Der Kampf um das Internet - Stefan Mey - E-Book

Der Kampf um das Internet E-Book

Stefan Mey

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Beschreibung

Mehr Freiheit und mehr Demokratie waren die großen Versprechen des Internets. Doch inzwischen konzentriert sich die Macht bei einigen wenigen Tech-Giganten. Dabei bietet das Netz selbst eine Lösung, um sein ursprüngliches Freiheitsversprechen zu bewahren: die nichtkommerzielle digitale Gegenwelt. Zu ihr zählen etwa die Online-Enzyklopädie Wikipedia, die Twitter-Alternative Mastodon, der Browser Firefox oder der Messenger Signal. Es liegt an uns, wie stark wir die digitalen Herausforderer machen. In aufwendig recherchierten, so informativ wie unterhaltsam geschriebenen Porträts stellt Stefan Mey die Protagonist*innen, Ziele, Strategien und Geschäftsmodelle der digitalen Gegenwelt vor. Von ihnen gibt es weitaus mehr, als wir gewöhnlich denken. Sie sind die digitalen Gegenstücke von Greenpeace, Attac oder Amnesty International und formen die digitale Zivilgesellschaft. Um das Internet besser, fairer und freier zu machen, muss man nicht Informatik studieren, kein Start-up gründen und auch kein Hacker sein. Ist das der Beginn einer kleinen Revolution?

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Stefan Mey

DER KAMPF UM DAS INTERNET

Wie Wikipedia, Mastodon und Co. die Tech-Giganten herausfordern

C.H.Beck

Zum Buch

Wie Wikipedia., Mastodon & Co. die Internet-Giganten herausfordern

Mehr Freiheit und mehr Demokratie waren die großen Versprechen des Internets. Doch inzwischen konzentriert sich die Macht bei einigen wenigen Tech-Giganten. Dabei bietet das Netz selbst eine Lösung, um sein ursprüngliches Freiheitsversprechen zu bewahren: die nichtkommerzielle digitale Gegenwelt. Zu ihr zählen etwa die Online-Enzyklopädie Wikipedia, die Twitter-Alternative Mastodon, der Browser Firefox oder der Messenger Signal. Es liegt an uns, wie stark wir die digitalen Herausforderer machen.

«Bringt Licht ins Dunkel der digitalen Welt.»

Austria Press Agentur über Stefan Meys Buch Darknet

Über den Autor

Stefan Mey ist ein investigativer IT-Journalist mit sozialwissenschaftlichem Hintergrund. Er hat sich von Anfang an für die Frage von Macht und Gegenmacht im Internet interessiert. Mey kennt nicht nur die großen IT-Konzerne, sondern neben den bekannten auch viele unbekannte Projekte der digitalen Gegenwelt von innen. Bei C.H.Beck ist von ihm erschienen: Darknet. Waffen, Drogen, Whistleblower. Wie die digitale Unterwelt funktioniert (32021).

1

Einleitung

Warum es dieses Buch braucht

Eine andere digitale Welt ist möglich.

An einer freieren und freundlicheren Version des Internets arbeiten jeden Abend Tausende Menschen ehrenamtlich vor ihren Bildschirmen. An Stammtischen und auf Konferenzen, auf Mailinglisten und in Onlineforen diskutieren sie, wie sie besser und größer werden kann. Diese Welt gilt es zu entdecken.

Dass es Alternativen braucht, ist längst ein Allgemeinplatz. Es mangelt nicht an Problembeschreibungen zum Zustand der digitalen Realität: Die digitale Macht konzentriert sich bei wenigen IT-Konzernen. Mit ihren Datenschätzen können sich Alphabet (vormals Google), Amazon, Meta (vormals Facebook), Microsoft und Apple in die Leben beliebiger Einzelpersonen und Gruppen hineinzoomen. Geheimdienste nutzen diese Daten gern für eigene Zwecke.

Eine Änderung der Machtverhältnisse ist nicht in Sicht. Staatliche Regulierung läuft oft ins Leere. Und Wettbewerber, die die Strukturen aufbrechen könnten, werden im Fall der Fälle einfach aufgekauft. Die Probleme sind bekannt. Mangelware hingegen sind Lösungsvorschläge.

Dabei bietet das Netz selbst eine Lösung: die nichtkommerzielle digitale Gegenwelt. Zu der zählen etwa die Online-Enzyklopädie Wikipedia, der nichtkommerzielle Browser Firefox, der Messenger Signal und der Kurznachrichtendienst Mastodon, der Twitter (im Juli 2023 in «X» umbenannt) ähnelt.

Freie Inhalte, freie Plattformen, freie Programme und freie Betriebssysteme – das sind die Kernfelder der digitalen Gegenwelt. Um sich an dieser Welt zu beteiligen, muss man nicht Informatik studieren, kein Start-up gründen und kein Hacker sein. Wenige Klicks genügen, schon ist man Teil der digitalen Revolution.

Neben den bekannten Namen gibt es noch einen Kosmos anderer Projekte: das «WLAN für alle»-Netzwerk Freifunk beispielsweise, das Reiseportal Wikivoyage, die Bürosoftware LibreOffice, den universellen Mediaplayer VLC, die Enthüllungsplattform WikiLeaks, die Betriebssystem-Familie Linux, das Grafikprogramm GIMP oder den Mini-Computer Raspberry Pi. Hunderte solcher Projekte formen die Zivilgesellschaft im Internet. Sie sind die digitalen Gegenstücke von Greenpeace, den Tafeln oder Amnesty International.

Dieser Gegenentwurf tickt anders als das «Silicon-Valley-Internet» von Google & Co. Die Akteur*innen treibt die Freude an, der Menschheit etwas Nützliches zur Verfügung zu stellen – und nicht der Zwang, Gewinne zu erwirtschaften. Die Projekte legen transparent ihre Arbeitsweise offen. Zur DNA der digitalen Gegenwelt gehört Datensparsamkeit, die Inhalte, Dienste und Programme sind im doppelten Sinne kostenlos: Man muss sie weder mit Geld noch mit Daten bezahlen. Und man ist nicht nur passiver User, sondern kann oft aktiv mitbestimmen.

Während die Zentren der kommerziellen IT-Welt fast ausschließlich in den USA liegen, spielt für die digitale Gegenwelt Europa und besonders der deutschsprachige Raum eine große Rolle. Die Stiftung hinter der Bürosoftware LibreOffice etwa sitzt in Berlin, Mastodon wurde im thüringischen Jena entwickelt, hinter dem Android-Hack MicroG steht ein junger Informatiker aus Saarbrücken, und die Open Search Foundation rüttelt vom Starnberger See aus an der Suchmaschinen-Vormacht von Google.

Die digitale Gegenwelt ist ein buntes, dicht bewachsenes Ökosystem. Einige Projekte gibt es schon seit Jahrzehnten. Andere sind erst in den letzten Jahren hinzugekommen. Und wieder andere entstehen vielleicht gerade, während dieses Buch gelesen wird.

Wie funktioniert diese magische Welt, die die Macht von Google, Facebook und Apple herausfordert? Wer sind die wichtigsten Vertreter, und welche weniger bekannten Projekte gibt es zu entdecken? Die Zeit ist reif für eine Bestandsaufnahme. Deshalb gibt es dieses Buch.

Wegweiser ins Buch

Kapitel 2 versucht sich an einer Definition und an einer Typologie der digitalen Gegenwelt.

Als Nächstes schauen wir, wie sich die Projekte sozial organisieren. Die Zusammenarbeit in klassischen Unternehmen basiert auf klaren Machtstrukturen und Arbeitsverträgen. Was aber hält nichtkommerzielle Projekte zusammen, an denen Menschen größtenteils in ihrer Freizeit mitwirken?

Kapitel 4 erforscht, wie die Projekte wirtschaftlich funktionieren. Viel entsteht ehrenamtlich. Doch ganz ohne Geld geht es nicht immer. Wie finanziert die digitale Gegenwelt ihre Arbeit?

Zusammengehalten werden die Projekte durch ein Regelwerk von Lizenzen, die die Werte der digitalen Gegenwelt zementieren. Welche Rolle sie spielen und welche Kulturkämpfe es um die Lizenzen gibt, schauen wir uns im fünften Kapitel an.

Das sechste Kapitel nimmt den Umgang mit Daten unter die Lupe. Dass die Programme und Dienste Daten vermeiden und User nicht ausspähen, ist für viele Menschen ein wichtiges Motiv, sie zu nutzen. Bei manchen Projekten hakt es aber genau an diesem Punkt.

Zwischen die Kapitel sind Porträts der zehn wichtigsten Projekte gestreut. Den Anfang machen der Kurznachrichtendienst Mastodon und der Messenger Signal. Es folgen der Browser Firefox, der Kartendienst OpenStreetMap, Wikipedia, die Anonymisierungs- und Anti-Zensur-Software Tor, die «WLAN für alle»-Initiative Freifunk, die Bürosoftware LibreOffice, die Betriebssystem-Familie Linux sowie der Versuch verschiedener Initiativen, ein Google-freies Android-Betriebssystem bereitzustellen. Der Anhang enthält Interviews mit sechs Vertreter*innen der digitalen Gegenwelt, ein Glossar der wichtigsten Begriffe sowie 25 knappe Porträts weiterer wichtiger Projekte.

2

Was ist die digitale Gegenwelt?

Freie Inhalte, freie Plattformen, freie Programme

Die digitale Gegenwelt verweigert sich einer eindeutigen, knappen Definition. Dafür ist sie zu vielfältig und in sich zu widersprüchlich. Es gibt aber typische Merkmale.

Erstens entstehen digitale Gemeingüter: Inhalte, Programme oder Plattformen, die der Menschheit frei zur Verfügung gestellt werden. Diese Güter konkurrieren mit den kommerziellen Produkten der IT-Wirtschaft. Dass es sich um Gemeingüter handelt und sich dieser Status nicht ändert, dafür sorgen spezielle Vertragstexte, die «Open Source»- oder «Creative Commons»-Lizenzen. Sie regeln, dass jede*r die Software und Inhalte kostenlos und ohne Einschränkung nutzen kann. Im Falle von Software schreiben die Lizenzen vor, dass der Quellcode – die Bauanleitung einer Software – öffentlich einsehbar ist, was maximale Transparenz erzwingt. Das Programm darf weitergegeben, verändert und in abgewandelter Form wieder veröffentlicht werden.

Zweitens sind die Projekte typischerweise nichtkommerziell. Die verwendeten Rechtsformen sind die, die man aus der klassischen Zivilgesellschaft kennt: Vereine, Stiftungen oder gemeinnützige GmbHs. Manchmal handelt es sich auch um informelle Zusammenschlüsse, die nur durch die gemeinsame Arbeit und durch gemeinsame Werte zusammengehalten werden.

Außerdem werden die Güter kostenlos zur Verfügung gestellt. Auch Produkte der klassischen Digitalwirtschaft sind oft «Freeware» – allerdings nicht immer. Für das Bürosoftware-Paket Microsoft Office oder das Grafikprogramm Photoshop beispielsweise sind jeweils mehr als 100 Euro fällig. Die Alternativen LibreOffice und GIMP hingegen kosten nichts.

Zu den Kernwerten der digitalen Gegenwelt zählt viertens Datensparsamkeit. Man erzeugt und sammelt möglichst keine oder so wenig wie nötig persönliche Informationen während der Nutzung.

Schließlich bemühen sich die Projekte der digitalen Gegenwelt um eine faire Verteilung von Macht. Es soll keine Kommandostrukturen wie in Unternehmen geben, keine allmächtigen Einzelpersonen oder Cliquen, die in Eigenregie Entscheidungen durchsetzen können. Stattdessen binden die Projekte ihre jeweilige Community in unterschiedlichem Maße ein.

Diese fünf typischen Merkmale kennzeichnen die digitale Gegenwelt: das Bereitstellen von Gemeingütern unter freien Lizenzen, die nichtkommerzielle Ausrichtung, die kostenlose Abgabe der Güter, Datensparsamkeit sowie offene Strukturen.

Allerdings treffen diese Eigenschaften längst nicht auf alle Projekte zu. Bei genauerem Hinsehen sind nicht alle Projekte maximal datensparsam. Die Standardeinstellungen des Firefox-Browsers beispielsweise sehen vor, dass regelmäßig Nutzungsdaten an Google gehen. Und die Strukturen sind nicht immer maximal offen. Die Verhältnisse bei der Stiftung hinter dem Messenger Signal etwa ähneln eher einer Autokratie als einer Basisdemokratie. In seltenen Fällen kosten die Güter der digitalen Gegenwelt auch einmal Geld. Etwa, wenn Computer bereitgestellt werden und zumindest die physischen Herstellungskosten refinanziert werden müssen.

Zudem haben nicht alle Projekte einen nichtkommerziellen Hintergrund. Zu den wundersamen Phänomenen der digitalen Gegenwelt zählt, dass sie zwei unvereinbar wirkende Logiken in Einklang bringt: das Streben nach Gemeingütern und nach Profiten. Linux, eine Familie aus freien Betriebssystemen, ist eine der Säulen der digitalen Gegenwelt. Die Tausende Zeilen an Programmcode entstehen jedoch in einem Miteinander aus unbezahlter und bezahlter Arbeit.

Wirklich alle Projekte verbinden nur die ersten beiden Merkmale: Die digitale Gegenwelt produziert Gemeingüter. Und freie Lizenzen sorgen dafür, dass diese dauerhaft der Allgemeinheit zur Verfügung stehen und nicht privatisiert werden können.

Typologie der digitalen Gegenwelt

Wie sieht diese Vielfalt aus, die sich so schwer in eine Definition pressen lässt? Welche Güter produziert die digitale Gegenwelt?

Freie Inhalte

Wikipedia hat den Umgang mit Wissen demokratisiert. Der Wissensschatz der Menschheit wird nicht mehr innerhalb von geschlossenen Zirkeln echter oder angeblicher Autoritäten zusammengetragen und gegen Gebühren bereitgestellt. Das Projekt lädt alle Menschen ein, ihre Zeit, ihr Wissen und ihren spezifischen Blick auf die Welt einzubringen. Und das so zusammengetragene Wissen steht der Welt kostenlos zur Verfügung.

Wikipedia ist die bekannteste und glamouröseste Vertreterin der digitalen Gegenwelt. Auf wikipedia.org entstehen freie Inhalte. Das ist eine der großen Kategorien der digitalen Gegenwelt, Zielsetzung ist stets die Erstellung oder Befreiung von Wissen.

OpenStreetMap arbeitet an einem anderen großen Menschheitsprojekt, einer gemeinschaftlich erstellten Weltkarte. In gedeckten Pastellfarben sind Straßen und Hausnummern eingezeichnet, Freiflächen, Flüsse und Grünflächen. Tausende Freiwillige erstellen die Karten, oft indem sie Luftbilder oder andere Vorlagen mit technischer Unterstützung abzeichnen. Angereichert wird das Material durch Beobachtungen in der eigenen Umgebung oder auf Reisen.

An der Befreiung von Wissen arbeitet auch WikiLeaks. Das Projekt gehört der Untergruppe der Schattenbibliotheken an. Nicht neue Inhalte entstehen, es werden existierende Dokumente frei verfügbar gemacht, und zwar gegen Widerstände, typischerweise gegen den Willen der jeweiligen «betroffenen» Institutionen.

WikiLeaks veröffentlichte interne Dokumente, die Missstände aufzeigen, oft Dokumente staatlicher Stellen. Diese «Leaks» werden von Insidern aus den Institutionen herausgeschmuggelt, an WikiLeaks geschickt und vom Projekt der Welt zugänglich gemacht.

Sci-Hub hebelt nicht die Grenzen behördlicher Geheimhaltungsvorschriften aus, sondern «befreit» (illegalerweise) die Ergebnisse wissenschaftlicher Arbeit. Will man das Paper einer Studie lesen, stößt man im Internet schnell auf die Bezahlschranke eines großen Wissenschaftsverlags. Gibt man den Link der Paywall hingegen in das Suchfeld von Sci-Hub ein, bekommt man die PDF wie von Zauberhand kostenlos zur Verfügung gestellt.

Freie Programme

Die zweite Kategorie der digitalen Gegenwelt sind Programme. Wenn wir uns ein technisches Gerät als einen Körper vorstellen, wären Programme die einzelnen Sinnesorgane oder Körperteile, über die man die Welt wahrnimmt, mit ihr kommuniziert und sich in ihr bewegt.

Die Webseite von Wikipedia, WikiLeaks oder OpenStreetMap kann man mit einem der großen kommerziellen Browser besuchen – oder mit Firefox, einer nichtkommerziellen Alternative. LibreOffice ist ein nichtkommerzielles Bürosoftware-Paket für PCs und besteht unter anderem aus einem Textprogramm, einem Tabellen- und einem Präsentationsprogramm. VLC ist ein Mediaplayer, der DVDs sowie alle Arten von Video- und Audiodateien abspielt.

Die Software von Firefox, LibreOffice und VLC installiert man auf dem eigenen Gerät. Eine andere Gruppe freier Programme richtet sich speziell an Menschen, die eine Webseite betreiben. Der Web-Baukasten WordPress ermöglicht es, mit wenigen Klicks einen eigenen Blog oder ein Onlinemagazin zu designen. Matomo erlaubt es, die Aktivitäten auf der eigenen Webseite zu analysieren, deutlich datensparsamer als beim sonst zumeist verwendeten Dienst Google Analytics.

Freie Plattformen

Plattformen sind digitale Räume, auf denen Menschen zusammenkommen, kommunizieren und Inhalte verbreiten. Das soziale Miteinander läuft oft über Meta, das Mutterunternehmen des sozialen Netzwerks Facebook, des Messengers WhatsApp und des Bilder-Netzwerks Instagram.

Mit Signal spielt auch ein nichtkommerzieller Akteur ganz oben in der Liga der Plattformen. Der Messenger wird mittlerweile von mehr als 100 Millionen Menschen genutzt.

Der im thüringischen Jena entwickelte Kurznachrichtendienst Mastodon ist eine Alternative zu Twitter (X), funktioniert technisch jedoch komplett anders. Man meldet sich nicht bei einem zentralen Akteur an. Stattdessen hat man die Wahl zwischen Dutzenden kleinen Anbietern, die nahtlos miteinander kommunizieren und eine gemeinsame große Plattform bilden.

Mastodon ist der prominenteste Vertreter des Fediverse, eines Netzwerks technisch ähnlicher Plattformen, die oft die großen kommerziellen Produkte imitieren. Mastodon erinnert an Twitter (X), auf PeerTube kann man im YouTube-Stil Videos veröffentlichen, Pixelfed ist ein Bildernetzwerk à la Instagram, und Friendica ermöglicht lange Textnachrichten im Stil von Facebook.

Freie Betriebssysteme

Wenn Programme die einzelnen Sinnesorgane und Körperteile sind, sind Betriebssysteme die Gehirne technischer Geräte. Sie legen die Spielregeln fest und bekommen alles mit, was auf einem Gerät passiert. Üblicherweise installiert man dieses besondere Stück Software nicht selbst, es wird beim Kauf eines PCs oder Smartphones mitgeliefert. Auf PCs läuft (fast immer) entweder Windows von Microsoft oder macOS von Apple, auf Smartphones iOS von Apple oder Android von Google.

Für PCs gibt es eine nichtkommerzielle Alternative, die Betriebssystem-Großfamilie Linux. Sie besteht aus Hunderten miteinander verwandter Systeme.

Ein Umstieg bei Smartphones gestaltet sich schwieriger. Es gibt zur Zeit kein voll funktionsfähiges, Laien-taugliches, unabhängiges Smartphone-Betriebssystem. Was es allerdings gibt, sind Versuche, das theoretisch freie, aber in der Praxis unfreie Android-System von Google zu befreien. Verschiedene Projekte, die etwa /e/, Graphene oder MicroG heißen, arbeiten an Modellen, wie man Android nutzen kann und dabei vollständig oder größtenteils ohne Komponenten des IT-Konzerns auskommt.

Freie Inhalte, freie Programme, freie Plattformen und freie Betriebssysteme – das sind die vier wichtigsten Felder der digitalen Gegenwelt.

Andere Kategorien sind:

Freie Suche: Die Initiative Open Web Search arbeitet an einem europäischen Suchindex, einem aktuellen Verzeichnis der Inhalte aller Webseiten. Auf dieser Grundlage könnte eines Tages eine unabhängige, nichtkommerzielle Suchmaschine entstehen.

Freier Zugang: Bei der Freifunk-Initiative geben Privatleute einen Teil ihrer Flatrate-Internetverbindung für andere frei. So entsteht im Empfangsbereich des heimischen Internetrouters ein kostenlos nutzbares WLAN-Netzwerk mit dem Namen Freifunk.

Freie Verbindungen: Die Anonymisierungstechnologie Tor verschleiert gegenüber dem eigenen Internetanbieter, was man vorhat. Das ermöglicht anonymes Surfen. In Ländern mit staatlichen Netzsperren wird Tor außerdem genutzt, um an der Zensur vorbei ins freie Netz zu gelangen.

Freie Hardware: Der scheckkartengroße Raspberry Pi besteht nur aus dem eigentlichen Rechenkern. Um den vielseitigen und extrem preiswerten Mini-Computer zu nutzen, muss man externe Ein- und Ausgabegeräte wie einen Bildschirm und eine Tastatur anschließen.

Freie Orte: Darknets sorgen dafür, dass Nutzer*innen standardmäßig anonym sind und Inhalte weder blockiert noch verortet werden können. Sie schaffen eigenständige Räume, die sich kaum kontrollieren lassen. Das bekannteste Darknet basiert auf der Anonymisierungssoftware Tor.

Freie Marktplätze: F-Droid ist ein nichtkommerzieller Marktplatz für Android, der ausschließlich Open-Source-Apps enthält. Das Besondere: Die Apps werden von einem Team auf ihr Datenverhalten hin überprüft.

Mastodon

Das dezentrale Anti-Twitter (X)

Mastodon ist eine freundliche, nichtkommerzielle Alternative zu Twitter (X) und erfindet nebenbei Social Media neu.

Digitale Erfolgsgeschichten beginnen oft im Silicon Valley oder in den großen europäischen Metropolen. Eines der wichtigsten Projekte des nichtkommerziellen Internets jedoch ist im beschaulichen Jena in Thüringen entstanden: Mastodon.

Der Kurznachrichtendienst funktioniert ähnlich wie Twitter (X). Man verfasst kurze Botschaften. Bei Twitter (X) sind es maximal 280, bei Mastodon maximal 500. Man kann anderen Usern folgen, ihre Posts liken, teilen und sich Nachrichten schreiben. Das Logo von Twitter war bis zur Umbenennung zu «X» im Sommer 2023 ein blauer Vogel, das Mastodon-Maskottchen ist ein Mammut. Setzt man Botschaften ab, tweetet («zwitschert») man nicht, sondern «trötet».

Viele einzelne Instanzen

Mastodon ist allerdings nur auf den ersten Blick ein reiner Klon. Der fundamental andere technische Ansatz könnte einige Probleme der zentralisierten Social-Media-Welt lösen. Mastodon setzt auf verteilte Strukturen. Bei Twitter (X), genauso ist es bei Facebook, YouTube, Instagram oder TikTok, legt man sich bei einem Anbieter ein Profil an, der dann über ein digitales Reich von Hunderten Millionen oder gar Milliarden Usern herrscht.

Anders bei Mastodon: Es gibt potenziell unendlich viele Einzelanbieter, die «Instanzen» heißen. Auf allen läuft die von dem Mastodon-Gründer Eugen Rochko entwickelte Software. Rochko selbst betreibt mit Mastodon.social die erste und eine der größten Instanzen mit nach Eigenangaben mehr als 200.000 aktiven Usern. Auch der Chaos Computer Club (chaos.social) und der Verein Digitalcourage (digitalcourage.social) haben eigene Mastodon-Angebote. Es gibt thematisch ausgerichtete Instanzen (wie mastodon.art) und regionale (nrw.social). Die Zahl der monatlichen aktiven User im gesamten Mastodon-Netzwerk schätzt das Projekt im Juli 2023 auf 1,6 Millionen, und es gibt 9100 aktive Instanzen.[1]

Kurz bevor im Oktober 2022 bekannt wurde, dass der Verkauf von Twitter an Musk endgültig abgeschlossen war, rief der ZDF-Satiriker Jan Böhmermann auf Twitter dazu auf, zu Mastodon zu wechseln: «Es ist die Zukunft! Kommt alle! Es ist free und funktioniert wie Twitter!» Er verlinkte seinen eigenen Account und stellte mit det.social auch gleich eine eigene Instanz vor.

Die meisten Instanzen stehen allen offen. Bei anderen muss man eine Anfrage stellen und zugelassen werden. Und wiederum andere sind für einen festen Kreis reserviert. Social.bund.de, vom Bundesdatenschutzbeauftragten betrieben, kann von allen Bundesbehörden und sonstigen staatlichen Akteuren genutzt werden. Die Bundesregierung trötet dort beispielsweise, das Auswärtige Amt, das Social-Media-Team des Bundestags und der Deutsche Wetterdienst.

Ein Mastodon-Profilname sieht wie eine verunglückte E-Mail-Adresse aus. Er beginnt mit einem @, es folgt das gewählte Pseudonym, ein weiteres @ und der Name der Instanz. @[email protected] heißt beispielsweise der Account der Bundesregierung, der des Mastodon-Gründers Eugen Rochko heißt @[email protected].

Das E-Mail-Prinzip auf Social Media übertragen

Die verschiedenen Instanzen formen gemeinsam das Mastodon-Netzwerk und können miteinander kommunizieren. Die User von chaos.social oder det.social sehen auch die Tröts anderer Instanzen und können diese liken, kommentieren und teilen.

Das verteilte Prinzip hinter Mastodon ähnelt dem von E-Mails: Man legt sich bei einem frei gewählten Anbieter eine Adresse zu. Damit kann man Usern des gleichen Anbieters Mails schicken, aber auch mit Nutzer*innen aller anderen Mailanbieter kommunizieren.

Das sorgt für eine Verteilung von Daten-Macht. Daten fallen nicht mehr zentral an einer Stelle an, sondern verteilen sich auf die Instanzen. Man kann frei wählen, wem man seine Daten anvertraut. Auch die Regulierungsmacht ballt sich nicht an einer Stelle. Jede Instanz entscheidet autonom, ob und wie sie moderiert. Verteilung bedeutet außerdem, dass die Kosten für den Betrieb der Server und für die Moderation nicht an nur einer Stelle entstehen. Wenn irgendwann einmal Dutzende oder gar Hunderte Millionen Menschen regelmäßig Mastodon nutzen, verteilen sich auch die Lasten auf viele Schultern.

Inhaltliche Selbstregulierung

Als freie Software kann Mastodon von allen für alle Zwecke eingesetzt werden. Auch Rechte nutzen die Technologie. Das lässt sich technisch nicht verhindern. Das von Donald Trump gegründete Truth Social basiert auf Mastodon, ebenso das Onlineportal Gab, das einige US-Medien als «Twitter für Rassisten» bezeichnet haben.

Eine Antwort auf dieses Problem ist eine Art Verfassung, die der Mastodon-Gründer Rochko 2019 geschrieben hat. Das «Mastodon Server Covenant» definiert technische und organisatorische Grundstandards, etwa dass Instanzen täglich Backups erstellen, um Datenverlust zu vermeiden, und dass Dienste, die schließen, dies mindestens drei Monate im Voraus ankündigen müssen. Die erste und wichtigste Regel aber schreibt eine aktive Moderation gegen Rassismus, Sexismus, Homophobie und Transphobie fest.

Viele Instanzen schließen sich diesem Regelwerk an und kappen die Verbindungen zu Instanzen, die Hassbotschaften nicht moderieren oder sie gar explizit befördern. Deren Inhalte kursieren dann zwar im Internet, tauchen aber nicht im großen, gemeinsamen Netzwerk der Mastodon-Instanzen auf. Dass alle Instanzen miteinander kommunizieren, ist Standard, aber kein Muss. Instanzen können auch nur ausgewählte Verbindungen pflegen oder sich sogar komplett abkapseln.

Eine Antwort auf Elon Musk

Gegründet wurde Mastodon von Eugen Rochko, einem öffentlichkeitsscheuen Informatikstudenten. Kurz nach seinem Studienabschluss an der Uni Jena hat er begonnen, an dem Projekt zu arbeiten. 2016 war Mastodon fertig – und lange Zeit ein in der IT-Szene geachtetes Nischenprojekt. Seine plötzlich gestiegene Bekanntheit im Jahr 2022 hat Mastodon Elon Musk zu verdanken. Der politisch unberechenbare Multimilliardär, der die Bekämpfung von Hassrede für Zensur hält, hatte Twitter für 44 Milliarden US-Dollar gekauft. Das wirkte ein bisschen so, als hätte sich ein großer Junge ein neues Spielzeug zugelegt, mit dem er machen kann, was er will, und genau das auch vorhat.

In Mastodon sahen viele verunsicherte Nutzer*innen des kommerziellen, zentralisierten Kurznachrichtendiensts eine Antwort. Es begann ein langsamer Abwanderungsprozess.

Die Twitter/X-Alternative sitzt mittlerweile nicht mehr im thüringischen Jena, sondern ist jetzt doch in einer der großen europäischen Tech-Metropolen ansässig. Seit 2021 entwickelt Rochko die Mastodon-Software über die in Berlin sitzende gemeinnützige Firma Mastodon gGmbH, die zu 100 Prozent in seinem Besitz ist. Das Projekt arbeitet mit bescheidenen Mitteln. Die gGmbH lebt von Spenden und Sponsorengeldern von Firmen. Spendet man monatlich 500 US-Dollar, erscheint man mit einem Logo und einem Link auf der Startseite von Joinmastodon.org. Für 200 US-Dollar bekommt man einen Platz auf der Sponsor*innen-Unterseite. Und Mastodon hat öffentliche Fördergelder erhalten, über den deutschen Prototype Fund und das Programm Next Generation Internet der EU.

Laut Jahresbericht für die zweite Hälfte 2021 (das Unternehmen wurde erst im Juni des Jahres gegründet), hat die Mastodon gGmbH 55.000 Euro an Spenden und Sponsorengeldern eingenommen. Rochko gibt an, dass er sich ein Monatsgehalt von überschaubaren 2400 Euro ausgezahlt hat.[2] Auf der Team-Seite listet das Projekt im Juli 2023 (inklusive Gründer) elf Personen auf.

Teil des Fediverse

Mastodon ist der bekannteste Vertreter des Fediverse – ein Sammelbegriff für Plattformen, die auf die gleiche dezentrale Art Social Media organisieren. Auf Peertube kann man wie auf YouTube Videos hochladen und streamen. Pixelfeld ist ein Bildernetzwerk à la Instagram, Friendica und Hubzilla erlauben wie Facebook längere Posts. Auf Funkwhale kann man wie auf Soundcloud Musik hochladen.

In seiner Gesamtheit verändert das Fediverse die Logik sozialer Medien radikaler als Mastodon allein. Es sprengt die üblicherweise geschlossenen Inhalte- und User-Silos. Nicht nur die Grenzen zwischen den Instanzen, sondern auch zwischen den einzelnen Plattformen sind offen. Mit einem Mastodon-Profil kann man auch Usern folgen, die Videos auf YouTube posten, Bilder auf Pixelfed oder Musik auf Funkwhale. Das ermöglicht, was bei den großen kommerziellen Plattformen undenkbar wäre: einen nahtlosen Austausch über Anbietergrenzen hinweg.

Mitmachen:

Klickt man auf joinmastodon.org/de auf «Konto erstellen», sieht man eine Liste mit Mastodon-Instanzen, die man unter anderem nach Sprachen und Themen filtern kann.