Der Kinderflüsterer - Alex North - E-Book
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Der Kinderflüsterer E-Book

Alex North

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Beschreibung

Sein Flüstern hinterlässt eine tödliche Spur ... »Lesen auf eigene Gefahr!« A. J. Finn

Nach dem plötzlichen Tod seiner geliebten Frau will Tom Kennedy mit seinem kleinen Sohn Jake neu anfangen. Ein neuer Start, ein neues Haus, eine neue Stadt – Featherbank. Doch der beschauliche Ort hat eine düstere Vergangenheit. Vor zwanzig Jahren wurden in Featherbank fünf Kinder entführt und getötet. Der Mörder wurde unter dem Namen »Kinderflüsterer« bekannt und schließlich gefasst.
Die alten Geschichten interessieren Tom und Jake nicht. Als jedoch ein kleiner Junge verschwindet, machen Gerüchte die Runde, dass der Täter von damals einen Komplizen gehabt habe. Und Jake beginnt, sich merkwürdig zu benehmen. Er sagt, er höre ein Flüstern an seinem Fenster …

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Seitenzahl: 536

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Alex North

Sein Flüstern hinterlässt eine grausame Spur …

Die Originalausgabe erschien 2019 unter dem Titel»The Whisper Man« bei Penguin Books Ltd, London. Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen. Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Copyright der Originalausgabe © 2019 by Alex North The moral rights of the author has been asserted. All rights reserved. Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2019 by Blanvalet in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München Redaktion: Susann Rehlein Covergestaltung: www.buerosued.de Covermotive: Hanka Steidle/Arcangel Images; © Shutterstock.com; www.buerosued.de WR · Herstellung: sam Satz und E-Book: GGP Media GmbH, Pößneck ISBN: 978-3-641-23998-5V007 www.blanvalet.de

Für Lynn und Zack

Jake.

Ich würde dir gern so viel erzählen, aber es ist uns noch nie leichtgefallen, miteinander zu reden, stimmt’s?

Also muss ich dir stattdessen schreiben.

Ich weiß noch genau, wie Rebecca und ich dich aus dem Krankenhaus mit heimgenommen haben. Es war dunkel und hat geschneit, und ich bin vorsichtig gefahren wie noch nie zuvor. Du warst gerade mal zwei Tage alt und auf der Rückbank im Babysitz festgezurrt, Rebecca war neben dir eingenickt, und ich habe immer wieder in den Rückspiegel geschaut, um zu sehen, ob ihr beide sicher wart.

Denn weißt du was? Ich hatte eine Heidenangst. Ich war als Einzelkind aufgewachsen, hatte von Babys keine Ahnung, und trotzdem war ich urplötzlich für eins verantwortlich – für mein eigenes Kind. Du warst unfassbar klein und zerbrechlich, und ich war dermaßen unvorbereitet, dass ich gar nicht begreifen konnte, wie sie mir dich im Krankenhaus hatten anvertrauen können. Wir hatten von Anfang an unsere Schwierigkeiten, du und ich. Rebecca hielt dich so selbstverständlich, so natürlich im Arm, während ich immer ein leicht mulmiges Gefühl und Angst um das verletzliche Bündel in meinem Arm hatte, und wenn du geweint hast, wusste ich nicht, was du brauchtest. Ich konnte dich einfach nicht verstehen.

Das hat sich nie geändert.

Als du ein bisschen älter warst, hat Rebecca mir mal gesagt, es liege daran, dass wir uns so ähnlich seien, aber ob das wirklich stimmt, weiß ich nicht. Ich hoffe nicht; ich habe dir immer etwas Besseres gewünscht.

Aber wie dem auch sei, miteinander reden können wir nicht, deshalb muss ich versuchen, alles niederzuschreiben. Die Wahrheit über all das, was in Featherbank passiert ist.

Mister Night. Der Junge im Boden. Die Falter. Das kleine Mädchen in dem merkwürdigen Kleid.

Und natürlich der Kinderflüsterer.

Das hier wird nicht leicht, und ich muss mich zuallererst entschuldigen. Mit den Jahren habe ich dir unzählige Male erzählt, dass es nichts gibt, wovor man Angst haben muss. Dass es so etwas wie Monster nicht gibt.

Es tut mir leid, dass ich gelogen habe.

Teil eins

Juli

1

Der schlimmste Albtraum von Eltern ist die Entführung ihres Kindes durch einen Fremden. Allerdings ist dies statistisch gesehen ein höchst unwahrscheinliches Ereignis. Die größte Gefahr geht für Kinder tatsächlich von nahen Angehörigen aus und findet hinter verschlossenen Türen statt, und obwohl die Außenwelt bedrohlich erscheinen mag, sind die meisten Fremden in Wahrheit ganz anständige Leute, während das eigene Zuhause oftmals den gefährlichsten Ort darstellt.

Der Mann, der den sechsjährigen Neil Spencer im Visier hatte, wusste das nur zu gut.

Er hielt sich hinter der Hecke leise und konstant auf Höhe des Jungen und ließ ihn nicht aus den Augen. Neil kickte hier und da in den staubigen Boden und wirbelte mit seinen Sportschuhen kreideweiße Wölkchen auf, er hatte keine Eile, wusste nicht, dass er in Gefahr schwebte. Jeden einzelnen Tritt des Jungen konnte der Mann hören. Er selbst machte nicht das geringste Geräusch.

Es war ein warmer Abend. Die Sonne hatte tagsüber mächtig heruntergebrannt, doch inzwischen war es sechs Uhr, die Temperaturen waren gesunken, und die diesige Luft flirrte golden. An einem solchen Abend setzte man sich womöglich noch auf die Terrasse, trank ein Glas gekühlten Weißwein und sah der Sonne beim Untergehen zu, ohne auch nur eine Sekunde darüber nachzudenken, sich eine Jacke zu holen, bis es zu dunkel und zu spät war, um sich noch die Mühe zu machen.

In bernsteinfarbenes Licht getaucht sah sogar dieses Bauland schön aus: ein Stück brach liegendes Gelände am Ortsrand von Featherbank, das zur anderen Seite von einem ehemaligen Steinbruch begrenzt wurde. Der wellige Boden war in weiten Teilen ausgedörrt und tot, auch wenn hier und da Büsche zu struppigen Labyrinthen ineinanderwucherten. Die Kinder aus dem Ort liefen manchmal zum Spielen dorthin, immer wieder gaben welche der Versuchung nach und kletterten in den Steinbruch, obwohl die steil abfallenden Hänge mürbe waren. Die Gemeinde hatte zwar Zäune und Schilder aufgestellt, aber das reichte bei Weitem nicht aus. Schließlich fanden Kinder es aufregend, über Zäune zu klettern. Warnschilder ignorierten sie grundsätzlich.

Der Mann wusste eine ganze Menge über Neil Spencer. Er hatte den Jungen und seine Familie regelrecht studiert. Der Junge war schlecht in der Schule, sowohl was seine Leistungen als auch das Betragen anging, und konnte nicht annähernd so gut lesen, schreiben und rechnen wie seine Klassenkameraden. Er trug die Kleidung von anderen auf. Für sein Alter wirkte er seltsam erwachsen und zeigte schon jetzt eine gewisse Feindseligkeit und Wut auf die Welt. In einigen Jahren würde er als Raufbold und Unruhestifter gelten, auch wenn ihm sein de­struk­ti­ves Verhalten bislang verziehen wurde. »Er meint es nicht so«, sagten die Erwachsenen. »Es ist nicht seine Schuld.« Noch hatte Neil das Alter nicht erreicht, ab dem er für seine Taten verantwortlich gemacht werden konnte, insofern sahen die Leute bereitwillig weg.

Der Mann hatte hingesehen.

Neil hatte den Tag im Haus seines Vaters verbracht. Mutter und Vater hatten sich getrennt, was der Mann wohlwollend zur Kenntnis genommen hatte. Beide Eltern waren Trinker und kamen mal besser, mal schlechter zurecht. Beide fanden ihr Leben wesentlich einfacher, solange der Sohn beim jeweils anderen war, und beide konnten nicht wirklich etwas mit ihm anfangen. Für gewöhnlich wurde Neil sich selbst überlassen, sollte sich selbst durchschlagen, was die zunehmende Härte erklärte, die der Mann an dem Jungen hatte wahrnehmen können. Neil war ein Anhängsel im Leben seiner Eltern. Ein ungeliebtes Anhängsel.

An diesem Abend war Neils Vater nicht zum ersten Mal zu betrunken gewesen, um ihn zurück zum Haus der Mutter zu fahren – und allem Anschein nach zu faul, um ihn zu Fuß zu begleiten. Der Junge war fast sieben und den Tag über doch wunderbar allein zurechtgekommen. Also hatte er Neil auch allein nach Hause geschickt.

Noch hatte er keine Ahnung, dass Neil ein ganz anderes Haus ansteuern sollte. Der Mann musste an das Zimmer denken, das er eigens vorbereitet hatte, und versuchte, seine Vorfreude im Zaum zu halten.

Auf halber Strecke über das Brachgelände hielt Neil inne.

Der Mann blieb ebenfalls stehen und spähte durch das Gestrüpp, um zu sehen, was der Junge entdeckt hatte.

Ein alter Fernseher war neben einem der Büsche entsorgt worden; der gewölbte graue Bildschirm war intakt. Der Mann sah, wie Neil mit dem Fuß leicht gegen das schwere Gerät tippte. Für den Jungen musste es wie ein Relikt aus einem früheren Jahrhundert ausgesehen haben – mit Lüftungsschlitzen und Knöpfen entlang des Bildschirms und einem Korpus von der Größe einer Basstrommel. Jenseits des Trampelpfads lagen ein paar Steine, und der Mann sah fasziniert zu, wie Neil darauf zulief, einen zur Hand nahm und ihn dann mit aller Kraft in das Glas schleuderte.

Pock.

Ziemlich laut an diesem ansonsten stillen Ort. Der Stein schlug ein annähernd sternförmiges kleines Loch in den Bildschirm. Neil griff sich den nächsten Stein und wiederholte das Ganze, warf diesmal daneben und versuchte es direkt wieder. Im Bildschirm prangte ein zweites Loch.

Das Spielchen schien ihm zu gefallen.

Und das konnte der Mann durchaus nachvollziehen. Diese sinnlose Zerstörung spiegelte die zunehmende Aggression wider, die der Junge auch in der Schule an den Tag legte. Er wollte eine Spur in einer Welt hinterlassen, die sich ansonsten um seine Existenz nicht zu scheren schien, und drückte so sein Bedürfnis aus, gesehen zu werden. Wahrgenommen zu werden. Geliebt zu werden.

Tief im Innern wollte jedes Kind doch nichts anderes.

Bei dem Gedanken zog sich ihm das Herz zusammen. Lautlos trat er hinter dem Gestrüpp im Rücken des Jungen hervor und flüsterte dessen Namen.

2

Neil. Neil. Neil.

Vorsichtig schritt DI Pete Willis über das Brachgelände und hörte, wie um ihn herum immer wieder Officers nach dem verschwundenen Jungen riefen. In den Pausen herrschte Stille. Pete blickte auf, stellte sich vor, wie die Rufe in die Dunkelheit über ihnen aufflatterten und sich im Abendhimmel auflösten, genau wie Neil Spencer sich in Luft aufgelöst zu haben schien.

Er schwenkte den Lichtkegel seiner Taschenlampe im Viertelkreis vor sich über den staubigen Boden, um genau zu sehen, wo er hintrat, und eventuelle Spuren des Jungen zu entdecken. Blaue Jogging- sowie Unterhose, ein Minecraft-T-Shirt, schwarze Turnschuhe, Rucksack mit Army-Muster, Wasserflasche. Die Meldung war reingekommen, als er sich gerade zum Abendessen hingesetzt hatte, für das er sich alle Mühe gegeben hatte. Als er an den Teller dachte, der unberührt auf seinem Esstisch stand, knurrte ihm der Magen.

Aber ein kleiner Junge war verschwunden und musste wiedergefunden werden.

In der Dunkelheit waren seine Kollegen unsichtbar, allerdings konnte er die Lichtkegel ihrer Taschenlampen über das Gelände streifen sehen. Pete sah auf die Uhr: 20.35. Der Tag neigte sich dem Ende zu; nach der Hitze des Nachmittags waren die Temperaturen in den vergangenen Stunden rapide gesunken, und er zitterte in der kühlen Luft. Als er in aller Eile aufgebrochen war, hatte er seine Jacke zu Hause hängen lassen, und sein Hemd bot nur wenig Schutz. Dazu die alten Knochen – er war immerhin sechsundfünfzig –, aber selbst für die Jüngeren war dies kein Abend, an dem man sich draußen aufhalten wollte. Ganz besonders nicht, wenn man sich verirrt hatte und ganz allein war. Wahrscheinlich obendrein verletzt.

Neil. Neil. Neil.

»Neil!«, rief auch er zwischendurch.

Nichts.

Wenn jemand verschwindet, sind die ersten achtundvierzig Stunden entscheidend. Der Junge war um 19.39 Uhr als vermisst gemeldet worden, ungefähr anderthalb Stunden nachdem er vom Haus seines Vaters losgelaufen war. Er hätte um 18.20 Uhr daheim sein müssen, allerdings hatten die Eltern sich wohl im Vorhinein nicht allzu genau verständigt, sodass Neils Mutter erst bei ihrem Ex-Mann hatte anrufen und sich erkundigen müssen, bis herauskam, dass ihr gemeinsamer Sohn verschwunden war. Bis die Polizei um 19.51 Uhr am Ort des Geschehens eintraf, waren die Schatten schon länger geworden, und zwei jener entscheidenden achtundvierzig Stunden waren bereits verstrichen. Inzwischen waren es fast drei.

In der großen Mehrzahl der Fälle taucht ein vermisstes Kind schnell und wohlbehalten wieder auf, das wusste Pete. Sie hatten es mit fünf unterschiedlichen Kategorien zu tun: mit Rauswürfen, Ausreißern, Unfällen und anderen Unglücksfällen, mit Entführungen durch Angehörige und schließlich mit Entführungen durch Fremde. Nach dem Gesetz der Wahrscheinlichkeit rechnete Pete im Moment damit, dass ein Unfall der Grund für Neil Spencers Verschwinden war und sie den Jungen bald finden würden. Und doch sagte ihm, je länger er suchte, sein Bauch etwas anderes. Ein mulmiges Gefühl hatte ihn erfasst. Andererseits passierte das jedes Mal, wenn ein Kind verschwand, und hatte nichts weiter zu bedeuten. Es ­waren die unliebsamen Erinnerungen an ein zwanzig Jahre zurückliegendes Ereignis, die jenes mulmige Gefühl mit sich brachten.

Der Lichtkegel seiner Taschenlampe streifte etwas Graues.

Pete blieb stehen und schwenkte die Taschenlampe zurück. Unter einem der Büsche lag ein alter Röhrenfernseher, dessen Bildschirm an mehreren Stellen durchschossen war, als hätte ihn jemand als Zielscheibe benutzt. Er starrte ihn einen Moment lang an.

»Irgendwas gefunden?«, hörte er eine Stimme von der Seite.

»Nein«, rief er zurück.

Er erreichte den entlegenen Rand des Geländes gleichzeitig mit den anderen Officers. Keiner von ihnen hatte etwas entdeckt. Nachdem sie so lange durch die Dunkelheit marschiert waren, wurde Pete bei dem bleichen Licht der Straßenlaternen leicht übel. In der Luft hing ein lebendiges, leises Sirren, das in der Stille der Brache nicht zu hören gewesen war.

Nur Sekunden später nahm er in Ermangelung einer bes­seren Alternative zurück den gleichen Weg übers Gelände. Er war sich nicht ganz sicher, wo er hinwollte, stellte dann aber fest, dass er querfeldein den alten Steinbruch ansteuerte. Im Dunkeln war es hier nicht ungefährlich, und er hielt auf die Lichter der Taschenlampen des Suchtrupps zu, der sich gerade den Steinbruch vornahm. Während andere Officers an der Kante entlangliefen, mit ihren Taschenlampen die steilen Hänge hinableuchteten und nach Neil riefen, studierte dieser Trupp Lagepläne und würde gleich über den steinigen Pfad nach unten klettern. Ein paar von ihnen blickten auf, als er sich zu ihnen gesellte.

»Sir?« Einer hatte ihn wiedererkannt. »Ich wusste gar nicht, dass Sie heute Abend im Dienst sind.«

»Bin ich auch nicht.« Pete schob den Maschendraht in die Höhe und duckte sich darunter durch. Auf dieser Seite würde er umso vorsichtiger auftreten müssen. »Ich wohne bloß hier in der Gegend.«

»Ja, Sir.« Der Officer klang nicht überzeugt.

Bei derlei Routinearbeit tauchte eher selten ein Detective Inspector auf. DI Amanda Beck beispielsweise koordinierte die ersten Maßnahmen bei dieser Ermittlung vom Revier aus; der Suchtrupp selbst bestand hauptsächlich aus Fußvolk. Pete ging davon aus, dass er mehr Jährchen auf dem Buckel hatte als alle anderen hier, trotzdem war er heute nur einer von vielen. Ein Kind war verschwunden, und das bedeutete, dass ein Kind wiedergefunden werden musste. Der Officer war zu jung, um sich an das zu erinnern, was zwei Jahrzehnte zuvor mit Frank Carter passiert war, und um zu verstehen, warum es kein bisschen verwunderlich war, dass sich jemand wie Pete Willis in der derzeitigen Lage hier draußen eingefunden hatte.

»Passen Sie auf, Sir. Der Boden ist hier ziemlich wacklig.«

»Schon in Ordnung.«

Jung genug zudem, dass er ihn anscheinend als Tattergreis ansah. Vermutlich hatte er Pete nie im Fitnessraum des Reviers erlebt, den er allmorgendlich besuchte, ehe er hoch zur Arbeit ging. Trotz des Altersunterschieds wäre Pete jede Wette eingegangen, dass er den jungen Mann an sämtlichen Maschinen geschlagen hätte. Er hatte den Boden hier durchaus im Blick. Alles im Blick zu haben – sich selbst eingeschlossen – war ihm zur zweiten Natur geworden.

»Okay, Sir, also … Dann gehen wir mal runter. Will nur, dass alles seine Ordnung hat.«

»Ich hab hier nicht das Kommando.« Pete richtete seine Taschen­lampe auf den Trampelpfad und suchte das ungesicherte Gelände ab. Der Lichtkegel reichte nicht allzu weit; die Sohle des Steinbruchs glich einem riesigen schwarzen Loch. »Sie berichten an DI Beck, nicht an mich.«

»Ja, Sir.«

Pete starrte auf den Boden vor sich und dachte an Neil Spencer. Sämtliche Wege, die der Junge am wahrscheinlichsten eingeschlagen hatte, hatten sie abgelaufen; die Straßen waren abgefahren worden. Auch die meisten seiner Freunde hatten sie erreicht – doch es hatte niemand etwas gewusst. Und das Brachland war verwaist. Wenn das Verschwinden des Jungen einem Unglück oder Unfall geschuldet war, dann konnte er höchstens noch hier gefunden werden.

Und doch fühlte sich die Schwärze dort unten vollkommen leer an.

Er hätte es nicht mit Sicherheit sagen können – und auch nicht rational erklären –, trotzdem sagte ihm sein Instinkt, dass sie Neil Spencer dort nicht finden würden.

Dass sie ihn überhaupt nicht mehr finden würden.

3

»Weißt du noch, was ich dir erzählt habe?«, fragte das kleine Mädchen.

Klar wusste er es noch, trotzdem gab Jake für den Moment sein Bestes, sie zu ignorieren. Die anderen Kinder aus dem 567 Club spielten draußen in der Sonne. Er konnte sie schreien und den Ball über den Asphalt schlittern hören; gelegentlich prallte er auch gegen eine Mauer. Er selbst war drinnen geblieben und saß über seiner Zeichnung. Am liebsten wäre er allein, um sie fertigzustellen.

Nicht dass er nicht mit dem Mädchen hätte spielen wollen. Natürlich wollte er das. Meistens war sie die Einzige, die überhaupt mit ihm spielen wollte, und normalerweise freute er sich auch, sie zu sehen. An diesem Nachmittag machte sie aber ein ernstes Gesicht und schien nicht zum Spielen aufgelegt zu sein, und das behagte ihm nicht.

»Weißt du es noch?«

»Schon …«

»Dann sag es.«

Er seufzte vernehmbar, legte den Bleistift beiseite und sah sie direkt an. Sie trug wie immer ein blau-weiß kariertes Kleid, und er konnte gerade so die Schürfwunde auf ihrem Knie erkennen, die nie zu heilen schien. Während andere Mädchen sich ordentlich frisierten, schulterlang oder mit Pferdeschwanz, standen ihr die Haare wirr zur Seite ab und sahen aus, als wären sie seit Urzeiten nicht mehr gekämmt worden.

Er konnte ihr ansehen, dass sie nicht klein beigeben würde, und wiederholte, was sie ihm erzählt hatte.

»Wenn die Tür halb offen steht …«

Er war überrascht, dass er sich noch an den Wortlaut erinnerte, aber aus irgendeinem Grund war alles hängen geblieben. Es musste am Rhythmus liegen. Manchmal hörte er ein Lied auf CBBC, und das ging ihm dann stundenlang im Kopf herum. Daddy hatte es Ohrwurm genannt, woraufhin Jake sich vorgestellt hatte, wie die Töne sich seitlich in seinen Kopf bohrten und dann in seinem Hirn herumkreuchten.

Als er alles wiederholt hatte, nickte das Mädchen zufrieden. Jake nahm wieder den Bleistift zur Hand.

»Was soll das überhaupt heißen?«, fragte er.

»Es ist eine Warnung.« Sie rümpfte die Nase. »Na ja – so was in der Art. Als ich noch klein war, haben das die Kinder immer gesagt.«

»Ja, aber was soll es heißen?«

»Ist bloß ein guter Rat«, sagte sie. »Immerhin gibt es eine Menge schlechter Menschen auf der Welt. Eine Menge schlimmer Dinge. Da ist es gut, so was im Hinterkopf zu behalten.«

Jake runzelte die Stirn und wandte sich wieder seiner Zeichnung zu. Schlechte Menschen. Es gab da diesen älteren Jungen, Carl, hier im 567 Club, der Jakes Ansicht nach ein schlechter Mensch war. Erst vergangene Woche hatte Carl sich vor ihm aufgebaut, als Jake gerade ein Legoschloss gebaut hatte, kam viel zu dicht heran und lehnte sich wie ein bedrohlicher Schatten über ihn.

»Warum holt dich eigentlich immer dein Dad von hier ab?«, wollte Carl wissen, auch wenn er die Antwort bereits kannte. »Weil deine Mum tot ist, oder?«

Jake reagierte nicht darauf.

»Wie sah sie eigentlich aus, als du sie gefunden hast?«

Auch diesmal antwortete er nicht. Von den Albträumen mal abgesehen dachte er nicht darüber nach, wie es gewesen war, Mummy an jenem Tag zu finden. Sonst wurde sein Atem ganz holprig und funktionierte nicht ordentlich. Trotzdem kam er um eine Tatsache nicht herum: Sie war nicht mehr da.

Er erinnerte sich wieder an einen Tag in ferner Vergangenheit, an dem er durch die Küchentür gespäht und einen Blick auf sie erhascht hatte, als sie gerade eine große rote Paprika aufschnitt und das Innere herausholte.

»Hallo, süßer Junge.«

So hatte sie ihn genannt, als sie ihn entdeckte. Sie nannte ihn immer so. Das Gefühl, wenn er wieder daran dachte, dass sie tot war, war genau wie das Ratschen beim Aufschneiden der Paprika – als wäre irgendetwas aus ihm herausgerissen worden.

»Ich würd ja gern sehen, wie du heulst wie ein Baby«, hatte Carl gesagt und war dann gleichgültig weggegangen.

Die Vorstellung, dass die Welt voll von solchen Leuten sein sollte, behagte Jake nicht, und er wollte es auch nicht glauben. Inzwischen zeichnete er bloß noch Kreise auf sein Blatt Papier. Kraftfelder rund um die kleinen, miteinander kämpfenden Strichmännchen.

»Alles in Ordnung, Jake?«

Er blickte auf. Es war Sharon, eine der Erwachsenen, die im 567 Club arbeiteten. Sie hatte ganz hinten Geschirr gespült, war jetzt aber rübergekommen, hatte sich zu ihm vorgebeugt und die Hände zwischen die Knie geschoben.

»Ja«, antwortete er nur.

»Ist ein tolles Bild geworden.«

»Es ist noch nicht fertig.«

»Was soll’s denn werden?«

Er überlegte kurz, wie er ihr erklären sollte, was für einen Kampf er da zeichnete – die gegnerischen Seiten, dann die Linien dazwischen und die Kritzeleien über denen, die verloren hatten –, aber das wäre zu kompliziert geworden.

»Bloß ein Kampf.«

»Sicher, dass du nicht draußen mit den anderen Kindern spielen willst? Es ist so ein schöner Tag.«

»Nein danke.«

»Wir haben noch Sonnencreme da.« Sie sah sich um. »Bestimmt ist auch noch irgendwo ein Sonnenhut.«

»Ich muss das Bild fertig malen.«

Sharon richtete sich wieder gerade auf und seufzte in sich hinein, blickte aber immer noch freundlich drein. Sie machte sich Sorgen um ihn, und obwohl das nicht nötig gewesen wäre, war das wohl trotzdem irgendwie nett. Jake konnte immer genau sagen, wenn Leute sich Sorgen um ihn machten. Bei Daddy war das sehr oft der Fall, außer wenn ihm der Geduldsfaden riss. Dann brüllte er ihn an und sagte Sachen wie: »Ich will doch nur, dass du mit mir redest, ich will einfach nur wissen, was du denkst und fühlst«, und wenn das passierte, wurde Jake angst und bange, weil er dann immer das Gefühl hatte, dass er Daddy enttäuschte und traurig machte. Allerdings hätte er nicht gewusst, wie er sich anders verhalten sollte.

Wieder und wieder im Kreis herum – noch ein Kraftfeld, sich überschneidende Linien. Oder war das eher ein Portal? Damit diese kleine Figur sich dem Kampf entziehen und irgendwohin flüchten könnte, wo es besser wäre. Jake drehte den Bleistift um und fing vorsichtig an, die Figur auszuradieren.

So. Jetzt bist du sicher, wo immer du steckst.

Einmal, als Daddy ausgerastet war, hatte Jake später einen Brief auf seinem Bett gefunden. Darauf war eine echt gute Zeichnung von ihnen beiden gewesen, sie hatten gelächelt auf dem Bild, und darunter hatte Daddy geschrieben:

Es tut mir leid. Ich hoffe, du weißt, dass wir einander immer noch lieb haben, auch wenn wir streiten.

Jake hatte den Brief in sein Päckchen mit Besonderen Sachen gelegt, wo auch die anderen wichtigen Dinge steckten, die er aufbewahren wollte.

Er sah sofort nach. Das Päckchen lag auf dem Tisch direkt vor ihm, gleich neben der Zeichnung.

»Du ziehst bald in euer neues Haus«, sagte das Mädchen.

»Ach, echt?«

»Dein Daddy ist heute bei der Bank gewesen.«

»Ich weiß. Er sagt aber, es ist nicht sicher, ob das noch klappt. Vielleicht geben sie ihm nicht diese Sache, die er dafür braucht.«

»Den Kredit«, erklärte das Mädchen geduldig. »Aber es wird schon klappen.«

»Woher willst du das wissen?«

»Er ist doch ein berühmter Schriftsteller, oder? Er ist gut darin, sich Sachen auszudenken.« Sie warf einen Blick auf seine Zeichnung und lächelte in sich hinein. »Genau wie du.«

Jake fragte sich, was das Lächeln zu bedeuten hatte. Es hatte merkwürdig ausgesehen, als wäre sie fröhlich und gleichzeitig traurig. Im selben Moment dämmerte ihm, dass er über den Umzug ganz ähnlich dachte. Er fühlte sich zu Hause nicht mehr wohl, und ihm war klar, dass Daddy es dort ebenfalls nicht mehr mochte, trotzdem fühlte es sich an, als sollten sie besser nicht umziehen, auch wenn er auf Daddys iPad das neue Haus entdeckt hatte, als sie gemeinsam gesucht hatten.

»Wir sehen uns aber trotzdem noch, auch wenn ich umziehe?«, fragte er.

»Na klar. Das weißt du doch.« Als sie sich dann aber vorbeugte, sagte sie eindringlich: »Egal was passiert, denk immer an das, was ich dir gesagt habe. Das ist wirklich wichtig. Versprich mir das, Jake.«

»Versprochen. Aber was soll das heißen?«

Für einen kurzen Moment glaubte er, sie würde noch ein bisschen mehr erzählen, doch dann klingelte es am anderen Ende des Raums.

»Zu spät«, flüsterte sie. »Dein Daddy ist da.«

4

Als ich vor dem 567 Club ankam, schienen die meisten Kinder draußen zu spielen. Ich konnte das Durcheinander aus lachenden Stimmen hören. Sie sahen alle so fröhlich aus – so normal –, und für einen kurzen Moment glitt mein Blick zwischen ihnen hin und her und suchte nach Jake. Ich hatte die Hoffnung, ihn dort irgendwo zu entdecken.

Aber natürlich war mein Sohn nicht da.

Stattdessen fand ich ihn drinnen, er saß mit dem Rücken zu mir über eine Zeichnung gebeugt. Mir brach das Herz bei seinem Anblick. Jake war klein für sein Alter, und so wie er in diesem Moment dasaß, sah er noch winziger aus und verletzlicher denn je. Als wollte er in das Bild, das vor ihm lag, hineinverschwinden.

Aber wer wollte es ihm verübeln? Er hasste es hier, das wusste ich, auch wenn er sich nie dagegen wehrte, dass ich ihn herbrachte, oder sich im Nachhinein beschwerte. Aber ich hatte keine Wahl. Seit Rebecca gestorben war, hatte es schon so viele unerträgliche Situationen gegeben: den ersten Friseurtermin, zu dem ich ihn hatte bringen müssen; eine Schuluniform bestellen; mit ungeschickten Fingern und tränenblind Weihnachtsgeschenke einpacken. Die Liste war endlos. Aber aus unerfindlichen Gründen waren die Schulferien das Allerschlimmste. Sosehr ich Jake liebte, konnte ich unmöglich den ganzen Tag mit ihm verbringen. Ich hatte das Gefühl, dass sonst nicht genügend von mir übrig bliebe, und während ich mich dafür verabscheute, nicht der Vater sein zu können, den er gebraucht hätte, brauchte ich in Wahrheit auch Zeit für mich selbst. Um zu vergessen, wie fremd wir uns waren. Um meine wachsende Unfähigkeit zu vergessen, dies alles zu meistern. Um immer mal zusammenbrechen und weinen zu können, ohne dass er ins Zimmer platzte und mich dabei ertappte.

»Hey, mein Freund.«

Ich legte ihm die Hand auf die Schulter. Er blickte nicht mal auf.

»Hallo, Daddy.«

»Was hast du so getrieben?«

»Ach, nichts.«

Unter meiner Hand konnte ich ein kleines Schulterzucken spüren. Sein Körper schien kaum zu existieren, fühlte sich irgendwie sogar leichter und weicher an als das T-Shirt, das er anhatte.

»Hab ein bisschen mit jemandem gespielt.«

»Mit welchem jemand denn?«, hakte ich nach.

»Mit einem Mädchen.«

»Das ist ja nett.« Ich beugte mich vor und betrachtete das Blatt Papier. »Und gezeichnet hast du auch, wie ich sehe.«

»Findest du es gut?«

»Klar. Ich find’s großartig.«

Um ehrlich zu sein, hatte ich keine Ahnung, was es darstellen sollte – irgendeine Schlacht, auch wenn ich unmöglich hätte sagen können, wer auf welcher Seite stand oder was da überhaupt vor sich ging. Jake zeichnete selten etwas Statisches, seine Bilder sprühten über vor Leben, auf dem Papier entfaltete sich eine Handlung, sodass das Endergebnis eher einem Film gleichkam, in dem man sämtliche Szenen gleichzeitig vor sich sah, weil sie übereinandergelegt worden waren.

Aber er war kreativ, und das gefiel mir. Das war eins der Dinge, die wir gemeinsam hatten – eine Verbindung zwischen uns beiden. Auch wenn ich ehrlich gesagt in den zehn Monaten, seit Rebecca gestorben war, kaum ein Wort geschrieben hatte.

»Ziehen wir in dieses neue Haus, Daddy?«

»Ja.«

»Dann hat der Mann von der Bank dir zugehört?«

»Sagen wir es mal so: Ich war kreativ und überzeugend genug, was meine prekären Finanzen angeht.«

»Was heißt ›prekär‹?«

Ich war fast überrascht, dass er das nicht wusste. Vor einer halben Ewigkeit hatten Rebecca und ich uns darauf geeinigt, dass wir mit Jake wie mit einem Erwachsenen reden wollten, und wann immer er ein Wort nicht kannte, wollten wir es ihm erklären. Er hatte alles in sich aufgesaugt, was immer wieder zu merkwürdigen Situationen geführt hatte. Aber dieses Wort wollte ich ihm im Augenblick lieber nicht erklären.

»Das heißt, darum sollten sich der Mann von der Bank und ich uns Gedanken machen«, antwortete ich. »Nicht du.«

»Und wann ziehen wir um?«

»So schnell wie möglich.«

»Und wie transportieren wir alles?«

»Wir mieten uns einen Laster.« Ich musste wieder an meine Finanzen denken und schluckte den Anflug von Panik hinunter. »Oder vielleicht nehmen wir auch einfach das Auto, packen es bis unters Dach voll und fahren dann ein paarmal hin und her. Womöglich können wir nicht alles mitnehmen. Aber wir könnten mal deine Spielsachen durchgehen und sehen, was du noch behalten willst.«

»Ich will alles behalten.«

»Das sehen wir dann, okay? Du musst nichts wegwerfen, was du behalten willst. Aber für eine ganze Menge davon bist du inzwischen zu alt. Vielleicht hätte ein anderer kleiner Junge ja mehr Spaß daran.«

Jake antwortete nicht. Er mochte zu alt für die Spielsachen sein, aber jeder einzelne Gegenstand war mit Erinnerungen verknüpft. Rebecca war, was Jake betraf, immer besser in allem gewesen. Auch was das Spielen anging. Ich konnte sie immer noch vor mir sehen, wie sie auf dem Boden kniete und Spielfiguren hierhin und dorthin schob. Stundenlang und in vielerlei Hinsicht so wunderbar geduldig mit ihm, wie ich selbst es nur schwer hinbekommen hatte. Sie hatte all seine Spielsachen in der Hand gehabt – ihre Fingerabdrücke unsichtbare Zeugnisse ihrer Anwesenheit in seinem Leben.

»Wie gesagt, du musst nichts wegwerfen, was du behalten willst.«

Was mich an sein Päckchen mit Besonderen Sachen erinnerte. Es lag auf dem Tisch neben der Zeichnung: eine abgegriffene Lederhülle von der Größe eines Buchs, das man über drei Kanten mit einem Reißverschluss verschließen konnte. Ich hatte keinen Schimmer, was das früher einmal gewesen war. Es sah aus wie ein großer Filofax ohne Seiten, aber weiß der Himmel, was Rebecca damit hatte anstellen wollen.

Meine Frau war ihr Leben lang eine Sammlerin gewesen, wenn auch eine organisierte, und viele ihrer Besitztümer hatten in Kisten in der Garage gelagert. Ein paar Monate nach ihrem Tod brachte ich einige davon nach drinnen und sah den Inhalt durch. Ich fand Dinge, die bis in ihre Kindheit zurückreichten, in eine Zeit, die mit unserem gemeinsamen Leben nicht das Geringste zu tun hatte. Irgendwie fühlte es sich an, als müsste das Ganze so einfacher für mich sein, aber das war nicht der Fall. Die Kindheit ist eine glückliche Zeit oder sollte es zumindest sein, trotzdem war mir immerzu klar, dass diese hoffnungsfrohen, sorglosen Gegenstände allesamt auf ein unglückliches Ende verwiesen. Mir kamen die Tränen. Jake kam zu mir, legte mir die Hand auf die Schulter, und als ich nicht sofort reagierte, schlang er mir seine dünnen Arme um den Hals. Anschließend sahen wir einige Dinge gemeinsam durch, und bei der Gelegenheit stieß er auf das, was sein Päckchen werden sollte, und fragte mich, ob er es behalten dürfe. Na klar, sagte ich. Er hätte alles haben dürfen, was er wollte.

Das Päckchen war damals leer gewesen, und er fing an, es zu befüllen. Einige Sachen stammten aus Rebeccas Nachlass – Briefe und Fotos und Modeschmuck. Dazu kamen einige seiner Zeichnungen und andere Gegenstände, die ihm wichtig waren. Ab diesem Moment hatte er das Päckchen jederzeit bei sich wie eine Hexe ihren dienstbaren Geist, und abgesehen von einer Handvoll Sachen hatte ich keinen Schimmer, was drinsteckte. Ich hätte aber auch nicht nachgesehen, selbst wenn ich gekonnt hätte. Es waren schließlich seine Besonderen Sachen, und darauf hatte er alles Recht dieser Welt.

»Komm jetzt, Kumpel«, sagte ich. »Pack zusammen, dann fahren wir.«

Er faltete die Zeichnung und drückte sie mir in die Hand. Was immer darauf abgebildet war, war eindeutig nicht wichtig genug, um in dem Päckchen zu landen. Danach griff er selbst, trug es quer durch den Raum zur Tür, neben der seine Wasserflasche an einem Haken hing. Ich drückte auf den grünen Knopf an der Wand, die Tür ging auf, und ich warf noch einen Blick über die Schulter. Sharon stand am Waschbecken und spülte ab.

»Willst du gar nicht Tschüss sagen?«, fragte ich Jake.

Noch in der Tür drehte er sich um und blickte für einen Augenblick traurig drein. Ich hatte eigentlich damit gerechnet, dass er sich von Sharon verabschieden würde, doch stattdessen winkte er in Richtung des leeren Tischs, an dem er gesessen hatte, als ich gekommen war.

»Tschüss«, rief er. »Ich denk dran, versprochen.«

Und noch ehe ich etwas sagen konnte, schlüpfte er unter meinem Arm hindurch nach draußen.

5

An dem Tag, als Rebecca starb, hatte ich Jake allein abgeholt. Eigentlich hatte ich meinen Schreibtag, und als Rebecca mich bat, Jake an ihrer Stelle abzuholen, war ich erst mal verärgert. In ein paar Monaten würde ich mein neues Manuskript einreichen müssen, ich hatte an jenem Tag noch nichts zustande gebracht und zählte darauf, in einem halbstündigen Endspurt noch ein Wunder zu vollbringen. Doch Rebecca sah blass und zittrig aus, also machte ich mich auf den Weg.

Auf der Rückfahrt gab ich mein Bestes und erkundigte mich bei Jake, wie sein Tag gelaufen war, allerdings mit wenig Erfolg. So war es jedes Mal. Entweder konnte er sich nicht erinnern – oder er wollte nicht reden. Wie immer fühlte es sich für mich an, als hätte er Rebeccas Fragen liebend gern beantwortet – was mich zusammen mit meiner anhaltenden Schreibblockade umso angespannter und unsicherer machte. Zu Hause sprang er wie der geölte Blitz aus dem Auto. Ob er zu Mummy laufen dürfe? »Klar«, sagte ich, »aber sie hat sich nicht wohlgefühlt, sei also lieb zu ihr – und vergiss nicht, die Schuhe auszuziehen, du weißt, dass Mummy es nicht mag, wenn wir Schmutz reintragen.«

Ich selbst trödelte noch ein bisschen am Auto herum, dachte darüber nach, was für ein elender Versager ich war. Langsam schlenderte ich nach drinnen, legte in aller Seelenruhe meine Sachen in der Küche ab – und bemerkte, dass mein Sohn seine Schuhe nicht an der Tür ausgezogen hatte. Natürlich nicht – weil er nie auf mich hörte. Im Haus war es mucksmäuschenstill. Ich nahm an, dass Rebecca sich oben hingelegt hatte und Jake zu ihr hochgelaufen und bei ihnen alles in bester Ordnung war. Nur bei mir nicht.

Erst als ich ins Wohnzimmer ging, entdeckte ich Jake an der Wand vor der Tür zur Treppe. Er starrte auf irgendwas am Boden hinab, was ich nicht sehen konnte. Er stand stocksteif da; was immer er dort anstarrte, schien ihn regelrecht zu hypnotisieren. Erst als ich langsam auf ihn zuging, sah ich, dass er gar nicht reglos dastand, sondern zitterte. Und dann sah ich Rebecca, die am Fuß der Treppe lag.

Danach ist alles wie ausradiert. Ich weiß, dass ich Jake von dort weggezogen habe. Ich weiß, dass ich den Notarzt gerufen habe. Ich weiß, dass ich all diese richtigen Sachen gemacht habe. Aber ich kann mich nicht mehr daran erinnern.

Das Schlimmste war, dass ich außerdem wusste – auch wenn er mit mir nie darüber gesprochen hat –, dass Jake sich an alles erinnerte.

Zehn Monate später standen in unserer Küche sämtliche Oberflächen mit Tellern, Bechern und Schüsseln voll, und das bisschen noch sichtbare Arbeitsfläche war von Flecken und Bröseln übersät. Überall im Wohnzimmer lag jede Menge Spielzeug herum. Es sah aus, als hätten wir längst unsere Habseligkeiten durchgesehen und beiseitegeräumt, was wir mitnehmen wollten, während der ganze Rest wie Abfall liegen geblieben war. Schon seit Monaten lag über diesem Haus ein Schatten, der mit jedem Tag dunkler wurde. Es fühlte sich an, als hätte unser Zuhause mit Rebeccas Tod angefangen zu zerfallen. Andererseits war sie auch immer das Herzstück gewesen.

»Kann ich mein Bild wiederhaben, Daddy?«

Jake hatte sich auf den Boden gehockt und sammelte die Filzstifte vom Morgen ein.

»Wie heißt das Zauberwort?«

»Bitte.«

»Klar kannst du.« Ich legte es neben ihn. »Schinkenbrot?«

»Kann ich stattdessen Süßigkeiten haben?«

»Hinterher.«

»Okay.«

Ich machte ein bisschen Platz in der Küche und bestrich zwei Scheiben Brot mit Butter, legte dann drei Scheiben Schinken dazwischen und schnitt es in Viertel. Ein Versuch, die Depression zurückzudrängen. Einen Fuß vor den anderen setzen. In Bewegung bleiben.

Widerwillig dachte ich an das zurück, was im 567 Club vorgefallen war: dass Jake dem leeren Tisch zugewinkt hatte. Soweit ich mich erinnern konnte, hatte mein Sohn immer schon imaginäre Freunde gehabt. Er war immer ein Einzelgänger gewesen; er hatte etwas derart Verschlossenes, Introspektives an sich, dass andere Kinder sich lieber von ihm fernhielten. An guten Tagen konnte ich so tun, als wäre er in seiner eigenen Welt mit sich selbst glücklich und zufrieden. Ich konnte mir einreden, dass alles in Ordnung wäre. Doch die meiste Zeit machte ich mir einfach nur Sorgen.

Warum konnte Jake nicht sein wie die anderen Kinder? Irgendwie normaler?

Es war ein hässlicher Gedanke, ich weiß, aber ich wollte ihn doch nur beschützen. Die Welt konnte brutal sein, wenn man so still und in sich gekehrt war wie er, und ich wollte nicht, dass er durchmachen musste, was ich in seinem Alter erlebt hatte.

Bislang hatten sich seine imaginären Freunde nur ganz subtil gezeigt – in Form kurzer Gespräche, die er hier und da mit sich selbst führte –, das vorhin war das erste Mal gewesen, dass er vor anderen Leuten mit einer erfundenen Freundin inter­agiert hatte. Und das machte mir ein bisschen Angst.

Rebecca hatte nie Angst gehabt. »Es geht ihm gut – lass ihn einfach so sein, wie er ist.« Und da sie sich in den meisten Dingen besser auskannte als ich, hatte ich es immer so hingenommen. Aber inzwischen fragte ich mich, ob er nicht ernsthaft Hilfe brauchte.

Das war eine weitere Sache, mit der ich hätte klarkommen müssen, nur wusste ich nicht, wie. Ich wusste einfach nicht, wie ich mich richtig verhalten oder wie ich ihm ein guter Vater sein sollte. Gott, ich wünschte mir, Rebecca wäre noch da.

Du fehlst mir …

Nur dass dieser Gedanke mir die Tränen in die Augen trieb. Also verscheuchte ich ihn und nahm stattdessen den Teller in die Hand. Im selben Moment hörte ich Jake im Wohnzimmer vor sich hin murmeln.

»Ja.« Und dann, wie zur Antwort auf etwas, das ich nicht gehört hatte: »Ja, ich weiß.«

Leise lief ich zur Tür, ging aber nicht hinein – blieb einfach nur stehen und hörte zu. Ich konnte Jake nicht sehen, aber das Licht, das am anderen Ende des Zimmers durchs Fenster fiel, warf seinen Schatten über die Couch: eine amorphe Figur, nicht als menschlich erkennbar, aber beweglich, als würde er auf den Knien vor- und zurückschaukeln.

»Ich denk dran.«

Dann herrschte für ein paar Sekunden Stille, in der ich bloß meinen eigenen Herzschlag hörte. Schlagartig wurde mir bewusst, dass ich die Luft angehalten hatte. Als er wieder redete, klang er verärgert, war laut geworden.

»Ich will es aber nicht sagen!«

In diesem Moment trat ich über die Schwelle.

Jake kauerte noch immer genau an der Stelle am Boden, wo er zuletzt gesessen hatte, nur dass er jetzt zur Seite starrte und sein Bild nicht mehr beachtete. Ich folgte seinem Blick. Natürlich war dort niemand – trotzdem konzentrierte er sich derart auf die leere Stelle, dass man sich dort irgendeine Art Präsenz in der Luft bildhaft vorstellen konnte.

»Jake?«, sagte ich leise.

Er sah mich nicht an.

»Mit wem redest du?«

»Mit niemandem.«

»Ich hab dich aber reden hören.«

Erst jetzt drehte er sich ein Stück um, nahm seinen Stift in die Hand und widmete sich wieder der Zeichnung. Ich machte noch einen Schritt nach vorn.

»Könntest du den mal hinlegen und mir antworten, bitte?«

»Warum?«

»Weil es wichtig ist.«

»Ich hab mit niemandem geredet.«

»Wie wär’s dann, du legst den Stift weg, einfach weil ich es dir gesagt habe?«

Aber er malte weiter, inzwischen geradezu inbrünstig, der Stift zog verzweifelte Kreise um die kleinen Figuren auf dem Papier.

Mein Frust schlug um in Ärger. Jake wirkte auf mich allzu oft wie ein Problem, das ich nicht lösen konnte – und ich verabscheute mich dafür, dass ich so hilf- und erfolglos war. Gleichzeitig nahm ich ihm übel, dass er mir nie auch nur einen Hinweis gab, mir nie irgendwie entgegenkam – ich wollte ihm schließlich helfen, ich wollte sicherstellen, dass es ihm gut ging, hatte aber das Gefühl, dass ich das allein nicht hinbekam.

Ich spürte, wie ich den Teller umklammerte.

»Dein Brot ist fertig.«

Ich stellte es auf dem Sofa ab und wartete nicht, ob er sich von seiner Zeichnung abwandte. Stattdessen lief ich sofort ­zurück in die Küche, lehnte mich an die Arbeitsfläche und schloss die Augen. Aus irgendeinem Grund hatte ich Herz­rasen.

Du fehlst mir so sehr, sagte ich in Gedanken zu Rebecca. Ich wünschte mir, du wärst hier – aus so vielen Gründen, aber im Augenblick, weil ich nicht glaube, dass ich das hier allein schaffe.

Dann fing ich an zu weinen. Es war mir egal. Jake würde entweder weiterzeichnen oder sein Abendbrot essen, aber ganz sicher nicht in die Küche kommen. Warum auch, wenn er hier ohnehin nur mich vorfinden würde? Insofern war es okay. Sollte mein Sohn doch weiter leise mit Leuten reden, die nicht existierten. Solange ich genauso leise war, konnte ich das auch.

Du fehlst mir.

An diesem Abend trug ich Jake wie immer nach oben ins Bett. So ging es seit Rebeccas Tod jeden Tag. Er weigerte sich, an der Stelle vorbeizugehen, wo er sie gefunden hatte, und klammerte sich stattdessen an mir fest, hielt die Luft an und presste sein Gesicht an meine Schulter. Jeden Morgen, jeden Abend und wann immer er ins Bad musste. Ich verstand ihn ja, aber allmählich wurde er zu schwer für mich, und zwar in mehr­facher Hinsicht.

Hoffentlich würde sich das bald ändern.

Sobald er im Bett lag, ging ich wieder nach unten und setzte mich mit einem Glas Wein und meinem iPad aufs Sofa und rief die Webseite mit unserem neuen Haus auf. Die Fotos zu sehen bescherte mir auf ganz andere Art ein unbehagliches Gefühl.

Tatsächlich war es Jake, der sich das Haus ausgesucht hatte. Den Reiz daran hatte ich anfangs nicht sehen können. Es war ein kleines, frei stehendes Gebäude – alt, zweigeschossig, mit der Aura eines abgewohnten Cottages. Trotzdem war daran irgendwas seltsam. Die Fenster waren merkwürdig angeordnet, sodass man sich die Innenräume nur schwer vorstellen konnte, und das Dach fiel leicht zur Seite ab, sodass es aussah, als würde sich die Fassade misstrauisch oder verärgert zur Seite beugen. Außerdem war da ein vages Kitzeln in meinem Hinterkopf. Irgendetwas an dem Haus irritierte mich.

Jake hingegen war vom ersten Moment an darauf fixiert gewesen. Das Haus hatte ihn in seinen Bann geschlagen, und zwar so sehr, dass er sich andere Häuser gar nicht erst ansehen wollte.

Er war beim ersten Besichtigungstermin dabei und fast schon hypnotisiert gewesen. Ich hatte mich damals immer noch nicht dafür erwärmen können. Die Größe war schon in Ordnung, aber es war schmuddelig: überall staubige Schränke und Stühle, bündelweise alte Zeitungen, Pappkartons, eine Matratze in einem der oberen Zimmer. Die Besitzerin, eine ­ältere Dame namens Mrs. Shearing, entschuldigte sich vielmals – die Sachen gehörten samt und sonders ihrem Mieter, erklärte sie, und wären bis zur Unterzeichnung des Kaufvertrags verschwunden.

Doch Jake blieb hartnäckig, also machte ich einen zweiten Besichtigungstermin aus – und diesmal fuhr ich ohne ihn hin. Erst da fing ich an, das Haus mit anderen Augen zu sehen. Ja, es hatte etwas Merkwürdiges an sich, aber es hatte auch einen gewissen Straßenköter-Charme. Und was beim ersten Mal noch wie Verärgerung auf mich gewirkt hatte, schien mir jetzt eher Skepsis zu sein – als hätte das Haus in der Vergangenheit Schaden genommen, und man müsste sich sein Vertrauen erst erarbeiten.

Es hatte Charakter, fand ich.

Trotzdem hatte ich bei dem Gedanken, umziehen zu müssen, eine Heidenangst. Tatsächlich hatte an jenem Nachmittag ein Teil von mir gehofft, der Bankberater hätte die Halbwahrheiten, die ich ihm über meine finanzielle Lage aufgetischt hatte, durchschaut und meinen Kreditantrag abgeschmettert. Andererseits war ich erleichtert. Wenn ich mich in unserem Wohnzimmer zwischen den verstaubten Überbleibseln eines Lebens umsah, das wir mal gehabt hatten, war einfach nur offensichtlich, dass wir so nicht mehr weitermachen konnten. Ganz gleich welche Schwierigkeiten uns erwarteten – unser altes Haus würden wir verlassen müssen. Und ganz gleich wie schwer die kommenden Monate werden würden – der Umzug war wichtig für meinen Sohn. Für uns beide.

Wir mussten noch einmal ganz neu anfangen. Irgendwo, wo er nicht die Treppe hoch- und runtergetragen werden musste. Wo er Freunde außerhalb seines Kopfs finden konnte. Wo ich nicht an jeder Ecke Gespenster sah.

Als ich mir das Haus jetzt von Neuem ansah, hatte ich den Eindruck, dass es auf verquere Weise zu Jake und mir passte. Dass es – genau wie wir auch – eine Art Außenseiter war, dem es schwerfiel, sich zu integrieren. Dass wir uns aneinander gewöhnen würden. Sogar der Name des Dorfes klang heimelig und gemütlich.

Featherbank.

Es klang wie ein Ort, an dem wir in Sicherheit wären.

6

Genau wie Pete Willis wusste auch DI Amanda Beck, wie wichtig die ersten achtundvierzig Stunden waren. Sie hatte ihr Team für die nächsten zwölf Stunden beordert, sämtliche Wege abzusuchen, die Neil Spencer genommen haben mochte, seine Angehörigen zu befragen und daraufhin ein Profil des verschwundenen Jungen zu erstellen. Sie schossen Fotos, spielten verschiedene Hypothesen durch. Und dann am folgenden Morgen um Punkt neun Uhr hielten sie eine Pressekonferenz ab und gaben eine Beschreibung von Neil, inklusive der Kleidung, die er getragen hatte, an die Medienvertreter.

Während Amanda die nötigen Aufrufe formulierte und Zeugen ermunterte, bei der Polizei vorstellig zu werden, saßen Neils Eltern stumm links und rechts neben ihr. Immer wieder waren die drei in Blitzlicht getaucht. Amanda gab ihr Bestes, um die Kameras zu ignorieren, spürte aber, wie Neils Eltern jede einzelne zur Kenntnis nahmen und bei jedem Blitz leicht zusammenzuckten, als würden sie von den Fotografen attackiert.

»Wir möchten Sie bitten, die Garagen und Schuppen auf Ihren Grundstücken zu durchsuchen«, sagte sie in den Raum hinein.

Sie hatte die Konferenz so ruhig und unaufgeregt wie nur möglich abgehalten. Außer Neil Spencer zu finden, bestand ihr Hauptanliegen derzeit darin, die verschreckte Bevölkerung zu beschwichtigen, und obwohl sie kaum mit Sicherheit behaupten konnte, dass Neil definitiv nicht entführt worden war, konnte sie zumindest deutlich machen, worauf sich die Ermittlungen im Moment fokussierten.

»Die wahrscheinlichste Erklärung ist, dass Neil einen Unfall hatte«, sagte sie. »Er wird jetzt zwar schon seit fünfzehn Stunden vermisst, trotzdem gehen wir nach wie vor davon aus, ihn gesund und wohlauf – und bald wiederzufinden.«

Insgeheim war sie sich da nicht ganz so sicher.

Zurück in der Einsatzzentrale ließ Amanda sofort die Handvoll polizeibekannter Sexualstraftäter aus der Gegend vorladen, um sie genauestens zu befragen.

Im Lauf des Tages wurde der Suchradius erweitert. Teile des Kanals wurden ausgebaggert – auch wenn dort kaum mit dem Jungen zu rechnen gewesen war – und eine umfangreiche Befragung der Anrainer eingeleitet. Material von Überwachungskameras wurde ausgewertet. Letzteres sah sie sich persönlich an; der erste Teil von Neils Heimweg war darauf zu sehen, allerdings hatten die Kameras ihn aus dem Blick verloren, noch ehe er das Brachgelände erreicht hatte, und ihn im Anschluss daran auch nicht mehr eingefangen.

Erschöpft massierte sie sich die Schläfen.

Erneut suchten Officers das Gelände ab – diesmal bei Tageslicht. Und auch die Suche im Steinbruch ging weiter.

Von Neil Spencer immer noch keine Spur.

Dann tauchte der Junge trotzdem gewissermaßen wieder auf, und zwar immer öfter, je weiter der Tag voranschritt: In den Medien machten Fotos die Runde, insbesondere eins, auf dem Neil in einem Fußballtrikot scheu in die Kamera lächelte – eins der wenigen Bilder, die seine Eltern von ihm hatten und auf denen er glücklich aussah. Die Meldungen umfassten auch vereinfachte Karten, auf denen die entscheidenden Orte rot umkreist und potenzielle Wege des Jungen gelb gepunktet waren.

Auch Teile der Pressekonferenz wurden ausgestrahlt. Amanda sah sich die Übertragung am Abend im Bett auf dem Tablet an und stellte fest, dass Neils Eltern vor der Kamera noch niedergeschlagener aussahen, als sie ihr von Angesicht zu Angesicht vorgekommen waren. Sie sahen schuldbewusst aus. Und wenn sie sich nicht schuldig fühlten, dann wäre es bald so weit – dann würden sie zu Schuldigen gemacht. Beim Briefing am Nachmittag hatte sie ihren Officers, von denen die meisten selbst Eltern waren, entsprechend eingebläut, dass sie mit Neils Mutter und Vater behutsam umzugehen hätten, so undurchsichtig die Umstände um sein Verschwinden auch sein mochten. Es lag auf der Hand, dass sie beide mitnichten Vorzeigeeltern waren, doch Amanda glaubte nicht, dass sie direkt beteiligt gewesen waren. Der Vater hatte zwar ein paar kleinere Sachen auf dem Kerbholz – Trunkenheit, Ruhestörung, eine Verwarnung wegen einer Schlägerei –, aber nichts, was sie hellhörig gemacht hätte. Die Mutter hatte sich nie etwas zuschulden kommen lassen. Zudem machten beide den Eindruck, aufrichtig erschüttert zu sein, und es war zu keinerlei gegenseitigen Schuldzuweisungen gekommen. Sie wollten beide einfach nur, dass ihr Junge wieder nach Hause käme.

Amanda schlief schlecht und war schon früh wieder im Revier. Nach mehr als sechsunddreißig Stunden, von denen sie bloß ein paar wenige zur Erholung gehabt hatte, saß sie in ihrem Arbeitszimmer und sah sich allmählich zu einer unbehaglichen Schlussfolgerung genötigt. Sie glaubte nicht, dass Neil von seinen Eltern vor die Tür gesetzt oder davongejagt worden war. Wenn er auf dem Heimweg einen Unfall gehabt hätte, wäre er inzwischen gefunden worden. Dass ihn ein anderer Angehöriger entführt hatte, war denkbar unwahrscheinlich. Und obwohl es nicht völlig unmöglich war, dass er aus freien Stücken abgehauen war, weigerte sie sich zu glauben, dass ein Sechsjähriger ohne einen Cent in der Tasche und ohne Ausrüstung sich so lange vor ihnen versteckt halten konnte.

Sie sah hinüber zur Wand, zu dem Foto von Neil Spencer, und wandte sich dem Albtraumszenario zu.

Dass er von einem Nichtangehörigen entführt worden war.

Für die Öffentlichkeit hieß das gemeinhin, dass der Entführer ein Unbekannter war, aber diesbezüglich musste man ganz genau hinsehen. Kinder dieser Kategorie wurden selten von jemandem entführt, den sie wirklich nicht kannten. Wesentlich häufiger waren sie durchaus mit dem Täter bekannt – über Leute an der Peripherie ihres eigenen Lebens. Entsprechend würden Amanda und ihr Team die Ermittlungen neu ausrichten und die Bemühungen, denen sie in den letzten anderthalb Tagen lediglich beiläufig nachgegangen waren, verstärken müssen. Freunde der Familie. Familien der Freunde. Ein umso genauerer Blick in Richtung polizeibekannter Straftäter. Die Browserhistorie zu Hause.

Erneut rief Amanda das Bildmaterial der Überwachungs­kameras auf und sah es sich aus diesem neuen Blickwinkel an, konzentrierte sich diesmal weniger auf die Beute denn auf potenzielle Täter.

Neils Eltern wurden erneut befragt.

»Hat Ihr Sohn sich in irgendeiner Hinsicht besorgt geäußert, weil ihm Erwachsene unerwünscht Aufmerksamkeit entgegengebracht hätten?«, wollte Amanda wissen. »Hat er je erzählt, dass sich ihm irgendwer genähert hätte?«

»Nein.« Bei der Vorstellung sah Neils Vater regelrecht angewidert aus. »Dagegen hätt ich ja wohl, Scheiße noch mal, irgendwas unternommen, okay? Und glauben Sie ernsthaft, verdammt, dass ich das nicht schon früher erwähnt hätte?«

Amanda lächelte ihn höflich an.

»Nein«, antwortete Neils Mutter. Allerdings deutlich weniger nachdrücklich.

Als Amanda ihr daraufhin auf den Zahn fühlte, gab die Frau zu, dass sie sich tatsächlich an eine Begebenheit erinnern konnte. Damals sei ihr nicht in den Sinn gekommen, es zur Anzeige zu bringen, und auch nicht, als Neil gerade verschwunden war, weil es einfach zu merkwürdig und blöd gewesen sei – und abgesehen davon habe sie damals so gut wie geschlafen, sodass sie sich kaum daran erinnere.

Amanda lächelte weiter höflich, auch wenn sie sich beherrschen musste, um der Frau nicht den Kopf abzureißen.

Zehn Minuten später stand sie ein Stockwerk höher im Büro ihres Vorgesetzten, DCI Colin Lyons, und versuchte, das Zittern in ihrem Bein – war es Müdigkeit? Nervosität? – zu unterdrücken. Lyons sah gequält aus. Er war mit den Ermittlungen bestens vertraut und wusste ebenso gut wie Amanda, was ihnen aller Wahrscheinlichkeit nach als Nächstes bevorstand. Trotzdem war diese jüngste Entwicklung nicht das, was er hätte hören wollen.

»Das geht nicht an die Presse«, sagte er leise.

»Nein, Sir.«

»Und die Mutter?« Er sah sie alarmiert an. »Sie haben ihr hoffentlich gesagt, dass sie das nicht öffentlich machen darf? Kein Wort?«

»Ja, Sir.« Diverse Meldungen klangen schon jetzt so voreingenommen und anklagend, und Neils Eltern warfen sich ohnehin Versagen vor, es war unwahrscheinlich, dass sie aus freien Stücken Öl ins Feuer gießen würden.

»Gut«, sagte Lyons. »Weil … du lieber Himmel …«

»Ich weiß, Sir.«

Er lehnte sich in seinem Stuhl zurück, schloss für ein paar Sekunden die Augen und atmete tief durch. »Wissen Sie Bescheid über den damaligen Fall?«

Amanda zuckte mit den Schultern. Jeder wusste über den damaligen Fall Bescheid. Was aber nicht hieß, dass sie Bescheid wusste.

»Sicher nicht umfassend …«, antwortete sie.

Lyons schlug die Augen auf und starrte eine Weile zur Decke. »Dann brauchen wir Hilfe«, sagte er schließlich.

Amanda spürte, wie sich ihr Herz zusammenkrampfte. Zum einen hatte sie in den letzten zwei Tagen bis zur Erschöpfung gearbeitet und wollte den Lohn nur ungern mit jemandem teilen. Zum anderen war da jenes Schreckgespenst, auf das angespielt worden war.

Frank Carter.

Kinderflüsterer.

Die Ängste der Bevölkerung in Schach zu halten würde nicht einfacher werden, im Gegenteil, es wäre unmöglich, sobald dieses neue Detail durchsickerte. Sie würden unendlich vorsichtig vorgehen müssen.

»Ja, Sir.«

Lyons griff über seinen Schreibtisch hinweg zum Hörer.

Und so kam es, dass DI Pete Willis mit den Ermittlungen zu tun bekam, nachdem seit Neil Spencers Verschwinden die entscheidenden achtundvierzig Stunden annähernd verstrichen waren.

7

Nicht dass er damit hätte zu tun haben wollen.

Petes Motto war verhältnismäßig schlicht, und er hatte es über so viele Jahre verinnerlicht, dass er ihm eher unbewusst denn bewusst nachging. Müßiggang war des Teufels Ruhebank. Und ein untätiger Kopf kam auf dumme Gedanken.

Entsprechend beschäftigte er sich und seinen Kopf. Diszi­plin und feste Strukturen waren ihm wichtig, und nach der vergeblichen Suche auf dem Brachgelände hatte er die vergangenen achtundvierzig Stunden weitgehend mit dem verbracht, was er immer tat.

Früh am Morgen hatte er sich im Fitnessraum des Reviers eingefunden: Schulterdrücken, Seitheben, Übungen für die hinteren Deltamuskeln. Jeden Tag ein anderer Körperteil. Es war keine Frage von Eitelkeit oder Fitness – eher dass er in der Einsamkeit und Konzentration des Trainings eine willkommene Ablenkung fand. Nach einer Dreiviertelstunde stellte er oft überrascht fest, dass sein Kopf die meiste Zeit völlig leer gewesen war.

An diesem Morgen hatte er es geschafft, nicht eine Sekunde lang über Neil Spencer nachzudenken.

Anschließend hatte er den Tag großteils am Schreibtisch verbracht, wo sich jede Menge kleinerer Fälle stapelten und für reichlich Abwechslung sorgten. Als jüngerer, ungestümerer Mann hätte er sich wahrscheinlich nach größerem Spektakel als den banalen Vergehen gesehnt, mit denen er es zu tun hatte, doch heute genoss er die Ruhe, die ihm die langweilige Detailarbeit bescherte. Aufregung gab es bei der Polizei genug – und die war in aller Regel alles andere als gut. Denn für gewöhnlich ging Aufregung mit einer Gefahr für jemandes Leib und Leben einher. Sich Spektakel zu wünschen hieß, die Gefahr herbeizusehnen, und Pete hatte von beidem mehr als genug erlebt. In Auto- und Ladendiebstählen und Vorladungen wegen banaler Vergehen lag ein gewisser Trost. All das erweckte den Anschein, in dieser Stadt nähmen die Dinge in aller Ruhe ihren Lauf, mitunter vielleicht nicht ganz perfekt, aber doch nie so, dass alles den Bach runterging.

Obwohl er mit dem Fall Neil Spencer nicht direkt zu tun hatte, kam er unmöglich daran vorbei. Ein kleiner Junge warf, sobald er verschwand, einen langen Schatten, und im Handumdrehen hatte der Fall im Revier oberste Priorität gehabt. Pete bekam mit, wie die Kollegen auf dem Flur darüber redeten: wo Neil noch stecken könnte; was ihm wohl zugestoßen war; und dann natürlich die Eltern. Über Letztere wurde, weil es von offizieller Seite nicht erwünscht war, eher hinter vorgehaltener Hand spekuliert – wie unverantwortlich es gewesen sei, einen kleinen Jungen unbeaufsichtigt nach Hause laufen zu lassen. Ganz ähnlich hatte es auch zwanzig Jahre zuvor geklungen, und er beeilte sich, an den Kollegen vorbeizukommen, weil er heute ebenso wenig wie damals in der Stimmung war, sich auf den Flurfunk aufzuschalten.

Um kurz vor fünf saß er an seinem Schreibtisch und überlegte gerade, was er mit dem Abend anfangen sollte. Er lebte allein, ging nur selten unter Leute und hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, ganze Kochbücher von A bis Z nachzukochen. Oft zauberte er die kompliziertesten Menüs, die er dann allein am Esstisch zu sich nahm. Anschließend sah er sich einen Film an oder griff zu einem Buch.

Und dann natürlich das Ritual.

Die Flasche und das Foto.

Trotzdem spürte er, wie sein Puls raste, als er kurz vor Feier­abend seine Sachen zusammensuchte. Am Vorabend hatte der Albtraum ihn nach Monaten erstmals wieder heimgesucht – Jane Carter, die ihm übers Telefon zuflüsterte: »Sie müssen sich beeilen!« Er hatte es nicht geschafft, Neil Spencer vollends zu entkommen, was leider bedeutete, dass sich die düsteren Gedanken und Erinnerungen doch näher an der Oberfläche hielten, als ihm lieb gewesen wäre. Entsprechend war er auch nicht überrascht, als er gerade in seine Jacke schlüpfen wollte und das Diensttelefon anfing zu klingeln. Irgendwie hatte er damit gerechnet.

Seine Hand zitterte leicht, als er den Hörer abnahm.

»Pete«, sagte DCI Colin Lyons am anderen Ende der Leitung. »Schön, dass Sie noch da sind. Ich hatte gehofft, wir könnten uns hier bei mir ganz kurz unterhalten.«

Sein Verdacht bewahrheitete sich, sobald er über die Schwelle in das Büro des DCI trat. Lyons hatte am Telefon nichts gesagt, aber DI Amanda Beck war ebenfalls anwesend und saß mit dem Rücken zu ihm auf dem Besucherstuhl gleich neben der Tür. Sie bearbeitete derzeit einen einzigen Fall, es konnte also nur einen Grund geben, warum seine Wenigkeit hierherbeordert worden war.

Als er die Tür schloss, versuchte er, ruhig zu bleiben. Vor allem versuchte er, nicht an das zu denken, was er vorgefunden hatte, nachdem er sich vor zwanzig Jahren zu guter Letzt Zutritt zu Frank Carters Anbau verschafft hatte.

Lyons lächelte ihn breit an. Dieses Lächeln konnte einen ganzen Raum ausleuchten.

»Gut, dass Sie da sind. Nehmen Sie Platz.«

»Danke.« Pete setzte sich neben Beck. »Amanda …«

Sie nickte ihm zu und bedachte ihn mit dem Hauch eines Lächelns – das deutlich weniger Leuchtkraft hatte als das Strahlen des DCI und kaum ihr eigenes Gesicht erhellte. Pete kannte sie nicht allzu gut; sie war zwanzig Jahre jünger als er, sah im Augenblick aber wesentlich älter aus, als sie tatsächlich war. Zutiefst erschöpft – und nervös, fand er. Womöglich fürchtete sie, dass ihre Autorität unterminiert und ihr der Fall weggenommen würde. Sie galt als ehrgeizig. Aber diesbezüglich hätte er sie beruhigen können. Zwar war Lyons durchaus skrupellos genug, ihr den Fall wegzunehmen, wann immer es ihm in den Kram passte, aber Pete würde er ihn im Leben nicht anvertrauen.

Lyons und er waren etwa im selben Alter, aber obwohl Pete tatsächlich ein Jahr eher an Bord gegangen war und in vielerlei Hinsicht mehr Verdienste vorweisen konnte, unterschieden sich ihre Dienstränge. Lyons war immer schon der Ambitioniertere gewesen, während Pete, der wusste, dass jede Beförderung nur mehr Konflikte und Dramen mit sich brachte, kein Bedürfnis hatte, die Karriereleiter noch weiter hinaufzusteigen. Wenn man verbissen wie Lyons war, war wohl nichts so irritierend wie ein Kollege, der es viel leichter geschafft hätte, aber nicht im Geringsten an Erfolg interessiert war.

»Sie sind mit dem Fall des verschwundenen Neil Spencer vertraut?«, fragte Lyons.

»Ja. Ich hab am ersten Abend die Brache mit abgesucht.«

Lyons starrte ihn an. Womöglich deutete er Petes Antwort als Kritik.

»Ich wohne dort in der Nähe«, erklärte er, was die Sache nicht besser machte. Auch Lyons wohnte dort, und der hatte in jener Nacht nicht die Straßen abgesucht. Nach einer Weile nickte der DCI. Er wusste, dass Pete seine ganz eigenen Gründe hatte, sich für Fälle verschwundener Kinder zu interessieren.

»Haben Sie die weitere Entwicklung verfolgt?«

Ich weiß, dass es keine weitere Entwicklung gibt. Aber das hätte wie Kritik an Beck geklungen, und das hatte sie nicht verdient. Nach dem bisschen zu urteilen, was er mitbekommen hatte, machte sie einen guten Job und tat alles, was in ihrer Macht stand. Wichtiger noch: Sie hatte die Officers aufgefordert, sich nicht kritisch über die Eltern zu äußern, was er sehr begrüßte.

»Ich weiß, dass Neil noch nicht gefunden wurde«, sagte er. »Trotz ausgedehnter Suche und Befragungen.«

»Was wäre Ihre Vermutung?«

»Ich hab die Ermittlungen nicht genau genug verfolgt, um eine zu haben …«

»Sie haben keine Vermutung?« Lyons sah ihn überrascht an. »Haben Sie nicht erwähnt, Sie hätten sich am ersten Abend an der Suche beteiligt?«

»Da bin ich noch davon ausgegangen, dass er gefunden würde.«

»In Anbetracht Ihrer Vergangenheit hätte ich gedacht, Sie würden den Fall im Blick behalten.«

Da – die erste Erwähnung. Der erste Hinweis.

»Vielleicht hab ich ihn gerade wegen dieser Vergangenheit nicht weiter verfolgt.«

»Ja, das verstehe ich. Es war damals schwer für uns alle.«

Lyons’ Stimme klang nach Mitgefühl, aber Pete wusste, das täuschte. Pete war derjenige von ihnen gewesen, der den größten Fall der letzten fünfzig Jahre gelöst hatte, und trotzdem war Lyons am Ende dafür auf dem Chefposten gelandet. Auf die damalige Ermittlung zu sprechen zu kommen war für sie beide unangenehm, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen.

Schließlich brachte Lyons die Sache auf den Punkt. »War es nicht so, dass Sie der Einzige sind, mit dem sich Frank Carter unterhalten würde?«

Da war es also.