Der Hobbymusiker - Gerhard Gottschalk - E-Book

Der Hobbymusiker E-Book

Gerhard Gottschalk

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Beschreibung

Ein Leben mit Musik. Ein Leben voller Erinnerungen. Von der ersten Mundharmonika bis zum Seniorenteller. Beginnend mit Geschichten aus einer Zeit, wo Teeniebands ‚in‘ waren und sich von der Euphorie um die Beatles mitziehen ließen. Ein halbes Jahrhundert schöner Musikergeschichten, die so von mir erlebt wurden. Der Leser bekommt, mit den folgenden wahren Geschichten, Gelegenheit, an diesen besonderen Erlebnissen teilzuhaben. Gerhard Gottschalk erzählt in seiner eigenen Sprache und bringt dadurch unverfälscht seine Empfindungen und Lebenseinstellung zum Ausdruck.

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Ein Leben mit Musik. Ein Leben voller Erinnerungen. Von der ersten Mundharmonika bis zum Seniorenteller.

Beginnend mit Geschichten aus einer Zeit, wo Teeniebands ‚in‘ waren und sich von der Euphorie um die Beatles mitziehen ließen.

Ein halbes Jahrhundert schöner Musikergeschichten, die so von mir erlebt wurden.

Der Leser bekommt, mit den folgenden wahren Geschichten, Gelegenheit, an diesen besonderen Erlebnissen teilzuhaben.

Gerhard Gottschalk erzählt in seiner eigenen Sprache und bringt dadurch unverfälscht seine Empfindungen und Lebenseinstellung zum Ausdruck.

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Die Mundharmonika

C A J-Combo 1959 Christliche Arbeiterjugend

The Rocking Stars 1961

The Savages danach The Butlers 1962-1964

The Butlers in neuer Besetzung 1967

United Five 1971

The Playing Shadows 1972

The Germans 1973

Teamwork 1974 - 1983

Aachener Schornsteinfeger-Band 1990 – 2001

Alleinunterhalter Gerd

Herbert & Gerd

Seniorenteller

Vorwort

Musik ist ein altes Kulturgut. Sie faszinierte mich schon in jungen Jahren. Mit der Mundharmonika fing alles an. So beschreibe ich meine Autobiografie über mein Musikerleben. Von meiner frühesten Erinnerung bis zum heutigen Tage.

Seit meinen Kindertagen begleitete mich die Musik wie ein guter Freund. Das ist bis heute so geblieben. Mittlerweile habe ich ungefähr 55 Jahre Bühnenerfahrung. Bald werde ich siebzig Jahre alt. Es macht mir immer noch Spaß zu musizieren. Musik kennt keine Altersgrenzen. So nehme ich den Leser mit auf eine lange, musikalische Reise; bei der ich alle Erfahrungen mit Menschen verschiedenster Wurzeln einbringe.

Die Musik spiegelt einen Ausdruck der innersten Gefühle, Träume und Sehnsüchte der Menschen wider, die nach ihr verlangen. Als persönliches Empfinden habe ich meine besonderen Erlebnisse als Hobbymusiker in diesem Buch niedergelegt. Viele Musiker spielten in meinem Leben eine große Rolle. Jeder hatte seine Qualitäten in verschiedenen Musikstilen. Die Freude an der Musik und das Teilen mit anderen war die Voraussetzung, um gemeinsam musizieren zu können. Schnell stellten sich freundschaftliche Beziehungen ein, die nur funktionieren konnten, wenn man bereit war, etwas dafür zu tun. Genau so schnell konnte es in einer Band kriseln. Eine Trennung war dann nicht mehr aufzuhalten. Mit dem Ende einer Band begann dann irgendwann ein neuer Anfang; mit großen Hoffnungen sah man einer neuen Bandgründung motiviert entgegen. Man durfte nie den Mut verlieren, denn auf der Bühne stehen zu können, war wie eine Sucht und die hörte nie auf. Ich freute mich immer wieder aufs Neue, wenn man lediglich mit Gesang, Schlagzeug, Gitarre, Bass und Keyboard, eine tolle musikalische Atmosphäre in einem Saal zaubern konnte. Dabei ging das Geschehen auf der Bühne bis tief unter die Haut. Wurden die Songs gefühlvoll intoniert; so merkte man eine unverkennbare Freude beim Publikum. Als Musiker kam man mit vielen Menschen zusammen. Man wurde hofiert und bevorzugt behandelt.

Livebands bedienten sich der neuesten Technik, die sie damals zur Verfügung hatten. Allerdings war die Beherrschung der Instrumente die Voraussetzung. Klang, Ton und Lautstärke konnten mit den Verstärkern verändert werden. Der Gesang wurde durch Gesangsanlagen verschönert. Damals waren diese technischen Geräte schon mit Echo und Halleffekten ausgestattet. Dadurch hörte sich die Stimme für unser Ohr angenehm an. Für mich persönlich gab es nichts Schöneres als Liveauftritte. Das Spielen vor dem Publikum galt, als das einzig wahre. Die kleinsten Fehler wurden bemerkt. In den Gesichtern der Zuhörer konnte man deren Reaktionen ablesen. Bei echter Livemusik entstand eine unverfälschte Akustik. Fehler wurden auch live gespielt. Immer wieder ging es darum vielseitige gute Tanzmusik präsentieren zu können und die dann bei Gegebenheiten den Wünschen des Publikums anzupassen war.

Musik bedeutete mir viel und sie ist auch heute noch ein Teil meines Lebens. Verschiedene Musikrichtungen interessierten mich immer wieder sehr. Wichtige musikalische Erfahrungen und Erinnerungen wurden hiermit verbunden. Ich liebte es, live zu spielen, weil es mir unglaublichen Spaß machte und mich auf verschiedenste Arten berührte. Musik als Freude zu sehen und mit Musik Freude bereiten zu können, das war das Schönste, was einem Musiker Anlass gab, niemals damit aufzuhören.

Somit möchte ich dieses Buch den Personen widmen, die mit mir musiziert haben und leider nicht mehr unter uns weilen. In Verbundenheit und Zuneigung bekunde ich hiermit meinen Dank an alle, die mir sehr nahe gestanden haben. Man erinnert sich einfach an die schönen Dinge, die man mit ihnen erlebt hatte. Manchmal wünschte ich mir, sie kämen wieder zurück. Traurige Gefühle bleiben lange. Es kommt die Zeit, dann kann man sich auch mit einem Lächeln erinnern.

*

Die Mundharmonika

Der kleine Gerd quengelte schon die ganze Zeit: „Mama, kauf mir doch eine Mundharmonika.“ Bei Baums, im Zeitungskiosk habe ich eine gesehen, so eine hätte ich gerne. Bitte kauf mir doch eine Mundharmonika. Die Mutter, schon genervt, sprach etwas lauter, wie sonst mit ihrem Kind: „Das ist zu teuer. Für so etwas haben wir kein Geld. Dein Vater wird mir bestimmt etwas anderes sagen, wenn ich dir eine Mundharmonika kaufen würde.“

Das geschah damals, einige Jahre nach dem Krieg. Die Bevölkerung war sehr arm und noch von den Kriegsereignissen gebrandmarkt. Der Wiederaufbau in Deutschland begann mit vereinten Kräften. Die zerstörten Häuser wurden wieder langsam neu errichtet. Jeder, der arbeiten wollte, verdiente ein geringes Gehalt und hatte das zur Verfügung um die wichtigsten, nötigsten Sachen für sich und seiner Familie kaufen zu können. Aber die Menschen waren genügsamer und zufrieden. Es gab keine Fernseher und Computer. Ein großes Röhrenradio, mit einem grünen magischen Auge, war schon fast in jedem Haushalt vorhanden. Aus dem Lautsprecher des Radios hörte man Musik, Nachrichten, Hörspiele und Sportübertragungen.

Gerd ließ nicht locker. Er bettelte so wehleidig, dass er seine Mutter endlich dazu bewegen konnte, die so begehrte Mundharmonika für 4.50 DM zu kaufen. Die Augen von Gerd strahlten, als ob er der glücklichste Junge der Welt sei. Er hatte seine Mundharmonika bekommen. Er holte sie vorsichtig im Geschäft aus dem Etui. Erstaunt hörten seine Mutter und auch die Verkäuferin die ersten Töne, woraus zusammenhängend ein Lied entstand. Gerd spielte sofort das Lied: „Fuchs, du hast die Gans gestohlen”.

„Das hört sich aber schon gut an“, lobte die Verkäuferin und fragte weiter: „Wo hast du das denn gelernt?” Gerd schaute sie mit seinen erst fünf Jahren unverständlich an und erklärte ihr, dass dies seine erste Mundharmonika sei. „Aber wieso kannst du denn schon ein Lied darauf spielen? Das finde ich aber ganz toll. Wenn du noch mehr Lieder kannst, würde ich mich auf einen Besuch von dir freuen, denn dann könntest du mir die einmal vorspielen. Ich bin ja nun auch ein wenig neugierig auf dein Können.“ Das ließ Gerd sich nicht zweimal sagen. Prompt spielte er noch ein Lied: „Alle meine Entchen”. Die Verkäuferin klatschte in ihre Hände und gab damit einen Applaus für Gerd.

Die Mutter und Gerd gingen den Weg nach Hause. Er zeigte seiner Mutter das Etui: „Mama, schau dir das schöne Etui an. Da ist ein Bauernhaus aufgemalt mit einer Landschaft und was steht denn noch dabei?“ Die Mutter lachte und sie konnte das Wort Hohner lesen. „Das ist der Name der Mundharmonika und bestimmt auch der Firmenname, der solche Instrumente herstellt”, antwortete die Mutter. Ganz stolz und glücklich kam Gerd in der am Haus angebauten Glasveranda an und rief: „Oma, Opa, schaut mal, was ich hier habe.“

Die Großeltern bewohnten das Haus im Erdgeschoss. Seine Eltern wohnten im 1. Obergeschoss auf kleinem Raum. Für Gerd war das praktisch. Bekam er von Mutter oder Vater Schimpfe, so ging er eine Treppe zur Oma und zum Opa hinunter und wurde dort in Schutz genommen. Vor allen Dingen war Opa der beste Spielkamerad von Gerd und er durfte sich doch so einiges mehr erlauben. Ein glücklicher Junge; er hatte seine Großeltern und Eltern unter einem Dach.

Gerd packte vorsichtig seine neue Mundharmonika aus und spielte seinen Großeltern die gleichen Lieder vor, die er im Geschäft auch schon vorgetragen hatte. Opa war begeistert, und er umarmte Gerd sehr herzlich. „Spiel das doch noch mal”, bat Opa und er wartete gespannt darauf. Gerd spielte wieder, seine Oma sang dazu. Die Großmutter war früher im Kirchenchor, sie hatte eine wunderschöne helle Stimme. „Das hört sich ja gut an”, freute sich der Opa und gab Gerd einen Schmatzer auf die Wange.

Ein lautes Huhu und Gerds Vater kam mit dem Fahrrad von der Arbeit. Vor dem Krieg übte der Vater den Beruf als Schreiner und Mühlenbauer aus. Doch durch eine Kriegsverletzung verlor er den rechten Arm und konnte somit seinen erlernten Beruf nicht mehr ausüben. Jetzt arbeitete er bei der Gemeinde als Verwaltungsangestellter. Freudig wollte er nun seinen Feierabend genießen, sah aber sofort die neue Mundharmonika. „Wo hast du die denn her?“ Verstohlen blickte Gerd auf den Boden und sofort antwortete die Mutter auf die Frage. „Der Gerd hat solange gebettelt, er gab keine Ruh; da habe ich ihm die Mundharmonika gekauft.“ Der Vater lächelte ein wenig und sagte zu Gerd: „Gebe mir doch mal die Mundharmonika. Ich zeige dir, wie man darauf spielen kann.” Tatsächlich, der Vater spielte perfekt ein Lied und Gerd staunte nicht schlecht. „Du kannst ja richtig darauf spielen, dass hast du mir aber noch nie erzählt“, entgegnete Gerd mit Begeisterung und Vater spielte noch ein Lied: ‘Muss ich denn zum Städele hinaus‘. „Jetzt bin ich aber an der Reihe“, rief Gerd und wollte seinem Vater zeigen, dass er auch schon ein Lied auf der Mundharmonika spielen konnte. Der Vater war überrascht, und er sagte auf das Können seines Sohnes hin: „Das ist ja wunderbar, ich kaufe mir auch noch eine Mundharmonika und dann können wir gemeinsam spielen.“ Gerd antwortete ein wenig ängstlich und schüchtern: „Aber meine bekommst du nicht, die hat Mama mir gekauft, die ist jetzt von mir und außerdem soll man eine Mundharmonika nicht an andere verleihen, die darauf spielen wollen.“ Vater lachte und er schien zufrieden. Er sagte zu seiner Frau: „Das war gut, dass du Gerd eine Mundharmonika gekauft hast. Musik ist schön, und wenn man ein Instrument spielen kann, ist das eine tolle Sache.“

Dann erzählte Vater, dass er in seiner Jungendzeit mit seinem älteren Bruder Mandoline gelernt hatte, aber durch seine Kriegsverletzung ginge das nicht mehr. Nebenher hatte er dann zusätzlich, das Spiel auf einer Mundharmonika gelernt. So freue ich mich ganz besonders, dass mein Junge etwas von mir geerbt hat.

Für Gerd war dieser Tag ein ganz besonderer, ohne dieses Besondere zu wissen und wahrzunehmen. Denn er war ja noch ein Kind und konnte in seinem Alter nicht alles einordnen.

Ohne in die ferne Zukunft blicken zu können, hatte er schon beim Kauf der Mundharmonika seinen ersten Applaus von der Verkäuferin erhalten. Zur Freude bei Oma, Opa und seinen Eltern hatte er unbewusst durch ein, zwei Lieder, die er Ihnen stolz vorgetragen hatte, auch wieder Applaus und sogar ein Küsschen für seine Darbietungen bekommen. Die Mundharmonika war für Gerd im Moment das Allerschönste, was er besaß und er übte und spielte, so oft er konnte. Die Mutter empfand das nicht immer schön und genervt sagte sie einmal: „Dein Gedudel geht mir manchmal auf den Wecker. Kannst Du nicht nach unten gehen, dann hörst du mal, was Oma und Opa dazu sagen.” Kein Problem dachte Gerd, denn mit meiner Mundharmonika kann ich überall üben, auch da wo mich keiner hören muss. Dieses Instrument kann ich sogar in meine Hosentasche stecken und überall dort, wo ich gerade bin, kann ich es auch wieder auspacken. Wo es gewünscht wird, kann ich damit auch spielen. Ein bisschen beleidigt ging Gerd zu seinen Großeltern und spielte dort weiter. Oma reihte sich mit ihrer wunderschönen Stimme ein und Opa hatte seine Freude daran.

Eines Tages hörte Gerd laute Musik von irgendwo her. Es kamen zwei Straßenmusikanten, die von Haus zu Haus zogen, um einige Groschen für ihre Musikdarbietungen zu ergattern. Das gab es damals öfter und in der armen Zeit waren die Straßenmusikanten bei der Bevölkerung sehr herzlich willkommen. Das gehörte zum Alltag, die Leute hatten eine kleine Abwechslung; denn mit der Musik ging anscheinend alles besser.

Prompt kamen sie den Eingangsweg über den Hof zur Glasveranda herein und spielten ein Ständchen. Beide waren ältere Männer, die aber durch ihre Musik jünger wirkten. Mit Trompete und Akkordeon brachten sie Gerd zum Staunen. Er war begeistert und die Augen leuchteten vor Freude. Der helle, laute Trompetenklang dröhnte fürchterlich in den Ohren. Aber trotzdem hörte sich die Musik schön und harmonisch an. Die Großeltern gaben lauten Beifall und einer der Musiker sagte: „Applaus ist das Brot des Künstlers, geben sie uns noch drei Schnitten.“ Da kam Gerds Mutter die Treppe herunter und klatschte feste in ihre Hände. Bitte setzt euch doch hin. Ich mache euch eine Tasse Kaffee und Kuchen habe ich auch noch.“ Das ließen sich die Musiker nicht zweimal sagen. Dankend machten sie von dem Angebot Gebrauch und stellten vorsichtig ihre Instrumente auf den Boden. Gerd betrachtete die Instrumente und er sagte zu den Musikern: „Soll ich auch mal auf meiner Mundharmonika spielen?“ Die Musiker schauten sich gegenseitig an und man konnte an ihrer Gestik erkennen; will der kleine Junge etwa schon Musik machen?“ Gerd packte seine Mundharmonika vorsichtig aus dem Etui. Ein wenig schüchtern spielte er das Lied: ‘Hänschen klein, ging allein, in die weite Welt hinein‘. Die Darbietung klappte ohne Fehler und freudig kam nun der Applaus von den beiden Musikern. Sie nahmen ihre Instrumente und forderten Gerd auf: „Wir spielen das Lied jetzt einmal zusammen und mit 1, 2, 3, 4, fangen wir an.“ Es war wunderbar. Gerd spielte die 1. Stimme auf der Mundharmonika, der erfahrene Musiker am Akkordeon, die 2. Stimme und der Trompeter begleitete mit einigen Tönen das Kinderlied. Was Gerd wiederum damals nicht wusste; hier hatte gerade ein Trio den ersten Auftritt gehabt und er war schon mit dabei. Nun merkte er, dass man Musik auch mit mehreren Leuten machen konnte und das war natürlich schöner als alleine. Jetzt war die Oma an der Reihe. Die Musiker begleiteten den wunderschönen Gesang der Oma und es lief, wie man es so schön sagt; den Rücken rauf und runter. Durch die Begleitung der beiden Instrumente erklang die Stimme noch schöner und ergreifender. Die Anwesenden hatten einen gewissen Glanz in ihren Augen. Das hatte etwas mit Gefühl zu tun, was durch Musik ausgelöst werden konnte.

Die Musiker kamen von Brachelen mit ihrem Motorrad, einmal in der Woche nach Palenberg und zogen durch die Straßen, um Musik zu machen. Als Allererstes kamen sie zur Poststraße 14; dort wohnte Gerd mit Eltern und Großeltern. Hier stellten sie ihr Motorrad auf den Hof, spielten ihr erstes Ständchen und zogen dann von Haus zu Haus. Gerd freute sich jedes Mal, wenn er das Motorrad in der Einfahrt hörte. Dann stand er bei Fuß und hatte seine Mundharmonika schon in der Hand. Am liebsten wäre er mit den Musikern gezogen, aber dafür war er ja noch zu jung und mit ein paar Kinderliedern konnte man da nicht mithalten. Doch nach einiger Zeit gehörten die Musiker sozusagen mit zur Familie. Wenn sie gerade in der Gegend waren, kamen sie vorbei, tranken Kaffee und aßen ihre Butterbrote dazu. Dabei wurde Musik gemacht und Oma musste ihre Lieder singen.

Tante Hedwig und Onkel Josef wohnten in Dortmund-Derne. Der Onkel war der Bruder von Gerds Vater. Die Verwandtschaft kam schon mal zu Besuch nach Palenberg. Die Freude war jedes Mal groß für Gerd, denn er wusste, wenn Tante und Onkel kamen, brachten sie immer ein kleines Geschenk mit.

Ungefähr 5 Minuten Fußweg waren es bis zum Bahnhof. Tante und Onkel wurden vom Bahnsteig abgeholt. Der Zug hielt mit quietschenden Bremsen und lautem Zischen an. Die Dampflok stöhnte, als ob ein großes Ungetüm erlegt worden wäre und in den letzten Zügen lag. Im vorderen Waggon des Personenzuges öffnete sich eine Tür und freudestrahlend stiegen Tante und Onkel mit kleinen Koffern über ein Trittbrett auf den Bahnsteig aus. Nun standen sie beide und hielten Ausschau nach ihren Angehörigen. Gerd lief, so schnell er konnte, mit offenen Armen auf sie zu. Er wurde kräftig von Onkel und Tante gedrückt. Die Freude über ein Wiedersehen war sichtlich groß. Grell schallte ein Pfiff und die schwarze Dampflok fuhr langsam an. Erst ganz langsam, dann immer schneller werdend. Gerd stand staunend auf dem Bahngleis und schaute dem wegfahrenden Zug so lange hinterher, bis der letzte Waggon in weiter Ferne nicht mehr zu sehen war. Die gewaltigen, dunklen Dampfwolken der Lokomotive verflüchtigten sich mit der Luft und der Zug war plötzlich verschwunden. Nach der herzlichen Begrüßung gingen alle den Weg vom Bahnhof bis zur Poststraße.

Sofort machte Gerds Mutter Kaffee und der leckere, selbst gebackene Rodonkuchen stand schon auf einer schönen Kuchenplatte. „Wieder im Elternhaus angekommen”, schwärmte Onkel Josef und setzte sich gemütlich hin. „Wie schön ist es doch, wenn man zu Mutter und Vater kommen kann und dann auch noch in dem Haus willkommen ist, in dem man aufwuchs. Das vertraute Haus, hier bin ich geboren, hier bin ich zur Schule gegangen und später von 1929 - 1931 habe ich mein Studium absolviert, an der Bergschule, Goethestraße zu Aachen.“ Man konnte fast die Gedanken des Onkels lesen, auch die Augen schauten sich langsam in der Wohnküche um. Hier stand noch alles so, wie er es von vielen Jahren kannte. Das alte Ledersofa, der antike Kohleofen, der schwere alte Eichenschrank, die alte Wanduhr, die mit einem Adler über dem Ziffernblatt verziert war. Das alles war ihm vertraut, das kannte der Onkel schon lange. Hier war er groß geworden. Bleibende Erinnerungen, Geborgenheit, eine fürsorgliche Erziehung durch seine Eltern hatten ihn für sein weiteres Leben geprägt und dazu mitgeholfen, was er bisher erreicht hatte. Er schaute auf Gerd und sprach ihn an: „Wir haben dir ja auch etwas mitgebracht, das hätten wir beinahe vergessen, dir zu geben.“

Tante und Onkel gaben Gerd ein Päckchen. Schnell entfernte er das Packpapier. Neugierig und ganz gespannt, was ist da wohl drin, was könnte es denn sein? Gerd bekam leuchtende Augen und aus dem Päckchen nahm er ein Xylophon. „Danke, ihr Lieben, das ist was für mich, und sofort nahm er den Schlegel und klimperte über die kleinen Bleche, die die jeweiligen Töne zum Klingen brachten. „Na, fast richtig, bis auf ein paar falsche Töne“, bemerkte der Onkel. Gerd antwortete: „Ich habe für dich auch eine Überraschung”. Er holte seine Mundharmonika aus der Hosentasche. Onkel und Tante schauten jetzt gespannt auf Gerd. Er hatte extra ein Lied für den Onkel eingeübt. Da der Onkel als Fahrsteiger auf der Zeche Gneisenau beschäftigt war, spielte er das Bergmannslied: ‘Glück auf, Glück auf, der Steiger kommt, und er hat sein helles Licht bei der Nacht’ … Ein bekanntes Lied, das jeder Bergmann mit allen Strophen und Texten singen konnte. Der Onkel bekam feuchte Augen und die Überraschung war gelungen. Er hatte ein Lied vorgetragen, das bis tief ins Innere drang und plötzlich sangen alle mit. Sie kannten alle Liedstrophen. Allein die schöne Stimme von Oma rührten doch die Gemüter im kleinen Kreis der Familie und ließen den Gefühlen freien Lauf.

Was gab es Schöneres? Musik in der Familie zu machen und friedlich miteinander zu leben! Die schrecklichen Kriegszeiten waren vorbei. Aber keiner konnte vergessen, was Deutschland in aller Welt angerichtet hatte. Alles saß noch sehr tief. Unauslöschlich, der Krieg, die Zerstörung vieler Städte und Dörfer, Millionen Tote, grausame Geschichten, die wirklich passiert waren. Das konnte man nicht vergessen, wenn man diese Zeiten miterlebt hatte. Es hieß jetzt, die vergangene, dunkle Geschichte von Deutschland hinter sich zu lassen und mit ungeheurem Mut wieder von vorne anzufangen. Die Menschen, die noch Angehörige hatten, waren glücklich dran. Denn der Zusammenhalt einer Familie war in diesen Zeiten das wichtigste im Leben. Ein jeder stand für den anderen ein. Die Not war groß und doch ging es immer weiter voran, es wurde von Tag zu Tag besser.

Müde von der Arbeit kam der Vater nach Hause. Er schob sein altes Fahrrad in den Schuppen und kam so schnell er konnte, zur Veranda herein. Die beiden Brüder umarmten sich sehr herzlich. Dann war die Tante an der Reihe und man merkte, die Freude war übergroß auf das gesunde Wiedersehen nach doch so langer Zeit. Endlich wurde nun der Kuchen angeschnitten. Kuchen gab es nicht alle Tage und Gerd fragte vorsichtig, ob er noch ein Stückchen haben könnte. „Natürlich“, gab die Mutter zur Antwort: „Iss, soviel wie du willst, Hauptsache es schmeckt dir.” Eine nette Familie, wobei drei Generationen gemeinsam in gemütlicher Runde an einem Tisch saßen. Onkel Josef erzählte vom Bergbau, von Dortmund-Derne und er machte den Vorschlag, dass Gerd ja mal in den Ferien zu ihnen kommen könnte. Vater fragte: „Willst du mal mit dem Zug zu Onkel und Tante fahren? Versuchen kannst du das ja einmal.” Gerd war zunächst begeistert, denn er kannte bisher nur den Ort Palenberg und die unmittelbare Umgebung. Dann könnte er ja auch einmal mit der Eisenbahn fahren und das sogar bis ins Ruhrgebiet. Mit seinem kleinen Kinderverstand konnte er das zunächst nicht begreifen. Wie groß ist die Welt? Wohnen Onkel und Tante in einem anderen Land? Wie mag es da wohl aussehen? Sind die Menschen dort so, wie hier in seinem Heimatdorf? Solche Gedanken gingen Gerd blitzschnell durch den Kopf, aber er zögerte keine Minute und freute sich über den Vorschlag von Onkel und Tante.

Nach ein paar Tagen stand die Abreise mit seinen Verwandten bevor. Gerd hatte seine Mundharmonika tief in die Hosenasche gesteckt, denn die musste natürlich mit. Seine Eltern und Großeltern begleiteten die Reisenden bis zum Bahnhof. Vom Fensterplatz konnte Gerd seine Lieben winken sehen. Eine herzliche Verabschiedung. Eine Trillerpfeife schrillte laut und der Zug setzte sich langsam in Bewegung. Dann konnte er noch kurz seine Eltern und Großeltern sehen, die dann in bestimmter Entfernung langsam verschwanden. Nun war er allein mit Onkel und Tante. Im Zugabteil saßen viele Leute auf den damaligen Holzbänken, was für die zweite Wagenklasse üblich war. Unter dem Fenster befand sich ein großer Aschenbecher. Ein monotones, zischendes Fahrgeräusch, verbunden mit dem Klackern der überfahrenen Schienennahtstellen, alles das hatte Gerd noch nie gehört. Er sah Bäume, Sträucher, Häuser am Fenster vorbeifliegen, dann ein grelles Quietschen der Bremsen und der Zug wurde wieder langsamer. Der nächste Bahnhof war erreicht. Viele Leute stiegen aus und andere stiegen wieder ein. Es ging alles sehr schnell und hektisch vonstatten. Dann wieder ein greller Pfiff und weiter ging es. Erst langsam, dann immer schneller, bis der Zug seine Höchstgeschwindigkeit erreicht hatte.

Der Schaffner kam und rief schon beim Öffnen der Türe: „Fahrkarten bitte.” Gerd staunte und er fand die Uniform des Schaffners Respekt einflößend. Der Schaffner kam immer näher, kontrollierte die Fahrkarten von Onkel und Tante. Aufgrund seines Alters durfte Gerd umsonst mitfahren, natürlich das nur in Begleitung von einer erwachsenen Person. Er kramte jetzt in seiner Tasche und holte seine Mundharmonika aus dem Etui und sagte zum Schaffner: „Ich kann ein Liedchen spielen: Auf der Schwäbischen Eisenbahn.” Der Schaffner lenkte ein: „Oh, dann bin ich mal gespannt.” Ohne Hemmungen spielte Gerd das angekündigte Lied und erntete im ganzen Zugabteil einen kräftigen Applaus. Onkel und Tante wurden etwas verlegen, aber sie freuten sich doch, mit auch ein wenig Stolz, dass Gerd so ganz auf die Schnelle, Sympathie mit seiner Mundharmonika hervorgerufen hatte.

Der Zug hielt unzählige Male bis zum Zielhauptbahnhof Dortmund. Für Gerd wieder ein neues Erlebnis. So ein großer Bahnhof, mit vielen Gleisen und Zügen hatte er noch nie gesehen. Gewaltig waren die überdachten hohen Bahnhofshallen. Es roch nach Rauch und Ruß, was durch mehrere Dampflokomotiven ausgelöst wurde. Durch einen breiten Tunnelgang gelangten sie bis hin zur Straßenbahn, die dann bis Dortmund-Derne, zum Wohnort von Tante und Onkel fahren sollte. Gerd saß wieder am Fenster und er konnte nun die hohen Häuser, die breiten Straßen, die vielen Trümmergrundstücke und die zerstörten Häuser im Vorbeifahren sehen. Eine riesige Großstadt. Es war faszinierend für den kleinen Jungen, das zu erleben. Er dachte an Palenberg, der kleine Heimatort, an seine Eltern und Großeltern. Hier das, war doch eine andere Welt. So groß kann die Welt sein. Auch eine Straßenbahn hatte er bisher noch nie gesehen. Nach mehreren Haltestationen war der Stadtteil Dortmund-Derne erreicht. „Hier müssen wir aussteigen“, sagte der Onkel. Er nahm das Gepäck und schnell stand er auf der Straße. Dann half er seiner Frau zuerst beim Aussteigen, packte Gerd mit beiden Armen und wirbelte ihn einmal durch die Luft. Die Freude, dass sein Neffe mitgekommen war, konnte man dem Onkel ansehen.

Fasziniert sah Gerd eine riesige Kohlenzeche mit hohen qualmenden Schornsteinen. Mehrere große Hallen und Gebäude bildeten ein weitläufiges Zechengelände, was von einer zwei Meter hohen Mauer umgeben wurde. Im Förderturm drehten sich die Förderräder mit voller Leistung und sie förderten das schwarze Gold zu Tage. Der Onkel zeigte mit einer Hand zur Zeche und erklärte, dass er auf dieser Zeche arbeiten würde. Genau auf der anderen Straßenseite befand sich ein kreisrunder Platz mit hohen Bäumen. Die dahinterliegenden Mehrfamilienhäuser erschienen dunkel und unheimlich. Kohlenstaub hatte sie an den Außenfassaden geschwärzt. In einem Dreifamilienwohnhaus hatten die Tante und der Onkel eine Wohnung im Erdgeschoss. Onkel Josef schloss die Wohnungstüre auf. „Jetzt sind wir endlich da“, stöhnte Tante Hedwig. „Das war doch ein anstrengender Tag, nicht wahr Gerd”, flüsterte sie. Eine lange schmale Diele mit mehreren Türen zu den jeweiligen Zimmern war zunächst zu sehen. Ein wenig ängstlich sah Gerd sich um und von der Küche aus ging er vorsichtig von Raum zu Raum. Mit alten, aber nicht wertvollen Möbeln, war die Wohnung spärlich eingerichtet. Sogar ein Bad mit einer Badewanne und ein runder Kohlebadeofen, der das Bad beheizte und gleichzeitig für warmes Wasser sorgte, war für die damalige Zeit schon purer Luxus. So etwas hatten seine Eltern nicht. Von der Küche, über einen kleinen Balkon, konnte man in den Garten gehen, der von allen Mietparteien genutzt werden konnte. Durch die fortgeschrittene Abenddämmerung wirkten die hohen Bäume bedrohlich und lösten Unbehagen aus. Dagegen sah die gepflegte Wiese mit der kleinen Gartenlaube etwas freundlicher aus.

Die Tante rief nach Gerd: „Komm doch bitte etwas essen, ich habe dir eine heiße Tasse Milch gemacht.“ Am Abendbrottisch saßen Tante, Onkel und Gerd etwas müde in der Wohnküche. „Warum bist du so still?”, erkundigte sich der Onkel, denn er merkte, sein Neffe saß stocksteif auf der kleinen Eckbank. „Ich will wieder zu meiner Mama und zu meinem Papa und Opa fehlt mir auch sehr.” Tante und Onkel schauten sich in diesem Moment verdutzt an. An so etwas hatten sie natürlich nicht gedacht. Der kleine Gerd hatte Heimweh, er wollte nach Hause. Beruhigend redete der Onkel auf Gerd ein und erklärte ihm, dass er erst mal eine Nacht hier schlafen müsse, denn jetzt wäre es überhaupt nicht möglich, wieder nach Palenberg zurückzukommen. Auf einer Luftmatratze hatte die Tante liebevoll einen Schlafplatz für Gerd gezaubert, aber das Heimweh war zunächst stärker. Schluchzend, seine Mundharmonika in den Händen haltend, schlief Gerd dann doch nach einigen Minuten ein.

Frühmorgens wurde er wieder langsam wach. Er schaute sich um, er war alleine im Schlafzimmer. Er hörte laute Geräusche, die von der Zeche herkamen. Sofort stand er auf, ging zur Schlafzimmertüre hinaus. Aus der Küche war das Klappern von Tellern und Tassen zu hören. „Wo ist Onkel Josef?”, fragte Gerd. „Der ist schon arbeiten”, antwortete die Tante und schaute Gerd freundlich an: „Auf der Zeche wird immer rund um die Uhr gearbeitet. Da gibt es Früh-, Mittag, Spätund Nachtschicht. Dein Onkel hat heute Frühschicht. Aber hast du denn bei uns gut geschlafen? Komm setz dich, dann nehmen wir zusammen unser Frühstück ein. Dann kannst du mit mir einkaufen gehen. Hier haben wir ein großes Geschäft, das heißt: Schulte-Tigges.“

Nach dem Frühstück ging Gerd durch die geöffnete Balkontür in den Garten. Die Wäscheleinen hingen voll mit frisch gewaschener Wäsche. Eine fremde Frau rief: „Na, wen haben wir denn da, wie heißt du denn?“ Tante Hedwig kam Gerd zuvor und stellte den kleinen Neffen vor. Gleichzeitig ließ sie Gerd wissen, dass das Frau Kampmeier ist und auch in diesem Hause wohnen würde. Erfreut sagte Frau Kampmeier zu Gerd: „Kommst du mich auch einmal besuchen, ich habe auch bestimmt etwas Leckeres für dich. Ich würde mich freuen.” Das ist aber eine freundliche Frau, dachte Gerd und er wollte schon direkt mitgehen. Es gab ja, von ihr wie angekündigt, etwas zu naschen. Frau Kampmeier nahm Gerd an die Hand und sagte zur Tante: „Ich bringe ihn gleich wieder zu ihnen, es dauert auch nicht lange.“

Gerd hatte sein Heimweh von dem vorherigen Abend vergessen und er stapfte die Treppen bis zum 1. Obergeschoss hinauf. Neugierig, was er wohl bei der netten Dame an Leckereien so bekommen würde, öffnete Frau Kampmeier ihre Wohnungstür. „Dann komm mal rein ins Wohnzimmer”, sagte sie freundlich. Wie gebannt staunte Gerd, als er ins Wohnzimmer kam. „Ein Klavier, so ein schönes Klavier”, sprach er fassungslos, und er konnte den Blick nicht mehr von diesem Instrument loslassen. Frau Kampmeier sah die Begeisterung des kleinen Jungen. Die versprochenen Leckereien waren jetzt Nebensache und eigentlich zunächst vergessen. Frau Kampmeier setzte sich auf den Klavierschemel und klappte den Tastaturdeckel auf. „Was soll ich dir denn vorspielen? Die kleine Nachtmelodie von Mozart, das Stück kann ich besonders gut.“ Als die ersten Anschläge auf den Klaviertasten erklangen, bildeten sie eine Melodie, Harmonie, den Bass und gleichzeitig den Takt. Gerd stand wie versteinert und hörte Frau Kampmeier zu. „So möchte ich auch einmal spielen können”, dachte er, aber im Hinterkopf hörte er schon seine Mutter sagen: „Dafür haben wir kein Geld. Ein Klavier kostet zu viel Geld.“

„Komm setzt dich auf den Schemel, dann kannst du auch mal auf ein paar Tasten drücken. Versuch es doch mal.“ Nichts lieber wie das, dachte Gerd. Frau Kampmeier schraubte den Schemel herunter und Gerd war überglücklich. Er drückte eine Taste, noch eine und noch eine; ein wunderbares Gefühl überkam ihn. Dann nahm Frau Kampmeier Gerds Zeigefinger und drückte ihn auf mehrere Tasten. Das war ein Lied, das war doch das Lied alle meine Entchen und das auf einem Klavier, das war ja wundervoll.

Gerd taute völlig auf. Alle Scheu, alle Schüchternheit war plötzlich nicht mehr da. „Frau Kampmeier, ich kann auch schon ein Instrument spielen”, strahlte Gerd und er kramte seine Mundharmonika, die er immer in seiner Hosentasche hatte, aus dem Etui. Freudig lächelnd erwiderte Frau Kampmeier: „Wir spielen etwas zusammen. Du kannst irgendein Lied spielen, dann begleite ich dich auf meinem Klavier.” Gerd stimmte an, gab sich die größte Mühe und spielte das Lied: ‘Kommt ein Vogel geflogen‘. Durch die Klavierbegleitung hörte sich alles wunderschön an. Es war Hausmusik und das von einer erwachsenen Frau, die natürlich schon länger Klavier spielen konnte und einem kleinen Jungen, der einfach mit seiner Mundharmonika spielte, weil es ihm Spaß machte. Die gute Frau hatte ihn dadurch wahrscheinlich sofort in ihr Herz geschlossen und sie holte aus ihrem Wohnzimmerschrank ein paar selbst gebackene Plätzchen. Gerd bedankte sich für die Leckereien. „Wenn du Zeit und Lust hast, kannst du immer zu mir nach oben kommen. Wenn du dann willst, kannst du etwas auf dem Klavier spielen, oder wir machen noch mal gemeinsam Musik.“ „Sehr gerne, Frau Kampmeier, wenn ich darf, werde ich wohl jeden Tag zu ihnen kommen”, gab Gerd sofort zur Antwort. Dann verabschiedete er sich von der Dame, flitzte die Treppe hinunter und hatte seiner Tante viel zu erzählen.

Wie versprochen ging die Tante mit Gerd einkaufen. Draußen auf der Straße konnte er das gewaltige Zechengelände wieder sehen. „Da arbeitet Onkel Josef?“, fragte Gerd und er fügte hinzu: „So tief in der Erde, dort wird die Kohle gefördert, da ist es doch auch bestimmt dunkel, da möchte ich nicht sein, da bleib ich lieber hier oben.“ Dunkle Rauchwolken drangen aus den Schornsteinen der Zeche und was in dieser Windrichtung lag, bedeckte Straßen, Häuser und Gärten mit Ruß. Wenn man sich gerade dort aufhielt, wurde schnell die Kleidung schmutzig. „Das ist hier so, der Kohlenpott hat mir schon oft meine frisch gewaschene Wäsche mit Ruß eingesaut und dann musste ich sie nochmals waschen“, bemerkte Tante Hedwig etwas ärgerlich.

Das Warenhaus Schulte-Tigges war ein größeres Geschäft mit vielen Artikeln. Dort gab es Töpfe, Teller, Küchengeräte, Werkzeuge, Kleider, Lebensmittel und eine Brotabteilung. Der heutige Supermarkt ist natürlich ganz anders ausgestattet. Aber Gerd kannte nur einen kleinen Tante Emmaladen aus seinem Wohnort. Staunend über dieses riesige Geschäft sah er so viele Sachen, die er vorher noch nie in gesehen hatte. „Hier für dich, eine Apfeltasche, die kannst du schon mal essen, dass wird dir bestimmt gut schmecken”, lächelte die Tante und schleppte ihre vollgepackte Einkaufstasche dem Ausgang entgegen.

Die großen Räder im Förderturm drehten sich wieder und ein ohrenbetäubender Lärm schallte von der Zeche herüber. Es war Schichtwechsel. Hunderte Bergleute hatten Feierabend und man konnte sehen, wie sie mit hastigen Schritten zum Eingangstor herauskamen. „Da kommt Onkel Josef”, rief Gerd und lief zu ihm hinüber. Der Onkel schnappte Gerd und wirbelte ihn vor Freude ein paar Mal durch die Luft. Dann erklärte er ihm, dass er heute über 1 000 m unter der Erde gearbeitet hatte. Unvorstellbar für Gerd. Was wusste ein kleiner Junge denn schon von 1 000 m unter der Erde? Auch hatte er keine Vorstellung, was der Bergmann alles machen musste. Wie viele Methoden, Ideen, Maschinen, Arbeitsgeräte, hatte der Bergmann im Laufe der Jahre erfunden, um die wertvolle Kohle mit schwerster Arbeit und Geschicklichkeit ans Tageslicht zu befördern. Darüber konnte er nichts wissen. Ein Bergmann musste alles können und man konnte vor Hochachtung den Hut ziehen. Die Bergleute waren geschickte und auch intelligente Leute.

Um das zu verstehen, war er viel zu jung und der Verstand eines Kindes war ja noch nicht so weit, um solche Dinge zu begreifen. Das war normal. Aber er konnte alle Strophen des bekannten Bergmannsliedes: ‘Glück auf, Glück auf, der Steiger kommt‘, … singen und die Melodie hatte er jetzt schon des Öfteren auf seiner Mundharmonika dem Onkel vorgespielt. Der sang dann alle Strophen mit. Sogar vom Text des Liedes ging hervor, dass die Bergleute fleißige und rechtschaffene Leute waren.

Die Ferien gingen schnell vorbei und Gerd musste wieder zurück nach Hause, zu seinen Eltern und Großeltern. Hin und wieder hatte er schon mal an seine Lieben gedacht, aber von Heimweh keine Spur. Dennoch freute er sich darauf, wieder nach Palenberg zu kommen. In der Ferienzeit hatte Gerd viele Bekannte kennengelernt. Ein großes Vorbild war Frau Kampmeier, die hatte er ins Herz geschlossen. Bestimmt würde er sie vermissen. Ihr Können auf dem Klavier, ihre Liebenswürdigkeit, alles das machte Frau Kampmeier beliebt und hinterließ einen großen Eindruck bei Gerd. Zum Abschied schenkte ihm Frau Kampmeier ein kleines Päckchen, drückte Gerd einmal fest an sich, ein Küsschen auf die Wange und dann machte sie ihm Mut mit den Worten: „Bald kommst du uns doch wieder besuchen; dann können wir wieder musizieren. Mir hat das jedes Mal große Freude gemacht und grüß mir deine Eltern.” Gerd bedankte sich vielmals für das kleine Geschenk. Voller Spannung packte er es aus. ‘Was mag da wohl darin sein‘? dachte Gerd. Er öffnete den Deckel des Päckchens, war begeistert und gleichzeitig sprachlos. Ein Klavier in Miniaturausgabe und das mit einer 24-karätigen Goldauflage. Er konnte es nicht fassen. So ein wertvolles, schönes Geschenk hatte er von Frau Kampmeier bekommen. Vor Freude machte er einen Luftsprung. „Danke, danke, Frau Kampmeier, das werde ich in Ehren halten”, jubelte Gerd und drückte Frau Kampmeier noch mal fest an sich. Er rannte die Treppenstufen hinunter und zeigte freudig das schöne Geschenk seiner Tante und auch seinem Onkel.

Der Tag der Abreise kam. Gerd winkte Frau Kampmeier mit beiden Händen zu. Der gewaltige Bahnhof beeindruckte ihn wieder sehr. Ein Personenzug mit einer schnaufenden Dampflokomotive stand zur Abfahrt bereit. Die Trillerpfeife des Zugführers erschallte schrill und grell. Wie von Geisterhand setzte sich der Zug langsam in Bewegung. Immer schneller und schneller, bis der Zug seine Höchstgeschwindigkeit erreicht hatte. Dann blieb das gleichbleibende, monotone Geräusch, was durch das Rollen der Räder über die Nahtstellen der Schienen entstand. Es war vergleichbar mit einem perfekten Rhythmus eines Schlagzeugers, der den Takt genau einhielt. Gerd holte wieder seine Mundharmonika aus der Hosentasche und als Unterstützung nutzte er den Rhythmus des Zuges. Er spielte die Melodie: ‘Von den Blauen Bergen kommen wir‘ und damit erntete er wieder Applaus von den mitfahrenden Personen aus dem Zugabteil.

Sträucher, Bäume, Häuser, kleine Orte, große Städte flogen wieder schnell am Fenster vorbei. Nach ca. 2 Stunden lief der Zug im Bahnhof Palenberg ein. Schon vom Fenster aus konnte Gerd seine Mutter und seine Großeltern auf dem Bahnsteig sehen. Die Freude war riesig. Er war wieder zu Hause angekommen. Seine ersten Ferien waren vorbei und er war im Glauben, jetzt die ganze Welt gesehen zu haben. Onkel und Tante stiegen beladen mit ihrem Gepäck aus dem Zugabteil. Gerd war nicht mehr zu halten. Er lief geradewegs zu seiner Mutter in deren weit geöffnete Arme. „Dein Vater ist noch arbeiten, aber der freut sich sehr, dich endlich wiederzusehen”, erklärte sie ihrem Jungen. Die Großeltern drückten ihren Enkel ganz fest und die Freude war groß.

Auf einem kleinen Dreirädchen fuhr Arno die Straße hinauf. Gerd hatte ihn schon öfters gesehen. Er war im gleichen Alter und als Spielgefährte passten sie gut zusammen. Die Eltern von Arno hatten eine Gastwirtschaft mit einem großen Tanzsaal und am Wochenende spielte dort eine Band zum Tanz auf. Ein altes eingesessenes, von mehreren Generationen der Familie Dreschers geführtes Lokal, in Palenberg. Das war Arnos Elternhaus. „Kommst du mal mit mir”, sprach Arno, Gerd an. „Da muss ich aber erst meine Mutter fragen”, antwortete Gerd. Etwas besorgt ließ die Mutter Gerd gehen: „Bis zum Mittagessen darfst du mitgehen; aber dann kommst du wieder nach Hause.” Die Gaststätte war in unmittelbarer Nähe. Arno saß auf seinem Dreirädchen und Gerd hielt sich am Soziussitz fest. Sie fuhren die Straße hinunter und schon konnte man die Reklame in grüner Schrift erkennen: ‘Gasthof Drescher‘. Arno öffnete die Eingangstüre. Zu sehen war zunächst ein halbrunder dunkler Vorhang, der die Kälte beim Öffnen und Schließen der Türe nicht rein und die Wärme von innen nicht nach außen herauslassen sollte. Arno drückte den Vorhang zur Seite und die beiden Jungen standen im Gastraum, direkt vor der Theke. Die Gaststätte war gut besucht. Überwiegend standen Bergleute an der Theke, die auf der Kohlenzeche Carolus-Magnus ihren Schichtdienst leisteten. Die Zeche stand unter französischer Leitung und war schon vor dem Kriege in Palenberg ansässig. Damals erhielten die Bergleute dreimal im Monat in einer Lohntüte ihr Gehalt und somit hatten sie eigentlich immer Geld zur Verfügung. Nach Erhalt der Schichtlöhne war es üblich, einen ausgedehnten Frühschoppen im Gasthof Drescher abzuhalten.

Arnos Vater stand hinter der Theke, seine Mutter eilte durch den Gastraum und bediente die Gäste, die an den Tischen saßen. Ein lautes Gegröle. Manche Gäste waren schon etwas betrunken, andere wiederum in lautstarken Gesprächen verstrickt. Die Mutter von Arno kam auf die beiden Jungen zu und freundlich fragte sie ihren Sohn: „Hast du einen Freund mitgebracht? Ich kenne den Gerd aber schon, der wohnt in der Poststraße.” Mit einer erschreckenden Bärenstimme dröhnte der Vater von Arno und schaute beide Jungen mit einer finsteren Mine an: „Was wollt ihr denn hier, wollt ihr eine Limonade?“ Und schon standen zwei Gläser mit Limonade bereit. Zögernd nahm Gerd das Glas und blieb wie versteinert stehen, denn hinter ihm stand ein älterer Herr, der laufend Geld in einen Spielautomaten warf. Hinter einer bunten Glasscheibe bewegten sich drei Rollen, dann ein lauter Schrei des Mannes und es klimperte im Automat. Eine Menge Geld spuckte der Spielautomat aus. „Gewonnen“, rief der Gastwirt: „Der Automatenschreck ist wieder da.“ Faszinierend schaute Gerd gebannt auf den Spielautomaten, denn so etwas Interessantes hatte er noch nie gesehen.

Arno und Gerd schlichen durch eine Türe, die zum Tanzsaal führte. Von dort aus gingen sie zur Bühne. Dort standen mehrere Mikrofone aufgebaut. Ein Schlagzeug, ein Klavier und ein großer Kontrabass. Andere Instrumente waren in den dazu gehörigen Koffern eingepackt. So wurden die Instrumente gegen Staub geschützt. Gerd kam aus dem Staunen nicht mehr heraus. So sehen also die Instrumente einer Tanzkapelle aus. Die größte Überraschung erlebte er allerdings, als Arno sich ans Klavier setzte und darauf zu spielen anfing. Sofort musste Gerd an Frau Kampmeier denken, die natürlich altersbedingt und mit größerer Erfahrung, die bessere Pianistin war. Arno bekam Klavierunterricht. Er spielte nach Noten und konnte schon einige Stücke ohne Fehler spielen. Gerd kramte in seiner Hosentasche und die Mundharmonika kam zum Vorschein. Ohne ein Wort zu verlieren, begleitete Arno die Melodie auf seinem Klavier, die Gerd ihm auf seiner Mundharmonika vorspielte. Das klang fast genauso gut, wie bei der lieben Frau Kampmeier. „Deine Mundharmonika ist für C-Dur geeignet. Für die Begleitung auf dem Klavier ist das eine leicht spielbare Tonart. Ungläubig fragte Gerd: „Gibt es denn noch andere Tonarten?” Durch den regelmäßigen Klavierunterricht kannte Arno schon Noten, Tonarten, Harmonien und Akkorde. Gerd hörte Arno gut zu, denn um ein Instrument spielen zu können, musste man viel lernen und ausdauernd sein. Das war alles ein Erlebnis für Gerd, aber er freute sich sehr, jetzt einen gleichaltrigen Spielkameraden gefunden zu haben.

Der Pfarrer kam in den Kindergarten und warb um neue Mitglieder für den Knabenchor. Arno, Matthias, Willi, Rudi, Gerd und noch einige Jungen aus der Kindergartengruppe waren begeistert. „Dann singt mir mal etwas vor”, sprach der Pfarrer und jeder durfte irgendein Lied singen. „Die kann ich alle gebrauchen”, freute sich der Pfarrer. „Nur unser Willi hat keine gute Stimmlage; aber das bekommen wir schon hin. So hatte der Pfarrer für den Knabenchor wieder für Nachwuchs gesorgt.

Die erste Probe war angesagt in der katholischen Kirche von Palenberg. Mit frischem Mut standen die Neulinge in der ersten Reihe auf der Orgelbühne. Der Organist, Herr Everts teilte die Gesangsnoten aus. Das Klangvolumen der Orgel erschallte und der Knabenchor sang mit wunderschönen hellen Jungenstimmen. Die neuen Mitglieder versuchten mitzusingen, was natürlich noch nicht möglich war. Sie waren dabei und wurden mit einbezogen, um einfach schon mal mitzuhören, so wie es in einem Chor zugeht. Herr Everts war der Küster in der Kirche. Orgelspielen hatte er auf einem Konservatorium in Aachen gelernt. Eine gewisse Unfreundlichkeit konnte man öfters in seinem Gesicht erkennen. Die dunklen Augenbrauen, sein versteinertes Gesicht, seine zottelige Haltung, löste bei den Neulingen Unbehagen aus. Die älteren Jungen kannten Herrn Everts schon seit längerer Zeit und sie wussten genau, wie sie ihren Chorleiter bei guter Laune halten konnten. Es war ihnen auch bekannt, dass Herr Everts in regelmäßigen Abständen einen Schluck aus einer Schnapsflasche zu sich nahm. Die Flasche hatte er geschickt hinter einer der Orgelpfeifen versteckt, aber die älteren Mitglieder aus dem Knabenchor wussten davon. Er konnte auch sehr gut brüllen, immer dann, wenn schon mal ein falscher Ton getroffen wurde. Um ihn kurz zu beschreiben, er war ein ungemütlicher Zeitgenosse, der kleine Jungs schnell einschüchtern konnte.

Manfred war schon einer der ältesten im Knabenchor. Er plante mit seinen Kameraden Herrn Everts zu necken und wollte den Schnaps gegen Wasser austauschen. Es war ihm egal, ob er mit Herrn Everts Ärger bekommen würde, denn in absehbarer Zeit musste er sowieso ausscheiden. Spätestens dann, wenn sich seine Stimme verändern und der Stimmbruch kommen würde. Dann dürfte er sowieso nicht mehr im Knabenchor mitsingen.

Die nächste Probe war wieder fällig. Manfred grinste wie ein Honigkuchenpferd. Er hatte tatsächlich den Schnaps in den Abfluss geschüttet und die Flasche mit Wasser gefüllt. Man hörte Herrn Everts stöhnend die Wendeltreppe zur Orgelbühne heraufkommen. Schlecht gelaunt und ohne guten Morgen zu sagen, verteilte er wieder die Gesangsnoten. Dann griff er unauffällig hinter der Orgelpfeife nach seiner Schnapsflasche. Der ganze Chor wusste Bescheid und alle warteten auf die Dinge, die jetzt kommen würden. Herr Evers war natürlich im Glauben, dass niemand von seiner Schnapsflasche wusste. Er hustete leicht: „Stellt euch schon mal in Reih und Glied auf, dann fangen wir an und das mir heute keiner falsche Töne singt. Er machte einen Schritt hinter die Orgelpfeifen und kam nach ca. einer Minute mit einem hochroten Kopf hervor. Dann setzte er sich an die Orgel, verzog aber keine Miene. Das mürrische Gesicht veränderte sich auch nicht. Der gesamte Chor hielt die Notenblätter vor ihre grinsenden Gesichter und es wurde so getan, als ob alles in bester Ordnung gewesen wäre. Durch diese ulkige Situation konnte keiner mehr singen. Dadurch verfinsterte sich das Gesicht von Herrn Everts immer mehr. Aber er ließ sich auch nichts anmerken und tat so, als ob nichts geschehen wäre. Er spielte weiter auf der Kirchenorgel.

Kurz vor Weihnachten sollten die Sängerknaben feierlich in einem Hochamt singen. Dadurch wurde die heilige Messe mit den hellen Knabenstimmen umrahmt und alles klang wunderschön. Die Kirche war proppenvoll. Fast alle Katholiken aus Palenberg kamen, um den Sonntagsgottesdienst zu feiern. Herr Everts eröffnete mit seinem gekonnten Orgelspiel die Messe und alle Gläubigen sangen mit. Der gemischt besetzte Chor sang jetzt ein Weihnachtslied. Die hohen Sopranstimmen hörten sich an wie Engel im Himmel. Die Akustik in der Kirche ließ den Chor noch schöner und lauter erschallen. Der Pastor predigte und hielt eine christliche Rede. Das Wort Gottes. Dann kam die Wandlung. Dabei konnte man gewöhnlich eine Stecknadel fallen hören, so still war es in der Kirche. Plötzlich ein lautes Schnarchen in der Andachtsstille. Herr Everts lag mit dem Kopf auf seiner Orgel und war fest eingeschlafen. Kein Gesang, sondern ein lautes Gelächter kam jetzt von der Orgelbühne. In dieser Situation konnte sich keiner mehr das Lachen verkneifen. Der Pastor schaute mit einem düsteren Blick hinauf zur Orgelbühne und überlegte, das kann eigentlich nur der Küster sein, der so laut schnarcht. Durch das Gelächter wurde Herr Everts ruckartig geweckt und wusste zunächst gar nicht, wo er war. Dabei spielte wahrscheinlich der Alkohol zu seiner jetzigen Verfassung eine große Rolle. Er rutschte in diesem Moment, als er erwachte, fast von der Orgelbank. Schnell hielt er sich geistesgegenwärtig mit den Händen am Tastenpult der Orgel fest. Dadurch glitten seine Hände unkontrolliert über die Orgeltasten, was zur Folge hatte, dass somit in voller Lautstärke alle falschen Töne von den Orgelpfeifen durch den Kirchenraum erschallten. Wieder ein unterdrücktes Gelächter von der Orgelbühne und alle Leute, die in den Bänken saßen, drehten sich um. Mit verständnislosen Blicken schauten sie nach oben, um zu sehen, was denn auf der Orgelbühne vor sich ging. Einige schüttelten den Kopf, andere fanden das Ganze lustig, nur der Herr Pastor sprach jetzt sehr laut: „Wir sind hier in der Kirche und alle, die das lustig finden, können draußen weiter lachen.“ Eine peinliche Situation, die aber Herr Everts zu verantworten hatte.

Schon nach einiger Zeit konnten die neuen Mitglieder des Chores nach Noten singen. Die Kameradschaft festigte sich immer mehr. Der Chor war nicht nur ein Gesangverein, sondern eine verschworene Gemeinschaft, gute Freundschaft, verbunden durch Musik. Was konnte es Schöneres geben für Kinder und Jugendliche.

Die Schulzeit begann und Gerd kam in die Volksschule zu Palenberg. Mit einem Schulranzen saß er in einer Schulbank und so begann sein erstes Schuljahr. Viele Klassenkameraden kannten sich schon untereinander aus dem Kindergarten und dem Knabenchor. Sogar Musikunterricht gab es hier an dieser Schule. Das ging dann so vonstatten. Konrektor Boss, ein kleiner dicker, aber respekteinflößender Mann, rief laut durch die Klasse: „Alles raus auf den Schulhof. Die größeren zuerst, dann die nächsten, alle hintereinander, als Marschgruppe aufstellen und das diszipliniert, wenn ich bitten darf!” Die gesamte Klasse stand nun in Dreierformation auf dem Schulhof in Reih und Glied und wartete auf ihren Lehrer, der auch dann sofort erschien. „Ein Lied, 2, 3, 4“, brüllte er, „und dabei wird marschiert!” So ließ er die Klasse immer im Karree des Schulhofes marschieren. Es war vergleichbar mit einer militärischen Formalausbildung.

Hatte die Klasse Musikunterricht, so packte Herr Boss seine Geige aus dem Geigenkoffer, stimmte sie, gab den Ton an und die ganze Klasse musste das angestimmte Lied mitsingen. Ein Schulkamerad aus unserer Klasse, mit Namen Leo Dremmen hatte einen Sprachfehler, dazu eine Missbildung an der Oberlippe, die bekannte Hasenscharte und dadurch konnte er überhaupt nicht singen. Ständig sang er mit seinem tiefen Bariton falsch. Das brachte Herrn Konrektor aus der Fassung. Der wunderschöne Gesang, seine Geige, alles das wurde durch Leos Stimme gestört und es hörte sich natürlich grausam an. „Dremmen, raus aus der Klasse, du bist vom Musikunterricht befreit; so wie du singst, das kann ja keiner mit anhören!”, regte Herr Boss sich auf und bekam dabei einen knallroten Kopf. Ein neues Lied wurde angestimmt. Die Geige quietschte in allen Tönen. Mitten im Lied wieder eine total falsche Stimme, die den gesamten Ablauf störte. Herr Boss schlug mit dem Geigenstock aufs Pult und brüllte durch die Klasse: „Aufhören, wer singt denn jetzt schon wieder falsch?“ Alles schaute grinsend auf Willi Pelz. Die Klassenkameraden erkannten sehr schnell, was Willi vorhatte. Er sang einfach absichtlich falsch, um dann auch nicht mehr am Musikunterricht teilnehmen zu müssen. Zu seinem Nachteil hatte Herr Boss das aber auch gemerkt und er forderte Willi auf, alleine dieses Lied vorzusingen. Damit konnte er feststellen, ob er seine Stimme absichtlich verstellt hatte. Willi sang mal tief, mal hoch, total verkehrt und Herr Boss war sich nicht sicher, ob sein Schüler hier wirklich den Ton halten konnte, oder ob er seine Stimme extra verändert hatte. Mit dem Geigenstock fuchtelte er durch die Luft und schrie Willi an: „Du singst ab sofort nicht mehr mit!” Willi wollte aufstehen und das Klassenzimmer verlassen, doch Herr Konrektor schrie ihn wieder an: „Sitzenbleiben, das könnte dir so passen; aber ab sofort singst du nicht mehr mit!”

Der Pfadfinderstamm St. Georg suchte neue Mitglieder. Um den Jugendlichen das Pfadfinderleben schmackhaft zu machen, erklärte der Stammesführer, ‘Papa Anpöhler‘, den Sinn einer solchen Gemeinschaft. Jeden Tag war eine gute Tat zu verbringen. Das war der Wahlspruch der Pfadfinder. Es gehörten auch Zeltlager in freier Natur dazu; verbunden mit Lagerfeuerromantik, schönen Erlebnissen und bleibenden Erinnerungen. Gerd war vollauf begeistert und nach Absprache mit seinen Eltern durfte er an der ersten Gruppenstunde teilnehmen. Manfred spielte auf der Gitarre und mehrstimmig erklangen schöne Fahrtenlieder. Gerd kramte seine Mundharmonika aus der Hosentasche. Etwas Neues konnte Gerd erfahren. Die Gitarre war das ideale Begleitinstrument für alle Zwecke. Ein Instrument, geeignet für Pfadfinder, die dann in Zeltlagern und am Lagerfeuer ihre bekannten Fahrtenlieder sangen. „Das möchte ich auch erlernen”, dachte Gerd, aber ohne eine Gitarre zu besitzen, konnte dieser Traum nicht in Erfüllung gehen.

Am Abendbrottisch saß Gerds Familie gemeinsam beim Abendessen. Vorsichtig fragte er leise und vorsichtig: „Papa, kann ich eine Gitarre haben? Ich möchte gerne Gitarre lernen.” Der Vater schaute in die Runde seiner Familie und antwortete: „Dafür haben wir kein Geld.“ „Aber der Arno hat sogar ein Klavier und bekommt Klavierunterricht und der Matthias hat ein Akkordeon, der Werner eine Geige, ach, bitte kauf mir doch eine Gitarre!”, antwortete Gerd traurig. „Ich kann dir deinen Wunsch leider nicht erfüllen, warum, dass habe ich dir gerade gesagt. Die Schule ist viel wichtiger im Leben als Gitarre zu erlernen. Aber vielleicht kannst du dir eine Gitarre zu Weihnachten wünschen. Wenn du gute Ergebnisse in der Schule bringen würdest, dann geht dein Wunsch vielleicht in Erfüllung“, betonte der Vater. Gerd löffelte seine Suppe. Man konnte die Enttäuschung an seinem Gesicht ablesen. Aber es war eine schwierige Zeit. Mit einem spärlichen Gehalt kam der Vater mit seiner Familie gerade so über die Runden.

Bei jedem Gruppentreffen der Pfadfinder spielte Manfred Gitarre. Gerd durfte auch einmal die Gitarre halten. Manfred versuchte ihm, die ersten Akkorde beizubringen. Das musste man können, um ein Lied zu begleiten. Da gab es C-Dur, F-Dur, G-Dur, vielleicht ein Mollakkord und schon konnten, mit Übung der Fingerfertigkeiten, einige Fahrtenlieder auf der Gitarre begleitet werden. Nur eine Gitarre müsste man haben! Dann könnte man üben und das Instrument erlernen. Somit spielte Gerd weiter auf seiner Mundharmonika, manchmal mit Arno am Klavier oder Matthias am Akkordeon und Werner auf seiner Geige. Die Lieder, die dann gemeinsam mit der Mundharmonika gespielt wurden, konnten nur in C-Dur begleitet werden. Man hatte keine Auswahl, weil die Mundharmonika in C-Dur nur bespielbar war. Es gab natürlich für jede andere Tonart auch eine Mundharmonika, aber Gerds größter Wunsch war doch eine Gitarre.

Weihnachten, dann könnte es vielleicht klappen. Das wäre eine Chance, endlich eine Gitarre zu bekommen. Beim letzten Besuch von Onkel und der Tante aus Dortmund wurde davon gesprochen, dass sie sich an den Kosten einer Gitarre beteiligen würden; um dann zu Weihnachten dieses schöne Instrument für Gerd unter den Tannenbaum legen zu können. Gerd zählte die Tage. Nur noch ein paar Tage, dann haben wir Heiligabend. Der geschmückte Tannenbaum, die alte Krippe mit den bemalten Gipsfiguren, so hatte der Opa schon alles im Wohnzimmer aufgebaut und die weihnachtliche Atmosphäre war überall zugegen.