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Axel Brink und sein Partner Stefan Herzog sind Geschäftsführer einer Firma, die 4-D-Drucker entwickelt. Eines Tages entdeckt Brink eine handtellergroße Spinne im Laborraum. Zunächst glaubt er, es handele sich um eingeschlepptes, exotisches Tier. Doch es besitzt ungewöhnliche Eigenschaften. Es kann sich verkleinern und einen Menschen mit einem Stromschlag töten. Bald taucht der Verdacht auf, dass die Riesenspinne ein Roboter sein könnte. Brink, dessen Schwester Najda und der Physiker Markus Fischer versuchen, das Geheimnis zu lüften. Doch die Sache läuft ihnen aus dem Ruder, als sie feststellen, dass es hunderte Exemplare gibt. Sie sind intelligent und verfolgen einen Plan. Doch was haben sie vor? Und wie lassen sie sich stoppen?
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Seitenzahl: 329
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Axel Brink stand vor dem Bildschirm und betrachtete die Grafik, die den Fortschritt des Jobs anzeigte. Wenn keine Probleme auftraten, wäre das Objekt in etwa einer halben Stunde fertiggestellt. Anschließend sollte der gleiche Vorgang bei doppelter und schließlich bei vierfacher Geschwindigkeit wiederholt werden. Verliefen alle Versuche nach Plan, konnte der neue 4-D-Drucker Anfang nächsten Jahres in Serie gehen. Aber die Erfahrungen der Vergangenheit hatten gezeigt, dass stets irgendwelche unvorhersehbaren Probleme auftraten, die den Zeitplan durcheinanderwarfen.
Brink wandte sich zum Gehen. Dabei fiel sein Blick auf den Tisch neben ihm. Auf der hellen Oberfläche zeichneten sich Konturen ab, die seinen Atem zum Stillstand brachten. Erst Sekunden später begriff er, was er sah: eine Spinne, pechschwarz, größer als eine Hand. Sie starrte ihn an. Er war überzeugt, dass sie ihn mit ihren blutroten Augen fixierte. Aber sie bewegte sich nicht. War sie tot, oder hatte gar jemand eine Attrappe dort platziert, um ihn zu erschrecken? Lebendig oder tot, echt oder unecht. Brink fühlte die Gänsehaut auf seinen Armen, und Angst und Ekel lähmten ihn. Seine Schwester hätte vermutlich kein Problem damit gehabt, das Tier an einem der acht behaarten Beine zu fassen und nach draußen zu befördern. Als Biologin war sie in der Hinsicht klar im Vorteil. Aber vor dem riesigen Exemplar hätte vielleicht auch sie Respekt gehabt.
Brinks erster Impuls war, auf der Stelle die Flucht anzutreten. Aber die Spinne hatte ihn auf unerklärliche Weise in ihren Bann gezogen. Irgendetwas an ihr stimmte nicht. Abgesehen von ihrer Größe sah sie ein wenig zu perfekt aus, um echt zu sein. Für einen Moment dachte er, es tatsächlich mit einer Attrappe zu tun zu haben, und der Ekel ließ nach. Er wagte einen Schritt in ihre Richtung, um im nächsten Augenblick zurückzuschrecken. Sie hatte sich bewegt! Sie war sogar auf ihn zugekrabbelt, als wollte sie ihn angreifen. Am Tischrand hielt sie inne. Er ging einen Schritt rückwärts. Selbst wenn sie wie eine dieser Springspinnen springen könnte, würde sie ihn nicht erreichen.
Er nahm sein Smartphone aus der Gesäßtasche, ohne den Blick von dem Monster zu wenden. Bevor er es – wie auch immer – wegschaffte, wollte er es fotografieren, allein, damit niemand seinen Bericht über die Riesenspinne anzweifeln konnte, falls sie echt war und es ihm nicht gelang, sie einzufangen.
Brink ging um den Tisch herum, um eine passende Position für die Aufnahme zu suchen. Er war sich fast sicher, dass die Augen ihn verfolgten. Nur mit Mühe gelang es ihm, den gewünschten Ausschnitt einzustellen, fast so, als würde er die Fotofunktion das erste Mal benutzen. Mit zittriger Hand drückte er auf den Auslöser. Dann steckte er das Gerät wieder in die Hosentasche und tastete hinter sich nach dem Türgriff. Sekunden später stand er im Flur und atmete tief durch.
„Was ist dir denn über die Leber gelaufen?“, fragte Stefan Herzog. „Dein Gesicht ist weiß wie eine Wand.“
„Äh – eine Spinne. Da drinnen.“
Herzog lachte. „Eine Spinne? Du bist ein echter Held.“
„So ein riesiges Exemplar hast du noch nicht gesehen.“ Brink versuchte, seiner Stimme einen gleichgültigen Ausdruck zu verleihen.
„Hast du sie plattgemacht?“
„Nee. Ich werde mal ein Gefäß besorgen. Vielleicht kannst du …“
„Okay. Beeil dich. Ich hab noch etwas anderes zu tun, als Spinnen zu fangen. Das Angebot an die Australier muss heute noch raus. Die wollen vier Stück vom Modell C1 bestellen.“
„Bin gleich wieder da.“
Brink eilte den Flur entlang und öffnete die Stahltür zur Werkstatt. Dort fand er, was er suchte. Nach wenigen Minuten kam er mit einem Glaszylinder und einem passenden Deckel zurück.
Stefan hatte nicht im Flur auf ihn gewartet. Brink öffnete die Tür zum Druckerraum, das Gefäß unter den Arm geklemmt. Als er den Raum betrat, fixierte er sofort die Stelle auf dem Tisch, an der er die Spinne gesehen hatte. Das Tier war verschwunden. Aus den Augenwinkeln heraus sah er etwas am Boden liegen. Der Glaszylinder entglitt ihm und fiel scheppernd auf die Steinfliesen. Sein Freund und Partner lag regungslos zwischen den Chemiefässern. Brink zog ihn an den Füßen hervor und kniete sich neben ihm nieder. Er erwischte sich dabei, dass er eine Sekunde lang nach der Spinne Ausschau hielt, als glaubte er, sie hätte den Kollegen angegriffen, und er selbst könnte das nächste Opfer sein.
Brink griff nach seinem Handy, wählte die 112. Hektisch gab er die Adresse durch, kümmerte sich aber nicht um die Fragen und Anweisungen des Gesprächsteilnehmers, sondern ließ das Gerät fallen und begann mit der Herzdruckmassage. Den Brustkorb hundertmal pro Minute fünf Zentimeter eindrücken! Hundertmal, wie nach dem Takt des Liedes „Stayin’ Alive“, das hatte er irgendwo gelesen. Wie war die Melodie, der Takt? Tausendmal gehört, aber gerade jetzt konnte er sich nicht erinnern. Er legte die Hände übereinander und drückte fest zu. Er glaubte, ein Knacken zu hören. Vielleicht hatte er seinem Freund eine Rippe gebrochen. Schweißperlen bildeten sich auf seiner Stirn. Wo blieb der Notarzt?
„Verdammt! Stefan, wach auf!“, schrie er.
Aber Stefan Herzog war tot.
Fast gleichzeitig mit dem Rettungswagen trafen ein Streifenwagen und der Notarzt ein. Dieser diagnostizierte zunächst Herzversagen, kreuzte aber nach eingehender Untersuchung „unklare Todesursache“ im Formular an, was zwangsläufig die Kriminalpolizei auf den Plan rief.
Noch am selben Tag erschien Hauptkommissar Graf, ein auffallend kleiner Mann mit graumelierten, dunkelblonden Haaren und einem Schnäuzer.
„Sind Sie in Ordnung?“, fragte er, nachdem beide in Brinks Büro Platz genommen hatten. „Können Sie mir erzählen, was passiert ist?“
Brink nickte. Obwohl er kaum in der Lage war, klar zu denken, versuchte er, den Vorfall, so gut er konnte, zu schildern. Der Kommissar hörte zu, ohne ihn zu unterbrechen.
„Herr Herzog war Ihr Partner?“, fragte er.
„Ja. Er hat sich in letzter Zeit hauptsächlich um den Vertrieb und andere geschäftliche Dinge gekümmert.“ Brink seufzte.
„Was produziert Ihre Firma?“
„Wir entwickeln 4-D-Drucker, passen sie den Bedürfnissen unserer Kunden an und verkaufen sie in kleinen Stückzahlen.“
„Wie viele Mitarbeiter haben Sie?“
„Zwei Vollzeitkräfte in der Werkstatt und eine Aushilfe, die den Bürokram erledigt. Aber in unserer Produktion im Industriegebiet beschäftigen wir weitere acht Vollzeitkräfte. Stefan und ich haben die Firma direkt nach dem Studium gegründet. Das notwendige Kapital haben wir über Crowdfunding eingesammelt.“
„3-D-Drucker sind mir ein Begriff. Aber 4-D-Drucker?“ Graf zuckte mit den Schultern.
„Mit der Methode können wir sich selbst verformende Objekte herstellen. Sie sind aus unterschiedlichen Materialien zusammengesetzt und reagieren auf Umwelteinflüsse, wie Feuchtigkeit, Vibrationen, Schall, Wärme oder Licht. Sich selbst anpassende Textilien wären ein Beispiel, aber auch Autoreifen, deren Profil von den Temperatur- und Straßenverhältnissen abhängt. Mit der vierten Dimension ist die Zeit gemeint, in der solche Veränderungen erfolgen. Man kann mit ähnlicher Technik sogar organisches Material wie Augenzellen, Haut und ganze Herzklappen herstellen. Aber das fällt unter den Begriff ‚Bioprinting‘. Damit beschäftigen wir uns nicht.“
„Eine Spinne könnten Sie also nicht erschaffen?“ Graf grinste.
„Nein. Ich würde jetzt gerne gehen. Der Tod meines Freundes hat mich tief getroffen, und zum Scherzen bin ich nicht aufgelegt“, antwortete Brink verärgert.
Der Hauptkommissar nickte, was offenbar eine Entschuldigung ausdrücken sollte. „Wir haben den Raum abgesucht, aber keine Spinne gefunden.“
„Dann muss sie entkommen sein. Durch den Türschlitz oder den Lüftungsschacht.“
„Sind Sie ganz sicher …?“
„Sie ist da gewesen! Ich hab sogar ein Foto.“ Brink zückte sein Smartphone und zeigte dem Kommissar das Bild.
„Wirklich ein besonders großes und ekliges Exemplar, das vermutlich auch mir einen Schreck eingejagt hätte. Wissen Sie, ob Ihr Partner gesundheitliche Probleme hatte?“
„Soweit ich weiß, war er kerngesund. Im letzten Jahr hat er sogar an einem Marathonlauf teilgenommen.“
„Gut. Dann sind wir vorerst fertig. Den Druckerraum werden wir versiegeln. Niemand darf hinein. Falls keine natürliche Todesursache vorliegt, wird die Spurensicherung hier tätig werden. Die Angehörigen des Toten müssen benachrichtigt werden. Hatte er Familie?“
„Nur seine Eltern. Ich kann Ihnen die Adresse geben.“
Brink konnte an diesem Abend nicht alleine sein. Er fuhr zu seiner Schwester, die nach ihrer Scheidung vor zwei Jahren vom Festland auf die Insel zurückgekehrt war und nur wenige Kilometer entfernt in einer Wohnung im Süden der Stadt wohnte. Sie war wesentlich älter als er und hatte bereits eine erwachsene Tochter, die in den USA studierte. Am Telefon hatte er nur Andeutungen gemacht. Die „große“ Schwester sah ihm sofort an, dass etwas Gravierendes passiert war.
„Was ist los, Axel?“, fragte sie besorgt.
„Stefan ist tot.“
„Was?! Das ist ja … Was ist passiert?“
„Ich weiß nicht. Da war eine Spinne.“ Er ließ sich auf die Couch fallen.
Nadja setzte sich neben ihn und ergriff seine Hand. „Du zitterst ja. Was ist mit der Spinne? Ich verstehe nicht.“
„Sie war im Labor, dort, wo unser neuer Prototyp steht.“ Er zog sein Smartphone aus der Tasche und zeigte ihr das Foto, das er geschossen hatte. „Im Bild ist ein Notizblock zu sehen. Der hat eine Seitenlänge von zehn Zentimetern. Daran kannst du erkennen, wie gigantisch das Viech ist.“ Brink schüttelte sich.
„Vogelspinnen können so groß werden. Aber die sehen anders aus. Solch ein Tier hab ich noch nie gesehen. Das muss ich recherchieren. Hier in Deutschland ist es jedenfalls nicht zu Hause. Es kann höchstens eingeschleppt worden sein. Aber was hat die Spinne mit Stefan zu tun?“
„Er wollte sie für mich beseitigen. Ich hab ein Gefäß besorgt. Als ich wiederkam, lag er am Boden. Ich hab versucht, ihn wiederzubeleben. Es war schrecklich. Notarzt und Polizei waren da.“ Er verbarg sein Gesicht in den Händen.
„Woran ist Stefan gestorben?“
„Der Arzt konnte es nicht feststellen. Deshalb ist auch die Polizei gekommen. Vielleicht war die Spinne giftig und hat ihn gebissen. Eine Schwarze Witwe oder so etwas.“
„Die ist viel kleiner. Außerdem hätte der Arzt einen Biss feststellen müssen. Hat die Polizei das Tier eingefangen?“
„Nein. Es ist verschwunden. Ich befürchte, dass es noch irgendwo in der Firma herumkrabbelt. Jetzt geht sowieso alles den Bach runter. Ohne Stefan schaff ich das alles nicht.“
„Für die Firma finden wir eine Lösung, Axel. Was ihr entwickelt habt, ist großartig. Du darfst auf keinen Fall aufgeben. Aber darüber reden wir später. Jetzt musst du dich erst einmal von dem Schock erholen. Hast du schon etwas gegessen?“
„Nur heute Morgen.“
„Ich koche uns einen Kaffee, und ein Stück Kuchen von gestern ist auch noch für dich da. Schick mir bitte das Foto. Ich werde gleich mal nachsehen, ob ich die Spinnenart bestimmen kann.“
Als sie am Esstisch saßen, recherchierte Nadja mit ihrem Smartphone im Internet.
„So ein Exemplar gibt es nicht. Es ähnelt einer schwarzen Krabbenspinne, Xysticus lanio. Aber die ist wesentlich kleiner.“ Sie schüttelte den Kopf. „Bist du sicher, dass sie echt war? Keine Attrappe?“
„Ich hab gesehen, wie sie sich bewegte. Außerdem ist sie verschwunden. Und sie hat Stefan umgebracht! Davon bin ich überzeugt. Vielleicht haben wir es mit einer Art zu tun, die noch niemand entdeckt hat, oder einer Mutation.“
„Das ist ziemlich unwahrscheinlich, findest du nicht?“
„Ja. Schon. Aber irgendeine Erklärung muss es geben. Du glaubst mir nicht?“ Brink stocherte in seinem Stück Käsekuchen herum.
„Doch, ich glaube dir. Aber die Sache ist wirklich merkwürdig. Ich frag mal an der Universität nach. Ich hab noch Kontakte zu Leuten im Institut. Vielleicht wissen die mehr. Sieh du erst einmal zu, dass du wieder in Ordnung kommst, und kümmere dich um die Firma. Du magst meinen Kuchen nicht?“
„Äh – der schmeckt hervorragend. Aber wenn ich an die Spinne denke, vergeht mir der Appetit.“
„Das wird schon wieder.“ Sie tröstete ihn wie eine Mutter. Es machte ihm nichts aus. Daran hatte er sich seit seiner Kindheit gewöhnt.
Axel Brink ging die nächsten Tage nicht in die Firma. Der Tod seines Partners und Freundes hatte ihm die Energie für jedwede Aktivität geraubt. Dabei wären gerade jetzt wichtige Weichen zu stellen gewesen, um den Betrieb am Laufen zu halten. Er hätte die geschäftlichen Dinge regeln müssen, die ihm Stefan in den letzten beiden Jahren abgenommen hatte. Brink war der geniale Entwickler, Stefan der geniale Verkäufer. So hatten sie sich gegenseitig mit ein wenig Ironie gesehen, und, obwohl beide als Geschäftsführer eingetragen waren, war es Stefan gewesen, der die meisten Entscheidungen getroffen und die Kundenkontakte gepflegt hatte.
Nadja hatte recht. Irgendwie musste es weitergehen. Schließlich hingen einige Arbeitsplätze an dem kleinen Unternehmen. Brink fühlte sich für die Angestellten verantwortlich. Außerdem musste er etwas tun. Es gab keinen Sinn, die Hände in den Schoß zu legen. Und vielleicht war die Arbeit genau das Richtige, um der depressiven Stimmung zu entkommen.
Hauptkommissar Graf hatte ihn angerufen und informiert, dass das Labor wieder freigegeben war. Die Gerichtsmediziner hätten keine Anhaltspunkte für einen unnatürlichen Tod feststellen können. Sein Partner sei an Herzversagen gestorben.
Brink beschlich ein ungutes Gefühl, als er das erste Mal nach den Geschehnissen wieder den Raum betrat. Sein Mitarbeiter Robert Schmitt aus der Werkstatt hatte die Kreidezeichnung auf dem Boden entfernt. Nichts erinnerte mehr an das Unglück. Bildschirm und Drucker verweilten im Stand-by-Modus. Brink öffnete die Haube, nahm das Testobjekt heraus und betrachtete es. In seiner Hand wuchs es, so weit mit bloßem Auge erkennbar, unter Beibehaltung der Form, genau auf die doppelte Größe an. Inwieweit die vorgesehenen Maße für den gewünschten Temperaturbereich exakt eingehalten wurden, mussten die genauen Untersuchungen zeigen. Bei dem Exemplar handelte es sich um ein Objekt, das keine konkrete Anwendung fand. Es diente lediglich als Kalibrierstandard zur Überprüfung des Druckverfahrens.
Brink verbrachte fast den gesamten Arbeitstag im Büro, um einen Überblick über das operative Geschäft zu gewinnen. Ständig musste er dabei an Stefan denken, der das Ganze mit seiner lockeren Art bewältigt hatte. Er selbst hatte Mühe, sich in die Thematik hineinzudenken. Zum Glück kam Daniela, die Halbtagskraft, an vier Tagen in der Woche für mehrere Stunden. Sie kannte sich zumindest mit den Steuersachen und der Materialbeschaffung aus.
Gegen Abend rief Brink das 4-D-Einrichtungsprogramm auf. Er hatte den Druck eines künstlichen Herzens vorbereitet. Nachdem er einige Parameter optimiert hatte, startete er den Druck. Der Job würde am nächsten Morgen fertig sein.
Er verließ die Firma wie gewöhnlich als Letzter. Die Mitarbeiter Schmitt und Backmacher hatten um 16.00 Uhr Feierabend. Aber wenn es erforderlich war, blieben sie länger. Bei Engpässen standen sie ohne Murren auch an Wochenenden zur Verfügung. Doch zurzeit war das nicht erforderlich.
Zu Hause angekommen, schob Brink eine Fertigpizza in den Backofen und setzte sich mit einer Flasche Bier vor den Fernseher. Es gab Fußball: Deutschland gegen Italien. Italien lag mit eins zu null in Führung. Er nahm seinen Tablet-PC auf den Schoß und wählte sich in das Firmennetz ein, um zu kontrollieren, ob der Druck ordnungsgemäß ausgeführt wurde. Es schien alles in Ordnung zu sein.
Das Spiel war langweilig, und die Pizza schmeckte wie Pappe. Immerhin erzielte Deutschland kurz vor Spielende ein Tor, und die Mannschaften gingen mit einem Unentschieden auseinander. Im Grunde war das ein Abend wie jeder andere. Seit Corinna fortgegangen war, angeblich, weil er mit seiner Firma verheiratet war, lebte er alleine. Außer Stefan hatte er keine Freunde. Mit ihm hatte er sich manchmal nach Feierabend getroffen. Auch wenn sie meistens über Firmenangelegenheiten gesprochen hatten, vermisste er die Abende bereits jetzt. Blieb nur Nadja. Mit seiner zehn Jahre älteren Schwester konnte er über alles reden, und er hatte das Gefühl, dass sie nach ihrer Scheidung ein Stück weiter zusammengerückt waren. Als Kind war sie Ersatzmutter gewesen, nachdem die Mutter gestorben war. Irgendwie war sie es bis heute geblieben. Der Vater hatte erst wieder geheiratet, als beide Kinder erwachsen waren, und lebte mit seiner Frau in einem Münchner Vorort. Die Familienmitglieder, unter ihnen auch ein Sohn aus ihrer ersten Ehe, trafen sich einmal im Jahr, meist an Weihnachten. Die Treffen verliefen weitgehend harmonisch, vielleicht auch, weil es keine besonderen Berührungspunkte zwischen ihnen gab und jeder sein eigenes Leben führte.
Am nächsten Morgen suchte Brink das Labor auf, um das Ergebnis des 4-D-Drucks zu begutachten. Obwohl der Computer meldete, dass der Druck erfolgreich verlaufen war, ersetzte die Grafikanimation nicht die Inaugenscheinnahme und den Test des fertigen Modells. Das künstliche Herz war mit verschiedenen Sensoren ausgestattet und sollte induktiv mit Energie versorgt werden. Die komplette Maschine war in einem einzigen Druckvorgang erschaffen worden.
Brink öffnete die Haube und entnahm die knapp ein Kilogramm schwere Pumpe. Das fertige Produkt in der Hand zu halten, war auch nach Jahren noch ein besonderes Erlebnis für ihn. Das medizinische Gerät sowie das Herstellungsverfahren mussten nach den hausinternen Tests von einer unabhängigen Prüfstelle begutachtet werden. Auch darum hatte Stefan sich in der Vergangenheit gekümmert. Langfristig brauchte Brink einen Mitarbeiter oder einen Teilhaber, der ihm diese Arbeiten abnahm.
Er betrachtete das Jobprotokoll auf dem Monitor, der neben dem Drucker stand. Die Fehlerliste zeigte keine Warnungen oder Besonderheiten an. Mit dem künstlichen Herzen in der Hand wandte er sich zum Gehen. Aus einem unerfindlichen Grund drehte er sich an der Tür noch einmal um. Vielleicht hatte er etwas gehört. Vielleicht aber war es ein siebter Sinn. Sein Blick wanderte zu den Fässern, die Chemikalien enthielten. Die Spinne! Er war sich sicher, dass sie gerade zwischen den Behältern verschwunden war. Dieses verdammte Ungeheuer war also immer noch hier! Wieso hatten Polizei und Spurensicherung es nicht entdeckt? In Brink stiegen erneut Angst und Ekel auf. Aber da war noch ein Gefühl, und es war stärker: ein unglaublicher Hass auf das Tier. Er war überzeugt, dass es das Unglück verursacht hatte, und sei es nur dadurch, dass es für Stefans Herzstillstand verantwortlich war.
Brink zog die Schläuche ab, die das Material in den Drucker leiteten. Dann packte er das erste Fass, kippte es und rollte es beiseite. Genauso verfuhr er mit dem zweiten. Er wollte gerade ein weiteres bewegen, als das hässliche Monster zum Vorschein kam. Es floh nicht etwa, sondern krabbelte langsam auf ihn zu. Die roten Augen signalisierten Angriffslust. Brink hob seinen rechten Fuß. Er wollte das Tier mit seiner angesammelten Wut zerquetschen, doch er konnte seine Bewegung nicht zu Ende führen. Die Muskeln seines gesamten Körpers verkrampften sich. Der Atem setzte aus. Es gelang ihm noch, sich mit einer Hand am Tisch abzustützen. Dann sank er röchelnd zu Boden. Die Umgebung verschwamm vor seinen Augen, bis sie ihre Konturen verlor und sich in ein gleichmäßiges Schwarz verwandelte.
„Willkommen in unserem Verein!“ Sven Berger begrüßte den Neuankömmling. „Wie bist du auf uns gekommen?“
„Suchmaschine, ‚unerklärliche Phänomene‘“, antwortete Fischer.
„Okay. Nimm Platz. Wir duzen uns hier alle, einverstanden?“
„Klar. Ich heiße Markus.“ Fischer setzte sich auf einen der Ledersessel und schlug die Beine übereinander. Sein Gegenüber tat das Gleiche. Berger war schätzungsweise Anfang vierzig, etwas korpulent und hatte schwarze, zurückgekämmte Haare.
Fischers Blick schweifte kurz durch den Raum. Das Inventar sah wie eine Sammlung von Sperrmüllfundstücken aus. Er war ein wenig erstaunt, dass an den Wänden Bilder des Roswell-Zwischenfalls prangten, das Foto, das angeblich die Autopsie eines Außerirdischen zeigte, Zeitungsartikel und die Aufnahme eines Ufos. Berger schien seine Irritation zu bemerken und lachte.
„Das mit Roswell war alles Quatsch. Mit solchen Sachen beschäftigen wir uns nicht. Was du siehst, drückt eher unseren Humor und unsere Selbstironie aus. Das bedeutet allerdings nicht, dass wir unsere Arbeit nicht ernst nehmen würden. Wir verschwenden unsere Energie aber nicht mit Verschwörungstheorien. Trotzdem wollen wir offen für Phänomene sein, die die etablierten Wissenschaftler nicht untersuchen, weil sie Angst haben, ihren Ruf zu verlieren. Die Angst ist weiter verbreitet, als man denkt. Wir versuchen, diese Schere im Kopf möglichst auszuschalten. Nur so kann man unbefangen an die Dinge herangehen und manchmal ungewöhnliche Erkenntnisse gewinnen. Du bist Physiker von Beruf?“
„Ich hab theoretische Physik studiert, bin aber inzwischen Privatier.“
„Privatier?“
„Hab meinen Job verloren. Die Firma, für die ich gearbeitet habe, plante, in die Produktion von Rüstungsgütern einzusteigen. Da wollte ich nicht mitmachen. Meine Eltern haben mir ausreichend Geld hinterlassen, so dass ich ganz gut klarkomme. Ich bin jetzt zweiundfünfzig und suche keine neue Stelle. Wahrscheinlich würde ich in meinem Alter sowieso keine mehr finden. Aber vielleicht kann ich hier etwas Sinnvolles tun.“
„Kannst du bestimmt.“
„Schön. Den Mitgliedsantrag habe ich ausgefüllt. Zu Hause rumsitzen ist nichts für mich.“ Fischer strich sich über den kurzgeschnittenen, grauen Bart. Die ebenfalls weitgehend ergrauten Haare standen ihm wirr vom Kopf ab. „Ich hab keine Familie und keine Hobbys. Der Beruf hatte mich vollständig vereinnahmt. Natürlich könnte ich auch etwas Ehrenamtliches machen, aber ich kann nicht besonders gut mit Menschen umgehen, schätze ich.“
„Ich denke, wir tun mit unserer Arbeit auch etwas für die Gesellschaft. Wir nehmen Mitbürger, die mit ihren Problemen an uns herantreten, ernst, hören sie an. Manchmal hilft das bereits. Eines unserer derzeitigen Projekte sind Wahrnehmungen tieffrequenter Geräusche in mehreren Städten. Das Brummen scheint echt zu sein, aber die Ursache konnten wir bisher nicht klären. Wir vermuten, dass die Töne geologischen Ursprungs sind.“
„Das klingt interessant.“
„Damit beschäftigen sich Fred und Michael. Fred ist Akustiker und Michael Physiker wie du. Na ja, du wirst noch alle kennenlernen. Einmal im Monat kommen wir zusammen und tauschen unsere Erfahrungen aus. Wir sind mit dir jetzt dreiundzwanzig. Jeder von uns hat sein Spezialgebiet. Unsere Mitglieder kommen aus den verschiedensten Berufen. Es sind zwar überwiegend Akademiker, aber wir verstehen uns auf keinen Fall als elitären Haufen.“ Berger grinste. „Hast du Angst vor Spinnen?“
„Nee.“
„Wir haben vor ein paar Tagen einen Fall reinbekommen. Angeblich ist eine Riesenspinne gesichtet worden, eine Art, die es bei uns gar nicht gibt. Jemand soll sich zu Tode erschreckt haben. Im wahrsten Sinne des Wortes. Er hat einen Herzschlag bekommen. Das Tier ist spurlos verschwunden. Vermutlich ist es irgendwie aus dem Ausland eingeschleppt worden. Allerdings weiß niemand, wie es an den Ort gelangt ist, an dem es gesichtet wurde. Es existiert sogar ein Foto von der Spinne. Wenn du willst, kannst du dich um das Projekt kümmern.“
„Gerne.“
„Ich gebe dir den Link zu den Unterlagen. Da steht alles drin. Die Vorgeschichte, Ansprechpartner und so weiter. Der Anruf kam von einer Nadja Linddorf.“
Markus Fischer gefiel das Konzept des Vereins, der sich Akte Z nannte, und er war gespannt auf seinen ersten Fall. Er rief Nadja Linddorf an. Sie war sofort zu einem Treffen bereit und empfing ihn in ihrer Wohnung.
Die zierliche Frau mit den schulterlangen, rotblonden Haaren schätzte Fischer auf Anfang vierzig. Sie hatte in seinen Augen das gewisse Etwas, das ihn sofort gefangen nahm, ohne dass er es hätte erklären können.
„Danke, dass Sie gekommen sind“, sagte sie mit einem offenen Lächeln, als beide am Couchtisch Platz genommen hatten. „Sie wissen, worum es geht?“
„Ich kenne nur das, was Sie uns mitgeteilt haben. Es geht um eine mysteriöse Spinne?“
„Ja. Sie hat den Partner meines Bruders getötet und auch Axel angegriffen. Aber zum Glück war Axel nur bewusstlos. Nach einigen Stunden ist er wieder aufgewacht. Ein Mitarbeiter hat ihn gefunden und ins Krankenhaus gebracht. Man hat nicht feststellen können, was seine Ohnmacht verursacht hat. Die Ärzte haben ihm die Geschichte mit der Spinne nicht abgenommen, worüber mein Bruder ziemlich sauer war. Er weiß übrigens nicht, dass ich mich an Ihren Verein gewandt habe. Ich bin mir auch nicht sicher, dass er das gutheißen würde. Aber ich habe das Gefühl, dass etwas äußerst Mysteriöses hinter der Sache steckt. Ich hab lange recherchiert und auch bei den Kollegen im Bio-Institut nachgefragt, ob sie die Spinnenart kennen. Auch mich hat man nicht so richtig ernst genommen. Jedenfalls ist bei meinen Recherchen nichts herausgekommen.“
„Sie sind Biologin?“
„Ja. Ich hab mich aber nach dem Master für das Lehramt entschieden und unterrichte jetzt Biologie und Chemie. Mit Spinnen kenne ich mich zwar nicht besonders gut aus. Aber es sind faszinierende Tiere, und ich hab im letzten Jahr zusammen mit dem NABU ein Schulprojekt zu dem Thema durchgeführt. Die heimischen Spinnen sind allesamt harmlos. Manchmal kann es vorkommen, dass beim Import von Früchten gefährliche Arten mitreisen, wie die brasilianische Wanderspinne. Ihr Biss kann tödlich sein. Vor einiger Zeit musste ein Supermarkt wegen solch eines Vorfalls evakuiert werden. Aber bei den Attacken auf meinen Bruder und seinen Partner muss etwas anderes passiert sein. Den Biss und das Gift hätte man nachweisen können.“
„Wäre es möglich, mit Ihrem Bruder zu sprechen?“
„Wir fahren ganz einfach zu ihm in die Firma. Nachdem ihm bisher niemand geglaubt hat, wird er vielleicht froh sein, wenn Sie ihn anhören und die Angelegenheit ernst nehmen.“
Sie fuhren mit dem Fahrstuhl in die Tiefgarage. Dort stand ihr Wagen. Der Weg zur Firma dauerte nur wenige Minuten.
Nadjas Bruder reagierte nicht so, wie sie es erwartet hatte. Es war ihm anzumerken, dass er dem Fremden, den sie anschleppte, argwöhnisch gegenüberstand. Aber Fischer gelang es trotz seiner, wie er selbst glaubte, mangelnden Menschenkenntnis, einen Draht zu ihm zu finden. Er zeigte durch gezielte Fragen Interesse an dessen Arbeit.
Sie saßen in der Besprechungsecke, die Axel Brink in seinem Büro für Kundenbesuche eingerichtet hatte.
„Wo liegen die Grenzen Ihrer Drucktechnik?“, fragte Fischer schließlich.
„Eigentlich nur im Material und natürlich in der Modellierung, wobei Letzteres keine echte Begrenzung ist. Im Prinzip kann man fast alles realisieren, wenn man die entsprechende Kenntnis besitzt. Aber um Ihrer nächsten Frage vorzugreifen: Eine lebende Spinne kann man natürlich nicht kreieren.“
„Das wäre nicht meine nächste Frage gewesen.“ Fischer lachte. „Das fiele wohl eher in den Bereich der synthetischen Biologie. Wo liegen die Begrenzungen hinsichtlich des Materials?“
„Na ja. Wir können die üblichen Metalle verwenden. Auch Edelstahl, Bronze, Titan, Silber und Gold sind kein Problem. Wir benutzen sowohl das Selektive Lasersintern als auch das Selektive Laserschmelzen, SLS beziehungsweise SLM genannt.“
„Können Sie auch Halbleiter herstellen?“
Brink sah seinen Besucher erstaunt an. Es verstrich eine lange Pause, bevor er antwortete.
„Im Prinzip, ja. Aber das entsprechende Know-how haben wir nicht. Die Idee ist …“ Brink fuhr sich über das kurzgeschnittene blonde Haar. „Die Idee hat was. Sie ist interessant. Sie glauben doch nicht …?“
„Ich versuche nur, das Undenkbare zu denken. Zumindest, wenn die gewöhnlichen Theorien nicht weiterführen, hilft das manchmal.“
Brink stand auf und lief im Büro auf und ab. Nadja hatte bisher nur zugehört. Jetzt sah sie Fischer und dann ihren Bruder an.
„Kann mich mal einer von euch aufklären, was ihr da gerade ausbrütet?“
„Was wäre, wenn es sich nicht um ein lebendiges Ding handelte, sondern um ein künstliches Wesen, einen Roboter?“ Fischer beobachtete Nadjas Reaktion, während er sprach.
Sie öffnete ihren Mund, als wollte sie etwas sagen, brachte aber nur ein Kopfschütteln zustande.
Brink setzte sich wieder. „Das ist völlig unmöglich. Ich hab gesehen, wie natürlich es sich bewegt hat. So etwas könnte niemand konstruieren. Die Spinne sah nicht nur äußerlich echt aus, sie verhielt sich auch so. Jedenfalls soweit ich das beobachten konnte. Außerdem, selbst wenn so etwas möglich wäre, wer sollte Interesse daran haben, so ein Tier nachzubilden? Das ist doch völliger Unsinn.“
„Ist der Drucker vernetzt?“
„Ja, natürlich.“
„Internet?“
„Ja. Aber selbstverständlich ist der Zugang geschützt. Da kommt niemand ran, der nicht autorisiert ist. Außerdem werden alle Jobs im Steuerprogramm aufgelistet. Ich hätte es bemerkt, wenn jemand von extern einen Druck gestartet hätte.“
„Ein Hacker?“
Brink antwortete nicht. Er stand erneut auf und setzte sich an seinen Computer. Nach einigen Minuten kam er zurück, ließ sich in den Schalensessel fallen und schloss für einen Moment die Augen.
„Was ist los, Axel?“, fragte Nadja.
„Es ist kein fremder Job gelistet. Wahrscheinlich wurden die Aufträge gelöscht. Aber in einigen Backups sind Auffälligkeiten vorhanden. Verdammt! Was geht hier vor?“
„Können Sie feststellen, wie der fremde Druckauftrag aussah?“
„Nur, wenn er mit unserem Programm erstellt wurde. Anderenfalls könnte man lediglich mit einiger Mühe die einzelnen Anweisungen rekonstruieren.“
„Das würde sich vielleicht lohnen.“
„Hm, ja. Ich will wissen, was passiert ist. Jemand hat meinen Freund und Partner umgebracht, und ich will, dass derjenige zur Rechenschaft gezogen wird.“
„Wir müssen die Polizei einschalten, Axel“, sagte Nadja.
„Die werden uns auch jetzt nicht glauben. Ich finde es ja selbst nicht vorstellbar.“
„Können Sie den Druckjob erneut ausführen?“, fragte Fischer.
„Verdammt, ja. Das ist eine gute Idee!“
„Könnten Sie ihn verändern?“
Brink schüttelte den Kopf. „Das wird kaum möglich sein, ohne die Befehlssequenzen genau zu verstehen.“
„Ich meine: Könnten Sie ergänzende Bestandteile hinzufügen?“
„Vielleicht. Das müsste möglich sein. Worauf wollen Sie hinaus?“
Fischer beugte sich vor. „Sie haben beim zweiten Mal nicht dieselbe Spinne gesehen. Es existieren mehrere Exemplare. Und die sind alle verschwunden.“
„Sie glauben, dass mehrere gedruckt wurden? Das muss ich prüfen. Dann muss es weitere Druckdateien im Backupverzeichnis geben.“
„Davon bin ich überzeugt. Vielleicht können wir herausfinden, wohin sie verschwunden sind.“
„Wenn wir ein weiteres Exemplar herstellen und einen GPS-Tracker hinzufügen, könnten wir es verfolgen.“
„Genau darauf wollte ich hinaus.“
„Ein Sender, wie er bei der Verfolgung von Vogelflugrouten eingesetzt wird?“, fragte Nadja.
Ihr Bruder nickte. „Weniger als einen halben Zentimeter groß. Das Problem wird sein, den Sender an einer günstigen Stelle anzubringen und mit Strom zu versorgen. Dafür müsste ich zumindest grob wissen, wie das Monster konstruiert ist. Ich denke, dass ich das hinkriege. Für die Realisierung brauche ich einige Tage – und Nächte.“
„Die Spinne, der Roboter, oder wie man das Ding nennen soll, ist gefährlich. Es hätte auch dich fast umgebracht.“
„Ich werde vorsichtig sein. Wenn unsere Theorie stimmt, können wir jetzt die Kontrolle übernehmen. Ich werde die Internetverbindung kappen. Allerdings …“
„Allerdings?“
„Es ist nicht vollständig auszuschließen, dass sich ein Trojaner ins Firmennetzwerk eingenistet hat“, beantwortete Fischer Nadjas Frage.
„Ich habe kein gutes Gefühl bei der Sache.“
„Wir haben keine andere Möglichkeit“, sagte Brink. „Ich muss wissen, was hier vorgeht.“
Fischer stimmte zu. „Wer so eine Kreatur konstruiert, verfolgt einen Plan. Und es spricht einiges dafür, dass es kein harmloser Plan ist.“
„Haben Sie einen Verdacht?“
„Nein. Aber wir sollten versuchen, die Absicht der Konstrukteure herauszufinden.“
„Du könntest den Drucker einfach abschalten, Axel. Zieh den Stecker. Dann ist der Spuk vorbei“, sagte Nadja.
„Dann erfahren wir nie, was passiert ist und wer Stefan ermordet hat. Außerdem hatte unser Vorgängermodell C1 ähnliche Möglichkeiten. Und natürlich gibt es Konkurrenzprodukte, die zwar mit einem etwas anderen Verfahren arbeiten, aber im Prinzip das Gleiche leisten. Wer sagt uns, dass die Angreifer nicht bereits anderswo Spinnen oder andere Robotertiere erschaffen haben? Wobei mir völlig unklar ist, wer zu so etwas fähig sein könnte.“
„Vielleicht ein ausländischer Geheimdienst“, sagte Fischer.
„Ja. Vielleicht. Aber mit welcher Absicht?“
Fischer zuckte mit den Schultern. „Die Spinne hat Sie berührt?“
„Ja.“ Brink legte sein rechtes Bein über das linke und schob die Socke etwas nach unten. Hier ist noch der Biss zu sehen.
Fischer beugte sich vor und betrachtete die Wunde. „Sieht aus wie eine Strommarke.“
„Was?“
„Bei einem elektrischen Schlag entstehen solche Stellen auf der Haut. Haben die Ärzte das nicht bemerkt?“
Brink lachte und zog die Socke hoch. „Die haben nur Puls und Blutdruck geprüft und mich dann wieder entlassen. Aber bei Stefan hätten die Gerichtsmediziner so etwas entdecken müssen.“
„Soweit ich weiß, treten die Brandmarken nicht immer auf, sondern sind vom Hautwiderstand abhängig.“
„Sie glauben, dass die Kreatur durch Stromschläge tötet?“
„Das wäre zumindest denkbar. Wahrscheinlich geht es aber nicht ums Töten. Vermutlich will sie nur den Angreifer außer Gefecht setzen.“
„Will? Sie will?“ Nadja lachte. „Glauben Sie, dass das Ding intelligent ist?“
„Das ist nicht auszuschließen. Aber vielleicht reagiert es lediglich auf gewisse Umweltsignale.“
„Die Sache mit dem GPS-Tracker ist eine gute Idee. Ich werde euch benachrichtigen, wenn ich so weit bin“, sagte Brink.
„Sei vorsichtig, Axel“, mahnte Nadja.
„Sollen wir uns nicht duzen?“, fragte Nadja, als Fischer und sie vom Firmenparkplatz fuhren.
„Gerne. Ich bin Markus. Zweiundfünfzig, frisch geschieden.“
„Nadja, seit einigen Jahren vierzig und ebenfalls geschieden. Ich hab eine Tochter, Sabine. Sie studiert in Wisconsin, USA. Zwei Semester Volkswirtschaft im Rahmen eines Austauschprogramms. Wir sehen uns leider nur selten.“
„Ich hab keine Kinder. Aber eine Katze. Sie heißt Ronja. Damit hätten wir unser Profil ausgetauscht.“ Fischer lachte.
„Was machst du beruflich?“
„Ich bin arbeitslos. Hab den Job vor einiger Zeit hingeworfen. Meine Ersparnisse und eine Erbschaft reichen bis zur Rente. Jetzt kann ich mich um meine Katze und um außergewöhnliche Phänomene kümmern.“
„Was hältst du von der Sache? Glaubst du wirklich, dass wir es mit einer künstlichen Spinne zu tun haben?“
„Alles spricht dafür. Irgendjemand treibt einen immensen Aufwand, und mir ist völlig unklar, was derjenige bezweckt. Jedenfalls wird er verhindern wollen, dass sein Vorhaben entdeckt oder gar behindert wird.“
„Deswegen ist es gefährlich, was Axel vorhat. Könntest du ein wenig auf meinen kleinen Bruder aufpassen? Er kann manchmal spontan und unüberlegt handeln. Nach dem Tod seines Partners ist er sowieso ziemlich durch den Wind.“
„Er wird sich von mir sicher nichts sagen lassen. Aber ich werde tun, was ich kann.“
„Danke. Ich werde dafür sorgen, dass er nichts im Alleingang macht, sondern alles mit dir abspricht. Ich glaube, dass du ihn beeindruckt hast.“
„Meinst du? Ich habe mich nur bemüht, die richtigen Fragen zu stellen. Das versuche ich manchmal sogar in Selbstgesprächen. Ich stelle eine Frage und gebe mir selbst die Antwort. Das klappt in der Regel ganz gut. In schwierigen Fällen erkläre ich meiner Katze das Problem.“
Nadja sah zu ihm rüber und lächelte.
Sie fuhr nicht in die Tiefgarage, sondern parkte vor dem Gebäude.
„Rufst du mich an, wenn sich etwas Neues ergibt?“, fragte Fischer.
„Ja. Und ich werde Axel ermahnen, das ebenfalls zu tun.“
Er verabschiedete sich, indem er ihr die Hand gab, stieg aus und ging zu seinem Fahrzeug. Er drehte sich noch einmal um und erntete ein freundliches Lächeln zum Abschied.
Obwohl die Recyclinganlage zu den modernsten ihrer Art gehörte, mussten einige Elektrogeräte noch von Hand zerlegt werden, um unter anderem Glasbestandteile und quecksilberhaltige Schalter zu entfernen. Das war ein monotoner Job, aber er wurde gut bezahlt. Straußenbrunner wollte gerade den alten Fernseher bearbeiten, als eine riesige schwarze Spinne aus dem Gehäuse hervorkroch. Der Bär von einem Mann hatte keine Angst vor dem Krabbeltier. Mit ungläubigem Staunen beobachtete er, wie es sich an einer Platine zu schaffen machte. Es war nicht zu fassen: Das achtbeinige Monster zerlegte das Material mit seinen Beißwerkzeugen und machte sich jetzt an den integrierten Schaltkreisen zu schaffen.
Straußenbrunner griff nach dem Vorschlaghammer und hob ihn an. Er konnte das Tier nicht verfehlen. Mit einem Schlag würde er es zu Brei zerquetschen. Plötzlich fühlte er einen stechenden Schmerz im Fuß. Mitten in der Bewegung versagten seine Muskeln. Der Hammer glitt ihm aus der Hand und krachte zu Boden. Sein Atem setzte aus. Der gewichtige Mann stürzte in den Schrotthaufen und blieb regungslos liegen.
„Willi!“ Der Kollege sprang vom Sitz des Radladers, mit dem er gerade Material in den Trichter der Anlage gegeben hatte. Er lief auf Straußenbrunner zu, packte ihn am Arm und wollte seinen Oberkörper anheben. Aber der Mann war entschieden zu schwer für ihn. Er lief zurück zum Radlader, griff nach seinem Funkgerät und informierte die Arbeitssicherheit, die die Notrufzentrale verständigte. Ein weiterer Mitarbeiter hatte die Szene beobachtet. Zusammen schafften sie es, Straußenbrunner vom Schrottberg herunterzuheben.
Endlich trafen die ausgebildeten Männer der Arbeitssicherheit ein. Gleichzeitig ertönte die Sirene des Rettungswagens in der Ferne.
„Er ist einfach umgekippt“, stammelte Max Kirschhorst, der Radladerfahrer, und machte Platz für die Helfer. „Einfach so.“
Sein Blick fiel auf eine Spinne, die in einem Berg aus Kupferkabeln verschwand. Ein weiteres ungewöhnlich großes Tier entfernte sich mit unnatürlicher Geschwindigkeit Richtung Presse. Er schüttelte ungläubig den Kopf.
„Hast du das Viech gesehen?“, fragte er den Kollegen, der ihm geholfen hatte.
„Was?“
„Ach nichts.“
Der Rettungswagen fuhr mit Blaulicht heran. Es war keine Viertelstunde vergangen, aber die Sanitäter konnten nur noch den Tod des Verunglückten feststellen.
*
Es war sechs Uhr morgens, als das Telefon klingelte. Im Halbschlaf tastete Fischer nach dem Gerät auf dem Nachttisch. Er brauchte einige Sekunden, um vom Traum in die Realität zu wechseln.
„Ich hab’s geschafft“, klang es aus dem Hörer. Die Stimme gehörte Axel Brink.
„Äh – was?“
„Sorry. Ich hab Sie geweckt. Ich hab nicht auf die Uhr gesehen.“
„Kein Problem. Was haben Sie geschafft?“ Fischer setzte sich aufrecht auf die Bettkante.
„Ein neues Exemplar, aber dieses Mal mit GPS-Sender. Und es funktioniert!“
„Fantastisch. Ich komme zu Ihnen.“
„Jetzt?“
„Klar.“
Fischer beendete das Gespräch und sprang aus dem Bett. Im Bad spritzte er sich kaltes Wasser ins Gesicht, um wach zu werden. Eilig zog er sich an. Eine Viertelstunde später erreichte er die Firma. Die Eingangstür stand offen. Im Büro erwartete ihn Brink, der vor seinem Computer saß.
„Das müssen Sie sich ansehen! Ich hab eine Kamera installiert und den kompletten Druckvorgang gefilmt. Ich zeige Ihnen das Ganze im Zeitraffer.“
Fischer schnappte sich einen Stuhl und setzte sich neben Brink. Gespannt starrte er auf den Bildschirm. Die Kamera war auf die durchsichtige Abdeckhaube des Druckers gerichtet. Zunächst schien nicht viel zu passieren. Offensichtlich war der Drucker damit beschäftigt, winzige Strukturen zu erschaffen.
„Ich bin mir sicher, dass in diesem Moment so etwas wie ein Gehirn entsteht“, sagte Brink.
„Genau das hatte ich vermutet.“
„Und jetzt kommen die Elemente für die Motorik.“
Tatsächlich war nun auf dem Bildschirm zu sehen, wie die Spinne langsam Konturen annahm. Kurze Zeit später war der Rumpf fertig. Die anschließende Erstellung der Spinnenbeine nahm erneut viel Zeit in Anspruch.
„Wieso dauerte es so lange, die Gliedmaßen zu erstellen?“, überlegte Brink laut.
„Ich vermute, dass die Tausenden Haarzellen der Energieversorgung dienen. Vielleicht wandeln die die elektromagnetische Strahlung in elektrische Energie um.“
„Solarzellen?“
„Keine Ahnung. Aber normale Fotozellen würden nicht genug Leistung bringen, es sei denn, sie könnten das gesamte Spektrum nutzen.“
„So eine Technik gibt es nicht.“ Brink schüttelte den Kopf.
„Im Labor schafft man es bereits, 46 Prozent des Sonnenlichts in elektrische Energie zu verwandeln.“
„Aber das hier ist echt. Ich meine, wenn es solch eine Technologie gäbe, würde man sie überall anwenden und keine Spinne bauen.“
Fischer nickte.
Nachdem der Druck offenbar abgeschlossen war, passierte zunächst nichts. Doch dann kam Leben in das Objekt. Zuerst bewegten sich die Augen und dann die vorderen Gliedmaßen. Schließlich fing es an zu laufen und tastete die Abdeckhaube ab.
Brink stoppte das Video.
Fischer lehnte sich zurück. „Was glaubst du eigentlich– ich heiße übrigens Markus – was glaubst du eigentlich, was hier abläuft? Das Ding da“, er zeigte auf das Standbild der Spinne, „ist nicht von dieser Welt.“
„Allerdings.“
„Ich meine das wörtlich.“
Brink sah den Physiker entgeistert an. „Was?!“
„Na ja. Ich weiß nicht. Aber die ganze Konstruktion ist doch, wie du selbst sagst, mit den derzeitigen technischen Möglichkeiten gar nicht machbar. Allein die elegante Fortbewegung ist der Traum eines jeden Roboterherstellers. Ich kenne mich ein wenig damit aus.“
„‚Nicht von dieser Welt‘ hast du gesagt.“ Brink lachte. „Glaubst du, dass hier Außerirdische am Werk sind? Sie haben – du hast wohl zu viele Bücher von Erich von Däniken gelesen! – Entschuldigung.“
„Ist schon in Ordnung. Ich hab in jungen Jahren tatsächlich ein Buch von ihm gelesen. Damals fand ich seine Theorien faszinierend. Aber abgesehen davon, dass die Aliens im günstigsten Fall Jahrhunderte zu uns unterwegs wären, hätten sie sicher Besseres zu tun, als Spinnenroboter herzustellen und damit die Menschen zu erschrecken.“
„Was hast du also damit gemeint?“
„Vergiss es. Wie geht der Film weiter?“
Brink musterte den Physiker einige Sekunden lang, bevor er fortfuhr: „Sieh genau hin!“
Fischer konnte kaum glauben, was er jetzt sah. Die Spinne verharrte einen Moment an ihrer Position. Dann verkleinerte sie sich auf eine Größe von etwa zwei Zentimetern und verschwand aus dem Sichtbereich der Kamera.
„Sie kann ihre Größe verändern und ist durch den Lüftungsschlitz der Abdeckhaube verschwunden“, sagte Brink. „Leider hab ich keine zweite Kamera installiert, die den weiteren Weg hätte verfolgen können.“
„Unglaublich! Wie lange hat das Ganze gedauert?“
„Der komplette Druck? Zirka fünf Stunden.“
„Das GPS?“
„Ist installiert und funktioniert.“ Brink zog sein Smartphone aus der Tasche. „Das Signal ist astrein. Das Objekt hat bereits das Firmengelände verlassen.“
„Also, worauf warten wir noch?“
„Gehen wir zu Fuß?“
„Wo ist es jetzt?“
„Ungefähr 800 Meter von hier. Es hat fast Schritttempo drauf.“
„Das Wetter ist ideal für einen Spaziergang. Gehen wir. Es wird uns nicht entkommen.“