Der Junge und der, der wiederkommt - Oliver Ristau - E-Book

Der Junge und der, der wiederkommt E-Book

Oliver Ristau

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Beschreibung

Dumm gelaufen: Du hast noch etwas Wichtiges zu erledigen, bist aber schon tot. Da hilft nur die Rückkehr, wenn auch vielleicht als Skelett. Und Du brauchst Freunde. So wie der ehemalige Ritter Leonhard, der zusammen mit unserem Helden Artur aufbricht, einstmals Ungetanes zu vollenden. Einfach wird das natürlich nicht, denn es gibt auch Gegner, die überdauern. Man lernt doch nie aus, egal wie alt man ist.

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Oliver Ristau

Der Junge

und der,

der wiederkommt

Roman

Für Lionel und Benjamin

Impressum

Text: © 2022 Copyright by Oliver Ristau

CoverArt© 2023 Stephan Linnenberg

Verlag:Worte-Taten Verlag

Sternstr. 106

20357 Hamburg

[email protected]

Druck:epubli – ein Service der Neopubli GmbH, Berlin

Der Text enthält Zitate aus „Parzival“ von Wolfram von Eschenbach.

Printed in Germany

Ich will lieber ein bisschen faseln und dabei etwas Schwieriges halbwegs ausdrücken, als immer nur tadellose Hergebrachtheiten von mir zu geben. Hans Castorp, Thomas Mann: Zauberberg.

Teil

Arturist ein komischer Name. Wer heißt denn heutzutage noch so? Ich mochte ihn eigentlich nie. Bis zu jenem Tag in Frankreich. Doch dazu komme ich später. Meine Eltern hatten sich von einem Großvater meines Vaters inspirieren lassen. Er hatte Arthur geheißen und in England gelebt. Aber das war ein gewaltiger Unterschied: Sein Name wurde mit „th“ geschrieben und damit klang er deutlich cooler.

Zum Glück fiel niemandem meiner Klassenkameraden ein, mit dem Namen ein mieses Wortspiel zu machen. Bei „Ar“ am Anfang des Namens liegt die eine oder andere Idee nahe.

Und ich kenne Beispiele, wie schnell es gehen kann und sich neue Namen festsetzen. Es gab einen Jungen aus einer der Parallelklassen, der mit Nachnamen Acker hieß, was an sich nicht weiter ungewöhnlich oder gar schlimm wäre. Auch dass die Eltern ihm den Standard-Namen Konrad gegeben hatten, war an sich solide. Doch seitdem ein Lehrer die Namen aus einer Liste vorgelesen und dabei jeweils nur den ersten Buchstaben der Vornamen gebraucht hatte, sah das anders aus. Aus Ka Acker wurde unter den Mitschülern ganz schnell ein einziges Wort. Und es dauerte nicht lange, bis er auf der ganzen Schule nur Kacker gerufen wurde. So gesehen war ich froh, dass wir nicht Schloch oder Dolf mit Nachnamen hießen.

Ich habe meine Eltern oft gefragt, was sie sich dabei gedacht hatten, und während meine Mutter darauf immer nur sagte: „Was hast du denn? Der Name ist doch sehr schön“, kam mein Vater mir mit der „Geschichte“. Historisch stamme der Name aus dem Keltischen, und zwar von Artaius, einem Bärengott. Das klang nicht schlecht, zumindest als ich noch kleiner und mein Lieblingstier ein dicker Braunbär war, den ich prompt so nannte. Doch die Begeisterung für den Tiergott als Vorbild hielt nicht lange und ich begann wieder zu maulen. Mein Vater versuchte es in der Folge mit den Namen großer Fürsten. So habe es mehrere Männer namens Arthur gegeben, die im Mittelalter über die Bretagne geherrscht hätten. Doch das half mir wenig, weil ich vorher noch nie von der Bretagne gehört hatte. Das Einzige, was mich besänftigen konnte, war die Namensähnlichkeit mit der Legende aller Ritterkönige. Der hieß Artus und unterhielt eine coole Tafelrunde. Die Geschichten hatte ich als Kind geliebt.

Doch ich hatte verdammtes Glück. Wir wohnten am Rand einer kleinen Stadt, die sich über ein paar Hügel ausbreitete. Zu unserer Hood zählte eine Burg. Sie lag auf der höchsten Erhebung, die es weit und breit gab. Ich konnte sie sogar von meinem Fenster aus sehen. Mit dem Auto war man in 15 Minuten da.

Sie stammte aus dem Mittelalter, war mehr als 800 Jahre alt. Und wer, glaubt ihr, war für die Aufsicht zuständig? Mein Großvater! Das war natürlich krass, denn dadurch erhielt ich exklusiven Zugang zu der Bude. Viele Wochenenden habe ich dort verbracht, bin über die Gänge gewetzt, habe die Rüstungen und die ganzen mittelalterlichen Ausstellungsstücke bewundert. Nicht zu den offiziellen Öffnungszeiten. Sondern dann, wenn nur mein Großvater dort zu tun hatte. Er leitete einen Verein, der sich der Geschichte der Burg widmete, und war dafür verantwortlich, dass alles intakt blieb und funktionierte.

Die Atmosphäre, wenn die Sonne untergegangen war und das Innere in Düsternis fiel, war einmalig. Etwa wenn ich dann vor den alten Bildern mit den dicken und dunklen Farben stand, die Frauen mit riesigen Hüten zeigten und Fürsten mit merkwürdigen Perücken. Sie glotzten mich an aus ihren goldenen Rahmen, als wären sie Wirklichkeit – so wie mancher Lehrer starrt, der irgendetwas von einem hören will, was man nicht weiß. Dass die Frauen und Männer auf den alten Gemälden den Mund hielten, machte sie gleich sympathisch.

Viel war nicht bekannt über die Geschichte der Burg. Der Krieg hatte die Bibliothek zerstört und dabei das Gros der historischen Dokumente. Zu sehen gab es vor allem ein paar alte Münzen und Pfeilspitzen, die ein kleines Museum in der Burg ausstellte. Das Aufregendste waren die schweren Eisenrüstungen, in denen die Männer früher in den Kampf gezogen waren. Sie standen in den Fluren wie Wächter.

Es gab angeblich auch ein verzweigtes Netz an unterirdischen Gängen. Mein Großvater sagte, die seien aber nicht erforscht. Für so etwas stünden keine öffentlichen Mittel zur Verfügung. Deshalb hatte die Verwaltung die wenigen Eingänge zur unterirdischen Welt mit schweren Türen und Schlössern gesichert. Es hieß, dass es einen Ausgang gebe, der kilometerweit im Hinterland liege. Doch den hatte noch keiner gefunden.

Das Geheimnisvolle hat einen großen Reiz. Auf mich zumindest. Denn irgendwie war in der Burg immer damit zu rechnen, dass etwas Unwahrscheinliches passieren könnte, anders als beim Auswendiglernen von Formeln und Vokabeln.

*

Dass die Sommerferien endlich kamen, war mir mehr als recht. Von der Schule hatte ich die Nase voll. Nicht so wie alle anderen, sondern im besonderen Maße, denn um ein Haar wäre mir die Versetzung verwehrt worden. Und zwar wegen einer doofen 5 in Englisch, und das alles nur, weil ich einmal nicht nachgefragt hatte. Das war mehr als ungerecht. Und so war das passiert:

Frau Stein, unsere Lehrerin, machte mit uns immer so langweiliges Zeug wie stundenlang auf Stadtpläne englischer Städte zu glotzen, um sich „die Geografie“ und die Namen großer Straßen einzuprägen. Diese Details mussten wir dann auch in den Klassenarbeiten draufhaben. Das war zu öde. Mal ehrlich, wozu sollte das gut sein, zu wissen, dass irgendein Rathaus auf der linken oder rechten Seite eines Flusses lag, dessen Namen ich noch nie gehört hatte?

Einmal war es mal wieder sehr laut in ihrem Unterricht, und dann versuchte sich Frau Stein mit Schreien Gehör zu verschaffen. Das klang ähnlich schrecklich wie das Kreischen der Kreide an der Tafel. Klar, dass man sich da die Ohren zuhält. Während ich mir also die Handflächen gegen die Ohrmuscheln presste, gab sie uns irgendeine Arbeit auf. Am Ende der Stunde sagte sie, sie hoffe, wir wüssten, was wir zu tun hätten. Ich zuckte mit den Schultern und hatte keinen Schimmer. Mir war es auch egal. Hatte sie denn so schreien müssen?

Dann läutete endlich die Pausenklingel, und wir rannten hinaus auf den Hof, um Fußball zu spielen. Schneller als man „Frau Stein“ sagen kann, hatte ich den Unterricht vergessen. Zu Hause dachte ich erst recht nicht mehr daran. Das war leider ein Fehler. Denn tags darauf wollte sie von allen in der Klasse die Ergebnisse unserer Recherchen sehen. Da erfuhr ich, was wir hätten machen sollen: unsere Eltern nach einer Geschichte zu fragen, die sie über England wüssten, und „die Informationen stichwortartig aufschreiben“. Als die Reihe an mich kam, habe ich auf den Tisch geschaut und gehofft, dass Frau Stein einfach schnell zum Nächsten ginge. Das hat sie zwar auch gemacht, aber nicht, ohne mir eine 6 aufzuschreiben. Dies war der entscheidende Grund dafür, dass am Ende auf dem Zeugnis eine stramme 5 stand. Gemeinsam mit der 5 in Mathe hätte das eigentlich zur Folge gehabt, die Klasse wiederholen zu müssen. Nur weil ich im Halbjahr nicht gewarnt worden war, blieb mir dieser Abstieg erspart.

Doch damit war es leider nicht getan. Zu allem Überfluss eröffnete mir mein Vater, dass die schlechten Noten unnötig gewesen seien und nur darauf zurückzuführen, dass ich mich nicht bemühen würde und so weiter. Wäre ja auch nicht so schlimm gewesen, kannte ich ja schon, wenn er dann nicht noch ergänzt hätte, dass der Sommerurlaub gestrichen würde, da bräuchte ich mich nicht zu wundern, er müsse ja auch immer arbeiten, und jetzt hätte er erst recht keine Zeit, außerdem mit dem neuen Auto auch kein Geld und so weiter.

Das war krass, weil ich angenommen hatte, dass wir wie jeden Sommer wieder nach Italien ans Meer fahren würden. Ich war megafrustriert und wusste nicht, ob ich die Langweile von sechs Wochen Sommerferien zu Hause überleben würde.

Deshalb war ich begeistert, als mein Großvater mich fragte, ob wir meinen Geburtstag, der in die Sommerferien fiel, in der Burg feiern wollten. Ich könnte drei meiner Freunde einladen und dann Spaß haben. Das war endlich mal eine gute Nachricht.

*

Diesen Tag habe ich heiß erwartet. Ich ließ sofort alles fallen, als es am Mittag an der Haustür klingelte. Mein Großvater kam mich mit seinem Auto abholen. Meine Mutter hatte Kuchen gebacken, mein Vater Getränke besorgt. Opa und ich packten die Sachen in zwei Rucksäcke und machten uns auf den Weg. Genauer gesagt fuhren wir bis zum Parkplatz am Fuße des Bergs, auf dem die Burg hoch über dem Land thronte. Unten im Tal schlängelte sich ein Fluss. Schon die Ritter des Mittelalters mussten das Wasser überqueren, um in die Festung zu gelangen.

Das war damals alles andere als einfach gewesen. Maler hatten die wackelige Passage verewigt. Die Bilder waren oben in der Burg ausgestellt. Die Rampen waren steil und im Winter so rutschig, dass Überquerung und Aufstieg zum lebensgefährlichen Abenteuer wurden.

Manch einer ging dabei sprichwörtlich „über die Wupper“, so der Name des Flusses – diese Redensart besagt, dass jemand über den Jordan geht, also den Löffel abgibt, ihr wisst schon. Ihr Ursprung liegt in der Legende, dass eines Nachts Ritter ihren nach einem Kampf schwer verletzten Fürsten zurück in seine Festung brachten. Während sie ihn über die Brücke schafften, starb der Fürst, ging also sowohl tatsächlich als auch sprichwörtlich über die Wupper. Dumm gelaufen, und gut, dass es heutzutage eine etwas entspanntere Option gab, bei der man nicht gleich um sein Leben fürchten musste: den Sessellift.

Die Burg hatte zwar geschlossen und damit war auch die Seilbahn nicht in Betrieb. Das war aber kein Problem für uns, denn wir hatten die Schlüssel. Mein Großvater klimperte mit seinem Bund und schob einen der gefrästen Metallstäbe in den Schlitz, der die Sessel ans Laufen brachte.

Klick, klack – und die Schalensitze liefen los. Einer nach dem anderen ruckelte langsam an uns vorbei und dann mit einem Ruck das stramme Seil aufwärts. Wir sprangen nacheinander auf einen der wackligen Sitze und schwebten wenige Augenblicke später schon über dem Wasser. Unter unseren Füßen zogen schroffe Felsen vorbei, die mich schwindeln ließen. Ein Absturz wäre wenig gesundheitsfördernd gewesen.

Doch nicht lange, dann verflachte das Terrain und wir glitten über die Ruinen der äußeren Befestigungsanlage hinweg. Und noch eine Minute später kam die Endstation in Sicht: eine große Plattform, auf der der letzte Mast der Seilbahn stand. Die Bahn bremste ab und wir konnten uns entspannt von den Sitzen schwingen.

Von hier aus schwankten die Sessel wieder zurück Richtung Tal. Der Fluss schien nur noch so dick wie ein Bindfaden und Opas Fahrzeug wie ein Farbklecks. Wir knipsten den Lift aus und nahmen den Weg bergauf. Auf der schmalen Straße passierten wir eine Reihe Restaurants und Cafés, die der großen Burgmauer gegenüberlagen, aber alle geschlossen waren. Wie in einer Geisterstadt wirbelte der pfeifende Wind Staub auf. Außer uns war kein Mensch zu sehen.

Bis wir das Burgtor erreichten: Es stand offen und dahinter harkte ein Gärtner Beete voller Blumen. Opa grüßte den Mann, der sich mit einer dunklen Brille vor der Sonne schützte. Wiesen markierten das Terrain zwischen den Mauern und dem großen Wohnhaus, wo die Fürsten früher residierten. Das war unser Ziel.

Ein schweres Holztor mit dicken Eisenbeschlägen versperrte uns den Weg. Mein Großvater zog sein Schlüsselbund hervor, öffnete, und hinter uns fiel das Tor krachend ins Schloss. Wir standen nun in einem großen Vorhof. Ich warf einen Blick auf den Pranger, an dem schwere Ketten hingen. Er stammte noch aus einer Zeit, als es üblich war, Menschen wegen irgendeines Vergehens anzubinden, zu beleidigen und zu bespucken. Gegenüber erhob sich eine große Freitreppe, die zu der Doppeltür des Wohnhauses führte. Eine Treppe aus groben, großen Steinen führte drinnen in den ersten Stock, wo der Rittersaal lag. Hier hatten die Ritter sich früher versammelt und ihre Feste gefeiert.

Der Saal maß der Länge nach so viel wie zwei Turnhallen und war mit einem Holzboden aus schräg zueinander gefügten Bohlen bedeckt. Sie waren lackiert und so glatt, dass man schnell ins Rutschen kam. An den Wänden hingen Ritterschilde und Gemälde. Eine kleine hölzerne Wendeltreppe führte in die obere Etage. Es gab einen großen Tisch und einen verschlossenen Schrank an der Wand.

Nachdem wir Getränke und Kuchen auf den Tisch gestellt hatten, holte mein Großvater ein buntes Paket aus dem Schrank:

„Herzlichen Glückwunsch, Artur“, sagte er.

Er nahm mich in den Arm und drückte mich heftig. Ich wusste, dass es Zuneigung war, doch ich wollte den Tag überleben. Ich befreite mich also und riss das Päckchen auf. Während das bunte Geschenkpapier zur Seite flog, kramte ich einen silbernen Apparat hervor, der sich als CD-Spieler mit Radiofunktion entpuppte.

„Opa, das ist ein Gettoblaster, kein Smartphone“, sagte ich tadelnd, denn ich war schockiert über die Mittelaltertechnik, die er mir zukommen ließ.

„In dem Paket ist noch was drin“, antwortete er.

Ich wühlte es gründlicher durch und ertastete eine Compact Disc. Das konnte coole Musik sein oder eine spannende Geschichte. Doch weder noch: Auf dem Cover las ich Learning English with the little ghost.

„Das ist jetzt keine Englisch-CD, oder?“

„Tja“, sagte er nur.

Oh, Mann, das musste nicht sein. Aber ich hatte es mir wohl selbst zuzuschreiben, wenn mir meine Familie zum Geburtstag englisches Lernmaterial für Grundschüler schenkte.

Glücklicherweise kündigten sich nun meine Gäste an: Meine Mutter rief an. Sie stand mit Vater, meinen Freunden Ben, José und Mats und mit noch mehr Kuchen und Getränken unten vor dem geschlossenen Holztor. Wie ließen sie ein. Kurzes Begrüßungs-Blabla und Abklatschen, ein paar Blicke auf die Handys, dann machten wir uns selbstständig. Unsere Ruhe hatten wir am ehesten in den Gängen. Wir hingen ein wenig ab, und dann kam Mats auf die Idee, Verstecken zu spielen.

Wir sahen ihn irritiert an, denn eigentlich war das kein Spiel mehr für uns.

„Doch, es ist abgefahren hier“, sagte er. „Es gibt keinen besseren Ort.“

Er hatte natürlich recht und so gaben wir unseren Widerstand auf. Einer nach dem anderen legte los, rannte irgendwohin in diesem verwinkelten Gebäude mit seinen kleinen Gängen, Türmchen und Treppchen, Kämmerchen und Nischen. Ich ließ meinen Gästen den Vortritt. Dann war ich an der Reihe. Als Gastgeber fühlte ich mich verpflichtet, mit einem besonderen Versteck aufzuwarten.

Als sie anfingen zu zählen, rannte ich runter ins Erdgeschoss. Das war der größte Gebäudeteil, für offizielle Besucher nicht zugänglich, und bestimmt gab es hier tausend Möglichkeiten, nicht gefunden zu werden.

Eine Menge Staub wirbelte von den alten Teppichläufern auf, als ich über die Flure rannte und immer tiefer in die Gänge vordrang. Mir schien, dass hier ewig kein Mensch mehr gewesen war. Und verglichen mit dem heiteren Sommertag draußen war es kalt und dunkel. Durch die schmalen Fensterschächte in den Mauern fiel kaum Licht. Noch hatte ich kein Versteck gefunden, als ich stehen blieb und auf meine Uhr schaute: Die fünf Minuten Wartezeit für meine Jäger waren gerade abgelaufen. Wenn sie nun schnurstracks nach unten liefen, würden sie mich sofort finden. Ich brauchte dringend eine Idee.

Von den Wänden hingen alte Teppiche bis hinunter zum Boden. Ich stand vor einem, der in verblichenen Farben einen Reiter zu Pferde zeigte, der ein Buch in der einen Hand hielt. Ungewöhnliches Motiv, fand ich. Vielleicht konnte ich mich dahinter zwängen. Ich fasste den Wandbehang an, konnte ihn aber nur mit Mühe anheben, so schwer war er. Doch ich hatte keine Wahl, wenn ich nicht ohne Versteck dastehen wollte. Es gelang mir, den Riesenlappen so weit von der Wand wegzudrücken, dass ich mich in die Lücke quetschen konnte. Schritt für Schritt rutschte ich weiter, die Wand im Rücken, bis der Teppich mich ganz verdeckte. Angenehm war etwas anderes, vor allem wegen des Staubs, der sich in unermesslicher Quantität aus den Fasern löste und ohne Umwege in meine Nase wanderte. Die Fusseln hatten vermutlich historischen Wert und sorgten für akute Atemnot. Ich versuchte, das Husten zu unterdrücken, damit ich mich nicht verriet.

*

Es war kaum auszuhalten. Ich bekam zwar wieder etwas mehr Luft, aber atmete immer noch den Schmutz der Jahrhunderte. Außerdem konnte ich die kapitale Knüpfware kaum noch von mir weghalten. Immer mehr presste sie mich gegen die eiskalte Steinwand. Die feuchte Kälte drang mir unter die Haut. Das war wohl doch mehr eine Qual als ein gutes Versteck, zumal meine Gestalt deutlich unter dem Gewebe sichtbar sein dürfte.

Doch aufgeben war keine Option. Ich bugsierte mich mühsam weiter Richtung Teppichmitte, als ich plötzlich einen eisigen Zug spürte. Kalte Luft strömte von irgendwoher und legte sich um meine Füße. Zu sehen war nichts. Der Lappen schluckte das ganze Licht. Als ich mich an die Wand gepresst weiter vorwärtszwängte, gab sie plötzlich nach.

Noch ein Schritt und der fette Fetzen drückte mich in das Nichts hinter mir. Wie eine Presswurst, die aus ihrer Hülle gedrückt wird, fiel ich auf den Hintern. Die Gefriertruhen-Luft fühlte ich jetzt an meinem Rücken.

Ich fischte meine Taschenlampe aus der Hosentasche und schaltete sie ein. Vor mir fiel der Schein auf die Rückseite des Teppichs. Jetzt bekamen die unzähligen Staubpartikel ein Gesicht. Sie tanzten irre im Lichtstrahl. Links und rechts von mir setzte sich die Wand hinter dem Teppich fort. Ich aber war in einer Nische gelandet, die von dem Gewebe vollständig verdeckt gewesen war.

Ich rappelte mich auf und sah mir den Spalt genauer an. Eine Treppe führte nach unten in die Dunkelheit, wo sich das Licht verlor. Von dort kam auch die eisige Luft. Ich zitterte wegen der Kälte, aber auch weil dieses schwarze Loch unheimlich war. Ich versuchte mich zu beruhigen. Das war hier meine Burg und dort wartete ein Superversteck. Meine Freunde hatten zwanzig Minuten Zeit, mich zu finden. Das hier würden sie nie entdecken.

Trotzdem musste ich aufmerksam sein. Wer weiß, was dort lauerte. Ich leuchte die Treppe hinunter. Das Ende konnte ich nicht sehen, soweit ich mich auch vorbeugte. Also begann ich den Abstieg. Die Stufen waren so glitschig, dass ich aufpassen musste, nicht auszurutschen. Einen Handlauf gab es nicht. Verdammt, ich wollte keineswegs Hals über Kopf in das schwarze Nichts stürzen.

Vorsichtig ging es abwärts und mit jedem Schritt wurde es kälter. Ein Tröpfeln aus der Dunkelheit am Ende der Treppe ließ mich frösteln. Ich stoppte. Vielleicht sollte ich das fremde Gebiet lieber gemeinsam mit meinen Freunden erkunden? Unsinn. Also weiter. Es wurde feuchter, das unheimliche Tröpfeln lauter. Es schien direkt aus den Wänden zu kommen.

Schließlich endeten die Stufen. Sie mündeten in einen Gang, der nur eine Richtung kannte. Ich folgte ihm, die Taschenlampe vorgestreckt. Nach ein paar Metern knickte er scharf nach rechts ab. Vorsichtig setzte ich Schritt vor Schritt. Der Boden war schmierig wie mit Seife gewischt. Die einzelnen Steine waren viel gröber als oben, auch die in den Mauern. Alles hier war einfacher, älter, mysteriöser.

Wo war ich hingeraten? Vielleicht führte der Weg geradewegs zu alten Leichenkellern. Komisch, dass einem immer die übelsten Dinge einfielen, wenn man in das Unbekannte vordrang. Warum nicht an Schätze denken, Abenteuer?

Doch die mit feuchten Flecken übersäten Wände machten glanzvolle Vorstellungen zunichte. Auch die Spinnweben und der Modergeruch waren nicht angetan, für unbeschwerte Heiterkeit zu sorgen. Wenn jetzt die Taschenlampe ausfiele!

Hinter mir durchbrach ein knirschendes Geräusch die Stille, als wenn jemand einen Kiesel zertritt. Mein Herz klopfte bis zum Anschlag und ich lauschte. Ich traute mich nicht, mich umzudrehen, und stand wie angewurzelt. Doch nichts weiter passierte – alles Einbildung in diesem gespenstischen Keller. Nur dieses verdammte Tröpfeln war echt.

Ich zwang mich weiter, doch nach der nächsten Biegung blieb ich abrupt stehen. Es ging nicht weiter. Der Gang endete vor einer großen Tür.

Mein Körper sonderte kalten Schweiß ab, der meine ganze Haut bedeckte. Das T-Shirt hätte ich auswringen können. Zitternd stützte ich mich an der moosigen Mauer ab.

Ich sah auf die Uhr. Zehn Minuten waren vergangen. Wenn ich jetzt umkehrte, würde ich Ben, José und Mats gerade in die Arme laufen. Der Ausweg lag vor mir: die alte Tür. Sie wies reichliche Verzierungen auf: Schwerter, Schilde und ein paar lateinische Worte waren in das Holz eingearbeitet. Auch Reste von Farben entdeckte ich. Schließlich legte ich meine Hand auf die frostige Messingklinke.

Ich drückte sie nieder und versuchte sie zu öffnen, so wie eine normale Tür auch. Doch sie bewegte sich keinen Millimeter. Vielleicht abgeschlossen? Ich versuchte es mit mehr Kraftaufwand und stemmte mein gesamtes Gewicht dagegen. Und tatsächlich: Sie gab nach. Die Scharniere jaulten in den Angeln und das Holz schliff schwer über den Boden. Der Lärm echote im Gang, während sich die Tür Zentimeter für Zentimeter öffnete. Als sie einen hinreichend großen Spalt freigab, zwängte ich mich hindurch.

Nur mühsam fraß sich das Licht meiner Taschenlampe vor, so als wäre die Dunkelheit hier dicker als draußen im Gang. Auch die Luft war extrem abgestanden. Im Vergleich dazu war der Teppichmuff geradezu frisch gewesen.

Der Raum war etwa so groß wie unser Badezimmer zu Hause. Mit mehr als vier Personen würde es eng. Und es war ähnlich feucht. Ich sah mich um. Erst nach ein paar Sekunden erkannte ich einen großen Gegenstand an der Wand. Er hatte die gleiche Farbe wie das Mauerwerk.

Es war ein Quader, eingepasst zwischen die beiden Seitenwände des Kellers. Nach zwei Schritten stand ich davor. Er reichte mir bis zu den Schultern. Es war ein Podest. Darauf ruhte eine Truhe aus schwarzem Holz. Sie war länglich und flach. Ich streckte mich, um ihre Oberfläche abzutasten. Das Holz fühlte sich glatt an und warm, verglichen mit dem eisigen Stein, auf den ich meine andere Hand stützte.

Ich trat einen Schritt zurück. Seitlich hatte der Steinquader zwei Stufen, über die er sich besteigen ließ. Gebückt kletterte ich hoch, bemüht, meinen Kopf nicht an der niedrigen Kellerdecke zu schrammen. Mir fiel Indiana Jones ein. Ich war wie der coole Wissenschaftler auf dem Weg, Geheimnisse zu entdecken.

Die Kiste nahm fast das gesamte Podest ein. Nur knapp konnte ich mich dahinter hocken, eingezwängt von der rückwärtigen Mauer und der Decke. Ich identifizierte auf der Oberseite der Holzkiste Zeichnungen wie auf der Eingangstür: Schwerter, Schilde, dazu noch den Umriss eines aufgeschlagenen Buches. Darin war ein fettes P eingezeichnet. In den feinen Ritzen der Gravur lag dicker Staub. Eine kleine Spinne huschte ins Dunkel, als ich den Buchstaben mit dem Finger nachzeichnete.

*

Unschlüssig hockte ich auf dem Quader. Opa hatte nie von einem solchen Kellerverlies erzählt. Und noch weniger von einer geheimnisvollen Truhe. Vielleicht kannte er das Gewölbe nicht einmal selbst.

Die Kiste musste etwas Wertvolles enthalten. Warum hätte sie sonst jemand tief in den Keller schleppen und auf einem Podest platzieren sollen, in einen Raum, der keinem anderen Zweck zu dienen schien? Und irgendwie musste sie sich auch öffnen lassen.

Ein Schloss, einen Griff oder einen Henkel hatte sie nicht. Ich suchte also nach einem Stein oder einem anderen Werkzeug, um meine Absicht in die Tat umzusetzen, als ich plötzlich Geräusche wahrnahm. Automatisch spannte sich jeder Muskel an. So musste es Indiana Jones bei Gefahr gehen. Ich kletterte von dem Podest und schaltete die Lampe aus. Es war jetzt stockdunkel. Einen Augenblick später drang vom Gang ein diffuser Lichtstrahl durch die Tür. Kurz darauf hämmerte jemand dagegen.

„Artur, du bist hier!“

Es war José.

Ich blickte auf die Uhr. Die fluoreszierende Stoppuhr zeigte 18 Minuten an. Ich antwortete natürlich nicht, doch das brachte keine entscheidenden Sekunden mehr. José steckte seinen Kopf durch den Spalt und riss die Augen erschrocken auf. Ich hatte die Lampe wieder eingeschaltet und damit mein Gesicht von unten angestrahlt. Wenn sie mich schon finden mussten, sollte ihnen meine Visage wenigstens wie eine unheimliche Fratze erscheinen.

Doch Josés Schrecken wich schnell einem breiten Grinsen.

„Gefunden, gefunden. Hier ist er.“

Und schon schoben ihn Mats und Ben in den Raum und folgten.

„Mensch, Alter, das ist ein crazy Versteck. Aber wir finden dich, egal wo du bist“.

Wir lachten ein bisschen überdreht, dann legte sich Stille auf die Stimmung. Die Jungs sahen sich beklemmt um.

„Wo sind wir hier gelandet?“, fragte Mats so leise, als wollte er niemanden wecken.

Ich zuckte nur die Schultern, aber mir fiel keine passende Antwort ein. Wieder schwiegen wir, bis Ben es nicht mehr aushielt:

„Leute, ich habe Durst. Lasst uns hochgehen.“ Wir nickten, und Mats ergänzte:

„Und wer weiß, wenn die Tür zuknallt, kommen wir vielleicht nicht mehr raus aus diesem Loch.“ Das war zwar wahrscheinlich Quatsch, aber trotzdem zwängten wir uns wie auf Kommando durch die Tür und schlossen sie von außen. Dann liefen wir schlitternd zur Treppe zurück. Wir lachten, um die Stille zu übertönen, bis wir oben am Teppich ankamen.

Endlich pressten wir uns an dem verfilzten Lappen vorbei und standen befreit in dem langen Flur. „Ganz schön spooky da unten“, sagte Mats, nachdem wir alle einmal durchgeatmet hatten. „Kanntest du dieses Kellerverlies?“

„Nein, ich habe es selbst gerade erst entdeckt. Aber wie seid ihr auf die Idee gekommen?“

José griff in seine Hosentasche und holte einen Schlüsselanhänger hervor, an dem ein mittelalterliches Wappen hing. Er ließ ihn triumphierend vor meiner Nase baumeln. Es war das Zeichen der Burg, das mir Opa geschenkt hatte und das ich am Schlüsselbund trug – normalerweise. Ich musste das Ding verloren haben, als ich mich unter den Teppich gezwängt hatte.

„Es lag genau vor diesem komischen Teppich. Erst haben wir es übersehen und sind weitergelaufen, aber der Gang endet gleich dahinten. Dann entdeckten wir es und haben den Teppich genauer untersucht und den Geheimgang gefunden.“

Und Ben meinte: „Respekt. Klasse Ort zum Feiern. Aber eines garantiere ich dir“, er funkelte mich an, „ich bin als Erster oben.“

Und bevor wir reagieren konnten, rannte er los. Vor uns erreichte er das Buffet im Rittersaal.

Außer Atem hielten wir uns an der Tafel fest, dann stopften wir uns kommentarlos Kuchen rein. Die Erwachsenen sahen uns mit großen Augen an.

„Ihr wart ganz schön lange weg“, merkte Opa an. „Wir haben nichts von euch gehört.“

Den Mund voller Gebäck antwortete ich: „Ich hab etwas Irres entdeckt.“

Er verstand das Genuschel nicht, und bevor ich weitere Details preisgeben konnte, skandierten meine Freunde:

„Noch ne Runde, noch ne Runde.“

„Dagegen spricht nichts“, sagte mein Vater.

Wir schoben noch einmal Kuchen nach und rannten los.

Später aßen wir Würstchen, spielten Fußball im Hof und vergaßen das Verlies. Die Sonne stand schon tief, als mein Vater uns hereinrief.

Wir hatten ihren Eltern versprochen, meine Freunde um neun Uhr zur Talstation zu bringen, damit sie sie abholen konnten. Inzwischen war es Viertel vor neun, und Mama und Papa wollten sie zum Lift bringen, um dann selbst nach Hause fahren. Ich würde mit Opa die Nacht auf der Burg verbringen.

Brüllend rannten wir durch das alte Tor und die Gassen hinunter. Die Luft war warm und die Vögel pfiffen um die Wette. Alle wiederholten, was für eine korrekte Feier das gewesen sei. Dann warf Opa den Lift an, und ich winkte ihnen nach, als sie auf den Sesseln hinunterschaukelten.

Als mein Vater anrief und Bescheid gab, dass alle gut unten angekommen seien, schaltete Opa die Bahn aus. Wir machten uns auf den Rückweg. Der Plan war, im Kamin Feuer zu entzünden. Mein Großvater hatte dafür eine große Kiste mit Holz aus seinem Garten mitgenommen. Normalerweise diente der offene Kamin im Rittersaal nur noch als Deko. Früher einmal mag er Könige und Fürsten gewärmt haben. Heute war die Benutzung laut Burgordnung untersagt. Aber Opa nahm das an jenem Tag nicht so genau:

„Erlaubt, nicht erlaubt, du hast Geburtstag, da kann der Kamin ruhig mal arbeiten. Ich weiß, dass der Ofenschacht regelmäßig gereinigt wird, also wird der Schlot auch ziehen.“

Wir schichteten das Holz in der alten Feuerstelle auf und zündeten es an. Opa fachte es mit Pusten und einem großen Fächer an. Die Flammen griffen um sich, und als immer mehr Scheite knisterten, knackten und Funken aufsteigen ließen, breiteten wir auf dem Boden davor Kissen und Decken aus. Opa schaffte Chips und eine Thermoskanne mit warmen Kakao herbei. Ich genehmigte mir erst einmal eine kleine Stärkung, dann streckte ich mich vor dem Feuer aus. Jetzt war es Zeit für eine Geschichte, am besten eine über die Burg.

„Eine habe ich dir nie erzählt, von einem Ritter, der hier auf merkwürdige Weise verschwunden ist.“

„Aha, und warum kenne ich die nicht?“

Opa überlegte: „Hm, als du kleiner warst, fand ich sie nicht angemessen, ich fürchtete, sie würde dir Angst bereiten, und später fehlte die Zeit.“

„Okay, dann eben heute. Warte nur noch, bis ich mich in die Decken gerollt habe.“

„Es geht um einen Ritter, der vor vielen Hundert Jahren hier von der Burg zu einem Kreuzzug aufbrach“, begann er die Erzählung. „Sein Ziel war das heutige Frankreich, dort wollte er Ketzer jagen. Es war eine Zeit, in der Krieg an der Tagesordnung war, in der jeder Fürst versuchte, sich gegen andere durchzusetzen und seine Macht mit List und Gewalt auszubauen. Damals waren die Länder keine Staaten so wie heute mit festen Grenzen, sondern Reiche, die sich mit einer Eroberung vergrößerten und mit einer Niederlage verkleinerten. Der Papst arbeitete derweil daran, dass immer mehr Menschen sich dem Christentum unterwarfen, und zwar auf eine bestimmte Weise, die die römische katholische Kirche vorgab. Die Menschen im Süden des heutigen Frankreichs, gegen die unser Ritter auszog, waren zwar auch Christen, aber sie hatten andere Sitten als die in Rom. Dem Papst missfiel das, und er stiftete die Fürsten an, sie im Namen der Kirche zu vernichten. Und der König von Frankreich führte den Kreuzzug gegen die Katharer – so hießen die Ketzer – an.“

Opa unterbrach seinen Vortrag, um einen Schluck Wasser zu nehmen.

„Es war damals üblich, dass Ritter aus den verschiedenen Reichen an solchen Kreuzzügen teilnahmen“, fuhr er fort. „Sie erhofften sich, Ehre und Ruhm zu erwerben. Außerdem galt es als eine gute Tat – so wie heute einer alten Frau über die Straße zu helfen. Auch unser Ritter wollte dabei sein. Mit seinen Brüdern ritt er nach Frankreich, um mit dem Schwert Gutes zu tun. Wir wissen nicht, was passiert ist. Aber nach einem Jahr kehrt er zurück, in miserabler Stimmung. Statt Ruhm und Ehre bringt er Trübsal mit. Und das, obwohl die Katharer besiegt sind. Er aber erklärt, er habe erkannt, dass die Feinde in Wirklichkeit Freunde seien und die früheren Freunde nun seine Feinde. Das war reichlich verwirrend für die Zeit, doch der Ritter geht noch weiter. Er schwört dem Kampf ab, meidet fortan Ritterturniere und lässt stattdessen Dichterwettbewerbe auf der Burg austragen.“

„Ach so“, rief ich dazwischen, „deshalb die Bücher auf den Bildern.“

„So weit, so gut. Der Typ hat einen Spleen, sagen die einen. Er ist ein Held, sagen die anderen. Und dann von einem auf den anderen Tag verschwindet er. Sein Pferd war im Stall, seine Kleider im Schrank. Nicht eine Münze aus dem fürstlichen Schatz war abhandengekommen. Man suchte nach ihm, sendete Boten zu anderen Fürsten aus. Doch von ihm fehlte jede Spur.

Nur sein Lieblingsbuch war mit ihm verschwunden. Bücher waren damals etwas Besonderes. Der Buchdruck war noch nicht erfunden, Kopiergeräte unbekannt. Jedes einzelne Exemplar war aufwändig von Hand verfasst. Seines erzählte die Geschichte einer Suche. Und so nahm mancher an, dass der Ritter genau das tat: etwas zu suchen, und wenn er es gefunden haben würde, werde er eines Tages zurückkehren.“

*

Ich war bei seiner Erzählung eingeschlafen. Als ich aufwachte, hatte ich das Bild des Ritters vor Augen: wie er in der Burg umherging, auf dem Sofa saß und sein Buch las. Irgendetwas hatte mich geweckt. Vielleicht Opa, der neben mir laut schnarchte.

Ich rappelte mich auf und rieb mir die Augen. Neben dem verglimmenden Licht des Kamins leuchtete eine große Kerze unser Lager aus. Opa hatte sie auf dem Boden platziert. Dahinter verschwand der Saal im Schatten. Es war tiefe Nacht. Die Uhr zeigte drei.

Ich stand auf und wandte mich einer Sitzbank in einem der Fenstererker zu, die die Menschen früher zu vertraulichen Gesprächen aufgesucht hatten. Draußen hatte die Nacht alles im Griff. Ein Scheinwerfer tauchte die Mauern in kaltes weißes Licht. Jenseits des scharfen Strahls war alles schwarz.

Ich blickte zur Tür, die in das Treppenhaus führte. Sie war ebenso verschlossen wie ... Verdammt. Das war jetzt keine gute Idee. Aber ich konnte nicht anders. Ich sah alles vor mir: den verborgenen Eingang, die rutschigen Treppen, den Raum mit der kreischenden Tür und die Holzkiste.

Nein, ich gehe jetzt nicht da runter. Viel zu kalt, viel zu unheimlich, zu krass. Ich lege mich einfach wieder hin. Unschlüssig blieb ich am Fenster stehen, starrte in die Dunkelheit.

Ist doch alles Blödsinn, es gibt keine Gespenster, schon gar nicht in meiner Burg. Nur den schnarchenden Opa und mich. Also, wenn ich schon keinen Schlaf finde, kann ich genauso gut in den Keller gehen. Ich hatte Geburtstag. Das brachte immer Glück.

Ich griff nach meinen Socken und Schuhen, zog sie an und warf mir die Jacke über. Ich suchte die Taschenlampe, fand sie aber nicht. Na gut, dann muss es eben die große Kerze sein. Außerdem nahm ich meinen neuen Gettoblaster mit. So konnte ich Musik hören und die Stille und das Tröpfeln austricksen. Das Kuchenmesser, das noch auf dem Tisch lag, könnte ich vielleicht auch gebrauchen – ich steckte es in die Innentasche meiner Jacke.

Dann vergewisserte ich mich noch mal, dass Opa nichts von meinem Aufbruch mitbekam, öffnete leise die Tür und schlich mich in das Treppenhaus. Langsam nahm ich Stufe für Stufe. Die Kerze warf flackernde Schatten an die Wände. Jeden mulmigen Gedanken wischte ich beiseite und quatschte stattdessen vor mich hin.

„Abgefahren, Mann, nachts in der Burg, oh, Mann. Mit Gettoblaster, yeah. Geheimnisse, kommt her. Im Kerzenschein und Schimmer, ist Artur der Gewinner.“

So rappte ich mich bis vor den dunklen Teppich. Ich stellte die Kerze auf dem Boden ab und studierte erneut das Bild. Eine wirklich ungewöhnliche Darstellung: kein Ritter, der mit Drachen kämpft oder sonst mit Schwertern hantiert. Stattdessen mit einem Buch. Lesen bildete offenbar schon damals.

Aber es stank wohl nicht so schrecklich. Ich riss mich von meiner Betrachtung los und entdeckte das Malheur. Der alte Teppich hatte durch die Kerze Feuer gefangen. Es roch nach verbrannten Haaren. Hektisch trat ich den kleinen Schwelbrand aus. Ich klopfte den Rest des Feuers raus und prüfte die Knüpfware. Der Ritter war rußig geworden, auch das Pferd wirkte etwas mitgenommen. Nur das Buch hatte nichts abbekommen. Das Weiß seiner Seiten stach jetzt sogar stärker gegen den verkohlten Hintergrund ab.

Als sich der Qualm verzogen hatte, zwängte ich mich auf allen vieren vorsichtig unter das Kunstwerk. Ich hielt die Kerze auf Abstand, damit ich den Schinken nicht noch einmal ansengen würde. Dann die Stufen langsam abwärts. Kam mir fast vertraut vor.

„Bin gleich an der Kammer. Yo. Da wartet schon der Hammer. Yo.“

Beherzt griff ich nach dem Metallknauf und drückte die Tür auf. Das Jaulen kannte ich ja schon. Ich setzte einen Fuß in den Raum und schaute mich um. Nichts hatte sich verändert. Der Quader stand an der Wand wie seit Ewigkeiten. Darauf der mysteriöse Holzkasten: Es war an der Zeit, ihm zu Leibe zu rücken. Licht würde die Kerze auf dem Boden geben. Mein Gettoblaster daneben könnte nicht schaden, die etwas gruselige Atmosphäre aufzupimpen. Ich versuchte, einen Radiosender zu finden, doch es rauschte nur. Hier unten gab es keinen Empfang. Hätte ich mir denken können. Ich stellte den Schalter auf Disc-Betrieb.

Drinnen steckte eine Scheibe, die nun zu rotieren begann. Laut surrend kam sie auf Touren. Die Lautsprecher knackten:

„Lesson one: The little Ghost and the castle“, trötete das Gerät.

Verdammt, Opa hatte die Englisch-CD eingelegt.

„Hello, I am the little ghost“, krächzte die Stimme aus dem Lautsprecher. „What is your name?“

Nein, das muss jetzt wirklich nicht sein. Da ist mir selbst dieses Scheißtröpfeln lieber. Schalter auf Off! Wie auf Kommando legten nun die Wasserspiele in den Wänden los – dumpf und tonlos.

Dafür entdeckte ich die Taschenlampe auf dem Boden. Ich hatte sie wohl am Nachmittag vergessen. Mit ihr ließ sich das hier unten natürlich noch viel besser ausleuchten. Ich steckte sie ein. Dann erklomm ich gebückt die zwei Stufen und kauerte mich hinter die Kiste. Sanft klopfte ich gegen das Holz. Der helle Klang zeigte an, dass das Ding innen hohl sein musste. Dann war sie auch irgendwie zu öffnen.

Gebeugt hangelte ich mich hinter der Kiste entlang, untersuchte sie Zentimeter für Zentimeter. Tatsächlich: Da gab es einen Spalt, der das Objekt umlief und der vielleicht einen Deckel vom Korpus trennte. Meine Fingernägel richteten darin allerdings gar nichts aus. Ich griff nach dem Küchenmesser. Doch auch der Versuch, die Klinge in den Spalt zu zwängen, scheiterte.

Ich hockte wie ein Affe hinter einer Bananenkiste, stemmte die angewinkelten Beine dagegen, breitete die Arme darüber und versuchte, sie mit zu Krallen gebogenen Fingern zu öffnen. Das war anstrengend, sah wahrscheinlich bescheuert aus und führte zu keinem Erfolg. Und ich fühlte mich zunehmend unwohler, zumal es irgendwie unangenehm roch. Erst dachte ich, es wäre mein Mundgeruch, doch dann fiel mir auf, dass der modrige Mief, den ich einatmete, aus den schimmligen Wänden kam. Dazu noch der Staub, den ich bei der Ruckelaktion einsog: Meine Lunge rebellierte. Ich klammerte mich an die Kiste, hustete mir den Schmutz aus dem Leib und schnappte nach Luft. Gebracht hatte das alles nichts. Unerschütterlich wie ein Sarkophag ruhte die Truhe auf ihrer Empore.

Vermutlich hatten Staub und Feuchtigkeit im Laufe der Zeit einen 1-A-Klebstoff gebildet, der das Öffnen verhinderte. Das wäre ein interessantes Projekt für unseren Chemielehrer gewesen, der die Wunder chemischer Reaktionen pries. Hier unten hätte Herr Quallo vielleicht ein neues Element entdeckt.

Hm, was tun? Ich versuchte es mit Rhythmus: Wie ein Trommler hämmerte ich auf die Kiste ein. „Truhe, zeige deinen Trash – Gold and Pearls and also Cash.“

Ich fand es nicht übel und bearbeitete die Truhe noch eine Weile. Da sich aber nichts tat, ließ die Spannung nach. Vielleicht war es Zeit, wieder ins Bett zu gehen. Ich kletterte von meinem Spielplatz und war im Begriff, meine Sachen einzupacken, als ich eine Bewegung registrierte. Ich nahm sie nur aus dem Augenwinkel wahr, aber es gab auch ein leises Geräusch. So, als würdest du etwas in deinen Holzschrank stopfen, die Tür schnell schließen und dann fällt es drinnen runter. Ich drückte mein Ohr gegen die Kiste. Nichts. Alles Quatsch. Ich gehe jetzt schlafen.

Am besten wäre es, morgen mit Opa und seiner Werkzeugkiste wiederzukommen und das Geheimnis zu lüften. Ich war schon fast draußen, als ich mich noch einmal umdrehte. Irgendetwas war plötzlich anders – kein Geräusch, kein Geruch, nichts dergleichen. Es war ein Gefühl, eine Empfindung wie der Moment, der mich vorhin geweckt hatte. Etwas Unheimliches, das mir eine Gänsehaut machte.

*

Für Geistergeschichten, Storys über Werwölfe oder Vampire war ich eigentlich nicht sehr empfänglich. Sie machten mir keine Angst. Normalerweise. Doch jetzt fiel mir ein Film ein, den ich als kleiner Junge gesehen hatte und der mich über Monate schlecht hatte einschlafen lassen.

Die Geschichte war zwar dämlich. Aber das änderte leider nichts an der Angst, die sie mir eingeflößt hatte. Es ging um ein verfluchtes Buch. Keine Ahnung, welchen Inhalts. Das war auch nicht von Belang. Anders als der Umstand, dass derjenige, der das Buch um Mitternacht besaß, von einem schrecklichen Monster heimgesucht wurde mit einer bösen Fratze und Riesenflügeln, das ihm den Kopf abbiss und den Körper mit seinen Krallen aufriss. Über Monate wollte ich kein Buch mehr anrühren und prüfte Abend für Abend, ob das Monster nicht vielleicht unter meinem Bett lauerte. Auch in meinem Kleiderschrank sah ich nach.

Dummerweise musste ich gerade jetzt an diesen Film denken. Draußen an der Tür war ja auch ein Buch abgebildet, ebenso auf dem Teppich, und in der Geschichte von Opa kam auch eins vor. Vielleicht würde das Monster auf dem Podest erscheinen, um mich abzumurksen.

Verdammt, was für ein Unsinn, und ich hatte am Wochenende schließlich Bad Boys mit Will Smith gesehen, aber mir schlotterten die Knie, als ich hörte, wie es in der Kiste plötzlich rumorte. Hatte mein Großvater die Finger im Spiel?

„Opa?“, fragte ich laut in die Kammer hinein.

Er antwortete nicht, dafür aber die Kiste. Es gab keinen Zweifel – ein Kratzen wie von Fingernägeln, die über Holz schabten. Oder es waren Mäuse, vielleicht Ratten. Ich hatte zwar keine gesehen, aber in so einem muffigen Keller musste es doch davon wimmeln. Die lebten wahrscheinlich gerne in Kisten, auch wenn ich davon noch nie gehört hatte. Rattenforscher hatten diesen Fakt vielleicht für sich behalten.

Im gleichen Moment setzte ein Quietschen ein, so entsetzlich, dass ich mir fast die Ohren zugehalten hätte.

Ich war erstarrt, im Begriff selbst eine Steinsäule zu werden, die sich später mit dem Quader und der Kiste anfreunden könnte.

Das Kerzenlicht flackerte, weil meine Hand, die den dicken Stumpf ergriffen hatte, wie bei einem Alkoholiker zitterte. Ich glotzte auf die Holzkiste, über die die zuckenden Schatten fuhren. Und jetzt begann sich zu bewegen, was sich gerade partout nicht von der Stelle hatte rühren wollen: Wie in Zeitlupe rutschte der Deckel der Kiste zur Seite. So als ob ich beim Zerren vorhin einen Mechanismus ausgelöst hätte, der jetzt erst wirksam würde. Das Kreischen von Holz auf Holz verursachte einen Höllenlärm, der überall in der Burg zu hören sein musste.

Der Deckel rückte Millimeter für Millimeter von dem festliegenden Korpus ab. Gleich musste er die Balance verlieren.

Mir wurde schlecht wie auf einer Achterbahnfahrt, wenn es im freien Fall abwärts geht. Der Deckel kippte, kippte weiter und fiel. Ich musste an die Titelmelodie des Films vom Wochenende denken:

„What you gonna do, when they come for you?“.

Die Abdeckung krachte polternd auf den Boden. Staub und Dreck wirbelten auf und nahmen mir die Sicht auf die Truhe.

Als ich wieder etwas sehen konnte, lag die Kiste auf der Empore, der Deckel auf dem Boden. Von dort, wo ich wie angewurzelt stand, konnte ich nicht hineinschauen.

Wie gab man sich einen Ruck, wenn man erstarrt war? Solche praktischen Fragen lehrte kein Unterrichtsfach. Ich müsste jetzt hochklettern, um reinzuschauen, oder eine Klasse überspringen, mehr Taschengeld bekommen, eine Freundin haben. Das war im Moment leider alles Wunschdenken.

Die Kerze flackerte wild in meiner mir fremden Hand, die man mit einfachen Griffen hätte abschrauben können.

Ganz langsam schob sich ein Schemen vor – oben aus dem Inneren der Kiste. Ein bleiches Etwas machte sich daran, aus dem Ding zu steigen. Eine Hand, fleischlos, nur Knochen, krallte sich am Rand der Kiste fest.

Es fehlte nicht viel und ich kackte mir in die Hose. Doch darauf nahm niemand Rücksicht. Auf jeden Fall nicht das Wesen, das sich da gerade aus der Kiste befreite. Na, großartig: ein Totenkopf mit knöchernen Halswirbeln, nee, klar, da sind ja auch schon die vorgewölbten Rippen und das Becken. Jetzt schlägt es die staksigen Beine wie eine Marionette über den Rand der Truhe und setzt die bleichen Zehen auf den Steinquader. Fehlt noch, dass – na bitte – das ganze Skelett mit einem Schwung aus der Kiste hüpft. Keinen interessierte es, dass mein Kopf schockgefroren, mein Körper eine Gefriertruhe und mein Blut so zäh war wie ein Slush-Getränk von der Imbissbude.

Wo hatte ich so etwas schon mal gesehen? Im Film, okay, aber sonst? Genau, im Biologieunterricht von Frau Stengel. Vielleicht war das da so etwas Ähnliches. Und mit einem Mal war ich mir sicher: Opa hatte es konstruiert.

Das half. Plötzlich konnte ich mich wieder bewegen. Zitternd stellte ich die Kerze auf den Boden. Sogar sprechen war möglich:

„Opa, Respekt – ganze Arbeit.“

Mein Großvater hatte sich vermutlich nur schlafend gestellt. Wahrscheinlich hatte er eine Webcam hinter einem Auge des Skeletts montiert, beobachtete mich gerade oder zeichnete die Szene auf, um sie später zum Besten zu geben. Ich winkte in die Kamera. Ich wollte mir keine Blöße geben und hier nicht als Memme dastehen.

Das Skelett drehte den Schädel, und zwar in meine Richtung. Klar, die Kamera war tatsächlich so was wie ein Auge, mit dem es mich jetzt anstarrte.

„Du hast mir einen ganz schönen Schrecken eingejagt, Opa. Krasse Show!“

Nun setzte sich das Wesen in Bewegung und kletterte vom Podest. Sogar das Klappern der Knochen klang echt. Da hatte Opa gutes Material verwendet. Es richtete sich auf, und ich stellte fest, dass es etwa so groß war wie ich.

Es streckte Arme und Beine wie jemand, der lange geschlafen hatte, drehte den Kopf im Halbkreis um die Nackenwirbel und machte anschließend ein paar Kniebeugen, dass die Knochen ordentlich knackten. Ob das eine Art Roboter war, wie es sie mittlerweile immer häufiger zu sehen gab, etwa als Haushaltshilfen? Es musste eine Spezialanfertigung sein, denn normalerweise hatten die Roboter ein gewinnenderes Äußeres als dieser bleiche Kerl da. Und viel Platz für Technik gab es bei dem Gestell auch nicht.

Nun hatte es seine Übungen anscheinend beendet und machte einen Schritt auf mich zu. Eine Körperlänge vor mir arretierte es und verneigte sich. Dann breitete es die Arme aus und riss die Kiefer auseinander:

„Ist Zwîfel Herzen nâchgebûr, daz muoz der Seele werden sûr.“

Es konnte also sprechen. Sehr beeindruckend. Dass der ferngesteuerte Typ fremde Sprachen beherrschte, war wirklich toll, allerdings fragte ich mich, was Opa mit dem Gerede über Zwiebelmus oder was er sonst von sich gegeben hatte, bezweckte – es handelte sich eindeutig nicht um Englisch.

„Da hat dich einer fehlprogrammiert“, antwortete ich und war versucht, es zu tätscheln.

Es neigte den Kopf zur Seite und grinste mich mit seiner intakten gelbgrauen Zahnreihe an.

„Gesmaechet unde gezieret ist, swâ sich parrieret unverzagten Mannes Muot, als Angelstern Farwe tuot“, krächzte es.

Auch der Ton musste dringend nachjustiert werden. Zu viele Höhen, wenig Mitten, kaum Bässe. Oder es hatte seine Stimme schon lange nicht mehr gebraucht. Quatsch, war ja ein Roboter. Komisch war aber, dass das Ding keinerlei Lautsprecher zu haben schien. Irgendetwas benötigte es ja wohl zur Klangbildung und -übertragung. Den Trick hatte ich noch nicht entdeckt.

Der Typ war schon ziemlich schräg für einen Roboter: mit seinem Pferdegebiss, den ganzen schwankenden Knochen und der Art, wie er sprach. Und außerdem war es mir für einen fremdsprachigen Film ohne Untertitel zu spät. Ich würde um drei Uhr morgens schließlich auch keinen Wissenschaftskrimi auf Schwedisch einschalten.

Bestimmt konnte man den Typ ganz gut sich selbst überlassen. Er musste doch erst mal sein Zimmer einrichten.

„Na dann, Alter, machʼs gut. Haha. Schön, dich kennengelernt zu haben.“

Ich hielt ihm die Hand hin, doch darauf ging er nicht ein. Vielmehr wich er rasselnd zurück.

„Schon gut. Macht nichts. Bis später.“

Ich zwängte mich durch die Tür und warf sie hinter mir zu. Es dröhnte im Kellergang, das war alles. Er kam mir nicht hinterher. Gut, die Kerze hatte ich im Raum gelassen, aber er brauchte ja Licht. Und meinen neuen Gettoblaster. Sollte er sich doch Little Ghost anhören. Die Taschenlampe hatte ich ja. Zügig ging ich weiter, die Treppen hoch, bis ich den angekohlten Wandschmuck passierte.

Ich lauschte. Kein Mucks. Die Verfolgung hatte er offenbar immer noch nicht aufgenommen. War wohl ein bisschen scheu. Kein Rennläufer. Und ohne Orientierungsprogrammierung. Würde sich vielleicht nicht zurechtfinden in den vielen Gängen. Oder sein Akku war leer und das Startprogramm am Ende, sodass er sich automatisch zurück in die Kiste legte.

Ich war zu müde, um alle Spekulationen durchzuspielen. Sollte er machen, was er wollte. Morgen könnten wir das klären. Oben im Rittersaal schnarchte mein Großvater, als wäre nichts geschehen. Ich ließ ihn schlafen. Genug Geschichte für heute.

*

Wer um vier Uhr ins Bett fällt, ist morgens um zehn in der Regel nicht direkt frisch und munter. Zumindest ging es mir so am nächsten Tag. Ich schlief noch tief und fest, als Opas Stimme mich störte.

„Artur, aufwachen. Es ist Zeit aufzustehen.“

Auch sein Rütteln an meiner Schulter war dem Schlaf nicht zuträglich. Und er nörgelte weiter:

„Ich versuche es schon seit einer halben Stunde. Was bist du denn heute für ein Langschläfer?“ Mein Körper wollte sich nicht bewegen. Er fühlte sich an, als wäre er gestern von einem Trecker überrollt oder von einem Stein erschlagen worden – einem rollenden Steinquader, der eine Truhe mit einem Geist geladen hat.

„Opa, gleich, lass mich noch einen Moment.“ Ich zog mir die Decke über das Gesicht.

„Du reagierst immerhin. Ich mache jetzt Frühstück.“

Er ließ mich in Ruhe, aber einschlafen konnte ich nicht mehr. In meinem Kopf begann es zu rotieren wie die Little-Ghost-Disc im Gettoblaster. Oder hatte ich das geträumt? War ich wirklich in dem Keller gewesen?

„Artur, hast du die Kerze gesehen? Ich hatte sie doch auf den Boden gestellt.“

Also kein Traum. Ich tat, als hätte ich nichts gehört, und kniff die Augen fest zusammen. Opa fragte nicht noch einmal.

Es roch nach Kakao. Außerdem knisterten Plastiktüten, und ich hörte, wie getrocknetes Getreide, Schokostückchen und Nüsse in eine emaillierte Schale geschüttet wurden, gefolgt von gluckernder Milch aus dem Karton.

Das war Bestechung. So konnte man nicht weiterdösen und über Skelette in modrigen Kammern sinnieren. Ich stand auf und schlurfte zu dem Tisch, den Opa in die Nähe des Erkerfensters aufgebaut hatte. Ich ließ mich ihm gegenüber auf den Stuhl fallen und gähnte. Die Ellenbogen stützte ich auf die Tischplatte.

„Was ist denn mit dir los? Du siehst aus wie ein Kriegsversehrter. Hast du schlecht geschlafen?“

Das waren viele Fragen, die ich nicht beantworten konnte. Dafür schaffte ich es, an die Milch zu gelangen.

„Sehr gesprächig bist du nicht. Dann iss erst mal was. In deiner Tasse ist warmer Kakao.“

Der war schon mal hilfreich. Genauso wie die Getreideflocken mit der Schokolade.

„Danke, Opa“, sagte ich kauend. „Was hast du da eigentlich im Keller installiert?“

Er zog die Augenbrauen hoch.

„Bitte? Was meinst du?“

„Dieses komische Gestell, ist das von dir?“

„Gestell? Du träumst wohl noch.“