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Nach dem scheinbar wahllos begangenen Doppelmord an einem Liebespaar im Wald bei Sankt Ottilien spricht alles für die Rückkehr des berüchtigten Parkplatzmörders. Die Freiburger geraten, befeuert von den Medien, zunehmend in Panik. Kommissar Lucarelli folgt dem Instinkt des Tennisspielers und glaubt an ein konkretes Mordmotiv. Er tut etwas sehr Schlimmes, intuitiv und scheinbar ohne Grund. Doch auf diese Weise stellt sich heraus, dass seine attraktive Geliebte Eileen bei der Vertuschung eines Industrieskandals und vielleicht sogar in seinem Mordfall die Hände im Spiel hat ...
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Seitenzahl: 332
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Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
Kapitel 42
Kapitel 43
Kapitel 44
Kapitel 45
Kapitel 46
Kapitel 47
Kapitel 48
Kapitel 49
Kapitel 50
Kapitel 51
Kapitel 52
Kapitel 53
Kapitel 54
Kapitel 55
Kapitel 56
Kapitel 57
Kapitel 58
Kapitel 59
Kapitel 60
Kapitel 61
Kapitel 62
Kapitel 63
Kapitel 64
Kapitel 65
Kapitel 66
Kapitel 67
Kapitel 68
Kapitel 69
Freddy Weller warf den Ball hoch, holte aus und hieb ihn mit voller Wucht. Wie eine Rakete zischte die Filzkugel auf die Linie, bevor sie scheppernd im Zaun einschlug.
»Angeber«, murmelte Lucarelli.
Kopfschüttelnd ging er nach hinten, um den Ball aufzuheben. Derweil fiel sein Blick auf den Nebenplatz, wo eine junge Frau trainierte, die er auf der Anlage noch nie gesehen hatte. Ihr Coach stand mit dem Ballkorb am Netz und scheuchte sie in hohem Tempo hin und her. Lucarelli sah fasziniert zu, wie die Blonde über den Platz tänzelte. Zuverlässig trugen sie ihre Beine genau in die Position, von wo aus sie optimal auf die an der Grundlinie aufgestellten Plastikhütchen feuern konnte. Nach und nach stoben die getroffenen Zielscheiben mit einem dumpfen Ploppen nach hinten oder kassierten zumindest einen Streifschuss, worauf sie kaum weniger spektakulär zur Seite knickten. Während der ganzen Plackerei kam die Schönheit noch nicht einmal außer Atem. Fast schien es, als sei für sie das von allen Tennisspielern der Welt gefürchtete Grill-Training nicht viel mehr als ein Kinderspiel. In ihrem zitronengelben Kleid und dem passenden Haarband sah sie ohnehin so aus, als sei sie unterwegs zur Strandpromenade und nicht bei der Fronarbeit auf dem hintersten Platz des Freiburger Tennisclubs.
Umso mehr wünschte sich Lucarelli, selbst eine bessere Figur abzugeben. Die Freiluftsaison hatte schon vor gut drei Wochen begonnen, doch er war bis zu diesem Sonntagvormittag noch nicht ein einziges Mal zum Spielen gekommen. Nach der längeren Pause hätte er es vorgezogen, eine Weile nur Bälle zu schlagen, um den Schlagrhythmus wiederzufinden. Doch Freddy Weller hatte für ein Turnier gemeldet und darauf bestanden, mit einem Trainingsmatch den Ernstfall zu proben. Zu allem Überfluss hatte er die Woche über Aufschläge geübt. Monoton wie eine Maschine servierte er ein Ass nach dem anderen, ohne dass Lucarelli auch nur in die Nähe des Balles gekommen wäre. Schon wieder war ein Spiel vorüber, Seitenwechsel stand an. Sie setzten sich nebeneinander auf die Bank beim Schiedsrichterstuhl.
»Sieht nach Profi aus.« Lucarelli deutete über die Schulter in Richtung Nebenplatz.
»Immerhin dafür hast du noch ein Auge.« Weller schmunzelte.
Die Anspielung galt Lucarellis Erfolgsquote bei den Aufschlagreturns. Wie nirgends sonst beim Tennis kam es bei diesem Schlag darauf an, dass der Returnierende Richtung und Drall des Balls rechtzeitig erahnte. Die gebotene Antizipation speiste sich aus der genauen Beobachtung des Gegners. Es galt, aus seinen Gewohnheiten, der Richtung und Höhe seines Ballwurfs, der Fußstellung und dem Schwung des Schlägers die richtigen Schlüsse zu ziehen. In Sekundenbruchteilen musste die Entscheidung getroffen werden, wo man einen mit hoher Geschwindigkeit geschlagenen Ball erwartete. Da gab es keine Zeit zum Nachdenken. Man brauchte ein »Auge«, um intuitiv das Richtige zu tun.
Andererseits sah Lucarelli auf den ersten Blick, wer in dieser Sportart etwas taugte. Sein Vater Silvio hatte nach einer erfolgreichen Spielerkarriere für den Landesverband die Nachwuchstalente trainiert und ihn schon als Kind zum Zuschauen mitgenommen. Silvio trainierte jedoch irgendwann keine Mädchen mehr, sondern nur noch Jungs. Wie der Vater behauptete, hörten die meisten Mädchen mit sechzehn oder siebzehn mit dem Wettkampfsport auf und alle Mühe war vergebens.
»Und wer ist die zitronengelbe Dame?«, erkundigte sich Lucarelli.
»Eileen Carlsson«, hörte er eine Frauenstimme von hinten. »Falls Sie mich meinen sollten.«
Die Blonde hatte offenbar am Seitenzaun einen Ball aufgelesen und stand direkt hinter ihrer Bank. Lucarelli sah in zwei katzengrüne Augen. Er stand auf und machte eine Verbeugung.
»Hans Lucarelli. Freut mich.«
»Lucarelli? Verwandt mit dem Coach aus Stuttgart?«, wollte sie wissen.
»Mein Vater. Er hatte doch nicht auf seine alten Tage etwa mit seinen Prinzipien gebrochen und Juniorinnen trainiert?«
»Aus dem Alter bin ich wohl raus.« Sie lächelte. »Ein Freund von mir trainierte bei ihm.«
Sie musterte Lucarelli von oben bis unten. »Haben Sie auch was gegen Frauen?«
»Wieso sollte ich? Sie bieten im Allgemeinen bessere Aussichten auf den einen oder anderen Ballwechsel als diese Aufschlagmaschine hier.«
Lucarelli deutete auf Weller, der das offenbar als Kompliment nahm. Zumindest streckte er ein wenig die Brust raus.
»Na dann«, lachte Eileen. »Ich hätte im Augenblick auch nichts gegen einen halbwegs zivil spielenden Partner. Haben Sie nachher noch Zeit?«
Bevor Lucarelli antworten konnte, drang ein ersticktes Summen zu ihnen herüber. Es kam vom Schiedsrichterstuhl, wo er seinen Retro-Tenniskoffer verstaut hatte. Er stammte aus den Siebzigerjahren des letzten Jahrhunderts. Ober- und Unterseite bestanden aus blütenweißem Kunstleder, dazu hatte das alte Stück einen Tragegriff aus Holz und drei silberfarbene Schnappschlösser, von denen das mittlere abschließbar war.
Eileen sah Lucarelli ungläubig dabei zu, wie er den Koffer auf die richtige Seite drehte und die Schnallen aufspringen ließ. »Fehlen nur noch die Maxplay-Holzschläger und weiße Segeltuchschuhe«, feixte sie.
»Dann nennen wir ihn Gottfried von Cramm«, schlug Weller vor.
Der Koffer hatte natürlich eine Geschichte. Vor seiner Trainerkarriere war Lucarellis Vater einer der besten Spieler Italiens gewesen. Nach seinem Umzug nach Deutschland nahm er noch eine Zeit lang an örtlichen Turnieren teil. Zu seiner Bestürzung überreichte man ihm bei der Siegerehrung irgendwo in der schwäbischen Provinz ausgerechnet diesen blütenweißen Tenniskoffer. Lucarelli senior verdrehte verstört die Augen, denn er hatte lange genug in Italien gelebt, um seinen Preis für eine teutonische Geschmacksverirrung zu halten. Er schickte sich schon an, seine Trophäe wutentbrannt an Ort und Stelle im Container des Clubrestaurants zu versenken, doch seine schwäbische Frau Helga ging energisch dazwischen. Ihrem entschlossenen Einsatz war es zu verdanken, dass der Koffer nicht auf dem Müll, sondern sorgfältig in eine Decke eingewickelt wenigstens auf dem Speicher landete, wo das gute Stück mehr als vierzig Jahre überdauerte. Bei einer Entrümpelung des Elternhauses war es Lucarelli schließlich in die Hände gefallen. In seinen Augen hatte sich der Koffer auf dem Dachboden zu einem bemerkenswerten Retro-Modell gemausert, ähnlich wie vormals unscheinbare Autos nach öden Jahren in einer Garage plötzlich als Rarität herausrollten, um bei aufwendig inszenierten Oldtimer-Rallys bestaunt zu werden. Vor allen Dingen war der Tenniskoffer aber eine Erinnerung an die Spielkunst seines Vaters, der seinerzeit gegen die italienischen Tennisidole Adriano Panatta und Paolo Bertolucci gespielt hatte und von diesen aus Respekt vor seinen unterschnittenen Slice-Bällen hochachtungsvoll die Apulische Säge genannte wurde.
Lucarelli zog das Handy aus der sorgfältig ins Futter genähten Innentasche und nahm den Anruf entgegen. In einem Waldstück bei Sankt Ottilien hatte es einen Mord gegeben. Der Tatort lag nur wenige hundert Meter vom Tennisplatz entfernt.
Der Kommissar stopfte eilig seine Sachen in den Koffer, entschuldigte sich und hastete zur Umkleide.
Von der Kartäuserstraße führte ein schmaler Fahrweg zur Wallfahrtskappelle Sankt Ottilien. Nirgendwo sonst gelangte man aus dem Stadtgebiet so schnell in den Schwarzwald. Kaum hatte Lucarelli die Abzweigung genommen, säumten zu beiden Seiten dichte Bäume den Straßenrand. Er musste im zweiten Gang fahren. Nur so schaffte es der in die Jahre gekommene Triumph Spitfire über die steilen Kehren nach oben. Hinter einer Kuppe wurde er von einem uniformierten Kollegen herangewinkt.
Lucarelli stellte das Auto ab und folgte ihm in einen schmalen Seitenweg, der durch dicht stehende Fichten zu einer Lichtung führte. In der Mitte stand eine elegante Luxuslimousine, umringt von den Spezialisten der Spurensicherung. Mit ihren schneeweißen Schutzanzügen inmitten des Grüns der Bäume wirkten sie wie Besucher von einem anderen Planeten.
Lucarelli schlüpfte unter der mit rot-weißen Plastikbändern markierten Absperrung hindurch. Aufgrund seiner zwei Meter Körpergröße sah er Arens schon von weitem. Lucarellis Stellvertreter hatte die Hände in eine etwas zu weit geratene, schwarze Hose gestemmt und unterhielt sich mit Peter Mitzler, dem Chef der Spurensicherung. Mitzler winkte kurz herüber und verschwand mit dem Handy am Ohr in die Richtung einer Gruppe, die den Wald absuchte.
»Mahlzeit« raunte Arens zur Begrüßung. »Zwei Tote.« »Zwei?«, fragte Lucarelli überrascht.
»Ein Mann und eine Frau. In flagranti, wie es aussieht.«
Sie gingen die paar Schritte, bis sie nebeneinander vor dem dunkelblau-metallic glänzenden Malberg XC1 standen. Neben der Kühlerhaube lag auf der Seite ein etwa fünfzigjähriger Mann mit dichtem, graumeliertem Haar. Das halb aufgeknöpfte, hellblaue Hemd war vom Hinterkopf ausgehend dunkelrot mit Blut durchtränkt. Die Hose hing heruntergezogen auf der Höhe der Knöchel. Auf den bloßen Beinen tummelte sich eine aufgeregte Schar blaugrüner Fliegen. Unter einem Hosenbein lugte ein sorgsam geputzter, schwarzer Schuh hervor.
»Schuss in den Hinterkopf«, sagte Arens, »aus kurzer Distanz.«
Lucarelli betrachtete die Szene. Er dachte daran, dass sich manche Männer angeblich wünschen, ihren letzten Lebensmoment in den Armen einer Frau zu erleben. Ob das am tristen Moment des Sterbens etwas änderte? Der Mann hatte jedenfalls keine Zeit gehabt, darüber nachzudenken. Der Täter kam vermutlich ohne Vorwarnung von hinten. Das Opfer hatte nicht den Hauch einer Chance, irgendetwas zu tun oder zu denken.
»Wo ist die Frau?«, fragte Lucarelli.
»Dort drüben.«
Sie steuerten auf einen überdachten Grillplatz zu, der sich in ein paar Metern Entfernung am Rand der Lichtung befand. Er hatte ein spitzes Dach, war zum Weg hin offen und beherbergte vier Holzbänke, zwei einfache Tische und eine Feuerstelle. Rechts davon stand auf drei querliegenden Stämmen ein etwa zwei Meter langer Baumstammbrunnen.
Die Frau war erheblich jünger, vielleicht Mitte zwanzig. Ihr toter Körper lag bäuchlings zusammengekrümmt direkt vor dem Brunnen. Sie trug ein helles, halblanges Sommerkleid, die Schuhe lagen verstreut in kurzer Entfernung. An den nackten Beinen klebte Blut. Die halblangen braunen Haare hingen zusammengeklebt am Kopf. An der Luft waren sie inzwischen getrocknet, aber es sah so aus, als sei die Frau unter Wasser getaucht worden.
»Ertränkt?«, fragte Lucarelli.
»Es gibt Würgespuren am Hals. Offensichtlich ist sie auch stranguliert worden. Der Pathologe sollte schon lange hier sein. Aber heute, am Sonntag, geht wohl nicht jeder gleich ans Telefon.«
Lucarelli hatte auf der Liste der verpassten Anrufe gesehen, dass Arens mehrfach versucht hatte, ihn zu erreichen. Das Innenfutter seines Tenniskoffers hatte den Klingelton verschluckt.
»Kennen wir die Namen der Opfer?«, überging er den Seitenhieb.
»Noch nicht. Kein Portemonnaie, keine Handtasche, kein Handy, keine Brieftasche. Mitzler sucht die Gegend ab. Vielleicht hat der Mörder alles von Wert mitgenommen und den Rest in den Wald geworfen.«
»So ein Auto sieht man hier selten. Spielt wohl in der gleichen Liga wie ein Rolls, oder?«, wollte Lucarelli wissen.
Arens war bekennender Auto-Fan, las Fachzeitschriften und wusste so gut wie alles über Autos. Lucarellis Triumph Spitfire kam bei ihm nicht gut weg. Das lag nicht nur daran, dass ihm ein deutscher Automobilclub irgendwann einmal die »Silberne Zitrone« für schlechte Fahreigenschaften verpasst hatte, sondern auch an dem Umstand, dass für Arens aufgrund seiner zwei Meter Körpergröße das Einsteigen in den engen, flach auf der Straße liegenden Sportwagen eine Qual war. Er vermied es, bei Lucarelli mitfahren zu müssen.
»Das ist ein Malberg XC1. Kostet neu einiges über zweihundertfünfzigtausend«, sagte Arens. »Laut Kennzeichen gehört er der Autovermietung RML in Freiburg. Alleiniger Inhaber ist Rolf-Michael Losch. RML vermietet nicht nur Autos, sondern betreibt auch einen Limousinen-Service für Hochzeiten oder Fahrten zum Flughafen für Prominente und solche, die es sein wollen. Sonntags ist die Firma geschlossen, da geht niemand ans Telefon. Daher wissen wir noch nicht, wer das Auto gemietet hat. Benny ist vorhin los, um nach Losch zu suchen.
Bernhard Liebig war mit neunundzwanzig Jahren der Jüngste in Lucarellis Team. Er war in der Gegend aufgewachsen und wusste fast immer, was in der Stadt los war. Liebig habe sich erinnerte, dass Losch einige Male beim Freiburger Zeltmusikfestival als Sponsor aktiv war. Einige Stars hatte er mit einem roten Rolls Royce werbewirksam vom Veranstaltungsort ins Hotel chauffieren lassen.
»Der Tote ist nicht Losch. Benny glaubt, der sähe anders aus«, fügte Arens mit seinem rheinischen Tonfall hinzu.
»Glaubt Benny«, wiederholte Lucarelli.
»Für mich sieht es so aus, als habe das Opfer den XC1 gemietet, um der jungen Frau zu imponieren. Und offenbar hat er mit der Masche Erfolg gehabt. Die Frau lag vor ihrem Tod oben auf der Kühlerhaube, und wenn mich nicht alles täuscht, hatte der Mann dort im Stehen mit ihr Verkehr. Die heruntergelassene Hose und der Fundort der Leiche lassen da nicht besonders große Zweifel.«
Lucarelli sah sich das Ganze noch einmal an. Es war in der Tat schwierig, es sich anders vorzustellen. »Nehmen wir mal an, es war so. Mitten im Liebesakt taucht also der Täter auf und schießt dem Mann von hinten in den Kopf. Aber warum nicht gleich auch die Frau? Wieso wurde sie gewürgt und ersäuft, wenn der Täter doch eine Waffe hatte?«
»Vielleicht ein Wahnsinniger. Einer wie der Parkplatzmörder«, sagte Arens mit kaum verhohlenem Grauen in der Stimme.
Der Fall des Parkplatzmörders galt in der Polizei als Albtraum. Ein nie gefasster Täter hatte vor mehr als zehn Jahren auf abgelegenen Parkplätzen Liebespaaren aufgelauert und diese erschossen. Lucarelli arbeitete damals noch bei der Kripo Stuttgart und hatte die Fälle verfolgt, die sich in unmittelbarer Nähe der Landeshauptstadt zugetragen hatten. Der Mörder war nicht zu fassen, da seine Taten keiner Logik folgten, die ihn hätte verraten können. Die Kollegen vom Landeskriminalamt hatten jahrelang vergeblich nach einer Spur gesucht, die ihn hätte verraten können.
»Erst räumt der Täter mit der Waffe den Mann beiseite, so wie damals der Parkplatzmörder. Sobald er mit der Frau alleine ist, lebt er an ihr den Rest seines perversen Geistes aus«, legte Arens seine ersten Vermutungen offen.
»Der Parkplatzmörder hat aber nur geschossen und die Opfer nicht misshandelt.«
»Vielleicht hat er den Wahnsinn in den letzten zehn Jahren weiterentwickelt?«
»Abwarten«, sagte Lucarelli ruhig. »Jedenfalls scheint es im Moment ziemlich viele Möglichkeiten zu geben. Raubmord, Triebmord, Serienmörder. Für meinen Geschmack sind das zu viele.«
»Wie meinst du das?« wollte Arens wissen.
»Abwarten«, wiederholte Lucarelli. »Reines Bauchgefühl.«
Polizeipräsidentin Charlotte Benzing«, las Lucarelli auf dem silberfarbenen Schild rechts neben der Tür. Es war steil bergauf gegangen mit ihrer Karriere, seit sie gemeinsam die Polizeihochschule abgeschlossen hatten. Über die Verwaltungsakademie war sie ohne Umweg ins Innenministerium gelangt und vor einem Jahr zur Stellvertreterin des Freiburger Polizeipräsidenten Rupert Steinle ernannt worden. Als Steinle im Urlaub verunglückte und als Invalide nicht mehr auf seinen Posten zurückkehren konnte, drückte sie das Ministerium in Stuttgart kurzerhand als Nachfolgerin durch. Charlotte war gerade dreiundvierzig geworden und damit zwei Jahre jünger als Lucarelli. Manchmal, wenn er an ihrem Büro vorbeikam, stellte er sich die Frage, wonach diese Frau die nächsten fünfundzwanzig Jahre noch streben konnte, wo sie doch schon jetzt ganz oben gelandet war.
Das Vorzimmer war an diesem Montag nicht besetzt. Er ging an den beiden penibel aufgeräumten Schreibtischen vorbei, wo sich sonst zwei Assistentinnen gegenübersaßen. Sie hatten es, wie es im Hause hieß, nur halbwegs geschafft, sich mit der neuen Chefin zu vertragen.
Die Tür zum Büro war angelehnt. Lucarelli hörte, wie die Chefin am Telefon einen Journalisten abwimmelte. Als sie aufgelegt hatte, klopfte er an die angelehnte Tür.
»Komm rein, Hans«, winkte sie.
Charlotte Benzing deutete auf den großen Sitzungstisch und nahm selbst an dessen Stirnseite Platz. Lucarelli fiel auf, dass sie ihn seit der Polizeihochschule kein einziges Mal mehr »Hans« genannt hatte. Wenn andere dabei waren, bestand sie ohnehin darauf, dass man sich siezte. Ansonsten ließ sie es bei »Lucarelli«, wohlgemerkt ohne »Herr«. Das klang aus ihrer Sicht jovial genug. Andererseits schaffte es die Distanz, welche sie offenbar für notwendig hielt, um die einzige, lang zurückliegende Liebesnacht mit ihrem Untergebenen in noch weitere Ferne zu rücken. Lucarelli hatte sich daran gewöhnt. Warum nun also wieder »Hans«?
»Das Gespenst eines Parkplatzmörders geht um. In der Presse wird es einen Hype geben. Es wird Zeit, dass Adrion zurückkommt«, sagte Charlotte Benzing, noch ehe Lucarelli an der Längsseite des überdimensionierten Sitzungstisches Platz genommen hatte.
Hendrik Adrion war Abteilungsleiter für die Presseund Öffentlichkeitsarbeit und hielt Charlotte Benzing unliebsame Anrufe vom Leib. Zu Benzings Leidwesen fand diese Woche ein Filmfestival statt und Adrion war hingereist. Mit der krankheitsbedingten Abwesenheit ihrer letzten Vorzimmerdame, die andere hatte bereits gekündigt, war die letzte Verteidigungsbastion gefallen. Charlotte Benzing musste selbst abheben, um Vorwürfen wegen mangelnder Öffentlichkeitsarbeit vorzubeugen. Prompt war sie von einer Welle von lästigen Anrufen überschwemmt worden.
»Der Parkplatzmörder ist seit über zehn Jahren nicht mehr aktiv. Er war ausschließlich im Raum Stuttgart unterwegs. Der muss es nicht gewesen sein«, sagte Lucarelli.
»Meinst du, das beruhigt da draußen jemand?«, raunzte Benzing.
Lucarelli beschloss, sich erst einmal den Fakten zuzuwenden. Sie durften sich nicht von der ausbrechenden Hysterie anstecken lassen. »Dank der Autoverleihfirma kennen wir nun den Namen des männlichen Opfers«, sagte er ruhig. »Er heißt Henry Huth und ist neunundvierzig Jahre alt. Huth war Partner von Huth & Saidenberg Communications mit Sitz in Berlin. Todeszeitpunkt wahrscheinlich zwischen Mitternacht und eins, in der Nacht auf Sonntag. Gefunden wurden die Leichen gegen neun Uhr von einem Spaziergänger.«
»Was hat Huth in Freiburg gemacht?«
»Er ist in Sankt Georgen geboren und war lange in Freiburg gemeldet. Er besitzt ein Haus in der Kirchstraße und eins in der Jacobistraße. Auch der einzige Sohn, Philipp, wohnt in Freiburg. Huth ist am vergangenen Freitag um 16:50 Uhr von Brüssel kommend auf dem Euroairport Basel gelandet. Was er an den Tagen vor seinem Tod gemacht hat, wissen wir noch nicht. Wir haben den Sohn ausfindig gemacht und treffen ihn gleich.«
»Warum treibt es Huth mit der Frau im Wald, wenn er in der Stadt eine Wohnung hat?«, wunderte sich Benzing.
»Spontaner Entschluss? Vorlieben? Wohnung belegt?«
Lucarelli musste daran denken, wohin er damals mit Charlotte gleich nach dem ersten Kuss aufgebrochen war. Die Szene unterschied sich nicht sehr von dem, was Huth und die Unbekannte gemacht hatten, sah man einmal davon ab, dass Lucarelli mit einem alten, schon etwas rostigen Mercedes Diesel auf den Parkplatz hinter dem Messegelände gerollt war. Lucarelli hätte gerne gewusst, ob sie jetzt auch daran dachte.
»Jedenfalls wurde Huth erschossen, während das Paar Sex hatte«, fuhr er fort. »Aufgrund der Blutspuren, der postmortalen Erektion des Opfers und der Position der Leiche gibt es keine Zweifel. Der Täter hat sich angeschlichen, während Henry Huth vor der Kühlerhaube stehend aktiv war, und ihm aus allernächster Nähe in den Hinterkopf geschossen.«
»Was passierte mit der Frau?«
»Der Täter hat sie gefesselt und in einem nahen Baumstammbrunnen unter Wasser gehalten und gewürgt. Der Tod trat durch Strangulieren ein. Die Identität der Frau ist noch unbekannt. Das weibliche Opfer ist erheblich jünger als Huth, wahrscheinlich Mitte Zwanzig. Die Frau ist mittelgroß, schlank und Mittel- oder Westeuropäerin.
»Wurde sie vergewaltigt?«
»Nach erster Analyse der KTU war Huth in die Frau eingedrungen, und zwar anal. Gleichwohl hatte sie an den Geschlechtsorganen schwerste Verletzungen, wahrscheinlich zugefügt mit einem holzartigen Material wie einem Ast oder einem Stock. Da der Gegenstand in der unmittelbaren Nähe des Tatorts nicht gefunden wurde, gehen wir davon aus, dass der Frau diese Verletzungen nicht von Huth, sondern vom Mörder zugefügt wurden.«
Charlotte Benzing verzog keine Miene. Es gehörte zum unverzichtbaren Instrumentenkasten ihrer Karriere, dass niemals jemand ahnte, was sie dachte oder fühlte. Die Möglichkeit, dass der Parkplatzmörder in der Stadt war, hatte nur kurz an ihrer Maske gekratzt. Jetzt war sie wieder undurchdringlich und distanziert.
»Dieser Tathergang ist nicht außergewöhnlich«, fuhr Lucarelli fort. »Es gibt genügend Beispiele für Täter, die ihre Opfer nicht vergewaltigen, sondern allein Lust an seiner Qual haben. Irgendetwas gefällt mir an diesem Parkplatzmörder-Szenario trotzdem nicht. Schon deshalb, weil der Serienmörder von Stuttgart die Opfer einfach nur erschossen hatte und damals keinerlei Anzeichen von sadistischen Anwandlungen gefunden wurden.«
Im Vorzimmer klingelte das Telefon. Charlotte Benzing stand kopfschüttelnd auf und schloss die Tür. Man hörte das Schrillen des Apparats noch immer, doch die gepolsterte Cheftür hielt den größten Lärm ab. Das nervöse Lämpchen der Sprechanlage auf dem Schreibtisch zuckte freilich unberührt weiter.
»Du meinst, der Täter hat das inszeniert, um von einem Motiv abzulenken?«
»Das klingt im Moment abenteuerlich, ich weiß. Der Mörder hat jedenfalls in Bezug auf Spuren alle Vorsicht walten lassen.«
»Das allein heißt noch nichts. Auch Triebtäter können Spuren beseitigen.«
»Mag sein. Ich will nur nicht von vorneherein ausschließen, dass der Mörder mit den von ihm herbeigeführten Begleiterscheinungen der Tat von sich und einem konkreten Mordmotiv ablenken wollte. Die Polizei sollte vielleicht bewusst glauben gemacht werden, dass ein triebgesteuerter Wahnsinniger oder ein im Wald lauernder Raubmörder am Werk war.«
»Wenn der Täter die Wertgegenstände der Opfer mitgenommen hat, um auch noch einen Raubmord vorzutäuschen, warum stiehlt er nicht auch das Auto? Der Schlüssel lag ja quasi auf dem Präsentierteller«, wandte Charlotte Benzing ein.
»Bei Mietwagen dieses Kalibers ist es üblich, dass eine Simcard verbaut ist, mit der man das Auto orten kann. Und dass es ein Mietwagen war, konnte der Täter an einem Aufkleber an der Windschutzscheibe leicht erkennen.«
Den zweiten, ebenso wichtigen Grund, den Lucarelli im Hinterkopf hatte, behielt er für sich. Im Vorzimmer ging erneut das Telefon. Dieses Mal erhob sich die Präsidentin, um an ihren Schreibtisch zurückzukehren. Lucarelli stand ebenfalls auf.
»Cherchez la femme!«, rief sie ihm nach, bevor er aus der Tür war.
Philipp Huth schreibt gerade eine Klausur, und dann muss er auch wieder rasch zurück an den Schreibtisch. Deshalb wollte er uns an der Uni treffen«, sagte Arens.
»Kein schöner Ort, um zu erfahren, dass der Vater tot ist«, meinte Lucarelli.
»Wenn er sonst keine Zeit hat?« Arens zuckte mit den Schultern. »Ich konnte es ihm ja schlecht am Telefon sagen.«
Sie rollten vom Innenhof des Reviers auf die Straße.
»Bald weiß es das ganze Land. Frau Präsidentin wird vermutlich heute noch eine Pressekonferenz abhalten. Sie wartet nur noch auf die Rückkehr von Adrion«, sagte Lucarelli.
»Auf den ist sie garantiert nicht gut zu sprechen. Während hier die Hölle los ist, guckt der sich in Cannes Filmchen an.«
»Na und? Urlaub ist Urlaub. Macht das einen Unterschied, ob er irgendwo am Strand liegt oder im Kino sitzt?« Lucarelli mochte Hendrik Adrion. Er war jung, ungemein gebildet und blieb selbst noch in den wildesten Pressekonferenzen cool. Dazu schaffte er es irgendwie, bei den Journalisten beliebt zu sein. Es hatte sich bei ihnen herumgesprochen, dass Adrion nebenbei für eine große Berliner Zeitung Filmkritiken schrieb, und die meisten hielten ihn respektvoll für einen der ihren. Adrions Ausflüge zu glamourösen Festspielen und die Tatsache, dass seine Artikel in einer großen, überregionalen Zeitung erschienen, riefen allerdings bei einem Teil der Kollegen Neid hervor. Obwohl Lucarelli davon ausging, dass Adrion damit leben konnte, hielt er es gelegentlich für angebracht, ihn zu verteidigen. Zeit für einen Themenwechsel.
»Wir müssen uns um die Identität der Frau kümmern.«
»Bis jetzt gibt es weder eine Übereinstimmung mit einer erfassten Person noch eine Vermisstenanzeige.«
»Wissen wir schon, wann und was die Opfer das letzte Mal gegessen haben?«, fragte Lucarelli. Seine erste Tageshandlung im Büro bestand normalerweise darin, die Espressomaschine in Gang zu setzen. Mit der ersten Tasse setzte er sich dann an seinen Schreibtisch und las in aller Ruhe seine Mails. An diesem Morgen war er vom Ritual abgewichen und hatte Arens schon auf der Türschwelle danach gefragt.
Sein beredtes Schweigen wies daraufhin hin, dass der vergessen hatte, sich darum zu kümmern. Jetzt sah er verlegen in den Rückspiegel, als ob hinter ihnen irgendetwas besonders Interessantes passierte.
»Halt mal da vorn beim Tabakladen. Du kannst ja, während ich reingehe, im Labor nachfragen«, sagte Lucarelli.
Arens steuerte den Dienstwagen in eine Parkbucht. Lucarelli stieg aus und betrat sein Stammgeschäft. Bei jedem Besuch des engen, fensterlosen Ladens sagte er sich, dass das Rauchen ein Ende haben musste. Bevor er bei der Polizei anfing, hatte er sich auf dem Sprung zum Tennisprofi befunden. Rauchen und Alkohol waren tabu gewesen, und als er seine Träume irgendwann begraben musste, hatte er das Bedürfnis gehabt, nachzuholen, worauf er so lange verzichten musste. Seither war er dieses Laster nicht mehr losgeworden. Doch als er heute Morgen im Präsidium die Treppen in die sechste Etage hinaufgestiegen war, war er zum ersten Mal außer Atem gekommen. Und er mochte sich nicht vorstellen, was er für eine Figur abgab, wenn er in diesem Zustand gegen die Schönheit vom Tennisplatz spielte. Vermutlich war es eine glückliche Fügung, dass es nicht dazu gekommen war.
Der Tabakladen fungierte in Mehrfachfunktion als Zeitungskiosk und Lottoannahmestelle. Vor dem Verkaufstresen hatte sich eine Schlange aus Wartenden gebildet, die sich nur zögerlich auflöste. Endlich an der Reihe, bestellte Lucarelli nicht wie üblich eine ganze Stange, sondern ließ sich von der verblüfften Ladenbesitzerin nur ein einziges Zigarettenpäckchen geben. Als er auf die Straße hinaustrat, nahm er sich vor, dass die Schachtel für den Rest der Woche reichen musste. Lucarelli war allerdings noch nie besonders gut im Einhalten von Vorsätzen gewesen, sah man einmal davon ab, dass er es sich seit seiner Affäre mit Charlotte Benzing verboten hatte, auf jedwede Reize von Berufskolleginnen einzugehen. Aber dieses Mal, so glaubte er, würde er mit dem Rauchen ernst machen.
»Was gibt es Neues aus dem Labor?«, fragte Lucarelli, als er wieder neben Arens im Auto saß.
»Die beiden Opfer hatten mehr oder weniger das Gleiche im Magen. Weiße Spargel, Kartoffeln und Sauce Hollandaise. Laut Labor erfolgte die Nahrungseinnahme ungefähr drei Stunden vor dem Mord.«
»Alkohol?«
»Huth hatte 0,8 Promille. Die Frau 0,2.«
Lucarelli lud auf dem Handy einen Restaurantführer herunter. Eine Karte der Stadtteile Waldsee, Littenweiler und Wiehre wies mit einer Reihe von orangefarbenen Punkten aus, wo sich in der näheren Umgebung des Tatorts Restaurants und Gaststätten befanden.
»Würdest du einen XC1 mieten und dann mit einer Frau zum Essen in das Clubhaus eines Sportvereins fahren?«, fragte Lucarelli, den Stadtplan im Blick.
»Natürlich nicht.«
»Im Schwarzwald-Sushi dürfte es keinen Spargel geben. Also bleiben in der Nähe drei Lokale. Das Waldrestaurant Sankt Ottilien bei der Wallfahrtskappelle, das Gasthaus Stahl in der Kartäuserstraße und das Schiff in der Schwarzwaldstraße. Huth kann mit der Frau natürlich auch weiß Gott wo gegessen haben und von dort aus in den Wald gefahren sein. Aber wer weiß. Vielleicht haben wir Glück.«
Lucarelli sah auf die Uhr. Viertel vor elf. Die drei Lokale waren noch geschlossen.
»Wenn die Frau so gut wie nichts getrunken hat, könnte es sein, dass sie mit dem eigenen Auto zum Treffpunkt zu einem dieser Restaurants gefahren ist«, sagte Lucarelli. »Eine Streife soll prüfen, ob in der Nähe schon länger ein Fahrzeug geparkt ist. Die Kollegen vom Gemeindevollzugsdienst sind mit ihren Strafzetteln ja früh unterwegs.«
»Montag um halb neun klebt der erste an der Windschutzscheibe. Von da geht es im Halbstundentakt weiter«, sprach Arens mit einer Stimme eigener, leidgeprüfter Erfahrung. »Und jetzt ist fast elf.« Arens wohnte in einem kleinen Schwarzwalddorf, wohin nach acht Uhr abends keine Busse mehr fuhren. Trotz vieler schriftlicher Einlassungen bekam er auf dem Polizeigelände aufgrund seines für eine amtliche Reservierung unzureichenden Dienstgrads keinen festen Parkplatz. Mitunter kam es also durchaus vor, dass er sein Auto draußen parken musste. Kam Arens zu spät, um am Parkscheinautomaten ein neues Ticket zu lösen, waren ihm die flinken Hostessen bereits mit Strafzetteln zuvorgekommen. Wie er argwöhnte, arbeiteten die Damen für eine von der Stadt beauftragte Privatfirma, die ihren Angestellten, selbstverständlich erst ab einer Mindestmenge und progressiv nach Erfolgsquote gestaffelt, für jeden ausgestellten Strafzettel eine Prämie bezahlte. Nach Arens´ Überzeugung lauerten sie bereits Minuten vor dem Ende der Parkzeit neben seinem Auto, bloß um die Gelegenheit nicht zu verpassen.
»Wir brauchen Bilder von den beiden Toten, die wir dem Restaurantpersonal zeigen können«, sagte Lucarelli.
»Habe ich schon veranlasst. Sollten bald fertig sein.«
»Sehr gut. Fahren wir also zu Philipp Huth in die Uni.«
Erschossen?«, fragte Philipp Huth fassungslos.
Er wirkte älter als die fünfundzwanzig Jahre, die er war. Es war nicht zu übersehen, dass er nicht viel geschlafen hatte. Gleichermaßen blass und übermüdet hatte er vor der Cafeteria gewartet und war den Polizisten stumm in den Innenhof zwischen den Kollegiengebäuden gefolgt. Abseits der von Studenten bevölkerten Stehtische konnte man hier einigermaßen ungestört sprechen. Lucarelli war direkt zur Sache gekommen.
Philipp Huth ließ sich auf eine der Bänke sinken, die an der Nordseite des Hofs eine Reihe bildeten. Er schloss die wasserblauen Augen, unter die sich tiefe Ringe eingegraben hatten. So verharrte er, ohne dass jemand etwas sagte.
»Wer hat das getan?«, raffte er sich auf.
»Das wissen wir noch nicht. Es ist auch eine Frau ermordet worden. Ihrem Vater und dieser Frau wurde auf einem abgelegenen Waldplatzplatz bei Sankt Ottilien aufgelauert, beide wurden dort umgebracht«, sagte Arens.
»Wer war die Frau?«
Arens zog das Foto aus seiner Jacke und hielt es Huth hin.
»Ist die das?«
Arens nickte. »Die Identität der Ermordeten ist uns bisher noch nicht bekannt. Vielleicht kannten Sie die Frau?«
Philipp Huth betrachtete das Foto ohne Anstalten zu machen, es in die Hand zu nehmen. Er kniff die buschigen, dunkelblonden Augenbrauen zusammen und starrte angestrengt auf das verzerrte Gesicht der Toten.
»Kann sein, dass ich die Frau schon einmal gesehen habe«, sagte er schließlich. »Aber ich kann mich täuschen.«
»Vielleicht war es zusammen mit Ihrem Vater? Denken Sie in Ruhe nach.«
Zwei sich vergnügt unterhaltende Studentinnen näherten sich. Sie steuerten die Nachbarbank an, die von der wärmenden Frühjahrssonne angestrahlt wurde. Lucarelli empfing wie üblich ein paar neugierige Blicke. Sein südländisches Aussehen mit dichten schwarzen Haaren, den tiefbraunen Augen und dem dunklen Teint, den er von Vater Silvio geerbt hatte, wirkte auf Frauen im Allgemeinen attraktiv. Zudem war er relativ groß. Ein Übriges taten die Anzüge von Carlo Lucarelli, der seit vielen Jahren zu den angesehensten Schneidern der Mailänder Bankenszene gehörte und dessen Maßanfertigungen für den Cousin in der Studentenstadt Freiburg unweigerlich ins Auge stachen. Lucarelli machte sich nichts daraus. Irgendwann hatte er sich daran gewöhnt.
»Ich sehe meinen Vater nicht sehr oft«, sagte Huth mit gedämpfter Stimme. Er fuhr sich durch das dunkelblonde, dicht stehende Haar.
»Wo finden wir Ihre Mutter?«, fragte Arens.
»In Amerika. Sie hat eine Gastprofessur in Yale. Nach Ostern ist sie zurückgeflogen.«
Philipp Huth sank zusammen und starrte ins Leere. Lucarelli und Arens tauschten einen stummen Blick.
»Kommen Sie zurecht?«, erkundigte sich Lucarelli. »Wir lassen Sie jetzt alleine.«
Huth presste die Lippen zusammen und nickte.
»Wir müssen Sie aber bitten, ins Präsidium zu kommen«, sagte Lucarelli. »Sie müssten noch die Leiche identifizieren.«
»Ginge es morgen früh um zehn?«, schlug Arens vor.
»Um zehn kann ich nicht«, sagte Huth mit ausdrucksloser Stimme. »Es geht erst am Nachmittag.«
Arens zog seine Karte aus seiner Geldbörse. Huth hob schlaff den Arm und steckte sie ohne einen Blick darauf zu werfen in die Hosentasche.
»Rufen Sie bitte vorher an.«
Sie brachen auf. Als sie die Cafeteria passiert und den Eingang des Universitätsgebäudes erreicht hatten, hielt Lucarelli inne.
»Worauf wartest du?«, fragte Arens.
»Ich will Philipp Huth noch ein wenig im Blick behalten.«
»Wieso das denn?«
»Weil es der Beruf mit sich bringt, dass ich grundsätzlich schlecht über Menschen denken muss. Jetzt zum Beispiel will ich wissen, wie erschüttert Philipp Huth noch ist, wenn er glaubt, dass wir weg sind.«
Lucarelli und Arens verbargen sich im toten Winkel hinter der gläsernen Eingangstür. Von dort hatten sie die Bank gut im Blick.
Die beiden Studentinnen balancierten mit Kaffee gefüllte Pappbecher vorbei, schenkten den Polizisten jedoch keine Beachtung. Wenige Augenblicke später zückte Huth sein Handy, drückte eine Nummer und begann zu telefonieren. Die Beklommenheit schien aus seinem Gesicht verschwunden.
Wir kennen nun die Identität der ermordeten Frau. Ihr Name ist Michelle Merlin«, verkündete Benny Liebig. »Vierundzwanzig Jahre alt.«
Neben Lucarellis Teammitgliedern Arens und Liebig hatte auch Peter Mitzler von der Spurensicherung am großen Sitzungstisch des Besprechungsraums Platz genommen. Trotz der nun feststehenden Gewissheit, dass das Verbrechen an einer wirklich sehr jungen Frau begangen wurde, war rund um den Besprechungstisch auch Erleichterung spürbar. Sogar Peter Mitzler, ansonsten immer mit ausdrucksloser Miene, bedachte Liebig mit einem anerkennenden Nicken.
»Nachdem sie unentschuldigt bei der Arbeit, einer Krankenversicherung, gefehlt hatte, wurde sie von einer Arbeitskollegin als vermisst gemeldet«, fuhr Liebig fort. »Ich bin gleich hingefahren. Anhand des Fotos haben sie zwei Kolleginnen erkannt.«
»Wissen wir schon mehr über sie?«, fragte Lucarelli.
»Bei Facebook gibt es eine Seite mit ihrem Lebenslauf. Geboren wurde sie in Offenburg, wo sie auch das Abitur gemacht hatte. Danach war Merlin ein Jahr lang als Aupair in Montpellier, anschließend Studium in Freiburg. Vor zwanzig Monaten hat sie dann bei der AKV Krankenversicherung in der Habsburgerstraße angefangen.«
»Michelle Merlin klingt nach Französin«, schob Arens ein.
Benny Liebig hatte einen kleinen Stapel Papier vor sich und schob das oberste Blatt zur Seite. »Sie hat zwei Staatsbürgerschaften, die deutsche und die französische. Michelle Merlins Großvater Albert Merlin ist Franzose und war bei der französischen Militärverwaltung in Donaueschingen und später in Baden-Baden stationiert. Anfang der Sechzigerjahre heiratete er eine Deutsche und blieb bis zu seiner Pensionierung in Deutschland. Michelles Vater Roger Merlin wurde in Rastatt geboren und heiratete ebenfalls eine Deutsche. Weitere Kinder hatte das Paar nicht. Beide Eltern, Roger und Margarete Merlin, sind vor zweieinhalb Jahren bei einem Unfall ums Leben gekommen.«
Für einen Moment herrschte Stille. Man musste unvermeidlich daran denken, dass mit dem Mord an Michelle nun eine komplette Familie ausgelöscht war.
»Es leben nur noch der ältere Bruder ihres Vaters, Gustave, und der Großvater Albert«, fuhr Liebig fort. »Beide wohnen inzwischen in Frankreich. Großvater Albert war nach seiner Pensionierung nach Marseille zurückgekehrt. Michelles Onkel Gustave war bis voriges Jahr in Frankfurt Direktor einer großen Bank. Seit seinem Ausscheiden wohnt er in einem Dörfchen namens Vogelgrün. Das liegt gleich hinter der Grenze im Elsass.«
Wie immer beobachtete Peter Mitzler das Geschehen mit unerschütterlicher Ruhe durch die riesigen Gläser seiner Hornbrille. So schien er auch nicht im Mindesten ungeduldig zu werden, obschon es nun um ganz andere Dinge ging als um die, deretwegen er zu der Runde dazugebeten worden war. Vor ihm lagen zwei umgedrehte Fotos. Mitzler faltete darüber die Hände, als wolle er sie beschützen.
»Für die offizielle Identifizierung reichen die Arbeitskolleginnen nicht aus. Wir müssen Michelles Onkel aus dem Elsass herbitten«, sagte Arens.
»In der Tat. Hast du die Kolleginnen über das Opfer befragen können?«, wollte Lucarelli von Liebig wissen.
»Sie wussten nicht viel über sie. Wie gesagt, sie arbeitete seit gut anderthalb Jahren bei der Krankenversicherung als Sachbearbeiterin. Dort war sie für die Kostenabrechnungen zuständig.«
»Nicht gerade sehr aufregend für eine Frau mit Studium«, meinte Arens.
»Stimmt. Sie hatte zum Quartalsende gekündigt und wollte laut ihren Kolleginnen zum Wintersemester wieder studieren. Ansonsten war sie wohl eher zurückhaltend, hat kaum über Privates geredet. Keiner hat daher eine Idee, mit wem sich Michelle Merlin traf oder woher sie Henry Huth kannte. Vielleicht erfahren wir etwas, wenn wir uns ihre Wohnung ansehen. Sie wohnte in Kirchzarten.«
Benny schob Lucarelli zwei bereits ausgefüllte Formulare hin, die Lucarelli ohne hinzusehen unterschrieb. Liebig würde sie dann noch Charlotte Benzing vorlegen müssen.
»Wo sollen wir zuerst hin?«, wollte Liebig wissen, bevor er sich auf den Weg zur Chefin machte.
»Zu Henry Huth«, entschied Lucarelli.
»Sorry, dass du warten musstest«, entschuldigte sich Lucarelli bei Mitzler.
»Kein Problem, Hans. Für die Wohnungen der Opfer das komplette Programm?«
»Wir müssen möglichst viel über die beiden herausfinden.«
»Der Täter ist einerseits äußerst umsichtig vorgegangen«, begann Mitzler bedächtig. »Er hat Handschuhe getragen und so gut wie nichts am Tatort zurückgelassen. Im Auto haben wir unter dem Sitz allerdings ein Haar gefunden, das von keinem der beiden Opfer stammt.«
»Das ist doch schon mal was«, sagte Lucarelli.
»Es kommt bei einem Mietwagen durchaus vor, dass trotz mehrmaliger Reinigung des Innenraums ein Haar oder eine Faser eines Vormieters in irgendeiner Ritze hängen bleibt. Das Haar kann sich also schon länger im Auto befunden haben.«
»War der Täter überhaupt selbst im Auto?«, wollte Arens wissen.
»Angesichts der Umstände halte ich das für wahrscheinlich. Ich nehme an, dass der Mann den Autoschlüssel im Auto gelassen hatte, während er mit der Frau draußen Sex hatte. Da wir den Schlüssel nicht gefunden haben, müsste ihn der Täter aus dem Auto geholt haben. Dabei könnte er das Haar verloren haben.«
»Es stellt sich die Frage, warum der Täter den Schlüssel überhaupt mitgenommen hat«, warf Arens ein.
»Andererseits ist da noch die Tatwaffe, mit der Henry Huth erschossen wurde«, fuhr Mitzler fort. »Das Kaliber 9 Millimeter passt zu einer Parabellumpistole, die während des Ersten Weltkriegs im Einsatz war. Die Mordwaffe ist also mehr als hundert Jahre alt.«
Mitzler drehte das erste der vor ihm liegenden Fotos um und schob es auf die andere Tischseite. Lucarelli und Arens betrachteten staunend die abgebildete Pistole. Sie war noch mit einem Kniegelenkverschluss und einem Anschlagbrett ausgestattet. Man konnte sich eine solche Waffe gut in einem Museum vorstellen, doch gab es keinen Zweifel, dass sie noch gut funktionieren konnte.
»Si vis pacem para bellum«, rezitierte Lucarelli. »Mein Vater hat das seinen Schülern eingetrichtert, weil er Tennis für eine Spielart des psychologischen Kriegs hielt. Er glaubte, sie damit bestens auf die raue Wirklichkeit einer Tenniskarriere einzustimmen. Wenn ich mich nicht täusche, wurde der Name der Parabellumpistole aus diesem Spruch abgeleitet.«
»Ich hatte kein Latein in der Schule.« Arens zuckte die Schultern.
»Wenn du den Frieden willst, bereite den Krieg vor«, übersetzte Mitzler. Er schob seine Brille auf die Nasenspitze und legte eine Kunstpause ein, während derer er die Kollegen über die Ränder hinweg ansah. Mitzler schien die Sekunden zu genießen, bevor er zur Sache kam. Lucarelli hatte noch nie erlebt, dass sich Mitzler so inszeniert hätte.
»Das LKA Stuttgart hat damals ermittelt, dass der Parkplatzmörder eine Parabellumpistole benutzt hat«, ließ Mitzler die Bombe platzen.
Lucarelli und Arens starrten stumm auf das zweite Foto, das Mitzler neben das erste gelegt hatte. »Dasselbe Kaliber, fast dasselbe Alter und natürlich derselbe Name, abgeleitet aus ›Wenn du den Frieden willst, bereite den Krieg vor‹«, erklärte Mitzler.
»Die Verwandtschaft der beiden Tatwaffen kann Zufall sein.« Arens klang wie ein von Prüfungsangst heimgesuchter Schüler, der sich an die Hoffnung klammert, dass der Lehrer krank wird und die Klassenarbeit ausfällt. Sich mit einem Serienmörder ohne Motiv herumzuschlagen, war ein Albtraum.
Mitzler zuckte mit den Achseln, er hatte seinen Auftritt. Vermutlich erhoffte er sich ein wenig mehr Resonanz.
Lucarellis Gedanken rasten. Hatten sie es wirklich mit dem Parkplatzmörder zu tun? Der Täter konnte ein Arsenal an alten Weltkriegspistolen besitzen, die er von irgendeinem Wahnsinn getrieben der Reihe nach auf ahnungslose Liebespaare abfeuerte. Allerdings lag der letzte Mord des Parkplatzmörders zehn Jahre zurück. Und zwischen seinen insgesamt vier Doppelmorden war niemals mehr als ein Jahr vergangen. Wahnsinnige haben es in der Regel eiliger.
Die Befragung des Personals des Restaurants »Zum Schiff« brachte nichts. Weder dem Wirt noch den beiden Bedienungen war am Samstagabend ein Paar mit großem Altersunterschied aufgefallen. Als nächstes stand der Besuch im Gasthaus Stahl an. Arens stellte das Auto auf dem Parkplatz vor einem Geräteschuppen ab, der zum Lokal gehörte. Von der Vorderfront des Gebäudes lachte eine riesige, aufgemalte Sonnenuhr herab, die beinahe die gesamte obere Hälfte der Hausfront einnahm. Lucarelli sah instinktiv auf die Armbanduhr. Die Zeit stimmte, es war kurz vor sieben. Wie er hoffte, war um diese Uhrzeit dasselbe Personal anwesend, das am Samstagabend in Lokal Dienst hatte. Links vor einem schmalen Tor hing die Speisekarte, die in dicken Lettern mit »Spargelzeit« überschrieben war. Die beiden Polizisten warfen sich einen kurzen Blick zu.