Der Himmel über Nordfriesland - Gerd Kramer - E-Book

Der Himmel über Nordfriesland E-Book

Gerd Kramer

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Beschreibung

Tödliches Watt Die Husumer Polizei verfolgt die Spur eines Täters, der seine Opfer entführt und im Watt eingräbt, damit sie mit steigender Flut einen qualvollen Tod erleiden. Gleichzeitig häufen sich in Nordfriesland mysteriöse Ereignisse: Ein Kornkreis wird gesichtet, und geisterhaftes Glockenläuten hallt über das Meer. Als auch noch Stimmen aus dem Jenseits zu ertönen scheinen, ist Leon Gerbers hochsensibles Gehör gefragt. Doch die Zeit läuft ihm davon.

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Gerd Kramer wurde 1950 in der Theodor-Storm-Stadt Husum geboren und ist dort aufgewachsen. Nach seinem Physikstudium in Kiel arbeitete er als Akustiker und Software-Entwickler im Rheinland. 1987 gründete er eine eigene Firma, in der er noch heute tätig ist. Einen Teil des Jahres verbringt er in seiner Heimatstadt, die ihm den Stoff für seine Romane liefert.

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

© 2021 Emons Verlag GmbH

Alle Rechte vorbehalten

Umschlagmotiv: Dirk70/photocase.de

Umschlaggestaltung: Nina Schäfer, nach einem Konzept von Leonardo Magrelli und Nina Schäfer

Umsetzung: Tobias Doetsch

Lektorat: Dr. Marion Heister

E-Book-Erstellung: CPI books GmbH, Leck

ISBN 978-3-96041-762-0

Küsten Krimi

Originalausgabe

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Ich kann die Bewegungen der Himmelskörper berechnen, aber nicht die Verrücktheit der Menschen.

Isaac Newton

Prolog

Helena hätte nicht gedacht, dass es so einfach wäre, ihr Leben zu beenden. Sie spürte keine Traurigkeit. Der viele Alkohol und die Tabletten trugen sicher dazu bei, aber sie waren nicht der alleinige Grund. Sie hatte die Zweifel an ihrem Entschluss monatelang mit sich herumgetragen. Am Vortag war ihre Entscheidung gefallen. Seitdem fühlte sie sich frei. Sie würde alle quälenden Erinnerungen ertränken. Niemand konnte ihr mehr wehtun. Alles würde gut werden. Vielleicht hätte sie den Entschluss schon früher fassen sollen, dann wäre mehr Zeit geblieben, in der sie diese innere Freiheit hätte genießen können. Aber möglicherweise hätte sie es sich dann anders überlegt, aus Furcht oder weil sie neue Argumente gefunden hätte, es nicht zu tun. Denn es gab viele Argumente dagegen und nur wenige dafür. Doch diese waren gewichtig und ausschlaggebend geworden.

Zweimal hatte sie auf der Rader Hochbrücke gestanden, um sich fünfzig Meter in die Tiefe zu stürzen. Aber im entscheidenden Moment hatte sie der Mut verlassen. Das konnte in dieser Nacht nicht passieren. Schritt für Schritt watete sie durch das Watt, unweigerlich der Flut entgegen.

Nach einer halben Stunde hatte sie sandigeren Boden erreicht und beschleunigte das Tempo. Dieses Mal würde die aufkommende Angst sie nicht aufhalten können. Der Weg zurück ans Ufer und in das alte Leben war zu weit. Zum Umkehren war es zu spät. Ihr Handy hatte sie ausgeschaltet und in den Schlick geworfen. Niemand konnte sie anrufen und versuchen, sie von ihrem Vorhaben abzubringen.

Kühles Wasser umspülte ihre nackten Füße. Trotz der Dunkelheit konnte sie die weißen Schaumkronen erkennen. Tausend Bläschen kitzelten an ihren Zehen. Sie lachte wie ein Kind, das von seinen Eltern behütet am Strand im seichten Wasser planscht. Genau dieses Bild hatte sie vor Augen. Eimer und Schaufel in der Hand und einen Strohhut gegen die Sonne auf dem Kopf. Sie wusste nicht genau, ob sie sich an das Erlebnis erinnerte oder lediglich an eine Aufnahme in ihrem Fotoalbum. Erinnerungen verblassten, oft die negativen Erlebnisse zuerst. Aber manches blieb auf Ewigkeit haften und brannte sich tief in das Gedächtnis ein. So wie das Bild von Anna und dem Rettungssanitäter, der vor ihr kniete.

Um Helena herum war es einsam und finster. Nur die dünne Sichel des Neumondes und die Sterne spendeten etwas Licht.

Ihre anfängliche Unbeschwertheit begann allmählich zu bröckeln. Vielleicht ließ die Wirkung der Tabletten nach. Das todbringende Nass reichte ihr nun bis zu den Waden. Würde sie ohne Panik und Schmerzen in den Tod gleiten, so wie sie sich das vorgestellt hatte? Ihr kamen Zweifel.

Der Abend mit ihrem Liebsten war schön gewesen, obwohl sie ihren Plan immer im Hinterkopf gehabt hatte. Oder gerade deshalb. Sie hatte die kostbaren letzten Stunden mit ihm genossen. Nie war die Zeit so wertvoll gewesen, und nie vorher hatte sie so intensiv gelebt. Sie nahm sich vor, an seine Umarmungen zu denken, wenn sie in den Fluten unterging. Und Markus, ihr Mann? Ihre Liebe zu ihm war schon vor Jahren erloschen. Trotzdem fühlte sie sich schlecht, weil sie ihn ohne Erklärungen zurückließ. Aber für einen Abschiedsbrief an ihn hatte sie keine Kraft mehr gehabt. Die Erklärungen, die notwendig gewesen wären, hätten viele Seiten gefüllt. Ein ganzes Buch mit widersprüchlichen Beweggründen wäre es geworden, die er nicht verstanden hätte. Deshalb war es besser so.

Das Laufen durch das hohe Wasser wurde immer anstrengender. Helena stoppte. Es hatte keinen Sinn mehr weiterzugehen. Sie solle lernen loszulassen, hatte ihr die Beraterin eingeimpft. Genau das musste sie jetzt tun. Helena bemerkte, wie ihr Tränen über die Wangen liefen. Sterben war doch nicht leicht. Ihr war entsetzlich kalt. Aber noch schlimmer war die Einsamkeit in ihren letzten Stunden. Als könnten die Sterne ihr Trost spenden, reckte sie den Kopf gen Himmel. Die Milchstraße zeigte sich in atemberaubender Schönheit.

Über dem Lichterband erkannte sie die Sternbilder Zwillinge und Krebs, tief am Horizont den Widder. Der Große Bär stand hoch am Himmel, mit den sieben hellen Sternen, die den Großen Wagen bildeten. Nicht weit davon der Kleine Bär, auch Kleiner Wagen genannt, mit dem Polarstern am Anfang der Deichsel. Kleiner Bär, Großer Bär. Helena lachte. Die Sternbilder hätten zu ihrem Liebsten gepasst. Sie hatte ihn immer Brummbär genannt, weil er oft so mürrisch wirkte. Doch das hatte sie nie gestört. Aber die Sternbilder Großer und Kleiner Bär gehörten nicht zu den Tierkreiszeichen. Seines war der Löwe. Sie drehte den Kopf ein kleines Stück Richtung Süden und entdeckte das Sternzeichen. So deutlich hatte sie den Löwen noch nie erblickt. Leb wohl, Brummbär! Du hast dich nie mit den Sternen beschäftigt. Und du hast nie daran geglaubt, dass sie unser Schicksal bestimmen. Du hast dich geirrt.

Helenas Sternzeichen war der Schütze. Zu dieser Jahreszeit konnte man ihn nicht sehen. Aber er hatte sie das ganze Leben lang begleitet und bestimmte nun, dass sie in dieser Novembernacht sterben sollte. An ihrem zweiunddreißigsten Geburtstag.

1

Hilgersen stand mit Bürgermeister Schröder vor dem leeren Löschteich.

»Jemand hat das Wasser aus dem Teich geklaut«, sagte Schröder. »Über Nacht! Gestern war es noch da, und heute ist es weg.«

»Löschteich« wurde der Tümpel im Dorf genannt. Allerdings nicht offiziell, denn dann hätte er nach dem Gesetz umzäunt werden müssen. Und das wollten die Anwohner unbedingt vermeiden. Also hieß das Gewässer im amtlichen Schriftverkehr »Fischteich« oder manchmal auch »Freizeitteich«. Bürgermeister Schröder, der auf die sechzig zuging und Bart und Schirmmütze trug, war ein Pragmatiker. Obwohl er aus Kiel zugereist war und nur wenig Plattdeutsch verstand, war er anerkannt und beliebt in der Gemeinde. Seine Frau hatte unbedingt aufs Land ziehen wollen, wegen der frischen Luft und der Ruhe. Er war Beamter in der Stadtverwaltung gewesen. Nach seiner Pensionierung hatte er zugestimmt, und sie hatten sich ein kleines Fachwerkhaus im Zentrum gekauft, in dem sie mit ihrem Labrador Odin lebten.

Hilgersen und Schröder blickten hinunter auf die magere Pfütze, die vom Dorfteich übrig geblieben war.

»Geklaut?« Hilgersen grinste.

»Hat die Polizei eine andere Erklärung?«

»Vielleicht ist das Wasser verdunstet.«

»Einfach so über Nacht, bei Temperaturen von nicht einmal fünfzehn Grad?«

»Hm. Das ist in der Tat eher unwahrscheinlich.«

»Eben.«

»Dass jemand Wasser aus einem Teich stiehlt, ist auch nicht besonders plausibel.«

»Nee. Ist es nicht. Aber wer weiß? Man hat schon Pferde vor der Apotheke kotzen sehen.«

»Das ist auch wieder wahr.«

Die beiden standen eine Weile vor dem ehemaligen Teich und diskutierten, als ein Mann auf sie zukam, rothaarig und von schlanker Statur. Paul Küster hieß er. Küster hatte Ähnlichkeit mit Hilgersen, nicht sehr groß, drahtige Figur, rötlicher Hauttyp. Er gesellte sich zu den beiden. »Und? Wisst ihr schon, was passiert ist?«

»Wir sind noch bei der Beweisaufnahme«, antwortete Schröder.

»Ich hab so ’n Geräusch gehört heute Nacht. Ich bin davon wach geworden.«

»Was für ’n Geräusch?«

»Na, so ’n dumpfen Knall.«

»Ach was? Wirklich?«

»Jo. Ich weiß natürlich nicht, ob das damit zusammenhängt. Mit dem Wasserklau, meine ich. Vielleicht war da ein Blindgänger drin, der hochgegangen ist. Einer aus dem Krieg. Wenn so wat explodiert, dann pffffff!« Küster machte mit beiden Händen eine ausladende Geste.

»Danke, Paul. Du hast uns sehr weitergeholfen. Aber jetzt müssen wir die Beweisaufnahme fortführen«, sagte der Bürgermeister.

Paul Küster nickte. Er ging ein paar Meter und drehte sich dann um. »Die Fassade von Lütt Alex ist mit Schlamm bespritzt. Er hatte sie erst vor vier Wochen frisch gestrichen. Das würde zu meiner Theorie passen. Pffffff!« Er machte die gleiche Handbewegung wie zuvor. Dann trottete er davon. »Dat geiht nirgends so verrückt too as op de Welt«, murmelte er im Gehen und schüttelte den Kopf.

»Wer ist Lütt Alex?«, fragte Hilgersen.

»Alexander Schulze. Er hat seinen Spitznamen, weil er nur einen Meter sechzig groß ist. Er wohnt bei seiner Mutter in dem Haus da drüben.« Schröder zeigte auf ein altes Gebäude in der Nähe, dessen Giebel in ihre Richtung wies. »Was halten Sie von Pauls Theorie mit dem Blindgänger?«

»Nichts. Dann wäre hier ein großer Krater, und die Fensterscheiben in der Umgebung wären vermutlich zerborsten. In jedem Fall müsste man Splitter finden. Das sollte man untersuchen.«

Hilgersen drehte sich langsam um die eigene Achse, um den vermeintlichen Tatort in Augenschein zu nehmen. Der Teich lag am Rand des Dorfes. Zwischen ihm und den ersten Wohnhäusern befand sich eine Wiese. Hier und da blühten Gänseblümchen. Hilgersen bückte sich, pflückte eins ab. Es wies graue Schlammspritzer auf. Er suchte den Boden ab und fand weitere Indizien dafür, dass sich der Schlamm aus dem Teich großflächig in der Umgebung verteilt hatte.

»Sehr merkwürdig.« Hilgersen kratzte sich hinter dem Ohr. »Ich glaube nicht, dass das ein Fall für die Kriminalpolizei ist.«

»Die Leute erwarten Antworten von mir. Was soll ich denen denn sagen? Dass hier jemand den Stöpsel gezogen hat, oder dass Außerirdische das Wasser mit ihrer fliegenden Untertasse abgesaugt haben?«

»Letzteres wäre eine Möglichkeit.« Hilgersen grinste. »Es gibt Menschen, die sich auf so etwas spezialisiert haben. Ufologen nennen die sich.«

»Sie wollen mich doch wohl nicht im Stich lassen.«

Hilgersen hatte keine Idee, was er zur Klärung des Falls unternehmen sollte. Aber die Sache begann ihn zu interessieren. Für mysteriöse Ereignisse hatte er immer schon ein gewisses Faible gehabt. Dazu gehörten UFO-Sichtungen ebenso wie paranormale Vorkommnisse jeglicher Art und insbesondere die Astrologie. Dabei war seine Meinung darüber durchaus zwiespältig. Einerseits traute er aufgrund seiner Erfahrungen als Kriminalbeamter entsprechenden Erlebnisberichten nicht. Andererseits übte die Vorstellung, es könne irgendetwas jenseits der menschlichen Erfahrung geben, eine gewisse Faszination auf ihn aus.

»Okay, die Husumer Polizei übernimmt den Fall.«

»Es beruhigt mich, dass Sie sich der Sache annehmen«, sagte Schröder. »Somit kann ich der Presse mitteilen, dass der Vorfall untersucht wird.«

»Presse?«

»Noch ist wohl nichts durchgesickert. Aber wenn die Wind davon kriegt, geben sich die Zeitungsfritzen hier die Klinke in die Hand.«

Die Aussicht gefiel Hilgersen nicht. Die Leser fuhren auf solche Geschichten ab. Das würde den Druck der Öffentlichkeit auf die Ermittlungen erhöhen und Stress für ihn mitbringen. Allerdings hielt der sich zurzeit in Grenzen. Die Kriminalpolizei Husum war aktuell nur mit kleineren Delikten befasst.

Er verabschiedete sich vom Bürgermeister und stieg in seinen privaten Audi A4. Auf dem Weg zur Arbeitsstelle grübelte er unentwegt über das Teichproblem nach und stellte die absurdesten Theorien auf. Aber keine davon hielt einer logischen Überprüfung stand.

An diesem Morgen war Flottmann vor ihm im Büro.

»Du lässt nach, Gustl«, wurde er begrüßt. »Ich bin schon eine halbe Stunde im Einsatz.«

»Das kannst du leicht behaupten. Außerdem hatte ich einen Außentermin.« Hilgersen setzte sich an seinen Schreibtisch und schaltete den Computer ein.

»Die Sache mit dem Löschteich?«

»Genau. Das Wasser ist tatsächlich verschwunden. Nur noch eine elende Pfütze ist übrig geblieben.«

»Und? Wer ist der Täter?«

»Hellsehen kann ich noch nicht. Solide Polizeiarbeit ist gefragt.«

»Verstehe. Sag mal, könnte es sein, dass …«

»Was?«

»Ach, nichts.«

»Na, sag schon!«

»Ich hab mal so einen Film gesehen, da hat ein Dorf behauptet, es wäre von Aliens besucht worden. Die Bewohner haben sogar eine fliegende Untertasse nachgebaut. Die Gemeinde wollte auf sich aufmerksam machen, um Touristen anzulocken.«

»Was für ein Unsinn!«

»Vielleicht hat der Bürgermeister den Film gesehen.«

»Du glaubst doch nicht …«

Flottmann zuckte mit den Schultern. »Es ist dein Fall. Aber manchmal liegen die Dinge völlig anders, als man denkt. Sollte doch etwas dran sein, könntest du mit der Aufklärung berühmt werden. Soweit ich mich erinnere, hat es in der Geschichte noch nie so einen Kriminalfall gegeben.«

»Deine Bemerkung trieft mal wieder von Ironie.«

»Ganz und gar nicht, Gustl.«

Hilgersen konnte sich nicht mehr auf seine Arbeit konzentrieren. War es wirklich vorstellbar, dass jemand den Teich unbemerkt ausgepumpt hatte? Nein, das konnte er nicht glauben. Dahinter musste etwas ganz anderes stecken. Vielleicht sogar etwas wirklich Spektakuläres. Sein Ehrgeiz, den Fall zu lösen, war endgültig geweckt.

2

Markus Reinke drehte den Schlüssel wie in Zeitlupe im Schloss um. Nun gab es zwei verschlossene Zimmer im Haus. Das der Tochter hatten Helena und er nur selten aufgesucht. Der Schmerz über ihren Tod war zu groß gewesen. Auch jetzt blieb er an der Schwelle stehen und warf nur einen Blick hinein. Auf Helenas Wunsch hatte alles so bleiben sollen, wie Anna es zurückgelassen hatte. Die Unordnung wirkte wie das eingefrorene Bild ihrer Unbekümmertheit und Lebensfreude, die Spielsachen auf dem Boden, darunter das bunte Einhorn, die Holzkugelbahn, die sie mit viel Phantasie ständig umgebaut hatte, der sprechende Roboter Molly und die Bücher, aus denen er ihr so manches Mal vorgelesen hatte. Für Sekunden sah er sie auf dem Boden hocken, dann verschwand das Trugbild wieder. Er schloss die Tür, ohne den Raum zu betreten.

Vor einiger Zeit hatte Reinke gedacht, das Schlimmste überstanden zu haben, und der Schmerz würde mit der Zeit weiter nachlassen. Und er hatte gehofft, dass auch Helena allmählich ins Leben zurückgefunden hätte. Manchmal war sie sogar gut gelaunt und ausgelassen gewesen. Das hatte ihn irritiert und verärgert, auch wenn er es sich nicht hatte anmerken lassen. Am nächsten Tag war sie wieder in Depressionen verfallen. Das Auf und Ab war für ihn nur schwer zu ertragen gewesen. Und jetzt war auch sie tot. Weder die Therapie noch die Tabletten hatten das verhindert. Vielleicht hätte er mehr für sie tun müssen, anstatt seiner eigenen Traurigkeit nachzuhängen. Die Vorwürfe würde er sich bis ans Lebensende machen. Sie hätte seine Hilfe gebraucht, aber er war nicht in der Lage gewesen, sie zu stützen und zu trösten. Er war nicht einmal bereit gewesen, an einer Selbsthilfegruppe teilzunehmen. Davon hielt er auch heute noch nichts, aber er hätte ihr damit Entgegenkommen signalisieren können und den Willen, mit ihr die Krise gemeinsam zu bewältigen. Jetzt war es zu spät für solche Einsichten.

Er ging den Flur entlang, öffnete die Tür zu ihrem Arbeitszimmer und trat ein. Alles wirkte so, als habe sie den Raum nur kurz verlassen, um etwas zu erledigen. Der Schreibtisch war mit Papieren bedeckt. Neben der Computertastatur stand ein Becher mit eingetrockneten Kaffeeresten. Am Bildschirm klebten Haftnotizen, private und berufliche Erinnerungsschnipsel, private mit grüner und berufliche mit roter Hintergrundfarbe. »Blumen für das Grab« stand auf einem grünen Zettel. Dabei hätte es ganz bestimmt keiner Ermahnung bedurft, um Annas fünften Geburtstag nicht zu vergessen. Die Notizen hatten jetzt keine Bedeutung mehr. Eine Zeit lang hatte ihr Telefon noch ab und zu geklingelt. Aber seit einigen Wochen stand es still. Ihre wenigen Kunden hatten die Versuche aufgegeben, sie zu kontaktieren. Sehr erfolgreich war sie als selbstständige Eventmanagerin nicht gewesen. Aber immerhin hatte sie sich bemüht, etwas zum gemeinsamen Unterhalt und zur Renovierung des heruntergekommenen Hauses, das sie vor vier Jahren erworben hatten, beizutragen. Es lag am Rande der Stadt, mit viel Platz für Anna und vielleicht für weitere Kinder. Das Schicksal hatte alle Pläne zerstört. Schicksal? Unsinn! So etwas gab es nicht. Eine Verkettung unglücklicher Umstände vielleicht, aber keine Fügung und auch keine höhere Gewalt.

Eigentlich hatte er sich vorgenommen, das Zimmer auszuräumen und alles in den Müll zu werfen. Doch er merkte, dass er noch nicht bereit dazu war. Es würden noch Monate vergehen, bis er den Schritt vollziehen konnte. Vielleicht würde er es auch nie schaffen, und es wäre das Beste, wenn er das Haus samt Inventar verkaufte.

Sein Blick fiel erneut auf die Klebezettel. Ein grüner war offenbar abgefallen und lag mit der Schrift nach unten auf dem Schreibtisch. Er nahm ihn in die Hand und drehte ihn um. »BB anrufen« stand darauf. Wer war »BB«? Warum hatte sie den Namen nicht ausgeschrieben? Eine Telefonnummer hatte sie nicht dazu notiert. Vermutlich war sie in ihrem Handy gespeichert, das nicht gefunden worden war. Oder kannte sie die Nummer auswendig? Dann war zu vermuten, dass sie »BB« häufig angerufen hatte. Denn sie hatte sich Zahlen nur schlecht merken können.

Reinke ging in Gedanken alle Namen des gemeinsamen Bekanntenkreises durch. Es war nicht einmal jemand mit dem Anfangsbuchstaben »B« dabei. Er zuckte die Schultern. Vielleicht handelte es sich um eine ihrer Freundinnen, deren Namen er vergessen hatte.

Er verließ das Zimmer und schloss wieder ab. Zuzuschließen ergab keinen Sinn, aber es vermittelte ihm das Gefühl, vorläufig nicht ans Ausräumen denken zu müssen. Er hatte jetzt wichtigere Pläne, und die erforderten seine ganze Energie. Seine Vorhaben würden die Menschen aufrütteln und gleichzeitig Therapie für ihn selbst sein. Mit den Vorbereitungen hatte er bereits vor einiger Zeit begonnen.

***

Helenas Tagebuch, 13. Juli

Ich hab heute Morgen im ganzen Haus nach Anna gesucht. Sie war wie vom Erdboden verschluckt. Aber dann hab ich sie doch in ihrem Zimmer vorgefunden. Sie saß auf dem Boden und spielte mit den Holzkugeln. Sie hat mir zugewinkt. Dann hat sie sich wieder ganz ins Spiel vertieft. Ihre kleinen Schuhe hatte sie abgestreift. Wahrscheinlich drücken sie schon wieder. Ich muss unbedingt neue für sie kaufen.

Markus arbeitet viel. Abends ist er oft müde und geht früh ins Bett. Er redet kaum noch mit mir. Wegen Anna muss ich bei ihm bleiben. Mit Petra kann ich reden. Sie hat immer ein offenes Ohr für mich. Auch meine Astrologin Mila Hus ist für mich da. Die Beratungen sind teuer, aber sie geben mir Halt. Ich verstehe nicht, was Markus gegen sie hat. Dabei kennt er sie gar nicht. Vielleicht ist es wegen des Geldes. Er ahnt gar nicht, wie wertvoll ihre Tipps für mich sind. Sie kennt sich mit den Sternen aus wie kein anderer. Ich werde sie so oft besuchen, wie ich kann.

Jetzt muss ich Anna ins Bett bringen. Ich werde ihr noch eine Geschichte vorlesen. Vielleicht eine von dem kleinen Siebenschläfer. Die mag sie besonders gern.

3

Diana Keller unternahm nur selten Hausbesuche. Aber ihre Stammkundin Irmgard Wohlgemut saß im Rollstuhl und konnte die Wohnung ohne fremde Hilfe nicht verlassen. Außerdem bezahlte sie die Anfahrt, und deshalb war das völlig okay. Zu Dianas Leistungen zählte nicht nur die reine Astrologie, sondern Beratung in allen Lebensfragen. Dabei wusste sie, dass die alte, einsame Frau mehr an ihrer Gesellschaft als an einer Beratung interessiert war. Auch das war in Ordnung. Diana hörte sich geduldig die Geschichten von Tochter, Schwiegersohn und Enkel an, die in Kanada lebten und ein- bis zweimal im Jahr zu Besuch kamen. Manchmal erzählte Wohlgemut etwas über ihren verstorbenen Mann, der Major bei der Bundeswehr gewesen war und in der Julius-Leber-Kaserne gedient hatte.

An diesem Tag blieb Diana fast zwei Stunden bei ihr. Als sie sich verabschiedete, hatte sie das gute Gefühl, der alten Dame ein wenig neuen Lebensmut geschenkt zu haben. Psychologie war fester Bestandteil ihres Jobs. Obwohl sie keine Ausbildung auf dem Gebiet genossen hatte, glaubte sie doch, mit den Jahren Erfahrungen darin gesammelt zu haben.

Sie hatte ihr Auto auf dem Parkplatz »Neue Freiheit« abgestellt. Als sie die Fernbedienung drücken wollte, bemerkte sie, dass die Verriegelungsknöpfe der Tür oben standen. Hatte sie vergessen, den Wagen abzuschließen? Eigentlich achtete sie immer darauf, dass das Auto verschlossen war, auch wenn sich keine Wertsachen darin befanden und ihren alten Ford sicher niemand stehlen würde.

Diana stieg in den Wagen ein und steckte den Schlüssel ins Zündschloss. Sie erschrak zu Tode, als sie im Spiegel eine Bewegung bemerkte, eine Hand, die nach ihr griff. Eine Sekunde später spürte sie einen Stich im Nacken. Sie hatte gerade noch Zeit, einen Schrei auszustoßen. Dann wurde es dunkel um sie herum.

Wenn nicht diese schreckliche Kälte gewesen wäre, hätte Diana gedacht, sie läge in ihrem warmen Bett und träumte. Über ihr wölbte sich ein prächtiger Sternenhimmel. So klar und deutlich hatte sie die Milchstraße und die Sterne ewig nicht mehr vor Augen gehabt. Einige Sekunden lang erfreute sie sich an dem Anblick. Doch dann ergriff sie Angst, die sich zu Panik steigerte, als das Grauen nach und nach in ihr Bewusstsein gelangte. Sie konnte weder Arme noch Beine bewegen. Der typische Geruch des Wattenmeers stieg ihr in die Nase. Ihre Hände waren hinter dem Rücken gefesselt. Eine schwere Last drückte auf ihren Körper. Die Erkenntnis traf sie wie ein Blitzschlag: Sie war bis zum Hals in den Wattboden eingegraben. Sie stieß einen verzweifelten Schrei aus, der ohne Widerhall und ohne Antwort blieb. Für einen Moment schloss sie die Augen, als könne sie die Wirklichkeit auf diese Weise ausblenden. Aber der Trick, den sie oft als Kind angewendet hatte, funktionierte nicht.

Die liegende Position zwang sie, zum Himmel aufzuschauen. Doch sie konnte den Kopf etwas drehen. Weit entfernte Lichter vom Festland oder von den Inseln drangen herüber. Aber sie boten keinen Trost, sondern verstärkten das Gefühl der Einsamkeit und Verlorenheit.

Die entsetzliche Stille wurde von einem leisen Plätschern begleitet. Das Geräusch ließ sie erschaudern. Ganz in der Nähe musste ein Priel sein. Ein Priel bedeutete höchste Gefahr. Lief das Wasser ab, oder lief es auf? Sie kannte sich mit den Gezeiten aus und wusste, wann in dieser Nacht Hoch- und Niedrigwasser sein mussten. Aber wie spät war es? Ein Blick in den Sternenhimmel bestätigte ihre schlimmste Befürchtung. Sie stieß erneut einen Schrei aus. Die Flut hatte eingesetzt! Keine Stunde würde es dauern, bis sie ertrank.

Wer hatte sie in diese Lage gebracht? Obwohl die Antwort darauf bedeutungslos war, schoss ihr die Frage durch den Kopf. Sie hatte keine Feinde, niemanden, der ihr nach dem Leben trachtete. Jemand musste sie zufällig als Opfer für sein sadistisches Spiel ausgesucht haben. Sie verdrängte weitere Gedanken daran.

Es gelang ihr, die Schultern etwas anzuheben. Vielleicht konnte sie ihren Tod dadurch für kurze Zeit verzögern, wenn das Wasser kam. Ganz abgesehen davon, dass sie den Kraftakt nicht lange durchstehen würde, ergab das nur wenig Sinn. Ob sie einige Minuten früher oder später starb, war schließlich egal.

Doch sie wollte nicht sterben. Sie versuchte, ihren Körper hin und her zu wälzen, um sich mehr Bewegungsfreiheit zu verschaffen. Aber der nasse Schlamm war wie eine zähe Klebemasse, die an ihr zerrte. Nach einiger Zeit gab sie auf. Wenn ihre Hände frei gewesen wären, hätte sie die Arme herausziehen können. Vielleicht wäre es ihr dann möglich gewesen, sich selbst auszugraben. Aber sie fühlte die eisernen Ringe um ihre Gelenke. Sie hatte keine Chance, sich zu befreien. Ihr blieb nichts anderes übrig, als um Hilfe zu rufen. Doch selbst wenn ihre Rufe bis zu einem Ufer drangen, war die Aussicht gering, dass sie zu so später Stunde erhört wurden. Und falls doch? Würde man sie finden? Auch das war unwahrscheinlich. Das Wattenmeer war riesig und die Nacht bei Neumond dunkel.

Diana Keller hob den Kopf ein weiteres Mal an. Das Sternenlicht spiegelte sich im herannahenden Meer. Sie hatte sich nicht verrechnet. Das Wasser im Priel stieg an und flutete das Watt. Noch erzeugte der Wind nur leichte Kräuselungen, aber bald würden die Wellen über sie hinwegschwappen. Wieder schrie sie aus vollem Hals, bis ihre Stimme versagte und in ein klägliches Wimmern überging. Es war Zeit loszulassen.

Diana Keller spürte, wie das kalte Nass an ihren Haaren bis zur Kopfhaut emporkroch. Bald musste sie Wasser schlucken. Sie nahm sich vor, sich nicht gegen ihr Schicksal aufzubäumen. Welch Ironie, dass sie auf diese Weise enden würde. Mit Blick auf die Sterne, die sie stets durch ihr Leben geführt hatten. Zunächst hatte sie die Astrologie lediglich als Hobby betrieben. Doch dann hatte sie sich intensiv damit beschäftigt und sie zum Beruf gemacht. Und jetzt geleiteten die Sterne sie in den Tod. Hatte der Attentäter das etwa beabsichtigt? Der Gedanke war ihr bisher nicht gekommen. Sie wischte ihn beiseite. Auch diese Überlegungen halfen ihr nicht weiter.

Ein Satellit zog seine Bahn gleichmäßig über den Himmel. Ein Meteor kreuzte das Sternbild Jungfrau. Vielleicht schaffte es der Meteorit, der das Leuchten erzeugte, bis auf den Erdboden und wurde von jemandem gefunden. Diana hatte eine kleine Sammlung solcher Fundstücke in ihrem Bücherregal liegen.

Bei einer Sternschnuppe durfte man sich etwas wünschen. Natürlich hatte sie nur den einen Wunsch, nämlich heil aus der Situation herauszukommen. Sie wollte ihre Tochter Lilian in den Arm nehmen. Das war alles. Doch sie schmeckte bereits das Salzwasser auf den Lippen, und das Meeresrauschen, das sie immer so geliebt hatte, kündigte ihren Tod an. An ihrem achtundvierzigsten Geburtstag!

4

»Sei still, Rocky«, murmelte Julia Niedermeyer und drehte sich auf die andere Seite. »Und du auch«, ergänzte sie und meinte ihren Mann Sebastian, der auf dem Rücken lag und schnarchte.

Rockys Quieken ging in Bellen über.

»Aus«, zischte Julia.

»Was ist?«, fragte Sebastian. Ohne auf eine Antwort zu warten, schnarchte er weiter.

»Nichts ist.«

Der Beagle gab keine Ruhe. Er winselte und rannte aufgeregt im Schlafzimmer umher. Schließlich legte er die Vorderpfoten auf die Bettkante und stupste Frauchen mit der kalten Schnauze im Gesicht an.

»Rocky, verdammt!«

Sebastian Niedermeyer richtete sich auf. »Was ist das für ein Zirkus hier?«

»Rocky hat irgendwas.« Julia schaltete die Nachttischlampe ein. Der Hund hatte sich immer noch nicht beruhigt. Er kratzte an der Tür und jaulte erbärmlich.

»Lass ihn raus. Vielleicht will er in den Garten.«

»Riechst du auch was?«, fragte Julia.

Sebastian Niedermeyer sog die Luft hörbar durch die Nase ein. »Das kommt von unten.«

»Also riechst du das auch? Das ist Qualm.«

»Die Keller hat wahrscheinlich wieder Räucherkerzen angezündet.«

»Um diese Zeit? Es ist drei Uhr in der Nacht.«

»Die tickt doch nicht ganz richtig. Wahrscheinlich hat sie wieder eine ihrer Nuancen. Tische rücken und so.«

»Séancen heißt das. Außerdem macht sie so etwas gar nicht, sondern ihre Tochter Lilian.«

»Von mir aus. Schlaf weiter.«

»Ich sehe mal nach.« Julia Niedermeyer wälzte sich aus dem Bett. Die Mittfünfzigerin öffnete die Schlafzimmertür. »Na geh schon«, forderte sie Rocky auf. Doch der bewegte sich nicht vom Fleck und bellte erneut.

Julia knipste die Flurbeleuchtung an. »Feuer!«, schrie sie aus voller Kehle, als sie sah, wie Rauchschwaden unter der Wohnungstür hindurchkrochen. Dann eilte sie an Rocky vorbei, der wie angewurzelt im Türrahmen stand. »Basti! Es brennt! Es brennt! Wir müssen raus hier!«

Endlich kapierte Sebastian Niedermeyer, was los war. Er sprang aus dem Bett, schlüpfte in seine Jeans und schnappte sich den Schlüsselbund. Der Qualm im Flur war unerträglich. Niedermeyer zog ein Taschentuch hervor und presste es an seinen Mund, während er die Eingangstür öffnete. Eine beißende Rauchwolke kam ihm entgegen. Sofort schlug er die Tür wieder zu.

»Da kommen wir nicht raus«, schrie er. »Wir müssen die Feuerwehr rufen!«

Julia Niedermeyer eilte ins Wohnzimmer. Hastig wählte sie die 112 und gab die notwendigen Informationen durch. Zurück im Schlafzimmer, schleifte ihr Mann den völlig verstörten Hund am Halsband hin zum Fenster.

»Mach die Tür zu! Wir müssen auf das Garagendach klettern.«

Niedermeyer zog den Vorhang beiseite und öffnete das Fenster. »Zuerst Rocky!« Er packte das Tier unterm Bauch und hob es über die Brüstung. Der Hund wehrte sich nicht. Gute zwei Meter waren es bis zum Garagendach. Rocky jaulte auf, als er auf die Kiesschüttung fiel, aber er schien den Fall unbeschadet überstanden zu haben.

»Jetzt du!« Niedermeyer streckte die Hand nach seiner Frau aus. Sie zögerte, ließ sich dann aber bewegen, auf die Fensterbank zu klettern. Mit den Füßen voraus hielt sie sich noch eine Zeit lang am Rahmen fest, bevor sie losließ. Sie landete unsanft, fiel hin, konnte sich jedoch wieder aufrappeln.

Niedermeyer drehte sich noch einmal um. Der Rauch erfüllte inzwischen den Raum. Aber noch schien die Erstickungsgefahr gering zu sein. Wichtige Papiere lagen im Kleiderschrank unter der Bettwäsche. Er riss die Schranktür auf und suchte danach. Viel zu lange benötigte er, bis er den Umschlag in Händen hielt. Der beißende Qualm war dichter geworden und brannte in den Augen. Niedermeyer beugte sich vor und hustete. Er schleppte sich zum Fenster und warf den Umschlag bis auf das Nachbargrundstück. Dann wagte auch er den Sprung auf das Garagendach und überstand den Aufprall mit Abschürfungen an Händen und Armen. Noch etwas benommen, richtete er sich auf, atmete tief durch und hangelte sich an der Dachkante hinunter, bis er mit den Füßen den Palisadenzaun des Nachbarn und schließlich festen Boden erreichte. Seine morgendlichen Fitnessübungen zahlten sich aus. Er öffnete das Garagentor, holte eine Leiter heraus und stellte sie so an das Gebäude, dass seine Frau mit Rocky hinunterklettern konnte.

Die Vermieterin!, schoss es ihm durch den Kopf. War die Astrologin noch im Haus? Er sprintete zum Hauseingang, zog seinen Schlüsselbund hervor und fingerte am Schloss. Noch bevor er die Tür öffnen konnte, hörte er das Martinshorn der Feuerwehr. Wenig später sprangen die Männer in ihren Schutzanzügen aus den Fahrzeugen. Sebastian Niedermeyer war froh, dass er ihnen das Feld überlassen konnte. Mit zitternden Knien ging er zur Straße, wo Sanitäter seine Frau behandelten. Rocky stürmte auf ihn zu und ließ sich kraulen. Der brave Hund hatte Julia und ihm das Leben gerettet.

***

Helenas Tagebuch, 20. Juli

Markus ist wieder zum Tennisspielen, und ich kann in Ruhe etwas aufschreiben. Gestern hat er mich geschlagen. Nein, das stimmt so nicht. Er hat mich geschüttelt, bis mir schwindelig wurde und ich Kopfschmerzen bekam. Nur weil ich ihm erzählt habe, dass ich für Anna neue Schuhe und einen bunten Pyjama mit Mond und Sternen gekauft habe. Dabei waren die Sachen gar nicht teuer. Sie waren im Angebot. Er hat sich die Sachen nicht einmal angesehen.

Ich war den ganzen Tag über traurig. Aber jetzt geht es mir besser. Morgen treffe ich mich mit BB. Markus sage ich, dass ich bei Petra bin. Ich werde den Bus nehmen. Wegen der Tabletten darf ich nicht mit dem Auto fahren, auch wenn ich sie nicht mehr jeden Tag nehme. Sie machen mich müde. Ich hab mir von Mila ein Horoskop aus der Ferne erstellen lassen. Merkur ist in den Krebs gewechselt, und die Venus nimmt Opposition zu Pluto ein. Die Sonne steht ab 23. Juli im Löwen. Die Woche verspricht gut zu werden. Mila hat mir das versprochen. Ich freue mich auf den Abend mit BB.

5

Diana Keller hatte davon gehört, dass das gesamte Leben im Angesicht des Todes im Zeitraffer vor dem inneren Auge ablief. Bei einem plötzlichen Unfall mochten die Erinnerungen zu Sekunden komprimiert sein. Doch bei ihr lief der Film über Minuten ab, denn ihr Tod nahte langsam, aber unerbittlich. Glückliche Tage ihrer Kindheit tauchten auf, Ereignisse, die belanglos waren, aber doch bedeutend genug, dass sie einen Weg in ihr Gedächtnis geschafft hatten. Die Rettung ihrer Katze Susie, die durch die Feuerwehr von einem Baum geholt werden musste, der Lenkdrachen, der sie beim Absturz am Kopf verletzt hatte, und die Torte, die ungenießbar gewesen war, weil sie ihrer Mutter Salz statt Zucker gereicht hatte. Auch ihr verstorbener Mann Günther erschien. Der Tag, als sie sich im Multimar Wattforum kennengelernt hatten, ihre Fahrt mit dem Wohnmobil durch Norwegen, auf der Lilian gezeugt worden war, und die schweren Monate seiner Krankheit. Lilians erster Schultag, ihr Krankenhausaufenthalt nach dem Hundebiss und Lilians Umzug in die eigene Wohnung. All das und weitere Erlebnisse kamen an die Oberfläche, ungeordnet, als gäbe es keine Zeit.

Aus dem Augenwinkel sah Diana ein Licht. Sie drehte den Kopf. Salzwasser floss in ihren Mund. Sie hustete und würgte es wieder heraus. Noch einmal hob sie ihren Oberkörper so weit wie möglich an. Der Lichtpunkt bewegte sich! Und er wurde größer. Ein Boot! Sie war sich ganz sicher. Noch war es zu früh, um laut zu rufen. Sie musste ihre Kräfte schonen. Das Licht wurde mal heller, mal dunkler, so wie beim Schwenk eines Scheinwerfers. Bildete sie sich das ein, weil sie es sich sehnlichst wünschte, oder war man auf der Suche nach ihr?

Minuten vergingen. Endlich hörte sie Motorengeräusche. »Hier bin ich!«, rief sie. Dann übermannte sie die Erschöpfung, und ihr Kopf fiel zurück ins Wasser. Nur noch einen Augenblick ausruhen. Nur noch einen winzigen Augenblick, dann würde sie sich aufbäumen und auf sich aufmerksam machen. Sie würde so laut schreien, dass niemand sie überhören konnte.

Eine Welle tauchte ihr Gesicht vollständig unter. Die Bugwelle eines Bootes, hoffte sie. Als sie die Augen wieder öffnete, traf sie das grelle Scheinwerferlicht. Anstatt laut zu rufen, flüsterte sie nur »Danke«, ohne zu wissen, wem sie danken sollte, dem Himmel, den Rettern oder dem Schicksal. Sie vernahm, wie der Motor gedrosselt wurde. Eine zweite Welle schwappte über sie hinweg, die sie aber nicht in Angst versetzte, sondern für Erleichterung sorgte. Männerstimmen ertönten, jemand erteilte Kommandos. Menschliche Silhouetten tauchten vor ihren Augen auf. Eine Frau redete auf sie ein. Diana Keller verstand sie nicht. Aber sie wusste, dass alles gut werden würde. Sie hörte noch: »Grabt schneller!« Dann verblasste das Licht, und alle Geräusche verstummten.

Als sie wieder zu sich kam, lag sie in einem Krankenwagen, versorgt mit Atemmaske und Tropf. Trotz der Wärmedecke war ihr entsetzlich kalt. Der Geschmack des Salzwassers hatte sich in ihre Zunge eingebrannt, ebenso wie sich das schreckliche Erlebnis in ihre Seele gefressen hatte. Sie würde die Stunden des Horrors nie vergessen. Die Erinnerung daran würde sie ein Leben lang begleiten. Das war ihr bereits in diesem Moment klar. Aber sie lebte!

***

Am Morgen landete der Bericht der Wasserschutzpolizei auf Flottmanns Schreibtisch. Noch konnte er nicht ahnen, dass der Fall ihn an seine psychischen Grenzen bringen würde. In den Jahren als Leiter des Dezernats Tötungsdelikte in Bonn hatte er wiederholt in die Abgründe der menschlichen Seele geblickt. Nach und nach war ihm die Belastung zu groß geworden. Nach seiner Scheidung hatte er sich nach Husum versetzen lassen. Die Bezahlung auf dem neuen Posten war mies, aber dafür würde er in Nordfriesland eine ruhige Kugel schieben – hatte er gedacht. Während er in dem Bericht blätterte, schüttelte er unablässig den Kopf.

»Was ist los?« Hilgersen ließ seinen Schreibtischstuhl rotieren. »Die Sache im Watt?«

»Ja. Woher weißt du davon?«

»Jeder hier, der frühzeitig zum Dienst kommt, weiß davon.«

Flottmann überhörte Hilgersens Spitze. »Wer tut so etwas?«

»Wenn wir das wüssten, wäre der Fall gelöst. Die Hilferufe der Frau wurden von einem Touristen auf Nordstrand gehört. Er konnte in der Nacht nicht schlafen, weil er Zahnschmerzen hatte. Deshalb ist er aufgestanden und um drei Uhr zum Strand spaziert. Seine Zahnschmerzen haben der Frau das Leben gerettet. Manchmal geht das Schicksal merkwürdige Wege.«

»Schicksal?«

»Ja. Oder wie würdest du das nennen?«

»Zufall. Ein glücklicher Zufall. Glücklich, wenn man mal von den unangenehmen Zahnschmerzen absieht. Wie haben die Kollegen sie gefunden?«

»Sie wurde in der Nähe des Heverstroms im Schlick vergraben. Die Kollegen sind das Fahrwasser mit Suchscheinwerfern abgefahren. Wäre sie abseits des Wattstroms verbuddelt worden, hätte man sie sicher nicht entdeckt.«

»Der Täter oder die Täterin hat sie mit einem Boot dorthin gebracht, nehme ich an.«

»Klar. Davon können wir ausgehen. Und er muss ganz schön mit Schlick besudelt gewesen sein, als er fertig war. Wenn er seine Kleidung nicht inzwischen gewechselt hat, müsste er leicht zu identifizieren sein.«

»Ich bewundere immer wieder deinen Scharfsinn, Gustl.«

»Nur keinen Neid, bitte. Diana Keller ist übrigens Astrologin.«

»Ist das ein Beruf?«

»Damit kann man viel Geld verdienen.«

»Humbug ist das. Im Bericht steht, dass sie in die Klinik gebracht wurde. Wir sollten sie so bald wie möglich befragen. Ich werde mit Lena telefonieren und mich bei ihr erkundigen, wie es der Patientin geht.« Flottmann griff zum Hörer. Seine Lebensgefährtin war sofort am Apparat.

»Wenn du um diese Zeit anrufst, kann ich mir schon denken, warum.«

»Äh – ich wollte nur wissen, wie es dir geht.«

Lena Abendroth lachte. »Gut.«

»Und der Patientin aus dem Watt? Diana Keller?«

»Bis auf ein paar Abschürfungen äußerlich ohne weiteren Befund. Aber was sie erlebt hat, wird ganz sicher Spuren hinterlassen. Was genau passiert ist, weiß ich nicht. Aber es muss schlimm gewesen sein. Ihre Tochter ist gerade bei ihr.«

»Wann können wir sie befragen?«

»Ich sag dem behandelnden Arzt Bescheid, dass er dich anruft. Dr. Klemens ist das.«

»Danke, Lena. Bleibt es bei unserem Treffen am Freitag?«

»Ja, natürlich, Herr Hauptkommissar.«

Flottmann hasste es, wenn sie ihn so nannte. Je mehr er das zu erkennen gab, umso mehr neckte sie ihn damit.

»Bis dann.«

»Bis dann, Waldemar.«

Eine Stunde später rief der Arzt an. Die Patientin sei so weit stabil, einer Befragung stünde nichts im Weg.

»Heute Nachmittag können wir zu ihr«, sagte Flottmann zu Hilgersen.

»Da gibt es noch etwas, das du wissen solltest. Ein Brand im Stadtweg. Ist gerade reingekommen.«

»Muss warten.«

»Das Haus gehört Diana Keller.«

»Nee!«

»Doch!«

»Das kann ja wohl kein Zufall sein.«

»Nee.«

»Die Kollegen vom K1?«

»Übernehmen den Fall. Aber wir dürfen mitmischen, bis wir zurückgepfiffen werden.« Hilgersen grinste. Er wusste, dass Flottmann sich mit dem Leiter des Kommissariats 1 in Flensburg, Dirk Hofmann, nicht gerade gut verstand. Flottmann konnte insbesondere dessen Arroganz und Überheblichkeit nicht ausstehen. Die Antipathie beruhte auf Gegenseitigkeit, aber beide waren Profis genug, um daraus keine Behinderung der Zusammenarbeit entstehen zu lassen.

Flottmann schaute auf seine Armbanduhr. »Wir sollten uns die abgebrannte Wohnung ansehen. Kommst du mit?«

»Das wollte ich auch gerade vorschlagen.«

Eine Viertelstunde später trafen Flottmann und Hilgersen vor dem Zweifamilienhaus ein. Das Grundstück war mit Flatterbändern abgesperrt. Auf der Straße standen ein Einsatzwagen der Feuerwehr und ein Streifenwagen. Polizeiobermeister Thomas Jensen empfing die beiden.

»Moin. Sieht nach Brandstiftung im Erdgeschoss aus«, sagte er. »Der Sachverständige kommt heute Nachmittag. Der wird das vermutlich bestätigen. Die Feuerwehr konnte verhindern, dass das Feuer in das Obergeschoss übergriff. Aber auch dort ist der Schaden durch Ruß und Löschwasser natürlich beträchtlich. Die Mieter sind in ein Hotel umgezogen.«

»Gibt es Einbruchspuren?«, fragte Flottmann.

Jensen schüttelte den Kopf.

»Die Kriminaltechniker haben sich schon angekündigt«, sagte Hilgersen. »Die werden das genau untersuchen.«

»Okay, dann gehen wir mal rein.«

Hilgersen hob das Flatterband an, und die Kommissare liefen den Gartenweg entlang zum Haus. Die schwere Eingangstür aus Holz stand offen. Im Flur empfing sie ein penetranter Brandgeruch. Sie nahmen kurz das Wohnzimmer in Augenschein, das bis auf den Teppichboden von den Flammen verschont geblieben war. Der eigentliche Brandherd befand sich in einem Raum, der offenbar als Arbeitszimmer gedient hatte. Ein Metallregal mit Resten von Aktenordnern und ein verkohlter Schreibtisch zeugten davon. Auch ohne den Sachverstand eines Experten war zu erkennen, dass Brandbeschleuniger verwendet worden war. Insbesondere die Ordner und deren Inhalt mussten damit getränkt worden sein.

»Jemand wollte gezielt die Unterlagen vernichten«, sagte Hilgersen.

»Das sieht so aus.« Flottmann ließ seinen Blick durch das Zimmer schweifen. Mit einem Kopfnicken deutete er auf einen Bildschirm. Der Kunststoffrand war in der Hitze geschmolzen, und die Mattscheibe war schwarz von Ruß. Er nahm den ebenfalls zusammengeschmolzenen Stecker des Monitors in die Hand. »Der Computer wurde gestohlen. Vermutlich ein Laptop. Was können wir daraus schließen?«

»Dass es eine Verbindung zwischen einem ihrer Kunden und der Tat geben könnte.«

»Richtig. Und warum gibt es keine Einbruchspuren?«

»Weil der Täter Diana Keller die Schlüssel abgenommen hat.«

»Ich bin stolz auf dich, Gustl.«

»Ach was! So etwas schüttel ich doch aus dem Ärmel. Und das Profil des Täters dazu. Männlich, intelligent, ledig oder geschieden, zwischen fünfundzwanzig und vierzig Jahre alt, besitzt ein Motorboot, kennt sich mit Ebbe und Flut aus und trägt gelbe Gummistiefel.«

»Gelbe Gummistiefel? Hat man Spuren im Watt gefunden? Im Bericht stand nichts darüber.«

»Die wird die Flut wohl bis zur Unkenntlichkeit beseitigt haben. Okay, das mit den gelben Gummistiefeln entstammt lediglich meiner Intuition. Ich hab mir bildhaft vorgestellt, wie der Täter das Opfer mit einem Spaten eingräbt, ohne sich die Schuhe zu versauen und die Zehen abzuhacken. Na ja, und die meisten Stiefel hier im Norden sind doch gelb, oder?«

Flottmann lachte. »Intuition ist eine gute Sache. Ich spreche aus Erfahrung. Aber sich mit Gummistiefeln im Schlick fortzubewegen ist, soweit ich weiß, nicht gerade optimal.«

»Stimmt, aber der Täter könnte trotzdem welche angehabt haben.«

»Einverstanden. Und sein Motiv? Ein Horoskop, das sich nicht erfüllt hat? Oder eine Prophezeiung, die ihm nicht gepasst hat?«

»Ist wohl eher unwahrscheinlich.«

Flottmann nickte. »Gut. Überlassen wir die Wohnung der Spurensicherung. Mit den Mietern, die den Brand entdeckt haben, müssen wir noch sprechen.«

»Ihr Hund hat Alarm geschlagen. Laut Bericht um drei Uhr fünfzehn. So ein Tier ist besser als ein Rauchmelder. Dein Kater hätte wahrscheinlich nur den Schwanz eingezogen.«

»Vergiss nicht, dass auch er mir schon einmal das Leben gerettet hat.«

»Stimmt. Ganz unbeteiligt war ich allerdings nicht dabei.«

»Das hab ich auch nicht vergessen.« Flottmann klopfte seinem Kollegen auf die Schulter. »Es ist noch etwas zu früh, aber wir könnten jetzt trotzdem zur Klinik fahren.«

Die beiden inspizierten oberflächlich die anderen Räume des Hauses und brachen anschließend zum Krankenhaus auf. Nur fünf Minuten benötigten sie bis zum Parkplatz am Erichsenweg.

Diana Keller war nicht in ihrem Zimmer. Nach Angaben eines Pflegers wartete sie im »Patientencafé« der Klinik, das im Erdgeschoss lag. Als sie dort ankamen, waren nur drei Tische besetzt. Flottmann ging auf eine Frau zu, die alleine saß und vom Alter her zu passen schien. Sie hatte kurzes braunes Haar, ein schmales Gesicht und eingefallene Wangen. Zu den Jeans trug sie ein weißes T-Shirt.

»Frau Keller?«

Sie nickte.

»Kriminalpolizei Husum. Mein Name ist Flottmann, das ist Herr Hilgersen.« Die beiden Männer setzten sich zu ihr.

»Wie geht es Ihnen?«, fragte Flottmann.

»Ich bin so weit okay. Man kümmert sich um mich. Morgen hab ich ein Gespräch mit einer Psychologin. Außerdem besucht mich meine Tochter.«

»Sind Sie in der Lage, uns den genauen Hergang zu schildern?«

»Ja.« Sie griff zu ihrer Kaffeetasse.

Flottmann bemerkte, dass ihre Hand zitterte.

»Es war grauenhaft«, begann sie und setzte die Tasse wieder ab, ohne daraus zu trinken. »Ich kam von einer Kundin. Mein Auto hatte ich auf dem Parkplatz ›Neue Freiheit‹ abgestellt. Mir fiel auf, dass es nicht verschlossen war. Ich hab mir aber nichts weiter dabei gedacht. Als ich am Steuer saß, schnellte plötzlich eine Hand von hinten vor, drückte mir den Mund zu und betäubte mich mit einer Spritze. Als ich wieder aufwachte, lag ich in einem Boot. Jedenfalls fühlte sich das so an. Aber ich war nur kurz bei Besinnung. Aus dem Augenwinkel hab ich eine vermummte Gestalt wahrgenommen, bevor ich erneut betäubt wurde. Mit einem Tuch, das nach Äther roch.«

»Können Sie etwas über das Auto sagen, das der Entführer benutzt hat? Über das Boot? Oder vielleicht über den Entführer?«

»Nein. Gar nichts. Das Auto hab ich nicht gesehen. Im Boot hab ich auf dem Boden gelegen. Klein muss es gewesen sein. Ich glaube, ich hab auch Motorengeräusche gehört. Über den Mann weiß ich gar nichts. Groß war er wohl und trug eine dunkle Maske. Eine Skimaske könnte es gewesen sein. Ich bin dann erst wieder aufgewacht, als ich im Watt lag. Zuerst hab ich gar nicht kapiert, was los war. Aber dann …« Sie stockte. Tränen liefen ihr übers Gesicht.

»Lassen Sie sich Zeit, Frau Keller«, sagte Hilgersen. »Ich hole uns inzwischen einen Kaffee. Möchten Sie auch noch etwas?«

Sie schüttelte den Kopf und wischte sich mit der Hand die Tränen ab.

»Du? Kaffee, Tee?«, fragte er Flottmann, während er aufstand.

»Nein, danke.«

Erst als Hilgersen wieder am Tisch saß, fuhr Diana Keller mit ihren Schilderungen fort. Nachdem sie fertig war, senkte sie den Kopf. Ihr war anzumerken, dass sie versuchte, weitere Tränen zu unterdrücken.

Sie lachte gequält. »Ich hab heute Geburtstag. Meine Rettung ist wohl ein Geschenk des Himmels.«

»Wir müssen Ihnen nun einige Fragen stellen, Frau Keller«, sagte Flottmann.

Sie nickte.

»Sind Sie verheiratet?«

»Verwitwet. Schon seit einigen Jahren.«

»Haben Sie irgendeinen Verdacht, wer Ihnen das angetan haben könnte?«

»Nein, absolut nicht. Ich habe niemandem etwas getan.«

»Könnte die Tat mit Ihrem Beruf zusammenhängen? Sie sind Astrologin?«

»Ja. Schon seit fast zwanzig Jahren. Es hat nie Probleme gegeben. Wenn jemand mit meiner Arbeit nicht zufrieden war, erhielt er das Geld zurück. Aber das kam nur selten vor. Vielleicht zwei- oder dreimal, soweit ich mich erinnere.«

»Wir haben leider noch eine schlechte Nachricht für Sie.«

»Was kann das schon sein?«

»Es hat einen Brand in Ihrer Wohnung gegeben.«

Sie lehnte sich zurück und seufzte. »Was ist mit meinen Mietern?«

»Sie konnten sich rechtzeitig in Sicherheit bringen. Der Schaden am Haus scheint begrenzt zu sein. Aber Sie können noch nicht dorthin zurück. Haben Sie Verwandte oder Bekannte, bei denen Sie unterkommen können?«

»Zur Not bei meiner Tochter. Aber sie hat nur eine kleine Mietwohnung. Auch mein Bruder und seine Familie würden mich bestimmt eine Zeit lang aufnehmen.«

»Hat der Entführer Ihnen die Haustürschlüssel abgenommen?«, fragte Hilgersen.

»Ja, sehr wahrscheinlich. Ich hatte sie in meiner Hosentasche. Und sie sind verschwunden.«

»Der Einbrecher, der das Feuer in Ihrem Haus gelegt hat, hatte es offenbar gezielt auf Ihre Kundendaten abgesehen. Ich nehme an, dass Sie die in Ihrem Regal aufbewahrt hatten.«

»Ja. Auch ein Rechnungsordner war darin. Allerdings mit nur wenig Schriftverkehr, da die meisten Kunden bar bezahlen.«

»Hatten Sie einen Computer in Ihrem Arbeitszimmer?«, fragte Flottmann.

»Einen Laptop.«