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Die große Liebe finden, ein meisterhaftes Parfüm kreieren, der Chef des eigenen Chefs werden: Wer träumt nicht davon, seinem Leben eine neue Richtung zu geben? Und sind Träume nicht reine Kopfsache? Als der Präsident seinen Hut in einer Brasserie vergisst, setzt sein Tischnachbar ihn auf - und schlagartig ändert sich dessen Leben. Doch der Hut wandert weiter von Kopf zu Kopf, um seine ganz besondere Wirkung zu entfalten. Ein Roman voller Charme und Überraschungen, über große Ziele und glückliche Wendungen - und was man dafür drauf haben muss.
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Seitenzahl: 196
Antoine Laurain
Der Hut des Präsidenten
Roman
Aus dem Französischen von Claudia Kalscheuer
Atlantik
Ein Hut auf dem Kopf verleiht einem eine unleugbare Autorität über die, die keinen tragen.
Tristan Bernard
Daniel Mercier ging in der Gare Saint-Lazare gegen den Menschenstrom die Treppe hinauf. Um ihn herum liefen Männer und Frauen hinab, mit Aktentaschen und manchmal auch Koffern beladen. Sorgenvolle Stirnen, eilige Schritte. In dem Gewühl hätten sie ihn leicht anrempeln können, aber sie taten es nicht, es kam ihm sogar so vor, als würde sich die Menge vor ihm teilen. Oben angelangt, durchquerte er die Schalterhalle bis zu den Bahnsteigen. Auch da drängten sich die Menschen, sie quollen in einem ununterbrochenen Strom aus den Zügen; er bahnte sich einen Weg zur Ankunftstafel. Der Zug, auf den er wartete, sollte auf Gleis 23 eintreffen. Er ging ein paar Dutzend Meter zurück und bezog neben den Entwertern Stellung.
Um 21 Uhr 45 fuhr unter lautem Quietschen der Zug Nummer 78654 ein und öffnete seine Türen. Daniel reckte den Hals und hielt nach seiner Frau und seinem Sohn Ausschau. Er sah zuerst Véronique, die ihm zuwinkte, ehe sie mit der Hand eine Art Kreis um ihren Kopf andeutete und ein erstauntes Gesicht machte. Jérôme schlängelte sich zu seinem Vater durch und warf sich zwischen seine Beine, sodass er fast das Gleichgewicht verlor. Véronique kam außer Atem bei ihnen an und musterte ihren Mann. »Was ist denn das für ein Hut?« »Das ist Mitterrands Hut.« »Das sehe ich, dass du einen Hut wie den von Mitterrand auf dem Kopf hast.« »Nein«, entgegnete Daniel, »ich meine, es ist wirklich Mitterrands Hut.«
Als er am Bahnhof erklärt hatte, es sei »wirklich Mitterrands Hut«, hatte Véronique den Kopf schief gelegt und ihn mit diesem leichten Stirnrunzeln angeschaut, wie immer, wenn sie nicht recht wusste, woran sie bei ihm war. Genauso hatte sie geschaut, als Daniel um ihre Hand angehalten hatte oder auch als sie das erste Mal zusammen ausgegangen waren – er hatte ihr damals vorgeschlagen, sich gemeinsam eine Ausstellung im Centre Pompidou anzusehen. Mit diesem leichten Stirnrunzeln, in das er sich, unter anderem, verliebt hatte. »Das musst du mir erklären«, hatte sie ungläubig gesagt. Und Jérôme hatte aufgeregt gefragt: »Du hast Mitterrands Hut, Papa?« »Ja«, hatte Daniel geantwortet und das Gepäck genommen. »Dann bist du Präsident?« »Ja, ich bin Präsident«, hatte Daniel erwidert, von dieser kindlichen Vorstellung höchst befriedigt.
Im Auto verweigerte er jede Auskunft. »Ich erzähle euch zu Hause alles.« Véronique konnte bohren, so viel sie wollte, er blieb hart. Als sie im sechzehnten Stock ihres Hochhauses im XV. Arrondissement ankamen, verkündete Daniel, er habe Essen gemacht. Kaltes Fleisch, Hähnchen, Tomatensalat mit Basilikum und eine Käseplatte, was Véronique einen bewundernden Seufzer entlockte – es kam nur ein paar Mal im Jahr vor, dass ihr Mann sich aus eigenem Antrieb ums Abendessen kümmerte. Aber zuerst gab es einen Aperitif. »Setz dich«, sagte Daniel, den Hut immer noch auf dem Kopf. Und Véronique setzte sich, ebenso wie Jérôme, der sich dicht an sie schmiegte. »Auf uns«, sagte Daniel und stieß feierlich mit seiner Frau an, während Jérôme sein Limoglas hob.
Dann nahm Daniel seinen Hut ab und reichte ihn Véronique. Sie griff vorsichtig danach, fuhr mit einem Finger über den Filz, was Jérôme ihr sofort nachmachte. »Hast du saubere Hände?«, fragte sie leicht erschrocken. Dann drehte sie den Hut um, und ihr Blick fiel auf das lederne Innenband. Da waren zwei Goldlettern eingeprägt: F. M. Véronique blickte zu ihrem Mann auf.
Am Abend zuvor hatte Daniel seinen Golf an der Straßenecke geparkt. Er schaltete das Autoradio aus, aus dem die leiernde Stimme einer jungen Frau drang, die verkündete, sie liebe Watte über alles. Er konnte diesen Ohrwurm nicht mehr hören. Er massierte sich die schmerzenden Schultern, versuchte, seinen Hals zum Knacken zu bringen, vergebens. Von seiner Frau und seinem Sohn, die über die Ferien zu seinen Schwiegereltern in die Normandie gefahren waren, hatte er nichts gehört. Vielleicht würde er zu Hause eine Nachricht auf dem Anrufbeantworter vorfinden. Die Kassette darin zeigte Ermüdungserscheinungen und spulte sich seit ein paar Tagen nicht mehr richtig zurück. Er würde einen neuen Anrufbeantworter kaufen müssen. Wie ist man früher nur zurechtgekommen, als es noch keine Anrufbeantworter gab?, fragte sich Daniel. Das Telefon klingelte ins Leere, niemand da, dann rief man eben später noch mal an. Ganz einfach.
Die Vorstellung, einkaufen zu gehen und sich dann in der stillen Wohnung etwas zu essen zu machen, war ihm unerträglich. Ein Restaurant, eine schöne Brasserie – dieses Bild hatte sich ihm schon gegen vier Uhr aufgedrängt, während er die letzten Spesenrechnungen seiner Kollegen prüfte, die für die Sogetec auf Geschäftsreise gewesen waren. Es war sicher ein Jahr her, seit er zuletzt in einer schönen Brasserie gegessen hatte, zusammen mit Véronique und Jérôme. Für seine sechs Jahre war dieser sehr brav gewesen. Sie hatten eine Meeresfrüchteplatte Royal genommen, dazu eine Flasche Pouilly-Fuissé und ein Hacksteak mit Kartoffelpüree für Jérôme, der sich zu Daniels Bedauern geweigert hatte, Austern zu probieren. »Nicht mal eine?« »Nein«, hatte er entschieden geantwortet und den Kopf geschüttelt. Véronique hatte seine Partei ergriffen: »Er ist noch klein, dazu hat er später immer noch Zeit.« Das stimmte, Jérôme hatte noch Zeit. Es war jetzt acht Uhr, man spürte schon die Kälte des beginnenden Winters, der Lärm der Stadt und des Verkehrs wirkte gedämpft. In der Nähe gab es eine Brasserie, an der er schon öfter vorbeigefahren war. Er suchte sie zwischen dem Boulevard und einer Parallelstraße und wurde schließlich fündig. Sie war es tatsächlich, ein Austernstand im Freien, große rote Markisen und Kellner in weißen Schürzen.
Ein Abendessen allein, ohne Frau und Kind, erwartete ihn. Ein Abendessen, wie er es sich vor seiner Heirat manchmal gegönnt hatte. Damals erlaubten ihm seine Einkünfte keine so noblen Adressen. Aber auch in den bescheideneren Lokalen, in denen er gewesen war, hatte er immer gut gegessen und nie das Bedürfnis nach Gesellschaft verspürt, um eine Kaldaunenwurst, ein gutes Steak oder einen Teller Wellhornschnecken zu genießen. Im abnehmenden Winterlicht lag ein Junggesellenabend vor ihm. Das Wort gefiel ihm sehr. Ein Junggesellenabend, wiederholte er für sich, als er die Autotür zuschlug. Daniel verspürte das Bedürfnis, »zu sich zurückzufinden«, wie er auf Antenne 2 eine Psychotherapeutin hatte sagen hören, die ein Buch über Stress am Arbeitsplatz geschrieben hatte und dafür Werbung machte. Daniel hatte ihre Formulierung sehr treffend gefunden. Er würde dieses gastronomische Intermezzo einlegen, um zu sich zurückzufinden, um den Stress des Tages abzubauen, die Buchführungszahlen und die Spannungen wegen der Neuorganisation der Finanzabteilung zu vergessen. Jean Maltard hatte vor Kurzem die Leitung übernommen. Daniel war sein Stellvertreter und befürchtete, dass dieser Wechsel nichts Gutes bringen würde. Weder für die Abteilung noch für ihn selbst. Als er den Boulevard überquerte, beschloss er, diese Sorgen aus seinem Geist zu verbannen: Sobald ich die schwere Tür der Brasserie aufstoße, wird es keinen Jean Maltard, keine Sogetec-Akten, keine Spesenrechnungen und keine Mehrwertsteuer mehr geben. Sondern nur noch eine Meeresfrüchteplatte Royal und mich.
Der Kellner in weißer Schürze ging ihm voran, an einer Reihe von Tischen entlang, an denen Paare, Familien und Touristen sich unterhielten, anlächelten oder mit vollem Mund nickten. Im Vorbeigehen konnte er Meeresfrüchteplatten, Entrecôtes mit Salzkartoffeln, Rinderlende mit Béarnaise-Sauce erkennen. Als er hereingekommen war, hatte ihn der Oberkellner, ein Mann mit ellipsenförmiger Figur und schmalem Schnurrbart, gefragt, ob er reserviert habe. Einen Moment lang fürchtete Daniel, der Abend sei gelaufen. »Ich bin nicht dazu gekommen«, hatte er tonlos geantwortet. Der Oberkellner hatte die linke Augenbraue hochgezogen und die Reservationsliste des Abends studiert. Da war eine blonde junge Frau hinzugetreten: »Tisch zwölf ist vor einer halben Stunde abgesagt worden«, hatte sie gesagt und auf eine Zeile in der Liste gedeutet. »Und da sagt mir niemand Bescheid?«, hatte der Oberkellner pikiert gefragt. »Ich dachte, das hätte Françoise gemacht«, antwortete das Mädchen träge, schon im Davongehen. Der Oberkellner schloss kurz die Augen und verzog schmerzlich das Gesicht, um zu zeigen, wie sehr er sich anstrengte, seinen Ärger über die Nachlässigkeit seiner Untergebenen im Zaum zu halten. »Man wird Sie zu Ihrem Tisch führen, Monsieur«, sagte er zu Daniel und winkte einem Kellner, der sofort herbeieilte.
In Brasserien waren die Tischdecken immer grellweiß, fast bläulich, so blendend wie der Schnee beim Wintersport. Gläser und Bestecke glitzerten förmlich. Für Daniel war dieses besondere Strahlen der gedeckten Tische in großen Brasserien der Inbegriff von Luxus. Der Kellner kam mit der Speisekarte und der Weinkarte zurück. Daniel klappte die rote Kunstlederhülle auf und begann zu lesen. Die Preise waren erheblich höher als er sich vorgestellt hatte, aber er beschloss, dieses Detail zu ignorieren. Die Meeresfrüchteplatte Royal stand in gepflegter Kalligraphie auf der Mitte der Seite: Austern der Sorten Fines de Claire, Creuses und Plates de Bretagne, ein halber Taschenkrebs, Teppichmuscheln, Sägegarnelen, Langustinen, Wellhornschnecken, Sandgarnelen, Venusmuscheln, Samtmuscheln, Strandschnecken. Daniel griff nach der Weinkarte und suchte darin nach einem Pouilly-Fuissé oder Pouilly-Fumé. Auch der Wein war viel teurer als erwartet. Daniel bestellte seine Meeresfrüchteplatte und dazu eine halbe Flasche Pouilly-Fuissé. »Tut mir leid«, sagte der Kellner, »den haben wir nur als ganze Flasche.« Daniel wollte nicht geizig erscheinen. »Gut, dann also eine ganze Flasche«, sagte er und klappte die Weinkarte zu.
Um ihn herum überwiegend Paare. Ein paar Tische nur mit Männern in grauem Anzug und Krawatte wie er selbst, allerdings schien ihre Kleidung aus edleren Häusern zu stammen. Vielleicht sogar maßgeschneidert. Die vier Herren in den Fünfzigern, die ein paar Tische weiter saßen, feierten wohl das Ende eines harten Arbeitstages und einen guten Vertragsabschluss. Sie nippten genießerisch an einem sicher hervorragenden Wein. Sie alle hatten den ruhigen, vertrauensvollen Gesichtsausdruck von Männern, die es im Leben zu etwas gebracht haben. An einem der Tische unter dem großen Spiegel saß eine elegante dunkelhaarige Frau in einem roten Kleid einem Mann gegenüber, von dem Daniel nur den Rücken und die grauen Haare sah. Sie hörte ihm zerstreut zu, und ihr Blick schweifte manchmal einen Moment lang durch den Saal, ehe er wieder zu ihrem Gesprächspartner zurückkehrte. Sie schien sich zu langweilen. Der Sommelier stellte einen silbernen Weinkühler mit Fuß neben Daniel, darin die Flasche Pouilly inmitten von Eiswürfeln. Er nahm einen Korkenzieher, vollzog das Ritual des Öffnens und hielt sich den Korken unter die Nase. Daniel probierte den ersten Schluck, der Wein schien ihm gut zu sein. Er gehörte nicht zu den ausgesprochenen Kennern, die jede Nuance eines Weines ausmachen und in erlesenen Worten beschreiben konnten. Der Sommelier wartete mit dem typischen, leicht herablassenden Blick seiner Zunft auf die Billigung des Gastes. Daniel entschied sich, mit einem Nicken zu antworten, das auf große Kennerschaft auf dem Gebiet der weißen Burgunder schließen lassen sollte. Mit dem Anflug eines Lächelns schenkte der Sommelier ihm ein und entfernte sich. Kurz darauf kam ein Kellner und stellte einen runden Sockel auf den Tisch, was bedeutete, dass die Meeresfrüchteplatte nicht mehr lange auf sich warten lassen würde. Dann folgten der Korb mit Schwarzbrot, das Schälchen mit Schalottenessig und das Butterfässchen. Daniel bestrich ein Stück Brot mit Butter und tunkte es diskret in die Essigmischung. Dieses Ritual vollzog er jedes Mal, wenn er in einem Restaurant Meeresfrüchte aß. Den Geschmack des Essigs spülte er mit einem Schluck des eiskalten Weins herunter. Er stieß einen zufriedenen Seufzer aus. Ja, er hatte zu sich zurückgefunden.
Die Platte kam, die Meeresfrüchte auf dem zerstoßenen Eis waren nach Familien geordnet. Daniel nahm eine Auster, hielt einen Zitronenschnitz darüber, drückte vorsichtig zu, und ein Tropfen fiel auf die zarte Membran, die sich sofort zusammenzog. Völlig in den Perlmuttschimmer seiner Auster vertieft, nahm er nur am Rande wahr, dass der Nachbartisch etwas verrückt wurde. Als er wieder aufblickte, sah er den schnurrbärtigen Oberkellner einen neuen Gast anlächeln. Einen Mann, der seinen Mantel auszog, dann seinen roten Schal und seinen Hut abnahm und sich neben Daniel auf die Bank setzte. »Darf ich Ihnen Ihre Garderobe abnehmen?«, fragte der Oberkellner beflissen. »Nein, nein, nicht nötig. Ich lege alles auf die Bank. Wenn es Sie nicht stört, Monsieur?« »Nein«, murmelte Daniel. »Bitte sehr«, fügte er kaum hörbar hinzu.
Der Mann, der sich gerade neben ihn gesetzt hatte, war François Mitterrand.
Zwei andere Männer setzten sich dem Staatsoberhaupt gegenüber. Ein gedrungener Dicker mit Brille und krausem Haar, der andere dünn, das graue Haar elegant zu einer Art Welle zurückgekämmt. Er schenkte Daniel ein kurzes wohlwollendes Lächeln, das dieser mit dem letzten Rest von Ungezwungenheit, der ihm noch blieb, zu erwidern versuchte. Diesen Mann mit dem durchdringenden Blick und den schmalen Lippen hatte er schon mal gesehen. Jetzt fiel ihm auch sein Name wieder ein, Roland Dumas. Er war bis vor acht Monaten Außenminister gewesen, aber als die Sozialisten die Parlamentswahlen verloren, hatte er seinen Posten einem anderen überlassen. Ich esse neben dem Staatspräsidenten zu Abend, sagte sich Daniel mehrmals vor, um dieser neuen, mit dem Verstand kaum fassbaren Tatsache eine Art Realität zu verleihen. Den Geschmack der ersten Auster, die er aß, nahm er kaum wahr, so sehr war seine Aufmerksamkeit von seinem Tischnachbarn gefesselt. Die Merkwürdigkeit der Situation brachte ihn auf den Gedanken, dass er vielleicht in seinem Bett aufwachen würde und der Tag noch gar nicht begonnen hätte. Die Blicke der anderen Gäste schweiften wie zufällig in die Richtung von Daniels Tisch. Während er seine zweite Auster nahm, schaute er diskret nach links. Der Präsident hatte seine Brille aufgesetzt und las die Speisekarte. In Daniels Netzhaut prägte sich das ehrwürdige Profil ein, das er aus der Zeitung, dem Fernsehen, von den alljährlichen Neujahrsansprachen her kannte. Dieses Profil sah er jetzt leibhaftig vor sich, in Fleisch und Blut, wie man so sagte. Er hätte nur die Hand auszustrecken brauchen, um ihn zu berühren. Der Kellner kam wieder, der Präsident bestellte ein Dutzend Austern und als Hauptgericht Lachs. Der Dicke nahm eine Steinpilzpastete und ein blutiges Entrecôte, Roland Dumas wählte wie der Präsident Austern und Fisch. Ein paar Minuten später brachte der Sommelier einen silbernen Weinkühler, in dem eine weitere Flasche Pouilly-Fuissé im Eiswasser badete. Er öffnete die Flasche geschickt nach allen Regeln der Kunst und goss einen Schluck ins Glas des Präsidenten. François Mitterrand probierte und nickte ganz leicht. Daniel schenkte sich ein volles Glas ein und trank es fast in einem Zug aus, bevor er ein Löffelchen Schalottenessig nahm, um seine nächste Auster damit zu begießen. »Das habe ich letzte Woche zu Helmut Kohl gesagt …« François Mitterrands Stimme verband sich mit dem Geschmack der Auster, und Daniel dachte, er würde nie wieder eine Auster mit Essig essen, ohne dabei zu hören: »Das habe ich letzte Woche zu Helmut Kohl gesagt.«
Ein Kellner stellte ein Viertel Rotwein vor den Dicken mit der Brille, der sich sofort ein Glas vollschenkte, während ein anderer Kellner die Vorspeisen brachte. Der Dicke probierte seine Pastete und befand sie für gut, um dann über irgendeine Morchelpastete ins Schwärmen zu geraten. Der Präsident schlürfte eine Auster, während Daniel ein Spießchen aus dem mit Alufolie bezogenen Korken zog, um seine Strandschnecken aus der Schale zu pulen. »Michel hat wahre Köstlichkeiten in seinem Keller«, sagte Roland Dumas mit verschwörerischer Miene. Der Präsident schaute zu ihm auf, und der Dicke, der anscheinend Michel hieß, sprang sofort darauf an und erzählte von seinem Keller in der Provinz, in dem er Zigarren aus der ganzen Welt, aber auch Dauerwürste lagerte. Seine Zigarren lagen ihm ebenso am Herzen wie seine Würste. »Dauerwürste sammeln, das ist ja amüsant«, sagte François Mitterrand und presste einen Tropfen aus seinem Zitronenschnitz. Nach der zehnten Strandschnecke warf Daniel erneut einen Blick nach links. Der Präsident hatte gerade seine letzte Auster gegessen und tupfte sich mit der makellosen Serviette den Mund ab. »Ehe ich es vergesse …«, sagte er dann zu Roland Dumas, »die Telefonnummer unseres Freundes.« »Ja, natürlich«, murmelte Dumas und griff in seine Jacketttasche. Der Präsident drehte sich nach seinem Mantel um, hob den Hut hoch und legte ihn hinter die Messingstange, die oberhalb der Banklehne verlief. Er nahm ein ledergebundenes Adressbuch aus der Manteltasche und blätterte darin. »Der letzte Name unten auf der Seite«, sagte er und reichte Dumas das Adressbuch. Dieser übertrug den Namen und die Telefonnummer in seinen eigenen Kalender, dann gab er François Mitterrand das Adressbuch zurück, der es wieder in der Manteltasche verstaute. Michel begann eine Geschichte über einen Mann zu erzählen, dessen Name Daniel nichts sagte. Dumas hörte mit zusammengekniffenen Augen zu, und François Mitterrand deutete ein Lächeln an: »Sie sind ja streng«, meinte er etwas ironisch und ermunterte dadurch seinen Gesprächspartner fortzufahren. »Doch, doch, es ist wahr, ich war dabei!«, beteuerte der Dicke, während er den Rest seiner Pastete auf ein Stück Brot strich. Daniel lauschte der Geschichte. Er hatte das Gefühl, auf völlig verrückte Weise zum Teil eines Eingeweihtenkreises geworden zu sein. Alle anderen Gäste der Brasserie waren verschwunden. Sie waren nur noch zu viert. Und Sie, Daniel, was halten Sie davon? Daniel hätte sich dem Staatsoberhaupt zugewandt und Sätze gesagt, die François Mitterrand hochinteressant gefunden hätte. Der Präsident hätte zustimmend genickt, dann hätte Daniel sich zu Roland Dumas umgedreht, um auch seine Meinung einzuholen. Dumas hätte ihm beigepflichtet, und Michel hätte mit seiner spöttischen Stimme hinzugefügt: »Natürlich, Daniel hat recht!«
»Diese Frau ist sehr schön …«, sagte François Mitterrand sanft. Daniel folgte seinem Blick. Der Präsident betrachtete die dunkelhaarige Frau im roten Kleid. Als das Hauptgericht gebracht wurde, nutzte Dumas die Gelegenheit, um sich diskret umzudrehen. Der Dicke tat es ihm gleich. »Sehr schöne Frau«, stimmte er zu. »Ganz Ihrer Meinung«, flüsterte Dumas. Daniel fühlte sich im Einklang mit dem Präsidenten. François Mitterrand hatte den gleichen Wein bestellt wie er, und jetzt fiel ihm die gleiche Frau auf. Den gleichen Geschmack zu haben wie der Erste unter den Franzosen, das wollte schon etwas heißen. Diese Art, Kommentare über Frauen auszutauschen, war der Zement vieler Männerfreundschaften, und Daniel ertappte sich dabei, wie er sich als vierten Gast an den Tisch des Präsidenten träumte. In diesem Traum besaß auch er einen in schwarzes Leder gebundenen Taschenkalender, dessen Kontakte der ehemalige Minister mit Freuden abschrieb. Der Keller des Dicken hatte für ihn keine Geheimnisse, er war regelmäßig dort zu Besuch, um Dauerwürste zu verkosten und sich anschließend eine der feinsten Havannas der Welt anzuzünden. Und vor allem begleitete er den Präsidenten auf seinen Spaziergängen durch Paris, an den Ufern der Seine gingen sie an den Bouquinisten vorbei, die Hände hinter dem Rücken verschränkt plauderten sie über den Lauf der Welt oder bescheidener über den Sonnenuntergang auf dem Pont des Arts. Die Passanten drehten sich nach ihren schon vertrauten Gestalten um, und in seiner Umgebung murmelten alle halblaut: »Daniel kennt François Mitterrand sehr gut …«
»Alles in Ordnung bei Ihnen?«
Der Kellner riss ihn aus seiner Träumerei. Ja, es war alles in Ordnung, er würde seine Meeresfrüchteplatte so langsam essen, wie es nötig wäre. Und wenn er bleiben sollte, bis die Brasserie schloss, er würde nicht von seinem Tisch aufstehen, solange der Präsident da war. Er tat das für sich und für die anderen, um eines Tages erzählen zu können: »Im November 1986 habe ich einmal in einer Brasserie mit François Mitterrand zu Abend gegessen, er saß neben mir, ich habe ihn gesehen, wie ich dich sehe.« Daniel hatte bereits die fertigen Sätze im Kopf, die er in den kommenden Jahrzehnten wieder und wieder aussprechen würde.
Zwei Stunden und sieben Minuten waren vergangen. In Begleitung von Dumas und dem Dicken war François Mitterrand gerade in die Nacht verschwunden, nachdem der Oberkellner ihnen ehrerbietig die Tür aufgehalten hatte. Alle drei hatten ihr Abendessen mit einer Crème brûlée beschlossen. Der Dicke hatte eine Zigarre aus einem Lederetui genommen und angekündigt, er werde sie sich draußen bei ihrem kleinen Spaziergang anzünden. Dumas hatte mit einem Fünfhundert-Franc-Schein bezahlt. »Gehen wir?«, hatte der Präsident gefragt. Dumas war aufgestanden, die junge Frau von der Garderobe war gekommen und hatte ihm in den Mantel geholfen, dann auch dem dicken Michel, der über einen Hexenschuss klagte, der nicht vergehen wollte, während der Präsident seinen Mantel allein anzog und sich den roten Schal um den Hals legte. Er hatte den Moment genutzt, um sich nach der Dunkelhaarigen umzudrehen, und ihre Blicke waren sich begegnet. Sie hatte ein leises Lächeln angedeutet, das vom Präsidenten sicher erwidert wurde, doch das hatte Daniel nicht sehen können. Dann waren sie alle drei zum Ausgang gegangen. Im Lokal hatte jeder sich zu seinem Tischgenossen hinübergebeugt, und die Unterhaltungen waren ein paar Sekunden lang fast verstummt. Dann war es vorbei. Nichts blieb, nichts außer ein paar leeren Tellern, Besteck, Gläsern, kaum benutzten weißen Servietten. Ein Tisch wie jeder andere, dachte Daniel. In ein paar Minuten wird er abgeräumt sein, die Tischdecke gewechselt, und ein neuer Gast wird sich daran setzen, ohne auch nur zu ahnen, dass nicht einmal eine Stunde vorher der Staatspräsident am selben Platz gesessen hat.
Daniel hatte sich bis zuletzt eine etwas milchige Auster aufgehoben, die nun schon gut zwanzig Minuten auf dem schmelzenden Eis wartete. Er gab ein Löffelchen Schalottenessig darauf und schlürfte sie, der Jodgeschmack, vermischt mit der pfeffrigen Säure des Essigs, ergoss sich auf seine Zunge: »Das habe ich letzte Woche zu Helmut Kohl gesagt.« Den Satz würde Daniel für den Rest seines Lebens hören, das war sicher. Er trank seinen letzten Schluck Pouilly und stellte das Glas auf die Tischdecke zurück. Dieses Abendessen war völlig unwirklich – und nur allzu leicht wäre es nicht dazu gekommen: wenn er beschlossen hätte, nach Hause zu gehen und selbst zu kochen, wenn er eine andere Brasserie gewählt hätte, wenn kein Tisch frei gewesen wäre, wenn der Gast, der seinen Tisch reserviert hatte, nicht abgesagt hätte … Die wichtigen Ereignisse unseres Lebens sind immer die Folge einer Verkettung winziger Details. Dieser Gedanke ließ ihn leicht schwindelig werden, und er wusste nicht, ob er das der Macht seines Gedankens oder der Flasche Pouilly-Fuissé zuschreiben sollte. Er schloss die Augen ein paar Sekunden lang und seufzte, bewegte seine Schultern und versuchte, seinen Hals zum Knacken zu bringen, wozu er die linke Hand hob, bis sie die Messingstange berührte. Seine Hand traf auf das kalte Metall, aber da war auch noch etwas anderes. Etwas Weiches, Schmiegsames, das sich zusammenzuziehen schien wie eine Auster. Daniel drehte sich zu der Messingstange um: Da lag der Hut. Instinktiv schaute er zum Eingang der Brasserie. Der Präsident war schon seit ein paar Minuten weg. Der Eingangsbereich lag verlassen da. Daniel dachte daran, einem Kellner zu winken, aber gerade war keiner in Sicht. François Mitterrand hatte seinen Hut vergessen. Der Satz nahm in seinem Kopf Gestalt an. Das ist Mitterrands Hut. Er liegt da, neben dir. Das ist das Zeugnis der Realität die