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50 Jahre Schornsteinfegerleben zeigen den Wandel der Gesellschaft in anschaulichen Geschichten und Anekdoten.
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Seitenzahl: 381
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Erster Lehrtag, 31. März 1959
Vorwort
Kapitel 1: Lehrzeit
Abschnitt 1
Abschnitt 2
Abschnitt 3
Abschnitt 4
Abschnitt 5
Abschnitt 6
Abschnitt 7
Abschnitt 8
Abschnitt 9
Abschnitt 10
Abschnitt 11
Abschnitt 12
Abschnitt 13
Abschnitt 14
Abschnitt 15
Abschnitt 16
Abschnitt 17
Abschnitt 18
Abschnitt 19
Kapitel 2: Gesellenzeit
Abschnitt 20
Abschnitt 21
Abschnitt 22
Abschnitt 23
Abschnitt 24
Abschnitt 25
Abschnitt 26
Abschnitt 27
Abschnitt 28
Abschnitt 29
Abschnitt 30
Abschnitt 31
Abschnitt 32
Abschnitt 33
Abschnitt 34
Abschnitt 35
Abschnitt 36
Abschnitt 37
Abschnitt 38
Kapitel 3: Bezirksschornsteinfegermeister
Abschnitt 39
Abschnitt 40
Abschnitt 41
Abschnitt 42
Abschnitt 43
Abschnitt 44
Abschnitt 45
Abschnitt 46
Abschnitt 47
Abschnitt 48
Kurz vor meiner Pensionierung sprach ich mit meiner Tochter Tanja über mein Empfinden, bald ein Rentner zu sein. Was wird dann kommen? Werde ich diese Hürde auch schaffen? Was wird mir fehlen? Über 50 Jahre als Schornsteinfeger tätig gewesen zu sein; eine lange Zeit. Vor ein paar Jahren war das Rentenalter noch in weiter Ferne und jetzt stand der wohlverdiente Ruhestand kurz bevor. „Dann freu dich doch“, meinte meine Tochter. Recht hatte sie ja, aber richtig freuen konnte ich mich nicht. „Wenn du Langeweile bekommen solltest, ich habe genug Arbeit in meinem Hause für dich“, munterte sie mich auf. „Und außerdem kennst du doch den Herbert Weyand, meinen Kollegen, der durch eine Krankheit vorzeitig zum Rentner gemacht wurde. Und der schreibt jetzt Romane und ist glücklich damit. Du könntest ja auch ein Buch schreiben!“ Verblüfft antwortete ich: „Ein Buch schreiben? Was soll ich denn für ein Buch schreiben? So etwas habe ich noch nie gemacht. Das muss man natürlich auch können.“ Meine Tochter verzog ihr Gesicht ein wenig und gab mir zur Antwort: „Dann versuch es doch einfach erst einmal. Wie du selber weißt, fällt so etwas nicht vom Himmel. Jeder braucht schließlich für alles erst einmal einen Anfang.“ Ich dachte nach. Eigentlich eine gute Idee. Langsam konnte ich mich dafür begeistern, plötzlich etwas ganz anderes, neues zu tun, als wie bisher. Aber wird es gelingen? „Ein Bestseller wird es bestimmt nicht“, scherzte ich mit meiner Tochter. Sie hatte die nächste gute Idee: „Schreibe doch über dein Leben als Schornsteinfeger. In deinem Beruf hast du bestimmt einiges erlebt. Wäre das vielleicht interessant?“ Wieder dachte ich nach. Das könnte mir schon gefallen. So würde ich beim Schreiben meiner Biographie, viele Erlebnisse in meinem Gedächtnis zurückholen. Vielleicht könnte man die Erinnerungen nochmals erleben? Ein schöner Gedanke; etwas für mich und meine Nachkommen festzuhalten und das selbstgeschrieben auf Papier. Ein Versuch ist es wert. Als pensionierter Schornsteinfeger nun doch nicht ganz aus dem Berufsleben abzudanken, das könnte mit sehr gefallen.
So begann ich mit meiner Lehrzeit und ich merkte die ersten geschriebenen Seiten machten mir großen Spaß. In meinen Gedanken kamen so viele Geschichten, Begebenheiten, Arbeitsabläufe und Namen zusammen, die ich wirklich so erlebt hatte. Es war wunderbar, ich wurde wieder zurückversetzt in die damalige Zeit, in der ich meinen Berufsanfang begonnen hatte.
Natürlich habe ich nur die ganz besonderen Erlebnisse beschrieben, die ich noch in meinem Gedächtnis gut behalten habe. Besonders versuchte ich ein wenig den Werdegang in unserem Schornsteinfegerhandwerk zu beschreiben. Wichtig erschien mir das für den Leser, der überhaupt keine Vorstellung von unserem Beruf hat. Ein kleiner Einblick im Schornsteinfegerhandwerk für jeden. So wie der Schornsteinfeger seine tägliche Last und Mühe bewältigen musste, so ist das auch heute noch. Mit immer wieder neuen Aufgaben wurde der Beruf konfrontiert. Als beliehene Handwerker des Staates mussten wir die nun uns aufgetragenen Arbeiten erfüllen. So habe ich meine Geschichten als Schornsteinfeger mit kleinen fachlichen Gegebenheiten verbunden. Vielleicht kann der Leser sich am Rande meines Buches ein Bild über unser schönes Schornsteinfegerhandwerk machen.
Es erscheint dem einen oder anderen, dass manche Beschreibungen einem Berichtsheft ähnlich sind. Da ich meine Berichtshefte, den Gesellenbrief, den Meisterbrief und auch noch alte Schulungsunterlagen besitze, sind diese schon einige Male für mich als Hilfestellung und Gedächtnisstütze genutzt worden.
Einige liebenswerte Personen haben mir ausdrücklich gestattet, sie in meinem Buch namentlich zu erwähnen und agieren zu lassen.
Daneben erscheint in meinem Buch ein zweiter Kreis von Personen, die frei erfunden sind.
Jede Ähnlichkeit mit Personen aus diesem zweiten Kreis, gleich ob lebend oder verstorben, wäre rein zufällig.
*
Eberburgweg Nr. 1 in Aachen
Am 31.03.1959 begann ich meine Lehre als Schornsteinfeger. Eigentlich hätte ich die Lehrzeit erst am 01.04.1959 beginnen müssen. Mein Lehrmeister, Bezirkschornsteinfegermeister Michael Klinkenberg, machte mir den Vorschlag, schon einen Tag vorher anzufangen, um erste Eindrücke als Schornsteinfeger wahrzunehmen.
Ich war erst 14 Jahre alt und hatte gerade die Schulbildung in der Volksschule abgeschlossen. Nun begann ein neuer Lebensabschnitt, den ich mit großer Freude beginnen wollte. Die Berufskleidung wurde nach Absprache meines Lehrmeisters im Vorstellungsgespräch passend bestellt, so dass ich schon am ersten Tag wie ein Schornsteinfeger aussehen sollte.
Mein Wohnort und Elternhaus war in Übach-Palenberg. Ich musste mit der Deutschen Bundesbahn vom Bahnhof Palenberg bis nach Aachen-West fahren, um zur Arbeit zu kommen. Der Zug fuhr jeden Morgen um 7.05 h und war 7.35 h in Aachen-West. Damals fuhr man noch mit Kohle, Wasser und einer schwarzen Dampflok. Da wir als Schornsteinfeger sehr stark mit Ruß verschmutzt waren, durften wir nicht in einem normalen Zugabteil. Unser Mitfahrplatz war im Packwagon oder auch schon mal vorne auf der Dampflok. Somit lernte ich Lokführer, Heizer, Zugführer, Schaffner und Paketmeister kennen. Das war das Zugpersonal eines Zuges. Nach geraumer Zeit sah man die Bundesbahnbeamten durch den Wechsel des Fahrplanes immer wieder.
Nun fuhr ich am ersten Tage mit einem sauberen, funkelnagelneuen Schornsteinfegeranzug nach Aachen-West. Zu Fuß ging es weiter bis zur Kruppstraße, die in unmittelbarer Nähe des Bahnhofs lag. Dort erwartete mich schon mein Meistergeselle Josef Radermacher. Als ersten Eindruck empfand ich ihn sehr sympathisch und vorsorglich. Für mich eine absolute Respektperson. Er stellte sich mit seinem Namen vor und wünschte mir einen guten Anfang. Herr Radermacher kam mit einem alten Motorrad, Marke Miele, worauf eine selbstgebastelte Holzkiste auf dem Gepäckständer montiert war. Diese Kiste war unsere Werkstatt bei der Arbeit. Darin befanden sich Fegewerkzeuge, Schraubenschlüssel, Zangen und zur Stärkung auch Butterbrote. Als allererstes übergab mir Herr Radermacher eine Fegeleine mit Kugelschlagapperat, Kugel, Kette und einen Kehrbesen. Ein Spezialwerkzeug für den Schornsteinfeger. Ein weiteres Werkzeug bekam ich ausgehändigt, dass Schultereisen. Hinzu noch eine 5 Meter flexible Stahlstange und ein oval gedrückter Sauerkrauteimer, der als Rußgefäß benutzt werden sollte. Das war mein alltägliches Werkzeug.
Nun stand ich da, mit dem typischen Kehrwerkzeug, auf dem Bürgersteig der Kruppstraße. Herr Radermacher klingelte auf alle Schellen im ersten Haus und rief sehr laut in den Hausflur hinein: „Schornsteinfeger, es wird gefegt!“ Im nächsten Haus sollte ich meine Stimme erschallen lassen. Trotz großer Anstrengung kam meine jugendliche Stimme sehr schwach an. Im Hausflur hörte ich ein lautes Gelächter der dort wohnenden Mieter. Auf Aachener Platt wurde mir zugerufen: „Mir hand et gehurt.“ Mein Meistergeselle ermunterte mich nun im nächsten Hausflur etwas lauter zu rufen, damit alle Mieter auch hören könnten, dass die Schornsteinfegerarbeiten gemacht werden sollten. Dies war erforderlich, damit die Bewohner ihre Feuerstellen vorher abdichten konnten. Meine Stimme war dann schon wieder viel zu leise. Es funktionierte nicht. Mein Rufen konnte ich nicht steigern. Die gleiche Belustigung der Bewohner bekam ich dann wieder zu hören. Mein Meistergeselle übernahm dann wieder mit seiner Bärenstimme die Ansage für die Schornsteinreinigung. Mehrere Häuser, die aneinandergebaut waren bildeten eine Häuserreihe. In einem der Häuser gingen wir bis zum Speicher. Durch ein Dachfenster stiegen wir aufs Dach. Vorher musste ich mein Schultereisen von der linken Schulter nehmen. Denn ein Schultereisen durfte nicht mit aufs Dach genommen werden. Es war strengstens untersagt. Wäre es von der Schulter gerutscht, hätte es großen Schaden anrichten können. Das Schultereisen wurde überwiegend zur Rußentnahme benötigt und für Schornsteine die vom Speicher gereinigt wurden. Dann diente das Werkzeug als Führung der Leine. An scharfkantigen Schornsteinöffnungen wurde dadurch der Verschleiß der Leine gemindert.
Ausgerüstet mit der Fegeleine über die rechte Schulter sollte ich nun durch die Dachluke aufs Dach steigen. Die Dächer hatten ca. 45 Grad Dachneigung. Mein Meistergeselle erklärte mir die Form eines Satteldaches.
Guter Rat war teuer. Die Dachluke war in Kopfhöhe zu erreichen. Ich machte unmögliche Anstrengungen, um aus diesem Dachfenster zu klettern. Doch Herr Rademacher gab mir Hilfestellung. Er drückte mein Hinterteil hoch. So kletterte ich sehr ungelenk aufs Dach. Jetzt befand ich mich am unteren Teil der Dachfläche. Ich musste feststellen, dass ein fünfstöckiges Haus eine beträchtliche Höhe sein kann. Das mulmige Gefühl in der Magengegend wurde automatisch angeregt. Mein Meistergeselle packte mit seiner rechten Hand unter meinem Koppel (Gürtel). Er gab mir damit eine gewisse Sicherheit und meine Angst wurde somit nicht noch größer bei der Besteigung des Daches. Es ging hinauf bis in die Nähe des Firstes. Nun musste ich mich auf eine Schornsteingruppe setzen. Von dieser Stelle hatte ich jetzt einen wunderschönen Ausblick über Aachen-West. Herr Rademacher tätigte die Fegearbeiten. Er ging von Schornsteingruppe zu Schornsteingruppe und fegte die Schornsteine. Seine jahrelange, praktische Erfahrung zeichnete seine Schnelligkeit aus. Nun dauerte die Reinigung der vielen Schornsteine etwa eine halbe Stunde. Ich durfte derweil auf keinen Fall meinen Sitzplatz auf der Schornsteingruppe verlassen. Es gab Vorschriften: ‘Wie gehe ich übers Dach und wie verhalte ich mich dort sicher‘. Außerdem hatte ich keine Unfallverhütungsschuhe an, die waren bestellt aber noch nicht da. Nach Beendigung der Arbeiten kam Herr Rademacher vom letzten Dach zu mir zurück. Dabei lief er über den First wie ein Seiltänzer. Ich war wieder sehr beeindruckt und zweifelte damals schon daran, ob ich das auch irgendwann so schaffen würde. Mein Meistergeselle griff zur Sicherheit wieder unter meinem Gürtel. Jetzt musste ich zurück zur Dachluke. Ich war heilfroh, dass ich den Speicherboden wieder unter meinen Füßen hatte. Es war meine erste gefährliche Dachbegehung, die ich in guter Erinnerung behalten habe. Als nächstes gingen wir bis in den Keller. An den Sohlen der Schornsteine wurde der abgekehrte Ruß in den Blecheimer gefüllt. Damals war noch sehr viel Ruß in den Schornsteinen und die Kehrordnung schrieb eine sechsmalige Reinigung jedes Jahr vor. Nach dem ersten Versuch, den Ruß zu entfernen, war ich schnell mit Ruß behaftet. Ich merkte zunächst umso mehr den Rußanteil, der sich auf Gesicht und Hände verteilte. So ging ich mit meinem Meistergesellen zum nächsten Haus. Hier erlebte ich die erste Beschwerde eines Mieters. Starke Rußeinstaubung hatte die Wohnung verschmutzt. Energisch, im Aachener Dialekt behauptete er, wir hätten zu schnell gefegt und er habe dadurch das Wohnzimmer voller Rußstaub. Freundlich erklärte mein Meistergeselle, dass er bei der nächsten Schornsteinreinigung seine Feuerungsanlage abdichten sollte, dann könne auch kein Ruß in die Wohnung dringen. Der Mieter schimpfte aber trotzdem weiter und knallte uns die Wohnungstür vor der Nase zu. So verging der Vormittag ziemlich rasch. Den ersten unzufriedenen Kunden hatte ich nun kennengelernt.
Die Mittagspause war nur von kurzer Dauer. Gerade einige Butterbrote gegessen und schon standen die nächsten Schornsteinfegerarbeiten an. Der Pontwall ist eine Straße direkt an der Technischen Hochschule Aachen. Wir bestiegen wieder ein Dach und ich durfte mit dem passenden Werkzeug meinen ersten Schornstein fegen. Es war gar nicht so einfach, wie es aussah. Runter ging der Kehrbesen mit viel Mühe. Umso schwerer wurde das heraufziehen des Kehrbesens. Man brauchte schon eine gewisse Kraftanstrengung um das Kehrgerät wieder nach oben zu bekommen. Dabei muss ich wohl eine unbeholfene Figur gemacht haben. Herr Rademacher lachte sich ins Fäustchen. Er kannte nur zu gut die ersten Versuche eines Lehrlings, einen Schornstein zu fegen. Letztendlich half er mir beim Hochziehen des Kehrwerkzeugs. Schnell verging der erste Lehrtag. So stand ich am Bahnsteig und wartete auf den Zug. Schon am ersten Tag hatte ich keine Zweifel gehabt, dass dieser Beruf als Schornsteinfeger für mich der Richtige sei. Bei der Rückfahrt sprachen die Bundesbahnbeamten richtig kumpelhaft mit mir. Sie machten mir Mut mit einigen Sprüchen: ‘Aller Anfang ist schwer; Lehrjahre sind keine Herrenjahre‘. Diese Sprüche kannte ich allerdings von meinem Vater. Der Zielbahnhof war erreicht. Ich stieg aus dem Packwagen und winkte den Zugbegleitern zu. Einige Freunde und Schulkameraden aus Palenberg gingen mit mir gemeinsam zum Ausgang des Bahnhofs. Als sie mich in meiner Schornsteinfegerkleidung sahen, riefen sie: „Schornsteinfeger, schwarzer Neger; oder Schornsteinfeger Lampe ging zu seiner Tante usw.“
Viele Blicke trafen mich. Als jugendlicher schämte ich mich über diese Anmerkungen. Dabei stellte ich fest, dass ich durch meine typische Berufskleidung immer als Schornsteinfeger erkannt und gesehen wurde. Nach fünf Minuten Gehweg kam ich dann doch ein wenig müde bei meinen Eltern an. Ich wurde herzlichst empfangen. Mein erster Lehrtag. Zur Erinnerung ein Foto. Gebadet wurde in einer Zinkwanne, die meine Mutter mit warmen Badewasser gefüllt hatte. Damals gab es bei uns kein Badezimmer. Diesen Luxus hatten nur die reichen Leute. Jetzt versuchte ich wieder sauber zu werden, aber der Ruß war sehr hartnäckig. Mit herkömmlicher Seife war da nicht viel zu machen. Natürlich musste die gründliche Körperreinigung auch gelernt werden. Kurz nach dem Essen ging ich ganz freiwillig ins Bett und versank sofort in tiefen Schlaf.
Eberburgweg Nr. 1 in Aachen
Meine Mutter weckte mich um 6.30 Uhr. Somit musste ich wieder meine Arbeitskleidung anziehen. Obwohl ich die Kleidung am Vorabend ausgebürstet hatte, haftete trotzdem der Ruß noch an den Kleidern. Somit kam ich morgens schon mit Ruß in Berührung. Waschen sollte man die Berufskleidung nicht. Denn der Schornsteinfegeranzug war imprägniert auf Rußdichtheit und zum Teil mit Lederbesatz verarbeitet. Bei einem Waschvorgang würde der feine Rußstaub eindringen. Nach meinem Frühstück musste ich wieder zum Bahnhof. Ich stieg in den Paketwagen ein. Zu meiner Überraschung traf ich dort einen Kollegen. Wir begrüßten uns sehr herzlich. Er erklärte mir, dass er Schornsteinfegerlehrling Heinz Drechsler sei und schon im 3. Lehrjahr das Schornsteinfegerhandwerk erlerne. Er stand kurz vor der Gesellenprüfung. Dafür sollten Kenntnisse und Fertigkeiten in den Stadthäusern eingeübt werden. So sollte Herr Drechsler in unserem Ausbildungsbetrieb für einige Wochen von Herrn Radermacher für seine baldige Prüfung ausgebildet werden. Die Strukturen der Land- und Stadtbezirke waren unterschiedlich. Für den Regierungsbezirk Aachen wurden alle Prüfungen in der Stadt Aachen vorgenommen. Es war von wichtiger Bedeutung, dass man die Arbeiten in der Stadt durch Fähigkeiten kennen lernen musste. Die Anlaufstelle zur Arbeit war wieder der Pontwall. Herr Radermacher übergab Herrn Drechsler das typische Schornsteinfegerwerkzeug. Das Werkzeug von Herrn Radermacher und von mir, hatten wir am Vortag in einem Keller abgelegt. Meine Aufgabe war nun, dass gesamte Werkzeug nach oben zu holen. Jetzt hatte ich zwei Fegeleinen, Stangen, Schultereisen und Eimer zu tragen. Vom Gewicht her war es für mich ziemlich schwer. Ich kam mir vor wie ein Packesel. Jetzt wurde wieder eine lange Häuserreihe angesagt, um die Schornsteinfegerarbeiten durchzuführen. Herr Drechsler durfte diesmal laut in die Hausflure rufen: „Schornsteinfeger, es wird gefegt.“ Zuvor erklärte Herr Rademacher uns beiden, wie man eine Aufstellung mit Dachskizze der Schornsteine in einem Haus anfertigen sollte. Da ich gerade meinen Beruf als Schornsteinfeger begonnen hatte, sollte ich gut aufpassen und auch gleichzeitig mitmachen. In den großen Mietshäusern befanden sich einige Wohnungen rechts und links. Sogar gab es auch schon mal Mittelwohnungen. Somit gab es auf einer Etage manchmal drei bis vier Wohnungen. Mehreren Etagen, sowie Keller und Speicher wurden als Stockwerk mit einbezogen. Hinzu kamen viele Feuerstätten, Wohnzimmeröfen, Küchenherde, Badeöfen, die dann in jeder Wohnung an die dafür vorgesehenen Schornsteine angeschlossen waren. Die vielfältige Anzahl von Schornsteingruppen, mit mehreren Zügen, war so gebaut, dass in jedem Zimmer und in jeder Wohnung mehrere Feuerstätte für die Beheizung der Wohnungen genutzt werden konnte.
Wir waren jetzt im Dachbereich angekommen. Das Haus hatte acht Stockwerke und eine sehr steile Dachkonstruktion. Unser Meistergeselle zeigte und erklärte uns, wie eine provisorische Dachskizze aussehen sollte. Es wurde die Dachform mit First, dazu alle Schornsteingruppen mit Schornsteinzügen eingezeichnet. Bei der Kehrarbeit folgte ein Maß, was an Hand von Leinenlängen bis zur Sohle des Schornsteins notiert wurde. So gab es Schornsteine die endeten in verschiedenen Etagen. In der allgemeinen Fachsprache hießen die, abgesetzte Schornsteine. Um die Schornsteinsohlen zu finden, musste man eine gute Orientierung, viel Geschick und Wissen haben. Dafür hatte ich drei Jahre Zeit, um diese Fähigkeiten zu erlernen. Selbst alleine mit dem Kehrwerkzeug umzugehen, brauchte man viel Geduld und einige Zeit. Nachdem wir alle Schornsteine in den Häusern gekehrt hatten, musste der angefallene Ruß an den Schornsteinsohlen noch entfernt werden. In einer Wohnung endete ein Schornstein. Vor dem Reinigungsverschluss befand sich ein Küchenherd aus früherer Zeit. Damals wurde damit geheizt und gleichzeitig das Essen auf großer Herdplatte gekocht. Die Mieterin der Wohnung war eine ältere Dame. Somit musste ich unter Aufsicht meines Lehrgesellen erst den Kohlenkasten unter den Herd herausziehen. Auf dem Bauch rutschte ich dann unter den warmen Küchenherd bis zur Reinigungsöffnung des Schornsteins. Aus Platzmangel passte kein Gefäß unter den Reinigungsverschluss. Nun kratzte ich den Ruß auf den Fußboden. Dabei gab es eine Rußwolke, die aber durch den geöffneten Reinigungsverschluss und den dadurch entstehenden Schornsteinauftrieb zum Teil abgesogen wurde. Der angesammelte Ruß, der auf dem Boden lag, beseitigte ich mit einer kleinen Kohlenschaufel in den Rußeimer, oder besser gesagt, in den Marmeladeneimer. Ich hörte wie die alte Dame zu meinem Meistergesellen sagte: „Der Jong muss äver noch besser liere der Dreck vutt zu mache. Äver der Jong is ja noch jung, der hät noch föll Zick.“
Den Umgang mit den Leuten fand ich persönlich manchmal sehr lustig und interessant. Wenn mein Lehrgeselle Erklärungen abgab, beruflich oder auch privat, spitzte ich meine Ohren. Denn bei jedem Gespräch lernte ich etwas Neues hinzu.
Nun standen wir wieder auf einer Dachreihe und der Lehrling Drechsler sollte auf einen ungefähr 1,80 m hohen Schornsteinkopf klettern. Herr Drechsler war ziemlich gut gebaut. Er hatte eigentlich einige Kilo zu viel. Somit schaffte er es nicht, bis an der Mündung des Schornsteinkopfes zu gelangen. Herr Radermacher zeigte uns beiden jetzt, wie man eine solche Hürde erklimmen konnte. Er nahm einen kleinen Anlauf und klettert den Schornstein geschickt hinauf. Schon stand er freihändig auf den Schornstein. In schwindelnder Höhe fegte er dann die Schornsteine. Ich war sprachlos und voller Bewunderung dachte ich: ‘Der kennt die Tricks. Wie eine Katze auf dem Dach‘. Plötzlich ein Pfeifton. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite stand mein Lehrmeister Michael Klinkenberg, den ich seit dem Vorstellungsgespräch nicht mehr gesehen hatte. Mein Meistergeselle Herr Radermacher, ein gebürtiger Aachener, sagte nun auf Aachener Platt zu uns beiden: „Wir müssen no der Michel jon.“ Der Michel, also mein Lehrmeister; war ein stattlich, gut gekleideter Mann. Eine Respektperson, zu der ich niemals Michel gesagt hätte. In meiner gesamten Lehrzeit habe ich meinen Lehrmeister nur mit Krawatte und Anzug gesehen. Dabei hatte er immer einen kleinen Rauhaardackel, über den ich noch später erzählen möchte. Mit ein paar freundlichen Worten und einer Nachfrage an uns Lehrlinge, wie es bei der Arbeit geht, verließ Michel uns wieder.
Was ich noch nicht wusste, dass im Schornsteinfegerhandwerk mit einem langen, kurzen Pfeifton hintereinander, die Verständigung mit irgendeinem Kollegen vermittelt wurde. Das hatte den Vorteil, dass man durch lautes Rufen, wie zum Beispiel bei den Bauhandwerkern, sich etwas unauffälliger bemerkbar machen konnte. Den Pfeifton kannte jeder Schornsteinfeger.
Meister Klinkenberg war wieder weg. Wir stiegen wieder aufs Dach und beendeten die Kehrarbeiten in den Häusern. Dann gingen wir zu einem großen Gebäude der technischen Hochschule Aachen. Dort erklärte Herr Radermacher uns das System einer Dampfheizung, die es heute nur noch selten gibt. Da gab’s ein Standrohr als U-förmige Röhre. Das darin befindliche Wasser war so bemessen, dass es den höchstzulässigen Dampfdruck bis 0.5 atü im Gleichgewicht hielt. Sobald der überschüssige Dampf entwischen war, floss das Wasser durch eine Rücklaufleitung wieder ins Standrohr zurück. Herr Radermacher unterrichtete alles gut verständlich. Sogar bis heute habe ich die erklärten Zusammenhänge nicht vergessen.
Dann wurde eine Schornsteinbesteigung von innen angekündigt. Es war der Bestandteil einer Gesellenprüfung. Wieder in einem Gebäude der technischen Hochschule Aachen. Darin befand sich ein Steiger. (Großer Schornstein) Den Namen Steiger kannte ich aus dem Bergbau. Ich wunderte mich über den Begriff, der jetzt im Schornsteinfegerhandwerk eine Bedeutung haben sollte. Ich hörte, wie Lehrling Drechsler sagte: „Da können wir uns ja freuen!“ Mir war immer noch nicht klar, was auf mich zukam. Wir waren im Heizungskeller angekommen. Ich sah eine gigantische Heizungsanlage die mit Steinkohle betrieben wurde. An der Schornsteinsohle befand sich senkrecht in der Wange des Schornsteins eine Eisenplatte von ca. 80 cm x 80 cm. So groß war auch der vorhandene lichte Schornsteinquerschnitt. Wir öffneten erst die Einstiegsluke, um von dort aus in den Schornstein zu gelangen. Schwaches Tageslicht fiel von der Mündung des Schornsteins bis zur Sohle des Schornsteins. Als erster musste ich in den Schornstein klettern. Mit beiden Knien und beiden Ellenbogen, also in der Diagonalen, versuchte ich in den quadratischen Schornstein von innen hochzuklettern. Lehrling Drechsler kam als nächster an der Reihe. Wir kletterten Meter für Meter immer höher. Herr Drechsler hatte einen Stielbesen in der Hand, womit der Ruß an den Wänden abgekehrt wurde. Ungefähr in der Mitte des Schornsteins hatte ich das Bedürfnis auszuruhen. Ganz einfach stellte mich auf die Schultern von Herrn Drechsler, der unter mir war. Ich dachte mir überhaupt nichts dabei und nahm an, dass mein Fliegengewicht wohl nichts ausmachen würde. Jetzt aber fluchte mein Leidensgenosse: „Gerd, geh sofort von meinen Schultern herunter! Ich glaube du bist bescheuert!“ Sofort klemmte ich mich wieder mit den Knien und Ellenbogen im Schornstein fest. Ein erleichterndes Stöhnen war unter mir zu hören. An der Mündung angekommen, mussten wir dann auf die Betonabdeckung des Schornsteins klettern, damit unser Meistergeselle auch sehen konnte, dass wir oben angekommen waren. Die gleiche Prozedur begann dann mit dem Abstieg wieder von innen. Lehrling Drechsler zuerst, dann stieg ich wieder in den Schornstein ein. Aber runter ging es einfacher. An der Sohle angekommen, hatte Lehrling Drechsler einige Probleme, denn das Steigen im Schornstein war sehr anstrengend. Für seine bevorstehende Gesellenprüfung hatte er aber dieses Pflichtfach geschafft.
Sehr schnell verging die erste Woche in meiner Lehrzeit. Es hieß: Jeden Tag Schornsteine fegen und Ruß entfernen. Mir machte die tägliche Arbeit großen Spaß. Selbst wenn man sehr schmutzig nach Hause kam, machte mir das überhaupt nichts aus. Ich freute mich immer wieder auf den nächsten Tag.
*
Eberburgweg Nr. 1 in Aachen
Jeden Freitag musste ich zu meinem Lehrmeister. Er wohnte in der Aachener Soers. Vom Bahnhof Aachen-West ging ich über den Lousberg bis zum Wohnort meines Chefs. Er wohnte im Purweider Weg. Dieser Fußweg dauerte ungefähr eine knappe halbe Stunde. Mein Lehrmeister und seine Frau erwarteten mich schon. Ich klingelte an der Haustür. Frau Meisterin sagte kurz und knapp: „Hinten rum!“ Ich staunte. Ein wunderschönes Anwesen hatte Familie Klinkenberg. Ich ging eine Einfahrt herunter, die bis zum Kellereingang führte. Dort erwartete mich mein Lehrmeister. Ich begrüßte ihn freundlich. Er erwiderte meinen Gruß. Ich staunte schon wieder. Er gab mir Gartenarbeit auf, die ich verrichten sollte. Nun sollte das jeden Freitag so gehen. Zunächst war Rasenmähen angesagt. Ein alter Trimm-Dich-Rasenmäher ohne Motor stand zur Verfügung. Die Rasenflächen waren insgesamt ungefähr 1000 qm groß. In der Mitte des Rasens war ein Schotterweg und im unteren Teil der Wiese befanden sich einige Obstbäume. Die Gartenarbeit war nicht alles. Ich musste öfters Schuhe putzen, Koks in den Keller schaufeln, die Einfahrt kehren, Unkraut in der Gartenanlage ausziehen und noch einige andere gängige Hausarbeiten waren zu erledigen.
Samstag hatte ich Berufsschule in Aachen. Das 1. Lehrjahr bestand aus 11 Lehrlingen, im 2. Lehrjahr waren 8 Lehrlinge und im 3. Lehrjahr 5 Lehrlinge. Dazu wurden Fachgebiete, wie Wirtschaftskunde und Bürgerkunde aller Klassen zusammengelegt. So kam es, dass wir in der Schornsteinfegerklasse mit dem Handwerksberuf Steinmetz gleichzeitig unterrichtet wurden. Unser Berufsschullehrer, Herr Salge, lehrte Wirtschaftskunde und Bürgerkunde. Er war ein sehr freundlicher Lehrer, der aber auch in Wutausbrüche kommen konnte. Dies lag natürlich meistens an den Schüler, die den Unterricht störten und nur Blödsinn im Kopf hatten. Herr Salge warf dann auch schon mal mit dem Schlüsselbund durch die Klasse. Meistens traf er nicht den richtigen Störenfried. Unsere Fachlehrer waren Bezirksschornsteinfegermeister. Da gab es den Herrn Grümmer, Herrn Simons, und Herrn von Agris. Herr von Agris war der Obermeister der Innung Aachen. Vor unseren Fachlehrern hatten wir Lehrlinge äußersten Respekt. Hier flog auch kein Schlüsselbund durch die Luft. Es herrschte eiserne Disziplin in allen Klassen. Selbst die sonst unmöglichen Klassenclowns wurden lammfromm. Diese Verehrung hatte damit zu tun, dass in einer Schornsteinfegerinnung alle Mitglieder untereinander bekannt waren. Hatte ein Lehrling sich nicht benommen, oder Fehler fabriziert, wusste in der darauffolgenden Woche, der Lehrmeister und auch der Geselle von der Ungehörigkeit. Folglich bekam man derartig die Leviten gelesen, dass man möglichst darauf achtete, in keinster Weise unangenehm aufzufallen.
Die Kameradschaft in unserem Lehrjahr war sehr gut. Wir unterstützten uns auch schon mal gegenseitig bei Klassenarbeiten. In meiner Schulbank saß mein Kumpane, Lehrling Franz Wischmann, dessen Vater Bezirksschornsteinfegermeister in Alsdorf war. Franz war gut gebaut und zur damaligen Zeit einer der kräftigsten Lehrlinge in unserer Klasse. Er war mein persönlicher Beschützer. Schließlich war ich ja der schmächtigste und kleinste Lehrling auf dem Pausenschulhof. Unter den Lehrlingen gab es hin und wieder schon mal harmlose Raufereien. Aber Franz war immer an meiner Seite. Ich brauchte mir keine Sorgen machen. Dafür schrieb Franz schon mal Aufgaben von mir ab, die leider auch schon mal falsch waren. Somit waren die Aufgaben bei Franz auch nicht richtig. Eine schlechte Bewertung folgte. In einer Schulstunde hatten wir technisches Zeichnen. Herr Salge stellte einen Stuhl auf sein Pult und sagte: „Zeichnet diesen Stuhl aus eurer Perspektive ab.“ Das konnte ich gut. Eine einigermaßene Darstellung auf Papier war ein leichtes für mich. Gleichzeitig hatte ich für meinen Schulkammeraden Franz eine Skizze mit angefertigt, die wir gemeinsam abgaben. Herr Salge schaute alle Zeichnungen durch und kam zu dem Ergebnis, dass unsere beiden skizierten Stühle die Besten waren. Allerdings schaute Herr Salge etwas komisch, denn die porträtierten Skizzen sahen sich sehr ähnlich.
Es wurden die Zeiten vorgegeben. Von montags bis donnerstags lernte ich die tägliche Arbeit eines Schornsteinfegers kennen. Freitags musste ich die Gartenarbeit bei meinem Chef in der Soers erledigen. Am Samstag hatte ich Berufsschule und das von 8.00 h bis 13.30 Uhr.
Bei der täglichen Arbeit kamen immer neue Aufgaben und verschiedene Arbeitsausführungen auf mich zu. Die Erkenntnis, dass der Beruf Schornsteinfeger doch gar nicht so einfach war, wie ich in den ersten Lehrtagen angenommen hatte, merkte ich von Tag zu Tag. Ich versuchte aber das Beste zu geben. Verschiedene Heizsysteme, Öfen, Küchenherde, Badeöfen, Waschkessel, Gasdurchlauferhitzer und Schornsteine aller Art wurden immer wieder aufs Neue geschult. Es gab auch damals kein Schlechtwettergeld. Wir mussten immer arbeiten. Im Sommer auf den heißen Dächern: Bei Regen, Sturm und Wind und im Winter, wenn Schnee und Glatteis auf den Dächern lag. Unter schwierigen Umständen ging es immer weiter mit der Schornsteinfegerei.
An einem sehr heißen Sommertag stiegen wir auf eine Dachreihe in der Lousbergstraße. Die Luft war stickig und drückend warm. Beinahe schwanden mir die Sinne. Eine Sommererleichterung wurde nicht erlaubt. Nach unserer Tradition musste die Berufskleidung bei der Arbeit immer vorschriftsmäßig und korrekt sein. Es durften keine Strümpfe, Sommer wie Winter, angezogen werden. War es Schikane? Die Sonne schien an diesem Tag so stark, dass man die Dachziegel nicht anfassen konnte. In meinem Arbeitsanzug merkte ich, wie eine unangenehme Feuchtigkeit unter den Kleidern entstand. Der dichte Schornsteinfegeranzug ließ nasses Element, was durch Schwitzen entstand, nach außen durch. Man schmorte im eigenen Saft. Trotzdem ich gut gegen Hitze ankam, war die ungeheure Sonnenwärme fast unerträglich. Ich bat meinen Meistergesellen um Erleichterung. Meine Bitte; die Arbeitsjacke und Schuhe, in denen sich mittlerweile eine Art Schlamm gebildete hatte, auszuziehen. Mein Meistergeselle erlaubte mir das unter einer Bedingung. Ich musste die Sachen so lange auslassen, bis wir mit der Dacharbeit fertig waren. Im ersten Moment kam Luft an Oberkörper und Füße. Es war angenehm und wohltuend. Aber es dauerte nicht lange, dann wäre ich heilfroh gewesen, ich hätte die Sachen nie ausgezogen. Meine Fußsohlen waren nach Beendigung der Dacharbeit leicht verbrannt. Mein Oberkörper war voller Ruß. Das merkte ich aber erst abends, bei der Körperreinigung. Jetzt wusste ich warum die Arbeitskleidung unbedingt angehalten werden sollte. Schmerzhaft humpelte ich nun den ganzen Tag mit meinen verbrannten Fußsohlen bei der Arbeit. Es war mir eine Lehre, denn in meiner gesamten Berufszeit habe ich nie mehr die Schuhe auf einem Dach ausgezogen.
An einem Arbeitstag erlebte ich einen grausamen Unfall. Es war ein schöner, sonniger Tag. Wir arbeiteten in der Roermonder Straße. Ich stand auf einer Schornsteingruppe und fegte die Schornsteine. Dabei hatte ich einen weiten Ausblick auf die viel befahrene Verkehrsstraße. Damals gab es noch die Straßenbahn und in der Straße die dazugehörenden Straßenbahnschienen. Ich sah wie eine junge Frau mit dem Fahrrad in einer der Straßenbahnschienen hängen blieb und verlor das Gleichgewicht. Sie kippte mit dem Fahrrad um. In Sekundenschnelle fiel sie auf das Straßenpflaster. Mir stockte der Atem. Dann musste ich zusehen, wie ein schwerer Lastwagen mit einem Anhänger über den Kopf der Frau fuhr. Vor lauter Schreck war ich wie gelähmt. Jede Bewegung wurde zu einer unendlichen Anstrengung. Den ganzen Tag war mir übel und auch noch heute, wenn ich an dieser Stelle vorbeifahre, muss ich immer an den schrecklichen Unfall denken.
Einige Tage später kam es zu einem weiteren schweren Unfall, in meiner erst kurzen Lehrzeit. Die Mittagspause wurde bei schönem Wetter immer auf einer Bank in einer Parkanlage gemacht. Herr Radermacher und Herr Beißel, ein Aushilfsgeselle, genossen die Pause in einer Anlage in der Ludwigsallee. Als Lehrling musste ich in einem nahegelegenen Geschäft, Frischmilch holen. Mit drei Flaschen Milch wollte ich zu unserer Pausenbank zurück. Dabei musste ich die Ludwigsallee überqueren. Im letzten Moment sah ich einen Mercedes, der aus einer Nebenstraße kam. Plötzlich bremste er. Dann winkte er freundlich und beachtete mich als Fußgänger. Was er nicht bemerkte, war eine Straßenbahn, die nicht mehr rechtzeitig anhalten konnte. Sie erfasste den Mercedes an der Fahrerseite. Jetzt gab es einen fürchterlichen Knall, so dass mir bald vor Schreck die Milchflaschen aus den Händen gefallen wären. Ein furchtbares, kreischendes Geräusch, zerriss die Stille. Die Straßenbahn schleifte den Mercedes etwa 10 m vor, obwohl eine Vollbremsung eingeleitet wurde. Ich hörte den Mann vor Schmerzen schreien. Er wurde in seinem Wagen eingeklemmt. Vor lauter Aufregung lief ich zu meinen Gesellen, die den Unfall von der Parkbank gesehen hatten. In dieser Pause konnte ich nichts mehr Essen. Nun spielte ich mit dem Gedanken, dass ich besser hätte stehen bleiben sollen, vielleicht wäre dieser Unfall dann nicht passiert. Ich machte mir Vorwürfe und es schlich sich eine Mitschuld bei mir ein. In wenigen Minuten war der Rettungswagen zur Stelle. Die Feuerwehr befreite den Mann schließlich aus seinem Fahrzeug. Bis heute weiß ich aber nicht, ob der Mann diesen Unfall überlebt hat. Manchmal erinnere ich mich noch an die lauten Schmerzensschreie. In diesem Falle brachte der Schornsteinfeger kein Glück.
So vergingen Tage, Wochen und Monate. Das Fegen der Schornsteine wurde langsam zur Routine. Der Beruf Schornsteinfeger machte mir große Freude. Die Arbeit war vielseitig und abwechslungsreich. Öfters lernte ich neue Gesellen kennen, die in unserem Betrieb zur Aushilfe arbeiteten. Der Kehrbezirk meines Lehrmeisters war so groß, dass ein Geselle die anfallenden Arbeiten nicht zeitgemäß schaffen konnte. Etwa drei Wochen beschäftigte mein Lehrmeister in einem Quartal, zusätzlich noch ein Aushilfsgeselle. Dies war erforderlich, denn sonst hätten die im gleichen Turnus der wiederkehrenden Arbeiten nicht bewältigt werden können. Zu den gesetzlichen, vorgeschriebenen Kehrarbeiten, wurden auch noch Nebenarbeiten getätigt. Unter anderem wurden Schornsteinköpfe, die baufällig waren, über Dach abgetragen und neu aufgemauert. Der Chef nahm alle Aufträge an, um natürlich Geld zu verdienen. Damals war der Bezirksschornsteinfegermeister im Gegensatz zu heute ein anerkannter, mit großer Macht, vom Staat aus berufener Handwerker, der sehr geachtet wurde und durch die aufgetragenen Arbeiten vom Staat, für Brandschutz und Feuersicherheit verantwortlich war.
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In einem großen Mietshaus in der Rolandstraße hatte Chefchen Michel einen größeren Auftrag angenommen. Die Gesellen sollten mehrere Schornsteingruppen über Dach abreißen und neu aufmauern. Möglichst schnell und gut sollten wir die Arbeiten übernehmen. Wir waren mit zwei Gesellen und meine Wenigkeit. Der Arbeitsablauf wurde so getätigt: Das Dach wurde um die Schornsteinköpfe aufgenommen. Der beim Abreißen der Schornsteinköpfe angefallene Schutt wurde in Eimer gefüllt, die ich dann acht Etagen runter tragen musste. In jeder Hand ein Eimer voller Schutt. Acht Etagen war es bis zum Erdgeschoss. Auf dem Bürgersteig kippte ich den Schutt an einer Stelle. Wurde der Schutthaufen größer, fuhr ich ihn mit einer Schubkarre zu einem Trümmergrundstück. Mit den leeren Eimer musste ich dann zu einer nahegelegenen Neubaustelle bei den Bauarbeitern um Mauermörtel bitten. Meistens bekam ich das erfragte ohne viel zu betteln. Denn der Schornsteinfeger war damals überall gern gesehen. Auch dann, wenn ein so kleiner, dünner Lehrling auf einer Baustelle rumturnte und Mauermörtel organisieren musste. Mit den vollen Mörteleimern ging ich wieder die acht Etagen bis zum Dach hinauf. Die Gesellen riefen schon: „Wo bleibst du mit dem Speis, wir haben wieder mal nichts zu mauern.“ So ging das den ganzen Tag. In südlichen Ländern gab es Esel für solche Schleppereien. So kam ich mir dann auch vor. Wenn ich zu lange wegblieb, meckerten sie unaufhörlich. Manchmal bekam ich sogar einen Fußtritt. Diese Nebenarbeiten waren schweißtreibend und anstrengend. Trotzdem machte es spaß und es war sehr lehrreich. Ich lernte jetzt die verschiedenen Verbindungen der Steine zu dem Mauerwerk; die Mauerverbände: Da gab´s den Läuferverband, Streckverband, Blockverband, Binderverband und Kreuzverband für den Schornsteinbau. Nach ca. zwei Tagen hatten wir die Arbeiten ausgeführt.
Es gab natürlich eine Vielzahl anderer Nebenarbeiten: Heizkesselreinigung, Schornsteinreinigungsverschlüsse erneuern, Rußabsperrer an Feuerungsanschlüssen einbauen und vielseitige Maurerarbeiten an Schornsteinen.
Wieder vergingen einige Tage mit den üblichen Kehrarbeiten. Eines Morgens kam unser Chef und erklärte einen neuen größeren Auftrag. Wir sollten in den nächsten Tagen die Rauchkanäle im Lockschuppen Aachen-West-Bahnhof reinigen. Schon am frühen Morgen um 7:00 Uhr, trafen wir uns an dem halbrunden Lockschuppen. Ungefähr waren hier 15 Dampflokomotiven abgestellt, die dort gewartet wurden. Dabei war das Feuer im Kessel der Dampfmaschinen auf Schlummerbetrieb heruntergefahren. Dadurch wurde die Betriebsbereitschaft der Lokomotiven gewährleistet. Sie standen auf einem großen Drehteller, der so gefahren werden konnte, dass die jeweilige Lok auf ein anderes, bestimmtes Gleis zurückgefahren werden konnte. Im Lokschuppen selbst standen die Lokomotiven mit ihren Schornsteinen unter der Hallendecke. Von den Schornsteinen der Lok waren an der Decke Schrägkanäle angebracht, die dann alle in einen ringförmigen Sammelkanal eingeführt wurden. Der Rauch der noch in Betrieb gehaltenen Lokomotiven wurde darin abgeführt. Der Sammelkanal war ca. 80 cm breit x 1,20 m hoch. Er war so gebaut, dass er bis zu einem 30 m hohen Fabrikschornstein führte. Am Anfang und am Ende des Sammelkanals befanden sich die Einstiegsluken. Darin mussten wir reinklettern, um den Ruß in den Kanälen zu entfernen. Zu meinem Erstaunen befand sich sehr viel Ruß in den Kanälen. Am Kanalboden hatten sich ungefähr ca. 40 cm Ruß angesammelt und an den Wänden der halbrunden Decke des Kanals befanden sich ca. 5 –10 cm. Eine Menge Ruß. Jetzt wurde mit einem Stielbesen der Ruß von den Wänden abgekehrt. Mit einem Krätzer drücken wir den am Boden befindlichen Ruß bis zur Einstiegsluke. Dann wurde das schwarze Gold in Eimern gefüllt und in einen Eisenbahnwaggon geschüttet. Durch den starken Schornsteinauftrieb zog der aufgewühlte Rußstaub bei der Reinigung des Kanals teilweise ab. Das Einatmen des feinen Staubes wurde somit vermindert. Unsere Berufskleidung verdeckte bei der Arbeit alle Körperteile: Ein Mundtuch, was über Mund und Nase gezogen wurde, eine Steigerkappe, die den Kopf und die Schulter bedeckte. Sie verhinderte, dass der Ruß nicht in den Nacken fallen konnte. Für diese anstrengende Arbeit brauchten wir insgesamt eine ganze Woche. Das Unangenehme sollte für mich noch kommen. Mein Geselle seilte mich an. Jetzt rutschte ich durch die engen Seitenkanäle bis zur Öffnung. Von dort konnte ich die Lokomotivschornsteine sehen. Dann zog er mich wieder an der angeschnallten Leine zum Sammelkanal zurück. Die Hitze in den kleinen Kanälen war unerträglich. Jedesmal bekam ich mit der Angst zu tun, wenn es hieß: „Gerd! Luft anhalten! Du musst wieder in den Schrägkanal.“ Aber ich hatte sicherlich die ideale Figur. Ich passte gut in den Querschnitt der Kanäle. Ein etwas dickerer Kollege, wie z. B. Herr Drechsler, wäre bestimmt in den Kanälen stecken geblieben. Durch das Herunterrutschen in den Kanälen fiel der Ruß in den Schornstein der darunter stehenden Lokomotive. Unter der Hallendecke entstand dadurch eine riesige Rußwolke, die dann bis zum Boden rieselte.
Es war eine sehr schmutzige Arbeit. Abends brauchte man drei Vollbadewannen, um einigermaßen wieder sauber zu werden. Der Fettruß, der bei der Verbrennung entstand, war trotz dichter Arbeitskleidung auf allen Körperteilen verteilt. Ich hatte Mühe ihn wieder abzubekommen. Auf dem Nachhauseweg sah man nur noch meine Augen. Wenn ich lachte, sah man die weißen Zähne. Aber das Lachen verging gänzlich in der rußigen Woche und so sah man meine Zähne auch nicht mehr. Menschen, die ich auf dem Nachhauseweg begegnete, schauten meistens zweimal hin. War das ein Schornsteinfeger? Der ist aber schwarz. Dabei hatten sie ein leichtes Grinsen im Gesicht. War es Mitleid oder fanden sie es lustig? Jedes Jahr durfte ich diese seltene Art von Schornsteinfegerarbeiten miterleben. Interessant ist es, dass nach Beendigung der gereinigten Kanäle, ein Eisenbahnwaggon bis zum Rand mit Ruß gefüllt war. In meiner ganzen Berufslaufbahn habe ich so viel Ruß auf einmal nicht mehr gesehen und beseitigt.
Mittlerweile wurde die Ausführung meiner Tätigkeiten zur Gewohnheit. Schnell und sicher versuchte ich die täglich anfallenden Kehrarbeiten ausführen. Hin und wieder durfte ich auch schon mal ganz alleine ein Haus bearbeiten. Das geschah aber nur dann, wenn mein Meistergeselle in unmittelbarer Nähe war. Die Berufsschule besuchte ich gerne und mit den meisten Lehrlingen entwickelte sich ein freundschaftliches Verhältnis. Denn der Wahlspruch im Schornsteinfegerhandwerk bedeutete viel: ‘Einer für alle, alle für einen‘. Es gab in der Berufsschule manchmal einige Schwierigkeiten. Es wurde viel abverlangt. Manchmal fuhr ich mit dem Zug nach Beendigung des Schulunterrichts kreidebleich nach Hause. Ich hatte den Kopf voller Probleme. Viele Erklärungen und Aufgabenstellung hatte ich oft nicht verstanden. Unser Fachlehrer, Herr Grümmer, bemerkte einmal: „Gottschalk, was ist los? Du siehst so aus, als ob du in den Schnee geschissen hättest. Oder kann es sein, dass du krank bist?“ Ich dachte: ‘Der hat gut reden. Ich habe es eben nicht kapiert‘. Es ging mir so nahe, dass ich wohl dadurch sehr bleich ausgesehen hatte. Meinen Meistergesellen bat ich oft um Hilfe. Ich muss mich noch heute bei ihm bedanken, für die vielen Unterweisungen und Lehrhilfestellungen. Dazu hatte ich das Glück, das in unserer Nachbarschaft ein Dipl. Ing. Herr Longerrich wohnte. Der war sehr geschult. Er konnte alle meine nicht verstandenen Aufgaben lösen. Meistens hatte ich es dann durch seine ausführlichen Erklärungen verstanden. Die Lösungen der Aufgaben übermittelte ich natürlich meinem Schulkamerad Franz. Genauso wie ich, kapierte er auch nicht immer alles beim ersten Mal. Die Aufgaben mit den Lösungen, die eigentlich mein Nachbar Herr Dipl. Ing. Longerrich gelöst hatte, gaben wir voller Zuversicht bei unserem Fachlehrer ab. In der darauf folgenden Woche bekamen wir unsere Hausaufgaben wieder. Zu unserer Freude war alles richtig. Allerding stand mit Rotstift geschrieben: ‘Wo hast du das abgeschrieben‘? Das gleiche hatte Franz auch angekreidet bekommen. Beide mussten wir in der Pause zu unserem Fachlehrer ins Klassenzimmer kommen. Er wollte die Angelegenheit mit uns Besprechen. Ganz nervös und ängstlich standen wir vor dem Pult. Er stellte die erste Frage: „Wer hat euch dabei geholfen? So wie ich euch kenne, habt ihr die Aufgaben bestimmt nicht selber gelöst. Somit kann ich diese Arbeiten auf keinen Fall bewerten.“ Ich erklärte, dass ein Nachbar geholfen hatte. Aber wir waren jetzt in der Lage, die Aufgaben bei einer Wiederholung selber zu lösen. Herr Grümmer gab sich damit zufrieden. Er gab uns beiden die Note 2, mit der wir ja sehr glücklich waren. Vor unserem Klassenzimmer jubelte Franz. Wir lachten beide, fühlten uns an den Kopf. Voller Begeisterung sagte Franz: „Das haben wir ja mal wieder schön hingekriegt.“
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Der Herbst begann mit starken Stürmen, so dass es auf den Dächern von Aachen öfters ungemütlich wurde. Der Wind pfiff durch die Arbeitskleidung hindurch. Höchste Vorsicht war plötzlich geboten, denn eine heimtückische Windböe konnte auf dem Dach gefährlich werden. Mit der Zeit bekam man immer mehr ein Gespür, wenn Gefahren auf dem Dach lauerten.
An einem grauen Novembertag war ich schon früh in der Försterstraße. Ich wartete auf meinen Meistergesellen und stand vor einem Haus. Durch einen überdachten Hauseingang wurde ich bei diesem ungemütlichen Wetter ein wenig geschützt. Es war schon sehr kalt in dieser Jahreszeit. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite lag ein riesiger Kohlenhaufen. Er versperrte den Bordstein. Es war noch dunkel und die Straßenbeleuchtung brannte dürftig. Die Försterstraße ist eine steile Straße. Bergauf geht sie von der Lousbergstraße zur Nizzaallee. In der Dunkelheit kamen einige Passanten die Straße über den Bordstein eilig herunter. Den Blick gesenkt, noch im Halbschlaf, in Gedanken, mit ihren Sinnen ganz wo anders, gingen sie schnellen Schrittes die abschüssige Försterstraße herunter. Kurz vor dem Kohlenhaufen blieben sie erschreckend und ruckartig stehen. Ein plötzliches Hindernis. Die Situation sah sehr ulkig aus, sodass ich heftig lachen musste. Mit großer Spannung wartete ich auf den nächsten Straßenpassanten. Dann passierte es wieder wie beim ersten Male. Weitere Male musste ich sehr lachen. Mittlerweile erschien Herr Radermacher. Er wunderte sich, dass meine Augen leicht feucht waren. Jetzt machte er sich sogar Sorgen über mein Befinden. Ich musste wieder Lachen. Schon wieder kam ein Passant bis zum Kohlenhaufen. Auch dieser erschrak sehr. Mein Meistergeselle musste jetzt auch über die ulkigen Bewegungen lachen. So fing ein Arbeitstag sehr fröhlich an. Eine lustige Begebenheit mit einem Kohlenhaufen.
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Der Winter stand vor der Tür und ich sollte den ersten Schnee auf den Dächern von Aachen erleben. Es begann damit, als eines Morgens starker, frostiger Schneefall vom Himmel fiel. Die Bundesbahn hatte dadurch eine halbe Stunde Verspätung. Somit kam ich zu spät zur Arbeit. Mein Meistergeselle wartete schon. Er hatte allerdings Verständnis für mein zu spät kommen. Die Kehrarbeiten einer langen Häuserreihe in der Rütscherstraße wurden angekündigt. Frau Holle meinte es gut und es schneite immer stärker. Wir stiegen auf das erste Dach. Die Dachfläche war mit Schnee bedeckt. Jetzt mussten wir bis zum First kommen, natürlich ohne abzurutschen. Das wäre bestimmt etwas gewesen für Wintersportler. So versuchten bis zum First des Daches hinauf zu kommen. Dort angelangt, reinigten wir die Schornsteine die in Firstnähe lagen. Nun rutschten wir im Sitzen, die Beine links und rechts über den First, bis zur nächsten Schornsteingruppe. Mehrere Schornsteingruppen, die außerhalb vom Dachfirst lagen, also mitten im Dach oder am Ende der Dachfläche, wurden folgendermaßen bearbeitet: Ich wurde von meinem Meistergesellen angeseilt. Dann musste ich im Schnee bis zu den jeweiligen Schornsteingruppen herunterrutschen. Nach getaner Arbeit zog mein Meistergeselle mich wieder an der Sicherheitsleine hinauf, wobei ich mit den Knien und den Händen über die verschneiten Dachziegel wieder nach oben ankam. Feuchtigkeit zog langsam durch die Arbeitskleidung und ich wurde durch den starken Schneefall zum weißen Schornsteinfeger. Handschuhe durfte man früher nicht anziehen. Die Finger wurden eiskalt. Trotz dicker Unterwäsche unter der Berufskleidung ging die Kälte durch Mark und Bein. Hinzu kam die Nässe durch den Schnee. Hin und wieder wärmte ich meine Hände an den heißen Abgasen, die an den Schornsteinmündungen austraten. Bei diesem Winterwetter waren alle Feuerstätten in Betrieb. So arbeiteten wir den ganzen Vormittag auf einer Dachreihe in der Rütscherstraße. Völlig durchnässt machten wir unsere Mittagspause in einem warmen Heizungskeller. Die Arbeitskleider wurden in der kurzen Pause über den warmen Kokskessel angetrocknet. Nach der Pause mussten wir den Ruß an den Schornsteinsohlen entfernen.
Punkt um fünf, hatten wir Feierabend. Mein Zug fuhr eigentlich um 17:15 Uhr. Oft verpasste ich zeitlich den Zug. Denn ich musste den Weg von der Arbeitsstelle bis zum Bahnhof gehen. Zuvor musste ich jeden Tag noch die Arbeit für den nächsten Tag angekündigen. Somit stand ich meistens über eine Stunde am Bahngleis. Die nächste Bahn fuhr erst um 18.30 Uhr. Im Winter war unsere tägliche Arbeit auf dem Dach sehr gefährlich und anstrengend. Die Temperaturen waren in luftiger Höhe eiskalt. Wenn ich in der Winterzeit durchgefroren nach Hause kam, sehnte ich mich oft nach meiner Schulzeit. In Gedanken an die Geborgenheit und an die warmen Klassenräume, sollte ich mich trotzdem nicht beklagen, denn mein Beruf machte mir auch in kalten Zeiten Freude.
Es war in der Weihnachtszeit. Tannenbäume und unzähligen Weihnachtsbeleuchtungen schmückte die Stadt. Die Schornsteine rauchten stark. Bei richtigen Brennstoffen und richtiger Bedienung der Feuerstätten konnte man den Rauch sogar angenehm vertragen. Blauer Rauch passte zur Weihnachtszeit. Die Kunden wünschten uns schon ein paar Tage vorher: ‘Frohe Weihnachten und ein gutes neues Jahr‘. Manchmal bekam ich sogar Trinkgeld zum bevorstehenden Jahreswechsel. Schon mal 20, oder sogar 50 Pfennig. In einem Stadtbezirk war Trinkgeld allerdings eine Seltenheit. Trotzdem freute ich mich über jeden Pfennig, denn das Lehrgeld war damals ein geringes Entgelt. Im ersten Lehrjahr bekam ich laut Lehrvertrag 55,00 DM, im zweiten 65,00 DM und im