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Warum Liebe wirklich heilt: Fallgeschichten eines Kinderpsychiaters
Wie die Seele wieder gesund wird: Der renommierte Hirnforscher und Kinderpsychiater Dr. Bruce Perry erzählt zehn berührende Geschichten von Trauma und Transformation. Dabei offenbart er die erstaunliche Fähigkeit des Gehirns zur Heilung: »Beziehung ist das, was Veränderung bewirkt. Die stärkste Therapie ist menschliche Liebe.«
Wie die Seele wieder gesund wird: Der renommierte Hirnforscher und Kinderpsychiater Dr. Bruce Perry erzählt zehn berührende Geschichten von Trauma und Transformation. Dabei offenbart er die erstaunliche Fähigkeit des Gehirns zur Heilung: »Beziehung ist das, was Veränderung bewirkt. Die stärkste Therapie ist menschliche Liebe.«
Was geschieht, wenn ein Kind traumatisiert wird? Wie beeinflussen Terror, Missbrauch oder Katastrophen den kindlichen Geist – und wie kann er heilen?
Der angesehene Kinderpsychiater und Hirnforscher Dr. Bruce Perry hat Kinder behandelt, die unvorstellbarem Horror ausgesetzt waren: Kinder, die mitansehen mussten, wie ihre Eltern ermordert wurden, die in Wandschränken oder Käfigen aufgewachsen sind, Opfer von familiärer Gewalt etc. In diesem Buch erzählt er ihre Geschichten: Geschichten von Trauma und Transformation. Perry erklärt, was im Gehirn geschieht, wenn Kinder extremem Stress und Gewalt ausgesetzt sind, und wie innovative Behandlungsweisen ihren Schmerz lindern und ihnen helfen können, zu gesunden Erwachsenen heranzuwachsen. Durch die kenntnisreichen und bewegenden Darstellungen von körperlicher, geistiger und seelischer Heilung wird deutlich, wie stark das kindliche Gehirn von einfachen Dingen wie einer sicheren Umgebung, Zuneigung, Sprache und Berührung beeinflusst wird. »Beziehung ist das, was Veränderung bewirkt. Die stärkste Therapie ist menschliche Liebe«, sagt Bruce Perry.
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Seitenzahl: 497
Bruce D. Perry und Maia Szalavitz
Der Junge,der wie ein Hund
gehalten wurde
Was traumatisierte Kinder uns über Leid, Liebe und Heilung lehren können
Aus der Praxis eines Kinderpsychiaters
Kösel
Titel der Originalausgabe: »The Boy Who Was Raised as a Dog«
Published by Basic Books, a Member of the Perseus Books Group,
Cambridge, MA 2006
Aus dem Amerikanischen von Judith Jahn
6. Auflage 2014
Copyright © 2006 by Bruce D. Perry and Maia Szalavitz
Copyright © für die deutsche Ausgabe 2008 Kösel-Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Umschlag: Kaselow Design, München
Umschlagmotiv: Getty Images/Flying Colours Ltd.
eISBN 978-3-641-17499-6
www.koesel.de
Bruce D. Perry:
Für meinen Clan
Barbara, Jay, Emily, Maddie, Elizabeth, Katie, Martha, Robbie
Zur Erinnerung an Arlis Dykema Perry (1955–1974)
Maia Szalavitz:
Für meine Mutter Nora Staffanell
Inhalt
Anmerkung des Autors
Einleitung
Kapitel 1: Tinas Welt
Kapitel 2: Zu deinem Besten
Kapitel 3: Die Treppe in den Himmel
Kapitel 4: Hauthunger
Kapitel 5: Das kälteste Herz
Kapitel 6:Der Junge, der wie ein Hund gehalten wurde
Kapitel 7:Satanspanik
Kapitel 8: Der Rabe
Kapitel 9: »Mama lügt. Mama tut mir weh. Bitte rufen Sie die Polizei.«
Kapitel 10: Die Freundlichkeit von Kindern
Kapitel 11: Heilende Gemeinschaften
Anhang
Danksagungen
Anmerkungen
Register
Anmerkung des Autors
Die Geschichten in diesem Buch entsprechen alle der Wahrheit, doch haben wir zur Wahrung der Anonymität und zum Schutz der Privatsphäre bestimmte Details abgewandelt. Die Namen der Kinder wurden geändert und auch die ihrer erwachsenen Familienmitglieder, sofern diese Information eine Identifizierung des Kindes ermöglicht hätte. Alle anderen Namen von Erwachsenen mit Ausnahme derjenigen, die mit einem Sternchen gekennzeichnet sind, sind real. Trotz dieser notwendigen Änderungen werden die wesentlichen Elemente jeder Fallgeschichte so genau wie möglich wiedergegeben. Gespräche werden beispielsweise so dargestellt, wie ich sie in Erinnerung habe bzw. so, wie sie in Aufzeichnungen und auf Ton- oder Videobändern festgehalten sind.
Es ist eine traurige Tatsache, dass diese Geschichten nur einen Bruchteil der vielen Fälle darstellen, die wir hätten erzählen können. In den letzten zehn Jahren hat unsere klinische Arbeitsgruppe in der ChildTrauma Academy mehr als hundert Kinder behandelt, die die Ermordung eines Elternteils miterlebt haben. Wir haben mit Hunderten von Kindern gearbeitet, die in ihrer frühen Lebenszeit in Betreuungseinrichtungen oder in den Händen ihrer Eltern schwere Vernachlässigung erlitten haben. Wir hoffen, dass die Kraft und der Geist dieser Kinder, deren Geschichten wir in diesem Buch erzählen, und der vielen anderen, die ein ähnliches Schicksal erlitten haben, auf diesen Seiten durchdringen.
Einleitung
Es ist heute schwer vorstellbar, aber als ich in den frühen 1980ern meine medizinische Ausbildung machte, schenkten Forscher der dauerhaften Beeinträchtigung, die ein psychologisches Trauma hervorrufen kann, wenig Beachtung. Noch weniger Aufmerksamkeit wurde darauf gerichtet, auf welche Weise Traumata Kinder schädigen könnten. Es wurde nicht als wichtig angesehen. Man glaubte, dass Kinder eine natürliche »Widerstandskraft« besitzen, die mit der angeborenen Fähigkeit einhergeht, rasch wieder »auf die Beine zu kommen«.
Als ich Kinderpsychiater und Neurobiologe wurde, hatte ich nicht das Ziel, diese fehlgeleitete Theorie zu widerlegen. Ich machte jedoch als junger Forscher im Labor die Beobachtung, dass Stress auslösende Erfahrungen – vor allem, wenn sie in frühen Jahren auftreten – das Gehirn von Jungtieren verändern können. Zahlreiche Tierstudien erbrachten Nachweise dafür, dass selbst scheinbar geringfügiger Stress während der Kindheit einen dauerhaften Einfluss auf die Architektur und Chemie des Gehirns, und damit auf das Verhalten, ausübt. Ich dachte mir: »Warum sollte das nicht auch für Menschen gelten?«
Diese Frage bekam für mich eine noch größere Bedeutung, als ich meine klinische Tätigkeit mit problembelasteten Kindern begann. Ich fand bald heraus, dass die überwiegende Mehrheit meiner Patienten aus einem Leben voller Chaos, Vernachlässigung und/oder Gewalt kam. Es war offensichtlich, dass diese Kinder nicht wieder »auf die Beine kamen« – sonst wären sie nicht in eine kinderpsychiatrische Klinik aufgenommen worden! Sie hatten Traumata wie Vergewaltigung oder das Miterleben eines Mordes erlitten. Wären sie nicht Kinder, sondern Erwachsene mit psychiatrischen Problemen gewesen, so hätten die meisten Psychiater wohl die Diagnose einer posttraumatischen Belastungsstörung in Betracht gezogen. Diese Kinder wurden jedoch behandelt, als ob ihre traumatischen Erfahrungen irrelevant wären und als ob sie bloß »zufällig« Symptome wie Depression oder Aufmerksamkeitsprobleme entwickelt hätten, die häufig sogar eine medikamentöse Behandlung erforderlich machten.
Sicher, auch die Diagnose posttraumatische Belastungsstörung selbst wurde erst 1980 in die Psychiatrie eingeführt. Anfangs wurde sie als etwas Seltenes angesehen, ein Leiden, das nur eine Minderheit von Soldaten befällt, deren Kriegserlebnisse verheerende Auswirkungen auf sie gehabt hatten. Doch schon bald wurden dieselben Symptome – aufdringliche Gedanken über das traumatische Erlebnis, Rückblenden (»Flashbacks«), Schlafstörungen, ein Gefühl von Unwirklichkeit, verstärkte Schreckhaftigkeit und extreme Angst – bei Vergewaltigungsopfern, Opfern von Naturkatastrophen und bei Menschen, die lebensbedrohliche Unfälle oder Verletzungen erlitten bzw. miterlebt haben, beschrieben. Mittlerweile wird davon ausgegangen, dass mindestens sieben Prozent aller Amerikaner unter solchen Auswirkungen leiden. Die meisten Menschen sind mit der Idee vertraut, dass ein Trauma tiefgreifende und anhaltende Auswirkungen haben kann. Vom Grauen der Terrorangriffe des 11. September 2001 bis zu den Folgen des Hurrikans Katrina – es wird sichtbar, dass verhängnisvolle Ereignisse unauslöschliche Spuren in der Psyche hinterlassen können. Wir wissen heute – wie meine Forschungen und die so vieler anderer letztendlich gezeigt haben –, dass die Auswirkungen bei Kindern sogar noch viel weitreichender sind als bei Erwachsenen.
Ich habe es zu meiner Aufgabe gemacht, zum einen zu verstehen, auf welche Weise Traumata auf Kinder einwirken, und zum anderen innovative Wege zu entwickeln, um ihnen beim Umgang damit zu helfen. Ich habe Kinder behandelt, die Erfahrungen gemacht haben, die so schrecklich waren, dass man es sich kaum vorstellen kann – von den Überlebenden der Feuersbrunst des Davidianer-Kults in Waco, Texas, über vernachlässigte osteuropäische Waisenkinder bis zu Überlebenden von Völkermord. Ich habe Gerichte dabei unterstützt, die Trümmer einer fehlgeleiteten strafrechtlichen Verfolgung von »satanischem Ritualmissbrauch« durchzusehen, deren Grundlage erzwungene Anschuldigungen von gefolterten, angsterfüllten Kindern waren. Ich habe getan, was in meinen Möglichkeiten stand, um Kindern zu helfen, die Zeugen der Ermordung ihrer Eltern waren, sowie solchen, die Jahre ihres Lebens angekettet in Käfigen oder sogar eingesperrt in Toiletten zugebracht haben.
Während einerseits die meisten Kinder nie etwas so Schreckliches erleiden werden wie das, was viele meiner Patienten durchgemacht haben, kommt es andererseits selten vor, dass ein Kind von einem Trauma gänzlich verschont bleibt. Zurückhaltenden Schätzungen zufolge erleben rund 40 Prozent der amerikanischen Kinder bis zum Alter von 18 Jahren mindestens ein potenziell traumatisches Ereignis: Dazu gehört der Tod eines Elternteils oder Geschwisters, anhaltende körperliche Misshandlung und/oder Vernachlässigung, sexueller Missbrauch oder die Erfahrung eines schweren Unfalls, einer Naturkatastrophe, häuslicher Gewalt oder eines anderen Gewaltverbrechens.
Allein im Jahr 2004 wurden geschätzte drei Millionen offizielle Anzeigen wegen Kindesmissbrauchs oder Vernachlässigung bei Kinderschutzbehörden erstattet; ungefähr 872.000 dieser Fälle wurden bestätigt. Natürlich ist die tatsächliche Anzahl missbrauchter und vernachlässigter Kinder weit höher, weil die meisten Fälle nie zur Anzeige gelangen und weil bei manchen Fällen die Beweislage nicht ausreicht, um offizielle Maßnahmen ergreifen zu können. In einer groß angelegten US-amerikanischen Befragung berichtete ungefähr jedes achte Kind unter 17 Jahren, im vergangenen Jahr in einer schwerwiegenden Form von Erwachsenen missbraucht worden zu sein. Etwa 27 Prozent der Frauen und 16 Prozent der Männer sagen als Erwachsene aus, in ihrer Kindheit sexuell missbraucht worden zu sein. In einer nationalen Befragung, die 1995 durchgeführt wurde, gaben sechs Prozent der Mütter und drei Prozent der Väter sogar zu, ihre Kinder mindestens einmal körperlich misshandelt zu haben.
Ferner wird angenommen, dass jährlich bis zu zehn Millionen amerikanische Kinder häuslicher Gewalt ausgesetzt sind und vier Prozent der amerikanischen Kinder unter 15 Jahren einen Elternteil durch Tod verlieren. Außerdem befinden sich jedes Jahr ungefähr 800.000 Kinder in Pflege und Millionen weitere sind Opfer von Naturkatastrophen und verheerenden Autounfällen.
Obwohl ich nicht unterstellen will, dass all diese Kinder aufgrund von solchen Erfahrungen »schwere Schädigungen« davontragen, gehen gemäßigte Schätzungen davon aus, dass zu jeder Zeit mehr als acht Millionen amerikanische Kinder an schweren, diagnostizierbaren psychiatrischen Problemen leiden, die mit einem Trauma in Zusammenhang stehen. Millionen weitere erleben weniger schwere, aber dennoch besorgniserregende Folgen.
Ungefähr jedes dritte Kind, das Missbrauch erfährt, wird infolgedessen eindeutige psychische Probleme haben – und die Forschung bringt laufend Nachweise dafür, dass sogar die Wahrscheinlichkeit, im späteren Leben von anscheinend rein »körperlichen« Problemen wie Herzerkrankungen, Fettleibigkeit und Krebs betroffen zu sein, bei traumatisierten Kindern erhöht ist. Die Art und Weise, in der Erwachsene während und nach einem traumatischen Ereignis auf Kinder reagieren, kann im Hinblick auf diese eventuellen Folgen einen enormen Unterschied machen – sowohl im Guten als auch im Schlechten.
Im Laufe der Jahre haben zahlreiche Forschungsarbeiten ein viel reichhaltigeres Verständnis dafür geschaffen, was ein Trauma bei Kindern bewirkt und wie man ihnen helfen kann, sich davon zu erholen. 1996 gründete ich die ChildTrauma Academy, eine interdisziplinäre Gruppe von Fachleuten, die sich der Verbesserung des Lebens von stark gefährdeten Kindern und deren Familien widmet. Wir führen unsere klinische Arbeit fort und haben noch viel zu lernen. Unser vorrangigstes Ziel ist es jedoch, Behandlungsmethoden auf der Grundlage unseres derzeitigen Wissens an andere weiterzugeben. Wir lehren Menschen, die mit Kindern arbeiten – seien es Eltern oder Staatsanwälte, Polizeibeamte oder Richter, Sozialarbeiter, Ärzte, Entscheidungsträger oder Politiker –, die wirkungsvollsten Methoden zur Minimierung von Traumafolgen und zur Maximierung von Heilung zu verstehen. Wir beraten Behörden und andere Gruppen, um ihnen dabei zu helfen, die besten Methoden für den Umgang mit diesen Themen in die Tat umzusetzen. Meine Kollegen und ich reisen um die Welt, wir sprechen mit Eltern, Ärzten, Erziehern, im Kinderschutz Tätigen und Gesetzeshütern sowie mit einflussreichen Vertretern aus Politik, Justiz und Wirtschaft. Dieses Buch ist ein Teil unserer Bemühungen.
Sie werden darin einigen der Kinder begegnen, von denen ich am meisten darüber gelernt habe, wie sich ein Trauma auf junge Menschen auswirkt. Und Sie werden erfahren, was diese Kinder von uns – ihren Eltern und Erziehungsberechtigten, ihren Ärzten, ihren Politikern – brauchen, wenn sie ein gesundes Leben aufbauen sollen. Sie werden sehen, wie traumatische Erfahrungen Kinder zeichnen, wie sie ihre Persönlichkeit und ihre Fähigkeit zu körperlichem und emotionalem Wachstum beeinflussen. Sie werden meiner ersten Patientin Tina begegnen, deren Missbrauchserfahrung mir den Einfluss eines Traumas auf das kindliche Gehirn verständlich machte. Sie werden ein mutiges kleines Mädchen namens Sandy treffen, die im Alter von drei Jahren in ein Zeugenschutzprogramm aufgenommen werden musste und die mich gelehrt hat, wie wichtig es ist, einem Kind zu erlauben, Aspekte seiner eigenen Therapie zu bestimmen. Sie werden einen erstaunlichen Jungen namens Justin kennenlernen, der mir gezeigt hat, wie Kinder von unsäglicher Entbehrung genesen können. Jedes Kind, mit dem ich gearbeitet habe – die Davidianer-Kinder, die Trost darin fanden, füreinander zu sorgen; Laura, deren Körper nicht wuchs, bis sie sich sicher und geliebt fühlte; Peter, ein russisches Waisenkind, dessen Mitschüler in der ersten Klasse seine »Therapeuten« wurden –, half meinen Kollegen und mir, ein neues Teil in das Puzzle einzusetzen, und erlaubte uns auf diese Weise, unsere Behandlung für traumatisierte Kinder und ihre Familien zu verbessern.
Unsere Arbeit bringt uns mit Menschen in Kontakt, wenn sie tief verzweifelt, einsam, traurig, ängstlich und verwundet sind, aber die Geschichten, die Sie hier lesen werden, sind überwiegend Erfolgsgeschichten – Geschichten von Hoffnung, Überleben, Triumph. Überraschenderweise begegnet uns gerade beim Umherirren in einem emotionalen Massaker, das vom Schlimmsten im Menschen angerichtet wurde, auch das Beste des Menschseins.
Auf welche Weise Kinder ein Trauma körperlich, emotional oder psychologisch letztendlich überleben, hängt maßgeblich davon ab, ob die Menschen in ihrer Umgebung – vor allem die Erwachsenen, auf die sie vertrauen und sich verlassen können sollten – ihnen mit Liebe, Unterstützung und Ermutigung beistehen. Feuer kann wärmen oder verzehren, Wasser kann Durst löschen oder ertränken, Wind kann streicheln oder schneiden. Und so ist es auch mit menschlichen Beziehungen: Wir können einander sowohl erschaffen als auch zerstören, sowohl fördern als auch terrorisieren, sowohl traumatisieren als auch heilen.
In diesem Buch werden Sie von bemerkenswerten Kindern erfahren, deren Geschichten uns helfen können, die Natur und die Kraft menschlicher Beziehungen besser zu verstehen. Obwohl viele dieser Jungen und Mädchen Erfahrungen gemacht haben, die weitaus extremer sind als diejenigen, mit denen die meisten Familien in Berührung kommen (Gott sei Dank!), können alle Eltern aus ihren Geschichten lernen, was Kinder brauchen, um mit den unvermeidlichen Stresssituationen und Belastungen des Lebens zurechtzukommen.
Mit traumatisierten und misshandelten Kindern zu arbeiten hat mich auch dazu gebracht, sorgfältig über die Natur des Menschseins und über den Unterschied zwischen Menschsein und Menschlichkeit nachzudenken. Nicht alle Menschen sind menschlich. Ein Mensch muss erst lernen, menschlich zu werden. Dieser Prozess – und wie er mitunter entsetzlich schiefgehen kann – ist ein weiterer Aspekt, von dem dieses Buch handelt. Die enthaltenen Geschichten erforschen die Bedingungen, die für die Entwicklung von Einfühlungsvermögen erforderlich sind – und diejenigen, die dagegen mit hoher Wahrscheinlichkeit zu Grausamkeit und Gleichgültigkeit führen. Sie verdeutlichen, wie sich das Gehirn von Kindern entwickelt und wie es durch die Menschen in ihrer Umgebung geformt wird. Sie stellen auch heraus, wie dabei durch Unkenntnis, Armut, Gewalt, sexuellen Missbrauch, Chaos und Vernachlässigung verheerender Schaden angerichtet werden kann.
Ich interessiere mich schon lange für die menschliche Entwicklung; vor allem möchte ich herausfinden, warum manche Menschen zu produktiven, verantwortungsbewussten und freundlichen Menschen heranwachsen, während andere auf ihren eigenen Missbrauch reagieren, indem sie selbst zu Tätern werden. Meine Arbeit hat mich sehr viel über moralische Entwicklung erkennen lassen, über die Wurzeln des Bösen und darüber, wie genetische und durch das Umfeld bedingte Einflüsse wichtige Entscheidungen beeinflussen können, die sich wiederum auf spätere Entscheidungen auswirken und letztlich darauf, wie wir werden. Ich halte nichts davon, gewalttätiges oder verletzendes Verhalten mit der eigenen Missbrauchserfahrung zu entschuldigen (die sogenannte »abuse excuse«), aber ich habe herausgefunden, dass es komplexe Interaktionen gibt, die in der frühen Kindheit beginnen und die unsere Fähigkeit beeinträchtigen, uns Wahlmöglichkeiten vorzustellen. Das kann später unsere Fähigkeit einschränken, gute Entscheidungen zu treffen.
Meine Arbeit hat mich zur Schnittstelle von Geist und Gehirn geführt, an der wir eine Wahl treffen und Einflüsse erfahren, die darüber bestimmen, ob wir human und wahrhaft menschlich werden oder nicht. Der Junge, der wie ein Hund gehalten wurde teilt einiges von dem mit, was ich dort gelernt habe. Trotz ihres Schmerzes und ihrer Angst haben die Kinder in diesem Buch – und viele andere, die ihnen ähnlich sind – großen Mut und Menschlichkeit gezeigt und sie geben mir Hoffnung. Von ihnen habe ich viel über Leid, Liebe und Heilung gelernt.
Die Kernlektionen, die diese Kinder mir erteilt haben, sind für uns alle wichtig: weil wir, um das Trauma zu verstehen, das Gedächtnis verstehen müssen. Wenn wir verstehen wollen, wie Kinder gesunden, müssen wir verstehen, wie sie zu lieben lernen, wie sie mit Herausforderung umgehen, wie sie durch Stress beeinflusst werden. Und indem wir den zerstörerischen Einfluss erkennen, den Gewalt und Bedrohung auf die Fähigkeit zu lieben und zu arbeiten haben, können wir zu einem besseren Verständnis von uns selbst gelangen und uns besser um die Menschen in unserem Leben kümmern, insbesondere um die Kinder.
Kapitel 1
Tinas Welt
Tina war das erste Kind, das ich behandelt habe – sie war gerade sieben Jahre alt, als ich ihr begegnete. Winzig und zerbrechlich saß sie im Wartezimmer der kinderpsychiatrischen Klinik der University of Chicago und drängte sich an ihre Mutter und ihre Geschwister, unsicher, was sie von ihrem neuen Doktor erwarten sollte. Es ist schwer zu sagen, wer von uns beiden aufgeregter war, als ich sie in mein Büro führte und die Tür hinter uns schloss – das knapp einen Meter große afroamerikanische Mädchen mit den niedlichen, akribisch geflochtenen Zöpfen oder der gut zwei Meter große weiße Kerl mit der langen, widerspenstigen Lockenmähne. Tina saß eine Minute lang auf meiner Couch und sah prüfend an mir hinauf und hinunter. Dann ging sie durch den Raum, krabbelte auf meinen Schoß und schmiegte sich an mich.
Ich war berührt. Meine Güte, was für eine schöne Aufgabe. Was für ein süßes Kind. Ich Dummkopf. Sie drehte sich ein wenig, schob ihre Hand in meinen Schritt und versuchte, den Reißverschluss zu öffnen. Ich war nicht mehr ängstlich. Jetzt war ich traurig. Ich nahm ihre Hand von meinen Schenkeln und hob das Kind behutsam von meinem Schoß.
Ich hatte mir an dem Morgen, ehe ich Tina zum ersten Mal traf, ihre »Karte« durchgelesen – ein unbedeutendes Blatt Papier mit wenigen Angaben, die während eines Telefonats von unserem Empfangsmitarbeiter aufgenommen worden waren. Tina lebte mit zwei jüngeren Geschwistern bei ihrer Mutter Sara. Sara hatte in der kinderpsychiatrischen Klinik angerufen, weil die Schule ihrer Tochter auf einer Untersuchung bestand. Tina hatte sich ihren Mitschülern gegenüber »aggressiv und unangemessen« verhalten. Sie hatte sich entblößt, andere Kinder angegriffen, sexualisierte Ausdrücke verwendet und versucht, andere in Sexspiele hineinzuziehen. Sie passte während des Unterrichts nicht auf und weigerte sich häufig, Anweisungen zu befolgen.
Die wichtigste Information auf der Karte war, dass Tina von ihrem vierten bis zu ihrem sechsten Lebensjahr missbraucht worden war. Der Täter war ein 16-jähriger Junge, der Sohn ihrer Babysitterin. Er hatte sowohl Tina als auch ihren jüngeren Bruder Michael sexuell missbraucht, während ihre Mutter bei der Arbeit war. Tinas Mutter war Single. Arm, aber nicht mehr auf Sozialhilfe angewiesen, arbeitete Sara zu dieser Zeit auf Mindestlohnbasis in einem kleinen Lebensmittelgeschäft, um ihre Familie zu versorgen. Die einzige Kinderbetreuung, die sie sich leisten konnte, war eine Nachbarin, mit der sie sich locker abgesprochen hatte. Unglücklicherweise überließ diese Nachbarin die Kinder häufig ihrem Sohn, um Besorgungen zu machen. Und ihr Sohn war krank. Er fesselte und vergewaltigte die Kinder, sodomisierte sie mit Gegenständen und drohte ihnen, sie zu töten, falls sie irgendjemandem davon erzählten. Schließlich erwischte ihn seine Mutter und setzte dem Missbrauch ein Ende.
Sara ließ ihre Kinder nie wieder von der Nachbarin betreuen, aber der Schaden war bereits geschehen. (Der Junge wurde strafrechtlich verfolgt: Er wurde nicht zu einer Gefängnisstrafe verurteilt, sondern ging in Therapie.) Da waren wir nun, ein Jahr danach. Die Tochter hatte schwerwiegende Probleme, die Mutter war mittellos und ich hatte nicht die geringste Ahnung von missbrauchten Kindern.
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
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