Freude, endlich etwas erreicht zu haben, schaue ich am nächsten Morgen in der Krankenakte nach Herrn Rahimis Telefonnummer. Ernüchtert stelle ich fest, dass keine hinterlegt ist. Nur die Anschrift steht dort, die Adresse befindet sich unweit des Krankenhauses. Also werde ich nach Feierabend diese Adresse aufsuchen. Vorsichtshalber formuliere noch ich einen Brief, in dem ich mich zu erkennen gebe, alles erkläre und Herrn Rahimi um einen Rückruf bitte.

Ich finde den Namen, neben drei anderen, an einer Klingel und auch an einem Briefkasten. Ich drücke auf den Klingelknopf. Mir öffnet niemand. Auch beim zweiten Mal. Ich gehe einmal um den Block und auch über die Wiese, auf der Herr Rahimi gefunden wurde. Als ich wieder vor der Haustür stehe, klingle ich noch einmal. Wieder vergeblich. Also werfe ich den Brief in den Schlitz. Meine Bitte um Rückruf bleibt unbeantwortet. Ich höre nichts mehr von Herrn Rahimi.

Sechs turbulente Wochen vergehen. Eines Tages klingelt mein Telefon, nur zwei, drei Mal. Ich bin gerade im Auto und kann nicht schnell genug abheben. Irgendwie ahne ich, dass es etwas Dringendes sein könnte, und halte deshalb an. Eine unbekannte Handynummer wird angezeigt.

„Dürkhauser hier, guten Tag, Sie haben mich eben angerufen?“

Keine Antwort.

„… … … Hallo? … … … “

„Hallo ... Könnten Sie bitte Englisch sprechen?“ Ich habe keinen blassen Schimmer, wer das sein könnte.

„Ja, gern, natürlich können wir Englisch sprechen. Was kann

ich denn für Sie tun?“

„Ich bin Rahimi, erinnern Sie sich an mich? Ich war im Krankenhaus, und Sie haben mir einen Brief geschrieben ...“ Ich bin perplex! Selbstverständlich erinnere ich mich an Herrn Rahimi. Ich habe nicht mehr damit gerechnet, dass er sich meldet.

„Ich war bei diesem Termin in der Rilkestraße ...“

„Wirklich? Das ist gut!“

„Und ab September habe ich einen Therapieplatz in der

Traumaambulanz in der Uniklinik.“

Das habe ich nicht zu träumen gewagt. Ich freue mich riesig!

„Ich wollte mich nur bei Ihnen bedanken, dass Sie mir geholfen haben ... Wenn ich ... vielleicht ... später noch mal irgendein Problem habe ... Kann ich Sie dann noch einmal anrufen?“

„Ja, selbstverständlich können Sie das!“

Heute geht es mir richtig gut!

Dieses Schlüsselerlebnis hat mich zu all dem motiviert, was in den nächsten Jahren folgen sollte.

1 Medinetze sind spendenbasierte Organisationen aus Ehrenamtlichen, die Menschen ohne Aufenthalt, Wohnung, Einkommen oder anderen sozialen Benachteiligungen medizinisch behandeln.

2 – Faris

Nur wenige Tage nach Herrn Rahimi wird Faris in die Klinik eingeliefert. Dass ich ihn über zwei Jahre lang begleiten würde, das ahnte ich damals noch nicht.

Faris ist 25 Jahre alt, Muslim und stammt aus einem Land mit einer ausgeprägt kollektivistischen Kultur2. Er machte sein Abitur in Großbritannien und begann dort ein Studium, musste jedoch nach zwei Jahren in sein Heimatland zurückkehren, weil sein Vater es so bestimmte. Er arbeitete dort bis zu seiner Flucht nach Deutschland ohne Berufs- oder Studienabschluss im Elektrogeschäft eines Onkels. Faris hat eine große Familie, zu der er ein enges Verhältnis hat, insbesondere zu beiden Eltern und den drei Geschwistern. Er spricht neben seiner Muttersprache fließend Englisch und ein wenig Arabisch.

Faris leidet seit seiner Jugend an Asthma; er hatte als Angehöriger einer bessergestellten Familie jedoch Zugang zum Gesundheitssystem seines Heimatlandes, wo seine Erkrankung behandelt wurde und er dadurch insgesamt nur wenige Beschwerden hatte.

Faris betritt allein, ohne Angehörige oder Freunde, deutschen Boden und kommt bis zu seiner Registrierung als Asylsuchender in einem Zeltlager in Sachsen unter. Er ist zu dieser Zeit deutlich unterernährt und körperlich geschwächt. Seine aus der Heimat mitgebrachten Asthmamittel sind aufgebraucht, er hat bereits seit einigen Wochen keine Medikamente mehr genommen. Im Zeltlager verspürt er zunehmende Luftnot und bittet drei Tage hintereinander verschiedene Mitarbeiter, wegen seiner Atembeschwerden einen Arzt konsultieren zu dürfen. Das wird ihm jedes Mal verwehrt: Solange er keine Schmerzen hätte, läge kein Notfall vor und demzufolge hätte er auch keinen Anspruch auf ärztliche Behandlung. So entscheiden medizinische Laien, die die Situation in keiner Weise einschätzen können, darüber, ob jemand einen Arzt aufsuchen darf – und das sogar ganz legal.

Nach zwei Wochen im Zeltlager erfolgt Faris‘ Registrierung als Asylbewerber, am Folgetag wird er gemeinsam mit ca. 300 weiteren Personen mit Bussen in die etwa 100 km entfernte Erstaufnahmeeinrichtung verlegt. Auf der Fahrt dorthin hat Faris erhebliche Atemprobleme, teilt dies jedoch niemandem mit. In der Erstaufnahme angekommen, ist er aufgrund der mittlerweile als unerträglich empfundenen Luftnot nicht zu körperlichen Aktivitäten fähig, sondern legt sich umgehend ins Bett. Er fragt nicht erneut nach einem Arzt, weil das nach seiner Überzeugung „ja sowieso keinen Sinn“ gehabt hätte. Am Abend des Ankunftstages schleppt er sich mit allerletzter Kraft aus seinem Zimmer und bricht vor den Augen von Security-Mitarbeiten bewusstlos zusammen.

Der alarmierte Notarzt, der am weniger als 2 km entfernten Krankenhaus stationiert ist, braucht eine halbe Stunde, um vor Ort zu sein, weil sämtliche Zufahrten zur Erstaufnahmeeinrichtung von Demonstranten, die ausländerfeindliche Parolen grölen, versperrt sind und weil die völlig überforderte Polizei es nicht schafft, eine Rettungsgasse zu schaffen. Rettungs- und Notarztwagen werden überdies mit Steinen und Flaschen beworfen. Um den mühsam geschaffenen Zugangsweg für den schnellstmöglichen Transport in die Klinik nutzen zu können, bevor er sich wieder schloss, halten sich die Rettungskräfte vor Ort nur kurz auf. Der nach wie vor bewusstlose Faris wird lediglich minimal versorgt und so schnell es die Situation erlaubt in die Klinik befördert.

In der Notaufnahme, die er letztlich etwa fünfundvierzig Minuten nach seinem Zusammenbruch erreicht, erleidet er einen durch Sauerstoffmangel bedingten Krampfanfall und unter diesem einen Atem- und Herzstillstand. Die Wiederbelebung war erfolgreich, und Faris wurde nach diversen Untersuchungen, die alle ohne Befund blieben (unter anderem Schädel-CT, Alkohol- und Drogentest) künstlich beatmet auf meine Intensivstation (ITS) übernommen.

Es dauert viele Stunden, bis sein Zustand stabilisiert werden kann. Meine Kollegen kämpfen um sein Leben. Es kommt zu verschiedenen Komplikationen, unter anderem zu einem schweren allergischen Schock auf eines der eingesetzten Medikamente mit einem erneuten Kreislaufzusammenbruch. Es ist völlig unklar, ob Faris überleben würde und wenn ja, in welchem Zustand – zu befürchten ist eine schwere und dauerhafte Schädigung seines Gehirns.

2 Kollektivismus ist ein Gesellschaftssystem, in dem die Belange der Gruppe über denen des Individuums stehen. Das Wohlergehen der Gemeinschaft hat oberste Priorität, die Interessen des Einzelnen werden dem stets untergeordnet. Siehe auch Kapitel 31.

3 – Intensivstation

Die Intensivstation ist voll belegt, als ich nach einigen freien Tagen am Morgen den Dienst übernehme. Ich erfahre in der Übergabevisite die Besonderheiten und Therapiepläne eines jeden einzelnen Patienten, auch die des Faris Ashkani. Faris‘ Zustand ist nach nunmehr fünf Tagen stabil. Er befindet sich im Weaning, das heißt, er soll aus dem „künstlichen Koma“ aufwachen um beurteilen zu können, ob die lange Phase des Sauerstoffmangels zu möglicherweise bleibenden Schäden geführt hat.

Die Aufwachphase verläuft wider Erwarten nach Plan. Den Beatmungsschlauch kann ich wenige Stunden nach meinem Dienstantritt entfernen. Aber Faris ist sehr unruhig, nicht orientiert und wirkt verstört. Ich rede mit ihm, doch er scheint mich nicht wahrzunehmen. Immer wieder fixiert er mich kurz mit weit aufgerissenen Augen, um dann wieder abzuschweifen und einzuschlafen. Ohne seinen Hintergrund zu kennen, benutze ich die englische Sprache. Die Phasen, in denen er mich anschaut, werden länger, die der Unruhe kürzer, aber heftiger. Die betreuende Krankenschwester legt mir irgendwann ein Papier vor, das ich unterschreiben soll, um damit seine Fixierung, also das Festbinden der Hände und Füße am Bett, anzuordnen. Das verweigere ich und gehe stattdessen zu Faris ans Bett. Ich lege eine Hand auf die seine, die andere ihm auf die Stirn, und rede leise auf ihn ein. Faris beruhigt sich dadurch und schaut mich an. Der Hauch eines Lächelns scheint über sein Gesicht zu huschen.

„Schwester Sybille, der Patient braucht keine Fixierung, nur Zuwendung.“

„Na, wenn Sie meinen … Aber ich habe dafür keine Zeit!“

Ich eigentlich auch nicht. Die Intensivstation ist voll. Aber dieser eine Patient braucht eben gerade mehr Aufmerksamkeit. Zum Glück ist inzwischen meine Kollegin da, deren Dienst später beginnt. So bin ich nicht alleine für die Versorgung der Schwerkranken verantwortlich.

Ich rede immer noch auf Faris ein:

„Verstehen Sie mich?“

Ein kaum wahrnehmbares Nicken.

„Wie heißen Sie?“

„Faris“, versuchen seine Lippen zu formen.

„Sie sind im Krankenhaus. Ich bin die Ärztin hier und kümmere

mich um Sie.“

„Wo bin ich?“

„Im Krankenhaus.“

„Wie komme ich hierher?“

„Der Rettungsdienst hat Sie hergebracht.“

„Warum? Was ist mir passiert?“

„Sie hatten einen Asthmaanfall und sind bewusstlos geworden. Wie geht es Ihnen jetzt?“

„Gut.“

Danach schläft er wieder ein und ich verlasse das Zimmer. Bisher sind keine schweren Defizite zu erkennen. Sollte Faris das alles wirklich folgenlos überstanden haben? Wenig später ruft Schwester Sybille wütend aus Faris‘ Zimmer:

„Also, wenn Sie jetzt nicht anordnen, dass ich den festbinden darf, dann verweigere ich die Arbeit! Der ist mir jetzt fast aus dem Bett geflogen. ‚Doctor, doctor, where is the doctor?‘“, äfft sie Faris nach. „Jetzt kommt nicht schon wieder die Ärztin“, herrscht sie ihn an, „hier gibt es schließlich noch mehr Kranke! Was bildest du dir eigentlich ein? Du denkst wohl, du bist alleine hier?“

Natürlich kommt die Ärztin. Ich weise Schwester Sybille deutlich zurecht – solchen Umgang mit Patienten dulde ich grundsätzlich nicht!

„Wo bin ich, wie komme ich hierher, was ist mir passiert?“

„Sie sind im Krankenhaus, der Rettungswagen hat Sie hergebracht, sie hatten einen Asthmaanfall und sind deswegen bewusstlos geworden.“

Fragen und Antworten in Endlosschleife, Faris erfasst noch nicht, was ihm geschehen ist und in welcher Situation er sich befindet. Er hat Angst, seine Reaktionen wirken panisch. Wieder lege ich meine Hand auf seine. Der Körperkontakt beruhigt ihn. Er beginnt, mir zusammenhanglos und bruchstückhaft Erlebnisse aus dem Heimatland und von seiner Flucht zu erzählen, um sich danach wieder irritiert im Zimmer umzusehen:

„Wo bin ich?“, und direkt zu mir gewandt: „Bitte lassen Sie mich nicht allein!“

„Faris, Sie sind im Krankenhaus. Haben Sie keine Angst, Sie sind hier in Sicherheit. Ich kümmere mich um Sie. Ich komme gleich wieder. Hier sind noch mehr kranke Leute, die brauchen mich auch.“

„Okay. Aber Sie kommen wieder?“

„Natürlich komme ich wieder.“

Zwischendurch ruft der Leiter der Erstaufnahmeeinrichtung an und erkundigt sich nach Faris‘ Befinden. Er fragt, ob er vorbeikommen kann, um Faris zu besuchen, und ob ich Zeit für ein Gespräch hätte. Wenig später sitzt er an meinem Schreibtisch. Der Heimleiter ist verzweifelt. Innerhalb weniger Tage hat er vierhundert Menschen in seine Einrichtung zugewiesen bekommen, darunter schwangere Frauen, kleine Kinder, viele sind krank, aber er kann nicht einschätzen, für wen er welche Art von Hilfe organisieren muss. Tag für Tag und Nacht für Nacht kommt es zu ausländerfeindlichen Ausschreitungen vor dem Heim – nach wie vor sind alle Zufahrtsstraßen blockiert, und nach wie vor ist auch die Polizei völlig überfordert. Auch das Auftauchen von Mitgliedern der Landesregierung ändert daran nichts. Der Heimleiter bemüht sich, er arbeitet Tag und Nacht, er tut, was er kann, er schläft sogar im Heim, aber er ist völlig überfordert. Denn neben seiner Frau, die freiwillig mitarbeitet, gibt es niemanden, der hilft, der Lage Herr zu werden: keine Betreuer, keine Sozialarbeiter, zu dem Zeitpunkt auch noch keine Ehrenamtlichen. Und zu allem kam noch der bewusstlose Faris, der eine halbe Stunde lang so im Eingangsbereich lag. Diese emotionale Belastung ist zu viel für den Heimleiter – ihm kommen die Tränen. Muss denn erst noch Schlimmeres geschehen? Ich sichere dem Heimleiter zu, zumindest medizinisch zu helfen und ihn dabei zu unterstützen, die gesundheitlichen Probleme der Bewohner richtig einzuschätzen.

„Meine Sachen, wo sind meine Sachen? Ich brauche mein Telefon! Seit wann bin ich hier? Seit fünf Tagen? Oh mein Gott, ich brauche mein Telefon! Ich habe es tatsächlich geschafft, auf meiner ganzen Flucht jeden Tag meine Mutter anzurufen.

Ich habe ihr gesagt, wenn ich mich drei Tage nicht melde, dann bin ich tot. Und nun sind es schon fünf! Ich brauche mein Telefon, ich muss unbedingt meine Mutter anrufen!“

Ich bitte den Heimleiter, ob er oder jemand anders nicht Faris‘ persönliche Sachen und vor allem sein Telefon bringen kann.

Er will es versuchen, kann es aber nicht versprechen. Faris ist ohne Angehörige hier, der Heimleiter überlastet. Und der pöbelnde Mob tobt wieder, wie schon seit Tagen.

Ein schneller Kaffee nebenbei, für eine richtige Pause ist wieder einmal keine Zeit. Wir sitzen zusammen, die Stimmung ist gereizt. Wenige sagen nichts, die meisten bringen ihre ablehnende Haltung gegen Faris, den „exotischen“ Patienten, offen zum Ausdruck:

„Mir kann keiner erzählen, dass es dem schlecht ging, dort wo der herkommt! So gut wie der Englisch kann, muss der doch in der Schule gewesen sein!“

Was hat Bildung mit Fluchtgründen zu tun? Seht ihr nicht, dass Faris erheblich unterernährt ist? Wie gut muss es ihm gegangen sein, wenn er offensichtlich nicht einmal genug zu essen hatte?

„Na klar, Hauptsache telefonieren! Gerade aufgewacht und schon nach dem Telefon fragen. Sicher hat der das neueste Handymodell!“

Warum wird Faris nicht zugestanden, was man bei jedem deutschen Patienten für selbstverständlich hält – nämlich, sich bei seiner Familie zu melden? Wird umgekehrt Faris‘ Familie nicht zugestanden, sich um ihn Sorgen zu machen? Welche Mutter würde sich keine Sorgen um ihren Sohn machen, wenn sie nicht wüsste, wo er ist und wie es ihm geht?

Schwester Sybille äußert offen, dass sie froh wäre, wenn sie Faris nicht zu betreuen hätte. Meinen Vergleich zu ihren eigenen erwachsenen Kindern wiegelt sie ab.

Jetzt platzt mir der Kragen. Solche Äußerungen sind medizinischen Personals unwürdig! Ich erinnere Sybille und all die anderen an den Ethik-Kodex des internationalen Berufsverbandes der Pflegekräfte3, in dem es heißt, dass Pflegende bei ihrer

Berufsausübung Menschenrechte, Wertvorstellungen, Sitten, Gebräuche, Gewohnheiten und den Glauben des Einzelnen zu respektieren haben und mit in der Verantwortung stehen, Maßnahmen zugunsten sozial und gesundheitlich Benachteiligter zu ergreifen bzw. zu veranlassen. Faris ist hier in dieser Situation benachteiligt! Augen rollen.

Ich bin entschlossen, das alles nicht hinzunehmen, weder die Situation im Heim, noch die auf der Station. Meine Kollegin Christiane, genannt Chrissi, die sich vorhin schon furchtbar über Schwester Sybille aufgeregt hat, sichert mir spontan ihre Unterstützung zu.

Ich gehe noch einmal zu Faris.

„Ich habe jetzt Feierabend und gehe nach Hause. Morgen Nachmittag bin ich wieder da. Die Kollegen können mich anrufen, wenn es nötig ist.“

Faris reagiert völlig verzweifelt: „Bitte! Bitte gehen Sie nicht! Bitte lassen Sie mich nicht allein............“

„Ich komme wieder, ganz sicher! Ich muss jetzt gehen, mein Sohn wartet auf mich. Ich muss ihn aus der Schule abholen.“

„Sie haben einen Sohn ...?“

„Ja.“

„Das ist bestimmt der beste Sohn der Welt!“

„Und ob!“, lache ich. „Aber Sie sind für Ihre Mutter auch der beste Sohn der Welt … Haben Sie auch eine Frau und Kinder?“

„Nein, nur Eltern und Geschwister ... Mein Telefon?“

„Der Heimleiter wird versuchen, heute noch vorbeizukommen und Ihnen Ihr Telefon zu bringen. Bis morgen dann!“

„Und Sie kommen wirklich wieder? Sie vergessen mich nicht?“

„Nein, ich vergesse Sie nicht ...“

Im Spätdienst ist niemand, der Englisch kann. Man soll mich privat anrufen, wenn es Probleme gibt, meine Nummer steht auf dem Notfallalarmierungsplan, der für alle zugänglich aushängt. Ich sage das mehrfach.

Es kommt kein Anruf, weder vom Heimleiter, noch von der Station. Beruhigt bin ich dennoch nicht. Ich habe das Gefühl, dass irgendetwas nicht stimmt. Aber ich rede mir ein, dass alles in Ordnung ist. Normalerweise erzähle ich zu Hause nicht viel von der Arbeit, aber heute habe ich Redebedarf. Wir unterhalten uns lange über die Flüchtlingsproblematik.

„Mama, wie sieht der Flüchtling denn aus?“

„Wie ein Mensch, Felix …“

Am nächsten Tag habe ich Spätdienst mit anschließender Nachtbereitschaft.

Früh melde ich mich beim Heimleiter, um mich nach der aktuellen Lage zu erkundigen. Es war wieder ein unruhiger Abend, wieder eine schlimme Nacht, und es war keine Zeit gewesen, Faris‘ Sachen ins Krankenhaus zu bringen. Oh je. Ich ahne nichts Gutes. Ich rufe meinen Kollegen vom Frühdienst an und erfahre, dass es tatsächlich Probleme gibt. Faris droht wegzulaufen, er hat sich schon mehrfach alle Kabel entfernt, will unbedingt mit seiner Mutter telefonieren, schon der sechste Tag in Folge, an dem er sich nicht bei ihr gemeldet hat. Und niemand des diensthabenden Personals spricht Englisch.

„Wo ist die Ärztin?“

Ich mache mich heute früher auf den Weg zur Arbeit und fahre in der Erstaufnahme vorbei. Zum ersten Mal betrete ich das ehemalige Hotel, in dem ich wenig später zu allen möglichen und unmöglichen Zeiten ein- und ausgehen sollte. Nur einige wenige Demonstranten stehen davor, meist kommt es in den Abend- und Nachtstunden zu großen Aufläufen. Ich werde von den Fenstern der umliegenden Plattenbauten aus beobachtet und angepöbelt. Im Heim selber herrscht rege Geschäftigkeit: Wäsche wird gewaschen, ein Staubsauger heult, es riecht nach Essen, auf den Gängen wuseln spielende Kinder, ein kleiner Kerl auf einem knallroten Plastikauto lacht mich herzerwärmend an. Das wirkt alles so normal, doch normal ist hier im Moment gar nichts...

Der Heimleiter freut sich sehr, mich wiederzusehen, und noch mehr darüber, dass ich mich bereit erkläre, Faris‘ persönliche Sachen mitzunehmen: Er übergibt mir einen Rucksack, ein Paar Schuhe, eine Jacke, ein Telefon mit Ladegerät – Faris‘ gesamten Besitz. Mehr hat er nicht. Ich nehme die Habseligkeiten und fahre ins Krankenhaus.

Ich habe noch über eine halbe Stunde Zeit bis zu meinem Dienstbeginn und werde auf meiner eigenen Station angeguckt wie eine Außerirdische: Was macht die denn jetzt schon hier, und mit fremden Sachen?

Mein Kollege vom Frühdienst jedoch ist aufrichtig froh, dass ich bereits da bin. Er hat Verständnis für Faris, fühlt sich aber im Umgang mit ihm völlig hilflos und überfordert.

Faris schläft, als ich mit seinen Sachen sein Zimmer betrete. Sie haben ihn mit Medikamenten ruhiggestellt. Ich wecke ihn vorsichtig:

„Hallo, guten Tag! Wie geht es Ihnen heute? Ich bringe Ihnen Ihre Sachen …“ Ich halte ihm seinen Rucksack und seine Jacke hin. „Gehört das hier alles Ihnen?“

Er braucht ein paar Augenblicke, um zu realisieren, was passiert. Glücklich und dankbar lacht mich Faris an. Ein schlichtes, demütiges „Danke“ kommt über seine Lippen, mit einem Blick, der mehr sagt als tausend Worte. Endlich kann er das tun, was ihm in dieser Situation am Allerwichtigsten ist: seine Mutter anrufen.

3 Der International Council of Nurses (ICN), http://www.icn.ch, ist ein Zusammenschluss von ca. 130 nationalen Berufsverbänden der Pflege. Sein Ethik-Kodex ist das Pendant zur Genfer Deklaration desWeltärztebundes, der heute gültigen Fassung des „Hippokratischen Eides“ der Ärzte.

4 – Handlungsbedarf