Der im brennenden Dornbusch - Hans Augustin - E-Book

Der im brennenden Dornbusch E-Book

Hans Augustin

4,5

Beschreibung

Wer träumt nicht manchmal vom Fliegen? Moses Mandelbaum ist Versicherungsmakler, Ersatzkoch und Reinigungskraft in einem Verlag. Ein Leben immer am sozialen Außenrand, ganz ohne Längen, Breiten und Tiefen. Bis er in seinem Stammcafé "Eden" einem Mann begegnet, der nicht von dieser Welt ist. Und der ihm ein Abenteuer, einen besonderen Auftrag verspricht - unter der Voraussetzung, dass er vorher das Fliegen lernt. Es beginnt eine Reise zwischen Traum und Wirklichkeit, die Moses Mandelbaum in die Realität des modernen Israel führt, mitten in die Aussichtslosigkeit zwischen den Fronten von Israelis und Palästinensern - und auf der er zugleich auf die Mythen und Geschichten der Bibel trifft. Eine Begegnung mit nachhaltiger Wirkung - für ihn, für seine Familie und für Israel.

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Roman | HAYMON

Wer träumt nicht manchmal vom Fliegen? Moses Mandelbaum ist Versicherungsmakler, Ersatzkoch und Reinigungskraft in einem Verlag. Ein Leben immer am sozialen Außenrand, ganz ohne Längen, Breiten und Tiefen. Bis er in seinem Stammcafé „Eden“ einem Mann begegnet, der nicht von dieser Welt ist. Und der ihm ein Abenteuer, einen besonderen Auftrag verspricht – unter der Voraussetzung, dass er vorher das Fliegen lernt.

Es beginnt eine Reise zwischen Traum und Wirklichkeit, die Moses Mandelbaum in die Realität des modernen Israel führt, mitten in die Aussichtslosigkeit zwischen den Fronten von Israelis und Palästinensern – und auf der er zugleich auf die Mythen und Geschichten der Bibel trifft. Eine Begegnung mit nachhaltiger Wirkung – für ihn, für seine Familie und für Israel.

Hans Augustin, geboren 1949 in Salzburg. Lebt seit 1976 in Thaur bei Innsbruck. Schriftsteller, Kulturbeauftragter und Journalist. Gründer des Verlages Handpresse und Mitbegründer des Verlages Skarabæus. Verfasst Prosa, Lyrik, Theaterstücke und Hörspiele. Mehrfach ausgezeichnet, u.a. mit dem Großen Literaturstipendium des Landes Tirol (1991, 2005) und dem Salzburger Lyrikpreis (2006). Zahlreiche Veröffentlichungen, bei Skarabæus zuletzt: Weggelebte Zeit. Gedichte (2001), Fayum und andere Erzählungen (2004).

Hans Augustin

Der im brennenden Dornbusch

Roman

HAYMON

für Christina, Elias, Maria, Anna und Phil

Wer träumt nicht manchmal vom Fliegen?

Mein Name ist Moses Mandelbaum. Versicherungsmakler für alles und jeden. In erster Linie. Aber ich habe noch andere Berufe. Das ist jetzt modern, aber schafft Probleme mit einem einheitlichen Berufsbild. Ich kann mich nicht an herkömmlichen Berufsvorstellungen orientieren.

Abends reinige ich zweimal die Woche die Büroräume eines Verlags und hin und wieder koche ich in einem Restaurant nebenan, wenn der Chefkoch gerade seinen freien Tag hat oder unpässlich ist. Anruf genügt.

Manche mit fünf Jobs sagen, ich sei wohl nicht flexibel genug.

Ich lese morgens, auf dem Weg in mein Büro, im Café Eden, noch schnell eine der schon um diese Zeit zerfledderten Zeitungen. Mich interessieren die Sterbeanzeigen. Hinterbliebenen könnte, angesichts dieses gravierenden Ereignisses, der Funke eines Gedankens zum Thema Lebensversicherung über den Stirnenhimmel geistern.

Ich spüre das Zeitungspapier, rieche die Druckfarbe und höre plötzlich wieder das Rauschen, von dem ich nicht weiß, wo es herkommt. Schon seit ein paar Tagen.

An der Theke sitzt ein Typ, dem man ansieht, dass er hier nur kurzfristig gelandet ist, dass er sich hier nicht beheimatet fühlt, und dem man auch keine Versicherung andrehen möchte. Das spürt man. Diese Leute verbreiten eine Art Anti-Polizzen-Geruch. Aber von dem man weiß, dass man eventuell in ein interessantes Gespräch verwickelt werden könnte.

Dann allerdings ist der Vormittag im Eimer. Ich habe keine einzige Polizze an die Frau oder an den Mann gebracht. Wer zahlt meine Miete? Wer die Raten für meine Karre, das Schulgeld für meine Nachkommen? Wer die Blumen für meine Frau, wenn sich wieder unaussprechlich Zwischenmenschliches auftürmt?

Im Raum ist ein feines Rauschen zu hören. Ich kann es nicht zuordnen. Vielleicht sollte ich zum Arzt gehen. Aber ich gehe nicht. Das heißt, ich bin im Zweifel, ob das nicht mein eigenes Gehör ist. Ich frage kurz entschlossen den Fremden, ob er nichts hört. Das ist ein klassischer Versuch, in ein Gespräch zu kommen.

Was, gibt er zurück, und rührt in seinem Kaffee herum.

Na das Geräusch.

Welches? Er hält kurz inne und rührt weiter in seinem Kaffee herum.

Er hat ein schönes Gesicht. Das darf man doch sagen. Von Mann zu Mann. Ich bin eindeutig gepolt. Es ist sinnlos, sich als etwas auszugeben, was man nie und nimmer ist. Mir würde man das ohnehin nicht abnehmen.

Abgesehen davon, berühren mich diese Berührungen unangenehm.

Er blickt auf, führt den Löffel an die Lippen, verharrt einige Sekunden und nickt. In dieser Bewegung liegt etwas Ewiges.

Er hört es auch. Ich bin erleichtert. Es sind nicht meine Gehörgänge. Es ist nicht die Leere meines Gehirns, die sich an den Trommelfellen reibt.

Wie es mir mit den Polizzen geht, will er wissen.

Ich schlucke. Mein kleiner Morgenkaffee erstarrt im Augenblick. Woher weiß er? Ich kenne ihn doch gar nicht. Normalerweise stellt mir niemand diese Frage. Zu intim. Und um diese Zeit schon gar nicht.

Gut, sage ich gedehnt. Es geht.

Als wäre mein Job der einfachste der Welt. Vielleicht bin ich jetzt seit langem wieder einmal rot geworden im Gesicht.

Und – weil wir gerade beim Geschäft sind: Sind Sie versichert?, frage ich ihn kühn. Eine Chance witternd.

Ich will nicht indiskret sein, haben Sie eine Ab- oder Erlebensversicherung?

Haben Sie sich schon einmal Gedanken gemacht, über eine Sterbe-Vorsorge? Die Angehörigen stürzt der plötzliche Todesfall eines Verwandten meist in finanzielle Verlegenheit. Um nicht zu sagen in ein Desaster.

Er weiß. Sagt er.

Aber Verwandte? Damit kann er nicht dienen. Und mit Todesfall auch nicht.

Er ist nicht verheiratet?

Nicht verheiratet.

Keine Eltern?

Keine Eltern.

Da ist das Geräusch wieder. Als ob ein Flugzeug einen endlosen Landeversuch unternehmen würde. Nicht unangenehm, aber seltsam anhaltend.

Ist er ein freischaffender Unternehmer?

Ich sollte längst im Büro sein, ich blättere kurz aber gekonnt im Planer und sehe einen Termin. Noch bin ich nicht verspätet. Aber ich kann mich nicht losreißen.

Er verbirgt etwas vor mir.

Ich muss es wissen. Es könnte der springende Punkt sein.

Dann sagt er, der Kaffee in Brasilien sei geschmacklich einfach besser.

Ich denke, ein Weltreisender. Einer, der hier bloß angespült wurde. Ins Café Eden. In dem Esther, die Kellnerin, eine Studentin, ihr Studium damit finanziert, dass sie sich optisch – rein optisch – von oben bis unten begrapschen lassen muss, während sie Kaffee serviert.

Seine Kleidung ist zeitgemäß, aber nicht übertrieben. Der Anzug von der Stange. Esther kann ihre Augen nicht von ihm lassen. Er tut so, als merke er es nicht. Das ist sehr vornehm. Und braucht mich nicht rasend zu machen. Ich bin verheiratet, aber manchmal würde mir ein fremder Blick auch gut tun. Einfach so.

Vielleicht merkt er es wirklich nicht.

So nervös habe ich sie noch nie gesehen.

Die Angestellten der umliegenden Ämter, Banken und Arztpraxen stehen am Tresen und bestellen ihren kleinen Mokka, der nicht kommt, grüßen sich, bereden dieses und jenes und urgieren lautstark ihre Bestellung.

Aber Esther hat ihren Kopf verloren.

Sie werden Ihren Job verlieren, wenn Sie so gedankenlos sind, sagt der Typ leicht zur Seite gewendet. Sie erschrickt. Aus ihrem Gesicht blutet die Farbe. Und bestürzt eilt sie hinter die Espressomaschine.

So übertrieben bräuchte sie nun auch wieder nicht zu reagieren, denke ich.

Sie ist noch jung, sagt er verständnisvoll. Er weiß offenbar um alle diese Dinge Bescheid.

Mit einem „Darf ich Sie in mein Büro einladen?“ reiße ich die Lethargie auf.

Er winkt ab. Er habe einen Termin. Morgen eventuell.

Hören Sie das Rauschen noch?, fragt er.

Ich höre hin. Auf etwas, das sich wie ein Rauschen anhören sollte. Ich bin nicht sicher, ob ich vorhin etwas gehört habe. Es ist da. Es ist, als ob Tauben beim Abflug ihre Flügel an die Körper schlagen würden. So habe ich es noch nie gehört.

Es ist das Meer, sagt er.

Das Meer?, sage ich, und schaue ihm vermutlich absolut fassungslos ins Gesicht.

Es hat sich in meinen Flügeln verfangen.

Ich blicke verstohlen über seinen Rücken. Als ob ich Verbotenes sehen wollte. Nichts. Keine Erhebungen. Keine Krümmung. Keine Feder am Boden.

Er lügt mich an. Aber ich glaube ihm aufs Wort. Das ist sonst nicht meine Art.

Sie nehmen manchmal Geräusche, aber auch Gerüche jenes Ortes an, von dem ich gerade komme oder gerade darüber fliege.

Das ist durchaus plausibel. Warum sollen Flügel nicht den Geruch annehmen von Dingen, die während des Fliegens gerade darunter zu liegen kommen?

Aber er lügt gekonnt. So grandios, dass sich die Balken biegen.

Nur im Café Eden gibt es keine Balken. Nur Beton. Die Geschmacklosigkeit der Innenarchitektur ist infernalisch.

Man müsste den Architekten manchmal für alle Ewigkeit die Bleistifte abbrechen, kommentiert er meinen Gedanken. Oder sie ein Jahr lang in jenen Häusern wohnen lassen, die sie gebaut haben. Vieles an Unfug würde sich schlagartig ändern.

Diese unerträgliche Melange aus Spots und faserrauer Betonhaut. Der manifest gewordene Mangel an Einfühlungsvermögen für die Funktion eines Raumes. Sechs Wände können auch ein Sarg sein.

Sind Sie nicht müde? Ich erschrecke über meine unpassende Frage.

Er schüttelt unmerklich den Kopf, als hätte ich gefragt, wie viele Flugstunden er schon absolviert hat.

Fliegen. Diese abstrusen Phantasien vom Fliegen, von der Existenz der Flügel. Jeder im Raum könnte bestätigen, dass er keine Flügel hat.

Aber, würde ich lauthals fragen, Leute, hört doch mal alle her, hat der Mann hier am Tresen Flügel, oder nicht?

Sie würden mich wahrscheinlich – scheel beobachtend – hinhalten mit der Gegenfrage, wie ich das meine. Um mich dann meuchlings der Psychiatrie auszuliefern.

Er behauptet, er hätte Flügel. Hat er welche?

Sie würden sich in seine Richtung beugen und raten, ob er sie vielleicht in der Tasche versteckt halte.

Er würde sich nicht an der Wahrheitsfindung beteiligen. Trotz Aufforderung, die Flügel zu zeigen.

Vielleicht, die drei Grazien vom Finanzamt würden es bestätigen.

Um mir eins auszuwischen.

Ich habe sie mit einem Superangebot geködert. Auf zehn Jahre die Versicherung nicht kündbar.

Der Fremde verlangt die Rechnung. Greift in die Hosentasche, holt fremdländische Münzen hervor und spielt gedankenlos mit ihnen. Esther sagt halb im Scherz, halb mit Ernst, dass dies wohl Spielgeld sei.

Er entschuldigt sich für den Irrtum. Lächelt unschuldig und erklärt ihr, dass dieses Geld durchaus noch in Gebrauch sei. Ich erkenne das Bildnis, aber mir fällt der Name nicht ein, und gehe die derzeitigen Regierungschefs durch. Aber mein Suchprogramm wird nicht fündig. Ich bin mir tausendprozentig sicher, dass er sich diesmal geirrt hat.

Es ist Kaiser Augustus.

Hart an der Grenze der Aufdringlichkeit sage ich, dass ich seinen Kaffee für ihn begleichen würde. Ich gebe nicht auf. Er ist nach wie vor ein potentieller Kunde.

Aber er winkt ab. Legt betont sanft, genau abgezählt, die bei uns gängige Währung auf den Tresen und rutscht von seinem Hocker herunter.

Er gibt mir die Hand und versichert mir den Termin nächste Woche. Hier zu selben Zeit.

Etwas verwirrt mich. War es der Händedruck oder sein Blick? Ein Anflug von Schweiß zeigt sich ungeniert am Haaransatz meiner Stirn.

Dann geht er ruhig zur Tür, öffnet sie, tritt auf den Gehsteig hinaus, breitet draußen seine Arme aus und fliegt mit kräftigen Flügelschlägen schräg über die Straße nach oben weg. Ich bin in Sorge, dass er die Oberleitung der Straßenbahn berühren wird.

Ich halte die Hand immer noch von mir gestreckt.

Ich habe so eine Hand noch nie in der Hand gehabt. Ich sehe abwechselnd auf meine Hand, die leere Tasse und den schönen aus einem ärmellosen Pullover ragenden weißen Arm Esthers, mit dem sie das Geld in die Kassiertasche streift.

Es könnte der Arm eines Engels sein. Aber es gibt keine weiblichen Engel. Oder?

Ich weiß nicht, was passiert ist.

Ich gehe hinaus, stelle mich auf jenen Punkt, von dem er sich fliegend entfernt hat, und hebe die Arme.

Mein Versuch zu fliegen muss seltsam ausgesehen haben.

Ich werde heute keine Versicherung mehr verkaufen.

Die Woche ist höllisch. Als ich nach jenem Flugversuch nach Hause komme, blinkt der Telefonanrufbeantworter. Das Rauschen in meinen Ohren ist völlig verschwunden. Ein ungestörtes Gehör steht mir zur Verfügung. Ich traue ihm nicht.

Ein Kunde, den ich längst unter „vergeblich“ abgehakt habe, will von mir das Versicherungspaket: Feuer, Haushalt, Einbruch, Glas und Hagel, Diebstahl, Wasser, Lebens- und Sterbeversicherung. Ein Verrückter. Das ist, ich krame in meinen Akten die Berechnungen hervor, ein Drittel seines monatlichen Einkommens.

Wie schafft er das? Ich würde mir selbst so etwas nie zumuten. Nicht einmal mit geglätteten Bedingungen, wie das Unternehmen sie für ihre Mitarbeiter vorsieht.

Er wird, er muss es schaffen. Ich rufe ihn an und vereinbare einen Termin. Wir sitzen uns dann das achte Mal gegenüber.

In ernsten Situationen greift er zu seiner links neben ihm geparkten Zigarettenschachtel. Es könnte ihn das Ziel der Erlebensversicherung kosten.

Ich werfe ein, ob er sich der Höhe des monatlichen Betrages bewusst ist. Er winkt ab. Kinkerlitzchen. Wie ein römischer Herrscher. Beinahe gelangweilt. Nach einer halben Stunde unterschreibt er. Ohne Zögern. Er ist fest entschlossen.

Mein Abteilungsleiter wird mich fragen, wie ich das fertig gebracht habe. Ich werde nur vielsagend lächeln. Bei dieser Gelegenheit könnte ihm dämmern, dass ich es auf seinen Stuhl abgesehen habe. Habe ich aber nicht.

Ich werde nichts sagen, denn ich weiß es nicht. Was einen Menschen veranlasst, sich für eine solche Menge an Assekuranzen zu verpflichten.

Also normal ist das nicht.

Zweimal gerate ich in den verschlafenen Hafen des Café Eden. Esther mustert mich misstrauisch. Sie kann den Fremden so wenig vergessen wie ich. In drei Tagen, so er sein Versprechen hält, wird er wieder an der Bar sitzen. Sie weiß es nicht.

Sie trägt die Frage, ob ich weiß, wer er ist, im Mund, wie einen großen Schluck Wasser. Den sie nicht hinunter bekommt.

Aber ich mache nichts, was Esther veranlassen könnte, ihre Frage an mich zu stellen. Ich stecke den Kopf in die Zeitung.

Unter dem Titel „Schutzengel gehabt“ lese ich, dass in Nigeria ein Öltanker durch einen unerklärlichen Umstand bei blockiertem Steuer auf das offene Meer hinaustrieb. Das Schiff wäre sonst an den Riffen vor der Küste aufgefahren und hätte das geladene Rohöl verloren.

Mein Gedanke verfängt sich an den Haaren Esthers. Ich bin nur durch ihn für sie interessant geworden. Sonst wäre ich in ihren Augen Luft. Maximal ein Mund, der Tee mit Milch trinkt. Ein Makler ist eben nichts. Eine dubiose Figur im Kapitalismus.

Dass ich auch Koch bin, weiß sie nicht, und noch weniger weiß sie etwas von meinem Aufräumerdienst in einem Verlag. Sie will, so schätze ich sie ein, mindestens einen Anwalt, der sich die Filetstücke nimmt.

Täglich habe ich die Zeitungen durchgeblättert, auf der Suche nach dem Vorfall mit dem Abflug des Fremden vor dem Café Eden. Saß doch am hinteren Tischchen ein stadtbekannter Journalist. Mindestens so mies wie ich als Makler. Dem Vesuv oder Ätna nicht unähnlich: feiner Rauch fortwährend aus seinem Kopf aufsteigend.

Aber er hat diese Sensation offenbar verschlafen. Es ist ihm das erste Mal etwas wirklich Sensationelles durch die Lappen gegangen. Der Ausschnitt im Kleid oder die Augen seines Gegenübers waren zu tief. Die Verlockungen zu deutlich.

Vielleicht hätte sich dieser Engel an seinen Tisch setzen sollen. Oder dieser Kleopatra mit der Zahnlücke auf den Schoß.

Habe ich Engel gesagt? Warum ist mir dieser Gedanke nicht schon früher gekommen?

Freitag früh ruft Jossip Metzker, der Chefkoch an, ich solle ihn abends in der Küche vertreten, die übliche Auswahl der Speisenkarte, ob ich mich wie im letzten Monat zu einer Spezialität hinreißen lassen würde, er könne das jetzt noch beim Einkauf berücksichtigen, aber ich verneine, ich habe den Kopf mit anderen Dingen voll. Steak, Pariser, Entrecote, Spieße, das muss doch genügen. Ich sage ihm, dass ich das Salatbuffet absolut frisch wünsche, damit mir so etwas wie vor drei Wochen nicht wieder passiert, ein welkes Radicchioblatt löste bei einem zahnlosen Gnom einen Blutrausch aus. Die Beruhigung kostete mich eine Flasche Cognac, vom besten natürlich.

Als gegen neun der Speisesaal zufriedenstellend besetzt ist, pflanzt sich der Kellner leicht erregt vor mir auf und rittert mich an, dass ein Gast koscher essen möchte.

Koscher?

Ja, koscher.

Können wir nicht, wo soll ich in der Eile koschere Lebensmittel herzaubern.

Dass die Juden immer Extrawürste haben wollen, raunzt der Kellner, er soll sich den blöden Antisemitismus sparen, schreie ich über vier Pfannen am Gasherd. Die Deckel auf den Kesseln mit den Kartoffeln unter Dampf machen gehörig Lärm, Gas ist das einzig Richtige, schreit der Kellner zurück.

Was dann geschieht, weiß ich nicht mehr so genau, ich nehme in einer Art Aufwallung einen Schöpfer aus einer Sauciere, ziele und in diesem Moment öffnet die kleine Aushilfe aus dem Libanon mit den abservierten Tellern in den Händen mit ihrem Rücken die Schwingtüre, die Schöpfkelle rast in den Gastraum, trifft eine Lampe über einem Tisch mit sechs Personen und fällt unter Getöse wie ein Komet auf den Tisch.

Die Szene ist wie aus einem Film mit Dick und Doof. Die Gäste springen auf, Stühle stürzen rücklings, die Blumen der Dekoration ertrinken in der Suppe, Leberknödelstücke liegen auf Tischtuch und Boden, jemand schreit, dass das ungeheuerlich ist, alles bewegt sich wie in Trance, der Kellner zieht seine Jacke aus und wirft sie auf den Tresen, was soviel heißt, er kündigt, er legt unwiderruflich die Arbeit nieder.

Ich gehe hinaus und sage ganz ruhig, geschätzte Damen und Herrn, diese Situation ist das Resultat historischer Verquickungen, ich darf Sie als Chefkoch im Namen des Unternehmens zu einem Getränk Ihrer Wahl einladen, als Entschädigung für die Unterbrechung Ihres Abends und zur Beruhigung der Situation.

Die Gäste setzen sich, als ob nichts gewesen wäre. Der betroffene Tisch wird abgeräumt und neu eingekleidet, das Gemurmel verebbt wenig später. Ich habe für einen abendfüllenden Gesprächsstoff gesorgt, den ich am Morgen in der Bar noch einmal gekaut höre: Die Schöpfkelle mutierte inzwischen zu einem Messer und dann zu einem Fleischerbeil, dem Kellner wurde das Ohr abgehauen, ein kleines Sexskandälchen ließ sich bedauerlicherweise in diesen Vorfall nicht hineinphantasieren, Jossip wunderte sich, dass an den folgenden Tagen vermehrt Gäste jenen Luster sehen wollten, der der Schöpfkelle im Weg war.

Am Abend absolviere ich meinen Putzgang im Verlag. Kein Vergleich zum Restaurant. Keine Schöpfkelle, dafür volle Papierkörbe mit ungeöffneten großen Kuverts. Manuskripte vermutlich. Die Standardantwortschreiben sind schon unterwegs: Wir danken Ihnen für das Vertrauen in unser Verlagsunternehmen und die Zusendung Ihres Manuskriptes, bedauern, nach eingehender Lektüre Ihnen dennoch mitteilen zu müssen, dass Ihr Text nicht in unser Verlagsprogramm passt. Wir wünschen Ihnen für die Zukunft blablabla.

Ich setze mich auf den Drehstuhl des Verlegers und denke, es ist gut, kein Schriftsteller sein zu müssen.

Die Tage vergehen schleppend. Als zöge das Wachsein eine ungeheure Last hinter sich her. Als spreize sich alles gegen das Herannahen des Termins.

Pünktlich zur verabredeten Zeit sitzt der Fremde auf dem Barhocker. Ich hatte ihn nicht kommen sehen. Aber er muss die Tür benutzt haben. Man kann in diesem Käfig von Café nicht fliegen.

Er begrüßt mich lächelnd, als wüsste er um meine Not, meine Zweifel, ihn zu treffen. Und als hätten wir ein gemeinsames Geheimnis. Ich rekapituliere in Lichtgeschwindigkeit die letzten Jahre, aber er kommt in den diversen Szenen nicht vor.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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