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Olivia, Johanna und Dörte aus Nordfriesland geraten in Bedrängnis. Am liebsten würden sie sich ausschließlich um ihr Schlickgeschäft kümmern. Der Handel mit dem Gold der Nordsee floriert. Aber Hauptkommissar Erik Kruse ist ihnen dicht auf den Fersen. Er will beweisen, dass sie ihre Ehemänner auf dem Gewissen haben und auch für mehrere mysteriöse Todesfälle verantwortlich sind. Olivia ahnt: Ihr Ratgeber »Giftküche« spielt dabei eine zentrale Rolle. Als die drei Frauen versuchen, das Unheil abzuwenden, begeben sie sich in höchste Gefahr.
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Seitenzahl: 313
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Gerd Kramer
Friesische Giftküche
Kriminalroman
Tödliche Rezepte Am liebsten würden sich Olivia, Johanna und Dörte ausschließlich um das Schlickgeschäft kümmern. Der Handel mit dem Gold der Nordsee floriert, und sie denken über eine Erweiterung ihrer Firma nach. Aber dazu fehlen ihnen die finanziellen Mittel. Als sie dann auch noch von der Vergangenheit eingeholt werden, müssen sie ihre Pläne auf Eis legen. Hauptkommissar Erik Kruse hat sich an ihre Fersen geheftet. Er ist sich sicher, dass sie nicht nur für den Tod ihrer Ehemänner verantwortlich sind, sondern auch für mehrere mysteriöse Todesfälle, die sich in Nordfriesland ereignet haben. Olivia und ihre Freundinnen haben den Verdacht, dass Olivias Buch »Giftküche«, ein Ratgeber über Gifte in Lebensmitteln, mit den Geschehnissen zu tun hat. Die drei beschließen, der Sache auf den Grund zu gehen, um zu verhindern, dass es weitere Opfer gibt. Zu allem Überfluss müssen sie sich auch noch mit einem Erpresser auseinandersetzen. Die Konfrontation mit ihm führt zu einer Katastrophe – und einer ungeahnten Wendung.
Gerd Kramer wurde 1950 in Husum an der Nordsee geboren, wo er seine Kindheit und Jugend verbrachte. Nach seinem Physikstudium in Kiel arbeitete er als Gutachter im Bereich Umweltschutz/Lärmschutz beim TÜV Rheinland in Köln. 1987 gründete er eine Firma, die sich mit der Entwicklung von Simulationssoftware und der Erstellung von Gutachten für den Umweltschutz beschäftigt. Inzwischen haben sich seine Interessen weitgehend auf das Schreiben von Kriminalromanen verlagert sowie auf das Komponieren von Liedern, die er zur Bereicherung seiner Lesungen vorträgt. Gerd Kramers Werke zeichnen sich besonders durch einen trockenen, typisch nordfriesischen Humor aus.
Personen und Handlung sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen
sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
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Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch
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Alle Rechte vorbehalten
Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt
Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung der Fotos von: © ANITA.photography / stock.adobe.com und VRD / stock.adobe.com und Photoillustrator / stock.adobe.com und Holger Schué / Pixabay und Gerd Altmann / Pixabay
ISBN 978-3-8392-7614-3
Hauptkommissar Erik Kruse stand auf dem Deich und observierte die drei Frauen. Dunkle Wolken waren aufgezogen, und leichter Nieselregen hatte eingesetzt. Das ungemütliche Wetter hatte die meisten Spaziergänger vertrieben. Aber die Frauen harrten aus. Ganz sicher führten sie etwas im Schilde.
Kruse hatte die Ermittlungen seines Kollegen Hirschberger mit Interesse verfolgt. Nachdem dieser auf tragische Weise tödlich verunglückt war, war Kruse befördert worden und hatte dessen Schreibtisch inklusive der meisten offenen Fälle geerbt. Hirschberger war bis zum Schluss überzeugt gewesen, dass die Frauen, und besonders Olivia Petersen, einen Haufen Dreck am Stecken hatten. Kruse teilte Hirschbergers Meinung. Und deshalb stand er auf dem Deich und beobachtete die drei.
Was suchten sie am Husumer Strand? Kruse hätte ein Fernglas mitnehmen sollen oder besser eine Kamera mit Teleobjektiv. Das Trio unterhielt sich lautstark, aber er konnte dem Gespräch nicht folgen. Nur ab und zu trug der Wind ein paar Wortfetzen herüber. Er verstand »Buch«, »begraben« und »Polizei«.
Plötzlich sah er, wie Flammen aufloderten und sich die Frauen um das Feuer gruppierten. Er wäre nicht verwundert gewesen, wenn sie einen Hexentanz aufgeführt oder irgendeinen Voodoo-Zauber zelebriert hätten. Denen war einfach alles zuzutrauen. Kruse hatte die Unterlagen seines Vorgängers gründlich studiert. Die Weiber waren mit allen Wassern gewaschen. Aber er wollte sie überführen, koste es, was es wolle. Er hatte sich fest vorgenommen, Hirschbergers Ermittlungen zum Abschluss zu bringen. Das war er seinem verstorbenen Kollegen schuldig, auch wenn der ihn nicht immer gut behandelt hatte. Wenn er ehrlich war, trieb ihn der Ehrgeiz an. Einen »Cold Case« zu lösen, brachte Anerkennung und bessere Aussichten auf weitere Beförderungen. Und sich ständig nur mit Ladendiebstählen, Einbrüchen und Betrügereien zu beschäftigen, war ganz einfach unter seinem Niveau.
Das Feuer brannte nur kurz. Als es erloschen war, bückten sich die Zielpersonen nach der Asche und trugen sie mit bloßen Händen Richtung Meer. Sie alberten dabei wie aufgebrachte Teenager, während der Wind die Hälfte des Materials über das Deichvorland verwehte. Dann schlugen sie den Weg Richtung Sperrwerk ein.
Kruse verließ seinen Posten und eilte den Deich hinunter. Unterwegs sammelte er einige Papierschnipsel auf. Als er die Feuerstelle erreichte, erbeutete er weitere unverkohlte Reste. Vorsichtig packte er sie in mehrere Plastiktüten, die er zur Sicherstellung von Beweisen stets bei sich trug. Mit einem Ast, den er im aufgespülten Strandgut fand, stocherte er noch eine Zeit lang in der Asche herum, fand aber nichts Verwertbares. Schließlich trat er den Heimweg mit dem befriedigenden Gefühl an, dass sich die Observierung der vergangenen Tage gelohnt hatte. Er hatte neue Beweismittel erbeutet. Welche Bedeutung sie für seine Ermittlungen haben würden, konnte er noch nicht abschätzen. Aber so war die Arbeit eines Kriminalkommissars: Stück für Stück sammelte man die Mosaikteile einer Tat, bis sie ein vollständiges Bild ergaben und die Handschellen klickten.
Die Fälle Olivia Petersen, Dörte Müller und Johanna Detlefsen galten als abgeschlossen, sodass Kruse nur inoffiziell ermitteln konnte. Sowieso war das Flensburger Kommissariat 1 für Tötungsdelikte zuständig und nicht die Husumer Polizei. Aber das hinderte Kruse nicht daran, eigene Untersuchungen anzustellen. Die Kollegen und der Dienststellenleiter durften von seinen heimlichen Ambitionen jedoch nichts wissen.
Vielleicht hätte er die Fälle längst gelöst, wenn nicht die Trennung von seiner Frau Karola dazwischengekommen wäre. Die stürzte ihn in eine tiefe Krise, die er nur mit psychologischer Hilfe und der Einnahme von Antidepressiva überwand. Erst im Frühjahr des folgenden Jahres fühlte er sich wieder in der Lage, die Ermittlungen fortzuführen. Der Antrieb, das Trio zur Strecke zu bringen, war durch den Scheidungskrieg, den er geführt hatte, nur noch stärker geworden. Manchmal verspürte er einen unbändigen Hass auf das weibliche Geschlecht. Jedenfalls auf eine gewisse Sorte von selbstbewussten Vertreterinnen mit Haaren auf den Zähnen.
Die Schlimmste war Olivia Petersen, Anfang 50, kurzes rotblondes Haar. Sie war etwas übergewichtig und hatte ein unangenehmes Mundwerk. Stets vermittelte sie ihm das Gefühl, dass sie ihn nicht ernst nahm und es darauf anlegte, ihn bei jeder sich bietenden Gelegenheit zu verspotten. Ihre etwa gleichaltrige Kumpanin Johanna Detlefsen war etwas umgänglicher. Sie hatte eine ähnliche Figur wie Petersen, trug halblanges braunes Haar und hatte eine leichte Höckernase. Und dann war da noch die zehn Jahre jüngere Blondine Dörte Müller. Sie konnte Kruse nur schwer einschätzen. Die Schöne verstand es zweifellos, Männer um den Finger zu wickeln. Nach allem, was er wusste, hatte sie es, wie die anderen, faustdick hinter den Ohren. Kruse ließ sich keinesfalls vom Äußeren seiner »Kundschaft« beeinflussen. Das wäre im höchsten Maß unprofessionell. Ebenso wenig wollte er sich von Gefühlen und Vorurteilen leiten lassen. Solide Polizeiarbeit war gefragt, um die drei Frauen zu überführen!
Das Schlafmittel würden die Forensiker bei der Obduktion vermutlich feststellen – falls diese durchgeführt wurde. Aber die Chancen standen gut, dass der Notarzt eine natürliche Todesursache attestierte. Mathias Ziegler hatte gelesen, dass jeder zweite Mord unentdeckt blieb. Wandte man seine Methode an, lag die Wahrscheinlichkeit dafür sicherlich bei deutlich über 50 Prozent. Genau genommen war es nicht seine Methode. Er hatte sie schließlich nicht erfunden. Außerdem war es kein Mord, was er vorhatte. Selbst, wenn man ihn erwischte, ging es maximal als fahrlässige Tötung durch. Im Grunde spielte es jedoch keine Rolle, wie der juristische Begriff für seine Tat lautete, denn ein Gerichtsverfahren würde es nicht geben.
Charlotte würde, wie jeden Donnerstag, gegen 18 Uhr vom Tennis nach Hause kommen. Und wie jeden Donnerstag kochte er für beide. Es sollte das letzte gemeinsame Mahl werden. Danach wollte er sich mit Isabell in das pralle Leben stürzen und endlich das Geld ausgeben, das völlig nutzlos auf der Bank lag und nicht einmal Zinsen brachte. Über zwei Millionen hatte Charlotte von ihren Eltern geerbt, Erlöse aus dem Verkauf von Immobilien in bester Lage und ein umfangreiches Aktienpaket. Aber sie geizte mit jedem Cent und arbeitete immer noch als Bürokraft bei einer Versicherung, obwohl sie es nicht mehr nötig hatte.
Nach ihrem Ableben hätte er endlich Zugriff auf das Vermögen. Er war sich sicher, dass sie noch nichts von seiner neuen Liebe ahnte. Aber das war nur eine Frage der Zeit. Eine unbedachte Äußerung oder ein Telefonat mit Isabell, das sie mitbekam, konnte ausreichen, um sie misstrauisch zu machen. Deshalb musste er handeln, bevor sie auf die Idee kam, das Testament zu ändern.
Den Job als Lagerleiter in der Holzgroßhandlung hatte er verloren. Die Firma war vor einem halben Jahr in Konkurs gegangen. Richtig zufrieden war er dort sowieso nicht gewesen. Zugegebenermaßen hatte er sich nur halbherzig um eine neue Stelle bemüht. Diese Vorstellungstermine empfand er als erniedrigend. Vielleicht würde er zukünftig nur noch das Vermögen verwalten oder sich selbstständig machen. Eine genaue Vorstellung hatte er jedoch nicht. Aber es gab unendlich viele Möglichkeiten. Und mit einem soliden finanziellen Polster im Rücken konnte kaum etwas schiefgehen.
Ziegler band sich die Schürze mit der Aufschrift »Hier kocht der Chef« um und begann, den Schnittlauch klein zu hacken. Das Menü sollte möglichst schmackhaft sein, damit sie ordentlich zulangte. Dieser Umstand forderte seine Kochkunst heraus. Die Mengenangaben hatte er sich auf einen Zettel geschrieben, ebenso wie die Seiten im Rezeptbuch. Giftküche hatte die Autorin es genannt. Ob sie wohl ahnte, wie treffend ihr Titel gewählt war? Ziegler grinste. Er war gut gelaunt. Bald würde sich sein Leben verändern. Isabell durfte natürlich nicht wissen, was er tat. Sie würde auch keine Fragen stellen. Obwohl sie erst ein Jahr zusammen waren, kannte er sie gut genug. Sie vertraute ihm und liebte ihn. Er würde ihr einen gewissen Luxus bieten können, von dem sie als Verkäuferin in einem Schuhgeschäft nur träumen konnte.
Ziegler nahm das große Schneidebrett, halbierte die Zucchini und schabte die Kerne mit einem Löffel heraus. Es sollte gefüllte Zucchini als Vorspeise geben. Für das Hauptgericht hatte er Schweinemedaillons mit Reis und Champignonsoße vorgesehen sowie einen Salat. Alles natürlich mit einigen speziellen Zutaten und Gewürzen.
Besonders der Smoothie hatte es in sich. Charlotte liebte Smoothies als Bestandteil einer gesunden Ernährung. Das eine oder andere Mal sammelte sie die Zutaten selbst. Da konnte es schon passieren, dass ein paar Blätter Kreuzkraut darunter waren. Die unreifen Tomaten würde sie bestimmt nicht herausschmecken. Das Kreuzkraut zu beschaffen, war nicht einfach gewesen. Aber es sollte angeblich sehr effektiv sein. Etwas davon würde er auch in den Salat mischen. Beim Auffüllen wollte er darauf achten, dass er selbst nicht zu viel davon erwischte. Es war nämlich vom Rucola kaum zu unterscheiden. Das hatte er gelesen, und tatsächlich hatte er große Mühe, einen Unterschied festzustellen.
Noch aß sie seine Gerichte mit Appetit. Wenn sie von seiner Affäre erfuhr, konnte sich das schlagartig ändern. Die Schlaftabletten hatte er im Smoothie aufgelöst. Das Gift im Essen benötigte Zeit, um zu wirken. Im besten Fall dämmerte sie dahin und wachte nicht wieder auf. Auf jeden Fall musste er verhindern, dass sie den Notarzt rief.
Trotz all der akribischen Vorbereitungen konnte sein Plan schiefgehen. Vielleicht reichten die Mengenangaben nicht aus, oder sie hatte keinen großen Hunger, wenn sie vom Tennis heimkam. Auch dass das Rezept doch nicht das hielt, was es versprach, war nicht ganz auszuschließen. Aber die Rezensionen auf der Darknet-Plattform klangen recht positiv, wobei sicher einige Fake-Einträge dabei waren. Sollte sein Vorhaben diesmal nicht klappen, ließ es sich mit einer anderen Rezeptur wiederholen. Jedenfalls, solang sie nicht argwöhnisch wurde.
Charlotte kam pünktlich und gab ihm einen Kuss auf die Wange. Sie verschwand nur kurz im Bad. Dann setzte sie sich an den gedeckten Tisch. Sonderbarerweise wirkte sie auf ihn an diesem Abend attraktiver als sonst. Sie hatte ihre blonden Haare zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden und war nur dezent geschminkt. Natürlich konnte sie Isabell nicht das Wasser reichen. Schließlich war Isabell mit ihren 33 ganze 15 Jahre jünger als sie.
»Wie lief es heute beim Tennis?« Ziegler füllte die Schweinemedaillons in die Glasschale, stellte sie auf den Tisch und setzte sich ebenfalls.
»Gut lief es. Alle waren da. Wir haben Doppel gespielt. Susanne und ich haben fast jeden Satz gewonnen.«
»Toll. Dann wirst du wohl mächtig Appetit haben, oder?«
»Klar. Ich hab einen Bärenhunger. Und deine Kreation sieht gut aus.«
Ziegler war es gar nicht recht, dass sie so freundlich war. Das erschwerte die Sache, und ihm kamen Bedenken. Aber ein Zurück gab es nicht mehr. Wie hätte er es auch begründen sollen, wenn er das Essen jetzt in den Mülleimer kippte. Er könnte einen Streit vom Zaun brechen. Genug Themen hatten sie ja. Etwa über den missratenen Sohn, der sein naturwissenschaftliches Studium abgebrochen hatte, oder über ihre Sparsamkeit, die ihm nicht einmal erlaubte, ein neues Auto anzuschaffen. Der alte Ford Focus hatte schon fast 200.000 Kilometer drauf und fiel bald auseinander. Einen schicken Sportwagen konnte er sich vorstellen. Aber darüber war mit ihr nicht zu reden, es sei denn, er wollte einen Streit heraufbeschwören. Dann könnte sie noch vor dem Essen aufstehen und in ihr Zimmer gehen. Das hatte sie bereits einmal getan, als es wieder Knatsch um das liebe Geld gegeben hatte. Bei jeder Gelegenheit ließ sie ihn seine finanzielle Abhängigkeit mit sadistischer Freude spüren. Aber damit war bald Schluss, auch wenn sie gerade sanft wie ein Lämmchen zu sein schien. Er war fest entschlossen, seinen Plan auszuführen.
»Und wie war dein Tag, Liebster?«, säuselte sie.
»Ich hab zwei Bewerbungen geschrieben und im Garten gearbeitet, Rasen gemäht und Unkraut gezupft.«
»Schön.«
Sie fragte nicht einmal, wo er sich beworben hatte. Charlotte interessierte sich nicht mehr für ihn. In ihren Augen war er sowieso ein Versager, der nichts auf die Reihe kriegte.
»Und natürlich hab ich gekocht. Ich hoffe, es wird dir schmecken.«
»Bestimmt.«
Ehe er sich versah, füllte sie Salat in seine Schüssel.
»Lass mal, das mach ich schon selbst«, winkte er ab. Aber es war zu spät. Selbst wenn es ihm gelungen wäre, das Kreuzkraut zu identifizieren, hätte er es schlecht aussortieren können. Dass sie etwas von seinem Anschlag ahnte, schloss er aus. Aber er musste vorsichtig sein.
Sie schien nichts bemerkt zu haben und aß mit großem Appetit. Er selbst hielt sich etwas zurück, gerade so weit, dass es nicht auffiel. Vermutlich würde ihm später übel werden. Aber die Wirkung der Gifte war vom Körpergewicht abhängig, und da hatte er einiges zu bieten. Außerdem trank er keine Smoothies. Er hatte das Zeug ein einziges Mal probiert und danach nie wieder angerührt. Es hatte einfach nur scheußlich geschmeckt. Vielleicht hatte es an der Rezeptur gelegen, oder seine Geschmacksnerven hatten in Erwartung, etwas besonders Gesundes zu sich zu nehmen, rebelliert. Der Drink, den er ihr heute nach dem Essen servieren würde, wäre ganz sicher nicht gesundheitsförderlich.
Noch während sie speiste, stellte sich bei ihr die erste Wirkung ein. Ihr sei unwohl, bemerkte sie, schob den Anflug von Übelkeit jedoch auf den Rotwein, dem sie reichlich zugesprochen hatte. Sie folgte seinem Rat, stattdessen Wasser und den Smoothie zu trinken.
»Der schmeckt etwas bitter«, meinte sie. »Was hast du da reingetan?«
Für einen Moment erschrak er, fing sich aber sofort wieder.
»Das Übliche. Feldsalat, Apfel, Banane, Avocado, Orangensaft und etwas Ingwer. Vielleicht ist es der Ingwer. Es könnte sein, dass ich etwas zu viel hineingegeben habe.«
Sie trank noch einen Schluck. »Hm, probier mal.« Sie schob das Glas zu ihm rüber.
»Du weißt doch, dass ich das Zeug nicht mag.«
»Du sollst ja auch nur probieren, damit ich nicht befürchten muss, dass du mich vergiften willst.« Sie lachte.
Er stimmte in ihr Lachen ein und griff nach dem Glas. Dann trank er einen kräftigen Schluck und zuckte mit den Schultern. »Schmeckt normal. Mein Ding ist das aber immer noch nicht.«
»Okay.« Sie nahm das Glas wieder entgegen und trank es aus.
Gegen 20 Uhr zog sie sich in ihr Zimmer zurück. Beide schliefen schon lange getrennt, angeblich weil sie sein Schnarchen störte. Dieser Umstand kam ihm nun zugute. Niemand würde Verdacht schöpfen, wenn er von ihrem Todeskampf nichts mitbekam.
Zieglers Magen rebellierte. Aber er machte sich darüber keine Sorgen. Sein Unwohlsein war eher ein gutes Zeichen.
Nach dem Tod ihres Mannes hatte Johanna ihren Traum verwirklicht und ein eigenes Unternehmen aufgebaut. Die Laube im Garten ihres Reihenhauses diente gleichzeitig als Firmenzentrale, Lager und Auslieferungszentrum. Dörte und Johanna waren später dazugestoßen. Unter anderem, um die Haftung zu beschränken, hatten sie eine GmbH gegründet. Offiziell war Johanna die alleinige Geschäftsführerin. Aber alle drei waren Teilhaberinnen und fassten wichtige Beschlüsse gemeinsam. Sie handelten mit Schlick aus der Nordsee. Mit dem nachwachsenden Rohstoff aus dem Meer lagen sie voll im ökologischen und gesundheitlichen Trend. Das Sediment half nicht nur gegen Arthrose, Rheuma und Muskelverspannungen, sondern auch gegen Hautkrankheiten wie Neurodermitis und Schuppenflechte.
Allerdings durften sie ihre Ware nicht als Heilmittel anbieten, weil dazu spezielle Genehmigungen nötig waren. Die zu erlangen, kostete Geld und erforderte einen langen Atem. Deshalb vertrieben sie den Stoff in Form von Souvenirs, in kleinen Dosen, etikettiert mit den Namen der Herkunftsorte – Norderhever, Lüttmoorsiel, Fuhlehörn, Rungholt oder Husum. Größere Mengen deklarierten sie als Wellness-Geschenkset, bestehend aus Schlick, Seegras, Meerwasser und einer Muschel. Wie die Kunden die Produkte verwendeten, blieb ihnen überlassen. Damit glaubten Johanna und ihre Mitstreiterinnen, die strengen behördlichen Auflagen umgehen zu können. Wie lange das gut ging, konnten sie nicht abschätzen. Johanna hatte bereits mit einem zuständigen Behördenvertreter Kontakt aufgenommen. Aber der Beamte hatte ellenlange Vorschriften und Auflagen zitiert, die für die Anerkennung als Heil- oder Arzneimittel beachtet werden mussten. Ohne Beistand eines Rechtsanwalts oder Steuerberaters würden sie nicht klarkommen. Außerdem scheuten sie die Kosten, die auf sie zukämen. Allein schon aus diesem Grund musste das Vorhaben warten, bis genug Geld in der Kasse war. Das Kapital, das sie gemeinsam für den Aufbau des Geschäfts vorgesehen hatten, war weitgehend aufgebraucht, und die Erlöse aus Olivias Buch fielen kaum ins Gewicht. Bald müssten sie weitere private Reserven angreifen. Dabei stand Olivia dank des Erbes, das ihr Mann hinterlassen hatte, noch relativ gut da.
Trotz der finanziellen Probleme waren alle drei unverändert von ihrem Geschäftsmodell überzeugt. Ihr Produkt war nachhaltig und umweltfreundlich. Der Schlick stand fast unbegrenzt zur Verfügung und bildete sich ständig neu. Auch das Seegras wuchs nach, und die Ernte in geringer Menge zeitigte keinerlei Umweltschäden. Und selbstverständlich beachteten die Frauen bei der Beschaffung des Materials die Schutzzonen des Wattenmeers.
Die Anwendung ihrer Produkte versprach nicht nur Heilung, sondern war auch frei von Nebenwirkungen. Ihr gesamtes Konzept schien stimmig und zukunftsweisend zu sein. Lediglich der wirtschaftliche Erfolg ließ auf sich warten.
Johanna, Dörte und Olivia saßen auf der Bank vor dem Gartenhaus und genossen ihre Frühstückspause bei Kaffee und belegten Brötchen. Die Sonnenstrahlen hatten sich den Weg durch den Morgendunst gebahnt, und es war bereits angenehm warm.
Johanna hätte sich beinahe verschluckt, als sie den Mann erblickte, der die Pforte öffnete und den Garten durchquerte. Sie stellte ihre Tasse auf der Lehne ab. »Verdammt, was will der Geldeintreiber hier?«
»Wer?« Olivia kniff die Augen zusammen und blinzelte gegen die Sonne.
»Der Glatzkopf, der im letzten Jahr unsere Hütte anzünden wollte.«
»Die Angelegenheit ist doch erledigt. Wahrscheinlich will er ein Wellness-Geschenk-Set für seine Freundin kaufen.«
Der Mann mit dem kahl geschorenen Schädel kam näher.
»Guten Morgen, die Damen. Sorry, dass ich hier so hereinplatze.«
Seine Höflichkeit irritierte Johanna. Sie lehnte sich zurück und schlug die Beine übereinander. »Was wollen Sie?«
»Äh – die Sache ist die – äh. Ich heiße Bastian und hab starkes Rheuma. Das liegt bei uns in der Familie. Meine Mutter hatte das auch. Und meine Großmutter ebenfalls, soviel ich weiß.«
»Das tut uns sehr leid.« Johanna konnte kaum fassen, wie der Kerl auftrat. Er wirkte unsicher und tat, als könne er kein Wässerchen trüben.
»Na ja. Nach meinem Besuch bei Ihnen im letzten Jahr waren meine Beschwerden für mehrere Monate wie weggeblasen.«
Johanna blickte zu Olivia und Dörte. Keine schien auch nur die geringste Ahnung zu haben, was der Mann im Schilde führte. Erst als er auffällig zu dem Weinfass blickte, das neben dem Gartenhaus stand, kapierte Johanna, worauf er anspielte.
»Das war eine miese Masche, mich in das Schlickfass zu stecken, aber sie hat mir geholfen. Ich fühlte mich danach so gut wie nie zuvor.«
Johanna erinnerte sich gern daran, wie ihr Freund Jason und seine Motorradkumpel den Geldeintreiber in das Fass gehievt hatten. Die Szene war einfach zu komisch gewesen. Und die Tat hatte die gewünschte Wirkung erzielt. Sowie offenbar eine unvorhersehbare heilende Nebenwirkung. So ganz abwegig war es nicht, dass ihm die Ganzkörperkur gutgetan hatte. Moor- und Schlammbäder waren gängige Therapiemethoden gegen Rheumabeschwerden. Auch Schlickbäder wurden an einigen Kurorten angeboten. Aber eine »Fasstherapie« gab es noch nicht. Im Geiste entwarf Johanna bereits ein Konzept für die Realisierung und Vermarktung. Eine neue, geniale Idee war geboren.
»Ich hab schon alles Mögliche ausprobiert. Nichts hat geholfen. Aber die zehn Minuten im Schlickfass haben es gebracht. Ich zahle auch gut, wenn wir das wiederholen könnten.«
»Das bedarf einiger Vorbereitungen«, sagte Olivia. »Das Material muss stimmen, die Zähigkeit sowie die Temperatur und Feuchte. Das ist ein aufwendiges Verfahren.«
»Ja, selbstverständlich. Das verstehe ich.«
Johanna zückte eine Visitenkarte. »Rufen Sie uns in zwei Wochen wieder an. Dann können wir Ihnen dazu Näheres mitteilen. Termine, Preise und so weiter.«
Bastian nahm die Visitenkarte entgegen. »Danke. Und – entschuldigen Sie bitte mein damaliges Auftreten. Ich hab den Job inzwischen gekündigt und arbeite jetzt bei einem Sicherheitsdienst.« Er verabschiedete sich und ging.
Als er außer Hörweite war, konnten die Frauen das Lachen nicht mehr unterdrücken.
»Was war das denn?« Olivia wischte sich Tränen aus den Augen.
»Das war nichts weniger als eine neue Geschäftsidee«, antwortete Johanna.
»Glaubt ihr wirklich?«, fragte Dörte.
»Klar. Daraus machen wir eine ganz exklusive Behandlungsmethode, revolutionär und natürlich teuer. Allerdings benötigen wir dafür viel Schlick.«
»Ach was! Wenn wir das Material aufbereiten, können wir es mehrfach verwenden«, sagte Olivia.
»Ihr wisst, dass wir damit wieder in den Bereich der Heil- und Arzneimittel geraten«, gab Dörte zu bedenken.
Johanna war Feuer und Flamme für die Idee. »Das Risiko für die Patienten dürfte gleich null sein. Und wir machen das ja zunächst einmal nur in kleinem Stil. Langfristig kommen wir allerdings nicht drum herum, uns um eine Zulassung zu bemühen. Sobald unsere Geschäftsidee bekannt wird, werden Presse, Rundfunk und Fernsehen uns die Bude einrennen und kostenlose Werbung für uns machen. Glaubt mir, das wird ein Selbstläufer.«
Nicht zum ersten Mal dachte Johanna in solchen Situationen an ihren verstorbenen Mann Rüdiger und wünschte sich, er könnte von oben zusehen, wie sie endlich mit 55 voller Tatendrang ihren Traum von der Selbstständigkeit realisierte. Er hatte jede ihrer Eigeninitiativen im Keim erstickt. Oft ging der Streit um das Geld, das sie dafür benötigte. Manchmal hatte er ihre Pläne auch einfach ohne Begründung ins Lächerliche gezogen und sich jeder Diskussion darüber verweigert. Irgendwann hatte sie ihre Ideen für sich behalten, um sich vor Enttäuschungen zu schützen. Das verrückteste Vorhaben von allen, den Handel mit Schlick, hatte sie nach seinem Tod zusammen mit ihren Freundinnen umgesetzt. Es wäre ihr eine Genugtuung gewesen, hätte er das miterleben können. Doch sie war zu feige gewesen, sich über ihn hinwegzusetzen. Stattdessen hatte sie den Mut aufgebracht, ihm ein tödliches Menü zu servieren. Das war widersprüchlich, und manchmal bereute sie die Tat. Aber ihr Leben hatte eine positive Wende genommen, und Rüdigers Asche ruhte in Frieden im Ostenfelder Ruheforst. Was geschehen war, war geschehen und ließ sich nicht mehr ändern. Also versuchte sie, für sich das Beste daraus zu machen.
»Wo bist du mit deinen Gedanken?«, fragte Olivia.
»Bei unserer neuen Geschäftsidee natürlich. Die wird der Renner, sag ich euch. Die Aufbereitung wird das größte Problem sein. Dafür brauchen wir Gerätschaften, die das Material erhitzen und sterilisieren. Etwas Geld aus Rüdigers Aktiengeschäften steht noch zur Verfügung. Aber das wird nicht reichen.«
»Dann müssen wir eben einen Kredit bei der Bank aufnehmen.«
»Ohne Sicherheiten kriegen wir keinen Cent. Und wenn wir unser Geschäftskonzept vorlegen, werden die Banker sofort nach den erforderlichen Genehmigungen fragen. Da beißt sich die Katze in den Schwanz. Außerdem fehlt denen die notwendige Fantasie, um unser Vorhaben zu verstehen. Alle Verantwortlichen in meiner Bank sind nämlich Männer. Die werden uns für verrückt halten.«
»Ein bisschen sind wir das ja auch.« Dörte schmunzelte.
»Ich könnte eine Hypothek auf das Haus aufnehmen«, sagte Olivia.
Johanna schüttelte den Kopf. »Nein, das kommt gar nicht infrage. Wir finden schon einen anderen Weg. Wir besorgen uns zunächst einmal zwei weitere Fässer, füllen sie mit Schlick und testen das Verfahren. Einen Kunden haben wir ja schon. Wenn die Sache gut läuft, sehen wir weiter. Okay?«
Dörte und Olivia willigten ein.
Seit dem Tod ihres Mannes wohnte Olivia alleine mit ihrer Katze im zweieinhalbstöckigen Haus, nicht weit vom Schloss vor Husum entfernt, das seinen Namen erhalten hatte, weil es vor der Stadtgrenze erbaut worden war. Inzwischen lag es in Zentrumsnähe. Das Schloss vor Husum war der einzige erhaltene Schlossbau an der schleswig-holsteinischen Nordseeküste. Es war von einem Wassergraben und einem Park umgeben, in dem im Frühjahr über vier Millionen Krokusse blühten.
Meistens benutzte Olivia nur die beiden oberen Etagen ihres Hauses und hielt das Erdgeschoss für die wenigen Besuche ihres Sohnes frei, der in München Jura studierte.
Sie hatte ihre Katze Luna gefüttert und saß am Frühstückstisch, als das Telefon klingelte. Sie nahm das Mobilteil, das vor ihr auf dem Esszimmertisch lag, in die Hand und drückte auf die grüne Taste. Der Anrufer meldete sich mit Jürgen Ziegler.
»Entschuldigen Sie die Störung zu früher Stunde«, begann er. »Sie sind die Schriftstellerin Olivia Peters?«
»Autorin würde ich mich eher nennen.«
»Aber Sie haben das Buch Giftküche geschrieben, nicht wahr?«
»Ja, hab ich.«
Olivia vermutete am anderen Ende der Leitung einen Fan. Immerhin hatten sich bereits einige Leser per E-Mail bei ihr gemeldet und ihre Begeisterung über das Buch ausgedrückt. Genau genommen waren es zwei gewesen. Einen Jürgen Ziegler kannte sie nicht.
»Ich würde gerne mit Ihnen reden.«
»Über mein Buch?«
»Ja. Und über etwas anderes.«
»Okay. Schießen Sie los.«
»Nicht am Telefon. Die Angelegenheit ist heikel. Es geht um einen Mord.«
Olivia glaubte für einen Moment, sie hätte sich verhört. Doch das Wort »Mord« klang ihr in den Ohren nach und weckte Assoziationen mit Ereignissen im letzten Sommer.
»Sind Sie noch da?«, fragte Ziegler.
»Äh – ja. Ich verstehe nur nicht, was – sind Sie von der Polizei?«
»Nein, nein. Wie gesagt, ist die Sache etwas delikat. Deshalb möchte ich sie Ihnen nicht am Telefon erläutern.«
Olivia versuchte stets, sich einen unbekannten Gesprächspartner vorzustellen und sich ein Bild von seinem Charakter und Äußeren zu machen. Manchmal lag sie völlig daneben, oft aber auch richtig. In diesem Fall schätzte sie ihn auf Mitte 20, groß und schlank bis hager. Ein zurückhaltender Typ mit Dreitagebart und Brille. Sie hätte ihn ganz einfach abwimmeln können. Aber sie war neugierig geworden und wollte erfahren, worum es ging.
»Gut, kommen Sie um 18 Uhr zu mir. Sie wissen, wo ich wohne?«
»Ja. Danke. Ich werde pünktlich sein.«
Am Abend war Olivia mit Johanna und Dörte verabredet. Anders als bei ihren bisherigen Zusammenkünften sollte das Treffen nicht im Café, sondern bei ihr zu Hause stattfinden. Zu dritt konnten sie den Fremden gefahrlos empfangen.
Olivia saß noch minutenlang am Esstisch und dachte über das Gespräch nach. Dann rief sie Johanna und Dörte an, um sie vorzuwarnen.
Die beiden Frauen trafen um 17.30 Uhr ein. Es gab Berufliches und Privates zu besprechen. Die Geschäfte mit dem Schlick liefen zufriedenstellend. Doch immer noch fehlte die Zulassung als Arzneimittel. Ihr Trick, die Produkte nicht als Heilmittel, sondern als Souvenirs anzubieten, würde nicht mehr lange gut gehen. Deshalb hatten sie sich entschieden, endlich die entsprechenden Anträge bei den Behörden zu stellen. Aber der Amtsschimmel wieherte laut und machte ihnen bereits jetzt das Leben schwer. Sie hatten gerade eines der vielen Formulare ausgefüllt, als der Besucher eintraf. Jürgen Ziegler entsprach ziemlich genau Olivias Einschätzung, wenngleich er keine Brille trug und glatt rasiert war.
Sie führte ihn die Holztreppe hinauf in das obere Wohnzimmer. Er zeigte sich überrascht, als er dort auf Dörte und Johanna traf, die sich auf der Couch niedergelassen hatten.
»Sie haben Besuch?«
»Enge Freundinnen. Dörte Müller und Johanna Detlefsen.«
»Aber …«
»Ich hab keine Geheimnisse vor ihnen.«
Ziegler nickte.
»Nehmen Sie bitte hier Platz.« Olivia zeigte auf einen der beiden Sessel.
Ziegler setzte sich und stellte die mitgebrachte Ledertasche auf dem Boden ab.
»Es ist noch Kaffee da. Möchten Sie?«
»Nein, danke. Einen Schluck Wasser vielleicht.«
Olivia füllte Sprudel in ein Glas und überreichte es Ziegler. Dann nahm sie ebenfalls Platz. Alle Augen ruhten gespannt auf dem jungen Gast. Nachdem er einen Schluck getrunken hatte, griff er zur Tasche, brachte ein Exemplar von Olivias Buch zum Vorschein und legte es auf den Tisch.
»Mein Vater hat dafür ein Zehntel Bitcoin bezahlt.«
»Unglaublich. So billig wird mein Buch verramscht? Das ist eine Sauerei.«
»Ein Bitcoin kostete zur Zeit des Kaufs etwa 30.000 Euro.«
Olivia blieb der Mund offen stehen. »Dann hat er 3.000 Euro dafür bezahlt?«
Dörte beugte sich vor. »Kann mir mal jemand erklären, was ein Bitcoin ist?«
»Eine Kryptowährung«, antwortete Ziegler.
»Ach so.« Dörte lehnte sich wieder zurück.
Johanna sah Dörte fragend an.
»Die digitale Währung wird oft für dunkle Geschäfte genutzt. Aber natürlich ist sie auch ein solides Zahlungsmittel.«
»Wer gibt so viel Geld für mein Werk aus, obwohl man es in jedem Buchladen für 22 Euro kaufen kann?«
»Das ist der Punkt, der mich stutzig gemacht hat. Irgendetwas Besonderes muss dieses Exemplar auszeichnen.« Er tippte mit dem Zeigefinger auf das Hardcover. »Aber ich hab bisher nicht herausgefunden, was es sein könnte.«
»Darf ich?« Olivia nahm das Buch in die Hand und blätterte darin. Doch auch sie konnte nichts Ungewöhnliches feststellen. Schließlich stand sie auf, ging zur Schrankwand und kam mit einem ihrer Freiexemplare zurück, die ihr der Verlag zur Verfügung gestellt hatte. Auch im direkten Vergleich konnte sie keine Unterschiede erkennen, weder im Text noch in den Abbildungen.
»Sehr merkwürdig. Aber es gibt sicher einen anderen Grund für Ihren Besuch. Am Telefon sprachen Sie von einem Mord. Oder hab ich mich verhört?«
Ziegler blickte unsicher in die Runde. »Es ist nur ein Verdacht. Aber ich glaube, dass mein Vater meine Mutter umgebracht hat.«
Für einen Moment herrschte Stille, und die Spannung im Raum stieg spürbar an.
Er wandte sich an Olivia. »Und ich bin überzeugt, dass Ihr Buch mit dem Tod meiner Mutter zu tun hat.«
»Sie machen Witze«, sagte sie, obwohl sie wusste, dass Ziegler es ernst meinte. Und über einen Mord an der eigenen Mutter zu witzeln, wäre mehr als makaber gewesen.
»Mein Vater hat am Vorabend ihres Todes gekocht. Ich glaube, dass er Informationen aus Ihrer Giftküche verwendet hat, um sie zu töten. Er hat nach meiner Überzeugung ein Menü mit giftigen Zutaten zubereitet.«
Olivia schüttelte entsetzt den Kopf. »Das ist doch kompletter Unsinn!«
Sie hatte die Wahl des Titels immer schon für einen Fehler gehalten. Doch der Verlag hatte darauf bestanden und sie mehr oder weniger überzeugt. Jetzt erschien der Titel in einem neuen Licht. Die Intention des Inhalts, vor den Gefahren in Lebensmitteln zu warnen, hatte sich ins Gegenteil verkehrt. Das war absurd. Allerdings hatten auch die drei Frauen versucht, ihre Männer mehr oder weniger erfolgreich auf die gleiche »sanfte« Weise ins Jenseits zu befördern. Olivia blickte zu ihren Freundinnen hinüber. Johanna schloss die Augen, und Dörte verbarg ihr Gesicht in den Händen. Olivia hörte im Geiste schon Johannas Worte: »Gott straft uns für unsere Taten.« Johanna war keinesfalls streng gläubig, aber doch ein bisschen. Dass ein Allmächtiger über die Welt wachte, die Guten belohnte und die Bösen bestrafte, schloss sie nicht aus. Und seit dem Tod ihres Mannes zählte sie sich offensichtlich zu den Bösen.
»Meine Veröffentlichung diente dazu, Menschen vor gefährlicher Nahrung zu schützen, und nicht, jemanden zu vergiften«, sagte Olivia. »Wie erklären Sie sich, dass Ihr Vater eine so hohe Summe für das Buch ausgegeben hat, obwohl es überall für einen Bruchteil zu kaufen ist?«
»Ich hatte gehofft, dass Sie mir weiterhelfen könnten. Ich hab die Bestellung auf seinem Laptop gefunden. Er hatte ihn mir gegeben, weil er sich einen Virus eingefangen hatte, den ich beseitigen sollte. Die Bestellung habe ich nur durch Zufall entdeckt.«
»Dann wissen Sie auch, wer die Ware versandt hat?«
»Nein, das ließ sich leider nicht zurückverfolgen.«
»Haben Sie Ihren Vater um Aufklärung gebeten?«
»Nein. Er darf nichts von meinem Verdacht wissen. Das würde unser sowieso schon ziemlich angeknackstes Verhältnis endgültig zerstören. Ich kann doch meinen Vater nicht ohne Beweise des Mordes bezichtigen.«
Olivia nickte. Sie begann erneut, in Zieglers und anschließend in ihrem Buchexemplar zu blättern. Dann schob sie ihres zu ihm hinüber. Er bemerkte den Tausch offenbar nicht, obwohl seines bereits an einigen Stellen etwas abgegriffen war.
»Ich kann nicht zur Polizei gehen, doch ich möchte die Wahrheit herausfinden.«
»Das ist verständlich. Aber wie können wir Ihnen dabei helfen?«
»Vielleicht weiß Ihr Verlag etwas. Wenn beim Verlag eine größere Order für Ihr Buch eingegangen ist, könnte das eine Spur sein.«
»Hm. Der Verlag wird mir keine Auskunft geben. Trotzdem werde ich mal sehen, was sich machen lässt. Aber ich denke, dass Sie sich in etwas verrannt haben, Herr Ziegler.«
»Nein. Ich habe herausgefunden, dass mein Vater ein Verhältnis mit einer jüngeren Frau hat.«
»In einem solchen Fall trennt man sich oder lässt sich scheiden.«
»Das ganze Vermögen hat meine Mutter von ihren Eltern geerbt. Mein Vater wäre im Falle einer Scheidung weitgehend leer ausgegangen.«
Olivia räusperte sich. »Ja, so etwas ist allerdings ein Motiv. Wir, meine Partnerinnen und ich, werden zunächst einmal versuchen, das Mysterium mit den Coins beziehungsweise dem hohen Preis für das Buch zu lösen.«
»Bitcoins.«
»Ja, natürlich. Bitcoins.«
Ziegler packte das Buch in seine Aktentasche. »Rufen Sie mich an, wenn Sie etwas Neues erfahren? Meine Nummer müsste in Ihrem Telefonspeicher sein.«
»Ich werde mich melden«, versprach Olivia.
»Danke.« Ziegler stand auf.
Sie begleitete ihn bis zur Haustür. Als sie zurückkam, unterhielten sich Dörte und Johanna aufgeregt.
»Ich hab schon immer meine Bedenken gehabt, so ein Buch zu veröffentlichen«, sagte Johanna gerade.
»Ach! Aber dass ich meine Tantiemen für unsere Firma verwende, damit warst du einverstanden. Oder wie soll ich das verstehen?«
»Sorry. Ich hab nicht bemerkt, dass du reingekommen bist.«
Olivia setzte sich. »Es ist doch sowieso Quatsch, dass jemand meine Ausführungen als Anleitung zum Morden verwendet. Mein Buch soll die Leute vor Giften und Schadstoffen warnen.«
»Das ist uns klar. Wir verstehen das natürlich. Deine Absicht schließt jedoch nicht aus, dass dein Ratgeber missbraucht wird.«
»Aber es enthält keine Rezepte und auch nur an wenigen Stellen Mengenangaben, die gefährlich werden könnten.«
Dörte beendete die Diskussion mit den Worten: »Stellt euch vor, jedes Druckwerk würde 3.000 Euro einbringen. Dann wären wir in Nullkommanichts Millionärinnen.«
Johanna grinste. »Nette Vorstellung. Von der Seite hab ich das Ganze noch gar nicht betrachtet.«
Sie nahm Zieglers Exemplar vom Tisch. »Ich hab beobachtet, wie du die Bücher vertauscht hast, Olivia. Ziegler hat wohl nichts bemerkt.«
»Ich wollte halt in Ruhe nachforschen, was an seiner Version Besonderes ist.«
Johanna klappte das Buch auf und schüttelte es ein wenig, sodass sich die Seiten ordneten. »Hier hat Zieglers Vater vermutlich intensiv gelesen. Auf dem Papier ist sogar ein kleiner Fleck zu sehen. Ich lese mal vor: Tomaten. Unreife Tomaten sind nicht zum Verzehr geeignet, denn sie enthalten das Gift Solanin, das manchmal auch als Tomatin bezeichnet wird. Bereits 200 Gramm des unreifen Nachtschattengewächses können bei einem Erwachsenen zum Tode führen. In geringeren Mengen treten Symptome wie Bauchschmerzen, Fieber, Durchfall und Erbrechen auf. Beachten Sie, dass das Solanin sehr beständig ist und auch nicht durch Erhitzen abgebaut wird …«
»Schon gut, schon gut. Ich kenne meinen Text.«
Johanna schlug eine weitere Seite auf. »Rucola. Rucola ähnelt dem hochgiftigen Kreuzkraut, sodass die Gefahr der Verwechslung besteht. Das Jakobskraut, Senecio jacobaea, enthält Giftstoffe aus der Gruppe der Pyrrolizidinalkaloide, die die Leber schädigen …«
»Okay, okay. Man kann meinen Ratgeber missbrauchen. Trotzdem kann man daraus nicht so einfach ein tödliches Menü zaubern. Dazu gehört medizinisches und kulinarisches Fachwissen.«
»Wahrscheinlich reichen Informationen aus dem Internet aus. Tatsache ist, dass Zieglers Vater offenbar die Seiten, aus denen ich gerade zitiert habe, aufgeschlagen und besonders studiert hat.« Johanna blätterte weiter. »Ebenso eine über Zucchini und Muskatnuss. Oder hier über Maniok: Maniok ist eine exotische Kartoffel, die unter anderem in Südamerika, Asien und Afrika angebaut wird. Der zähflüssige, milchige Pflanzensaft enthält in den Blättern und Wurzeln das Gift Linamarin, das in Verbindung mit dem Enzym Linase Blausäure freisetzt. Deshalb sollte man Maniok niemals roh verkosten.«
Olivia schwieg.
Nun mischte sich Dörte ein. »Zieglers Vater hat 3.000 Euro für das Buch bezahlt. Daraus schließe ich, dass das Exemplar eine Besonderheit haben muss, die nicht auf den ersten Blick zu erkennen ist.«
»Deine Schlussfolgerung ist gar nicht so dumm«, sagte Olivia.
»Glaubst du, ich kann nicht logisch denken? Nur, weil ich blond bin?«
»Quatsch. Sei doch nicht immer so empfindlich.«
Johanna schlug die Giftküche zu und legte sie auf den Tisch zurück. »Du solltest den Verlag bitten, das Buch nicht mehr herauszugeben, Olivia.«
»Damit wäre das Problem nicht gelöst. Wer weiß, wie viele noch im Handel sind. Ich mag mir gar nicht vorstellen, dass bereits jetzt weitere Mörder mein Werk für ihre Taten benutzen.«
»Was willst du tun?«
»Wenn Dörte recht hat, kauft jemand Exemplare auf, verändert sie wie auch immer und verkauft sie teuer an Leute, die jemanden auf diskrete Art beseitigen wollen.«
»Das klingt ziemlich abgefahren.«
»Stimmt. Aber das ist meine einzige Erklärung. Wir müssen den Anbieter finden und stoppen.«
»Wir?« Dörte schüttelte den Kopf.
»Ihr müsst nicht mitmachen. Aber ich will wissen, was da abläuft. Wir können nicht einfach tatenlos zusehen, wie Unschuldige zu Tode kommen.«
»Ich bin mit von der Partie.« Johanna sah Dörte an. »Und du?«
Dörtes Antwort ließ auf sich warten. Schließlich rang sie sich ein »Okay« ab.
Johanna klopfte Dörte auf die Schulter. »Prima. Also müssen wir als Erstes herausbekommen, wer hinter der ganzen Sache steckt.«
Olivia nickte. »Wir könnten einen Detektiv beauftragen.«