Der Schattenmörder - Alex North - E-Book
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Der Schattenmörder E-Book

Alex North

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Beschreibung

In den Schatten lauert das Böse ... Nach dem internationalen Bestsellererfolg »Der Kinderflüsterer« der zweite fesselnde Spannungsroman von Alex North!

Niemals hat Paul den Tag vergessen, an dem er Charlie Crabtree in der Schule zum ersten Mal begegnete. Charlie mit seinem überlegenen Lächeln und den dunklen Fantasien, mit denen er Paul in seinen Bann zog. Sie waren Freunde. Bis zu dem Tag als Charlie einen Mord beging und danach spurlos verschwand. Fünfundzwanzig Jahre später kehrt Paul erstmals in seine Heimatstadt zurück. Seine Mutter liegt im Sterben, die Pflegerin hat ihn alarmiert. Gleich nach seiner Ankunft passieren seltsame Dinge. Die Mutter behauptet, jemand sei im Haus gewesen, und als Paul den Dachboden betritt, findet er alles übersät mit blutig-roten Handabdrücken. In der Stadt bemerkt Paul, dass ihn jemand verfolgt, und er beginnt sich zu fragen: Was geschah damals mit Charlie Crabtree am Tag des Mordes?

Unheimlich, beklemmend und nervenzerreißend spannend – der neue Roman von Alex North ist der perfekte Pageturner!

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Seitenzahl: 446

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Buch

Niemals hat Paul den Tag vergessen, an dem er Charlie Crabtree in der Schule zum ersten Mal begegnete. Charlie mit seinem überlegenen Lächeln und den dunklen Fantasien, mit denen er Paul in seinen Bann zog. Sie waren Freunde. Bis zu dem Tag, als Charlie den Mord beging und danach spurlos verschwand. Fünfundzwanzig Jahre später kehrt Paul erstmals in seine Heimatstadt zurück. Seine Mutter liegt im Sterben, die Pflegerin hat ihn alarmiert. Gleich nach seiner Ankunft passieren seltsame Dinge. Die Mutter behauptet, jemand sei im Haus gewesen, und als Paul den Dachboden betritt, findet er alles übersät mit blutig-roten Handabdrücken. In der Stadt bemerkt Paul, dass ihn jemand verfolgt, und er beginnt sich zu fragen: Was geschah damals mit Charlie Crabtree am Tag des Mordes?

Autor

Alex North, geboren und aufgewachsen in Leeds, England, studierte Philosophie und arbeitete nach seinem Abschluss an der Fakultät für Soziologie und Sozialpolitik. Insgeheim hegte er aber immer den Wunsch zu schreiben. Mit seinem atmosphärischen Spannungsroman »Der Kinderflüsterer« gelang ihm der große Durchbruch, der Roman wurde international gefeiert und stand auch in Deutschland wochenlang auf der SPIEGEL-Bestsellerliste. Alex North lebt bis heute in seiner Heimatstadt Leeds, inzwischen mit seiner Frau, dem gemeinsamen Sohn und zwei Katzen.

Von Alex North bereits erschienen

Der Kinderflüsterer

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Alex North

DER SCHATTEN-MÖRDER

Roman

Deutsch von

Die Originalausgabe erschien 2020 unter dem Titel »The Shadow Friend« bei Penguin Books Ltd, London. Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen. Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Copyright der Originalausgabe © 2020 by Alex North The author has asserted his moral rights. All rights reserved. Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2020 by Blanvalet in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München Textredaktion: Susann Rehlein Covergestaltung: www.buerosued.de Umschlagmotiv: iStock.com/BoxerX WR · Herstellung: sam

Für Lynn und Zack

Prolog

Es war meine Mutter, die mich aufs Revier fuhr.

Ursprünglich hatten die Polizisten mich hinten im Streifenwagen mitnehmen wollen, aber sie hatte sich quergestellt. Solange ich denken kann, hat sie nie die Beherrschung verloren. Da schon. Ich war fünfzehn, stand in der Küche zwischen diesen zwei riesigen Kerlen. Meine Mutter stand in der Tür. Ich weiß noch genau, wie sich ihr Gesichtsausdruck veränderte, als die zwei ihr mitteilten, weshalb sie gekommen waren und worüber sie mit mir reden wollten. Erst war sie verwirrt, doch dann guckte sie mich an, und ich konnte ihr ansehen, dass sie es mit der Angst zu tun bekam, als sie erkannte, wie verstört ich in diesem Moment war.

Und obwohl meine Mutter eine zierliche Person war, sorgten die leise Verbissenheit in ihrer Stimme und ihre unbeugsame Haltung dafür, dass die beiden riesenhaften Polizisten ein Stück von mir abrückten. Auf dem Weg zur Wache saß ich auf dem Beifahrersitz neben ihr und war einfach nur wie betäubt, während wir dem Streifenwagen hinterherfuhren, der uns durch die Siedlung eskortierte.

Er wurde langsamer, als wir uns dem alten Spielplatz näherten.

»Schau nicht hin«, sagte meine Mutter.

Aber ich schaute hin. Ich sah die Absperrung, die sie dort errichtet hatten. Die Polizisten, die mit grimmigen Gesichtern an der Straße standen. All die Fahrzeuge, die am Straßenrand parkten, die Blaulichter, die lautlos in der Nachmittagssonne blinkten. Ich sah das alte Klettergerüst. Der Boden rundherum war immer sandgrau gewesen, doch jetzt waren dort rote Flecken. Alles wirkte ganz ruhig und friedlich, die Stimmung war fast ehrfürchtig.

Dann bremste der Wagen vor uns ab.

Die Polizisten wollten wohl sichergehen, dass ich mir den Tatort ganz genau ansah, für den ich aus ihrer Sicht verantwortlich war.

Du musst wegen Charlie etwas unternehmen.

Diesen Gedanken hatte ich in den Monaten zuvor immer wieder gehabt, und ich weiß noch genau, wie frustriert ich jedes Mal gewesen war. Ich war fünfzehn, das war doch nicht fair. Sie hätten es nicht mir allein überlassen dürfen, mich um Charlie zu kümmern.

Das weiß ich jetzt.

Trotzdem … Als ich an jenem Tag in unserem Auto saß, war ich überwältigt von dem, was geschehen war und woran sie mir die Schuld aufbürden wollten. Gerade erst wenige Stunden zuvor war ich durch die staubigen Straßen geschlendert, hatte die Augen gegen die Sonne zusammengekniffen und war in der Hitze schweißgebadet gewesen, als ich James genau dort auf dem Spielplatz entdeckt hatte. Meinen ältesten Freund. Eine kleine, einsame Gestalt, die merkwürdig schief auf dem Klettergerüst kauerte. Auch wenn es schon Wochen her war, seit wir zuletzt miteinander gesprochen hatten, hatte ich genau gewusst, warum er dort war. Dass er auf Charlie und Billy wartete.

Und ich war an ihm vorbeigelaufen.

Ein paar Polizisten da am Spielplatz drehten sich nach uns um, und für einen Augenblick hatte ich das Gefühl, als steckte ich in einer Blase, in der vollkommene Stille herrschte. Sie starrten mich an. Urteilten über mich.

Als es unvermittelt laut wurde, zuckte ich heftig zusammen.

Es dauerte einen Moment, bis ich begriff, dass meine Mutter auf die Hupe drückte. Das Geräusch klang an dieser Stelle einfach nur schrill und falsch – als kreischte jemand bei einer Beerdigung –, aber als ich zu ihr sah, hatte sie die Zähne zusammengebissen und starrte die Polizisten vor uns wutentbrannt an. Sie hielt die Hupe gedrückt, der Lärm dauerte an und hallte durch die ganze Siedlung.

Fünf Sekunden.

»Mama.«

Zehn Sekunden.

»Mama.«

Dann fuhr der Streifenwagen vor uns langsam an. Meine Mutter nahm die Hand von der Hupe, und die Welt verstummte. Als sie sich zu mir umdrehte, sah sie irgendwie gleichzeitig hilflos und fest entschlossen aus, als spürte sie meinen Schmerz und hätte beschlossen, die Last für mich zu tragen, soweit sie konnte. Weil ich ihr Sohn war und weil sie mir beistehen würde.

»Das wird wieder«, sagte sie.

Ich antwortete nicht. Ich starrte sie bloß an, hörte den Ernst in ihrer Stimme und sah die Entschlossenheit in ihrem Gesicht, und ich war froh, dass da jemand war, der sich um mich kümmern würde, auch wenn ich das nie zugegeben hätte. Ich war froh, dass da jemand war, dem ich wichtig war. Jemand, der so sehr an meine Unschuld glaubte, dass es nicht mal laut ausgesprochen werden musste.

Jemand, der alles täte, um mich zu beschützen.

Nach einer gefühlten Ewigkeit nickte sie bloß, sah wieder nach vorn und fuhr weiter. Wir folgten der Streife aus der Siedlung hinaus, ließen die Einsatzfahrzeuge hinter uns, die glotzenden Ermittler und den blutbesudelten Spielplatz. Was meine Mutter gesagt hatte, hallte noch immer in meinem Kopf nach, als wir auf die Schnellstraße fuhren.

Das wird wieder.

Seither sind fünfundzwanzig Jahre vergangen, trotzdem muss ich noch oft daran denken. Das wird wieder. Genau das sagen alle guten Eltern zu ihren Kindern. Es ist ein Versprechen, das gegeben werden und an das man mit ganzer Kraft glauben muss. Was bleibt einem sonst übrig?

Das wird wieder.

Ja, ich denke häufig daran. Wie alle guten Eltern das sagen … und wie oft sie damit falschliegen.

Teil eins

1

Heute

An dem Tag, als alles anfing, hatte Detective Amanda Beck eigentlich frei und schlief bis weit in den Vormittag. Mitten in der Nacht war sie von einem Albtraum geweckt worden, den sie schon häufiger gehabt hatte. Anschließend hatte sie sich an den leichten Schlaf geklammert, so lange es ging. Als sie zu guter Letzt aufgestanden war, sich geduscht und Kaffee gekocht hatte, war es fast Mittag gewesen. Unterdessen war andernorts ein Junge umgebracht worden, nur dass das noch keiner wusste.

Am Nachmittag machte sich Amanda im Auto auf den kurzen Weg zu ihrem Vater. Als sie vor den Rosewood Gardens ankam, parkten dort zwar ein paar andere Wagen, aber der Bürgersteig war leer. Während sie den gewundenen Weg zwischen den Blumenbeeten zum Zugangstor entlangging, herrschte um sie herum Totenstille. Wo sie auf welchen Weg abbiegen musste und dann an wohlbekannten Gräbern vorbeikam, hatte sich ihr in den vergangenen zweieinhalb Jahren tief eingeprägt.

War es komisch, sich die Toten als Bekannte vorzustellen?

Vielleicht. Trotzdem war es teils so. Sie fuhr mindestens einmal in der Woche zum Friedhof, und das bedeutete, dass sie sich mehr mit den Leuten abgab, die hier unter der Erde lagen, als mit den paar lebenden Freunden, die sie hatte. Sie hakte sie im Vorbeigehen ab: hier das Grab, das immer so schön gepflegt war, mit frischen Blumen. Dort das mit der alten, leeren Brandyflasche, die am Grabstein lehnte. Und dann das Grab mit den Kuscheltieren: ein Kindergrab, wie Amanda vermutete, auf dem die trauernden Eltern Geschenke ablegten, weil sie noch nicht zulassen wollten, dass ihr Kind sie vollends verließ.

Und schließlich ganz hinten das Grab ihres Vaters.

Sie blieb stehen und schob die Hände in die Manteltaschen. Auf dem Grab stand ein rechteckiger Stein – breit, wuchtig, genau wie ihr Vater in ihrer Jugend gewesen war. Die Schlichtheit hatte etwas Unerbittliches, das sie jedoch als angenehm empfand – lediglich der Name und die beiden Daten, die sein Leben definiert hatten. Kein Schnickschnack, genau wie er es gewollt hätte. Ihr Vater war zu Hause ein liebevoller, aufmerksamer Mann, aber hauptsächlich nun mal Polizist gewesen, hatte sich stets in den Dienst der Sache gestellt und, wenn Feierabend gewesen war, die Arbeit auf der Dienststelle zurückgelassen.

Dieser Wesenszug war bei der Auswahl des Grabsteins maßgeblich gewesen. Keine verdammten Blumen auf meinem Grab, Amanda. Wenn ich weg bin, bin ich weg. Eine der zahlreichen Anweisungen, denen sie nachgekommen war.

Trotzdem, es fühlte sich noch immer seltsam und ungut an, dass er nicht mehr da sein sollte. Als Kind hatte sie im Dunkeln Angst gehabt, und es war immer ihr Vater gewesen, der gekommen war, wenn sie gerufen hatte. Wenn er Nachtschicht gehabt hatte, war sie beunruhigt gewesen, das wusste sie noch, als wäre ihr das Sicherheitsnetz weggenommen worden und nichts mehr da, was sie im Notfall auffangen könnte. Und so fühlte sich derzeit auch ihr Leben an. Dieses unterschwellige Gefühl, dass etwas verkehrt war, dass irgendetwas fehlte. Dann fiel ihr jedes Mal wieder ein, dass ihr Vater gestorben war, und es machte sie von Neuem fertig. Wenn sie jetzt riefe, wäre da niemand mehr, der sie trösten käme.

Sie zog den Mantel ein bisschen enger.

Und auch kein Mit-mir-Reden, sobald ich weg bin.

Noch so eine Anweisung. Wenn sie das Grab besuchen kam, stand sie entsprechend immer nur da und dachte nach. Natürlich hatte ihr Vater damit recht gehabt. Sie war genauso wenig gläubig, wie er es gewesen war, insofern hätte es auch wenig Sinn, hier irgendwas vor sich hin zu faseln. Es hörte sowieso keiner mehr. Die Chance, ihm noch gewisse Fragen zu stellen, war verstrichen. Sie war mit wenig Lebenserfahrung und dem bisschen Wissen zurückgeblieben, das ihr Vater ihr vermittelt hatte, und jetzt war es an ihr, sich da durchzuwühlen.

Nüchtern.

Distanziert.

Pragmatisch.

So war er bei der Arbeit gewesen. Sie musste oft an den Ratschlag denken, den er ihr bei ihrem Dienstantritt mit auf den Weg gegeben hatte: Wann immer man etwas Schreckliches erlebte, musste man es im Kopf in eine Schachtel stecken; auf die Schachtel kam ein Deckel, der immer nur dann abgenommen wurde, wenn etwas Zusätzliches in die Schachtel kam. Die Arbeit – und was immer man dort mit ansah – musste um jeden Preis vom restlichen Leben ferngehalten werden. Damals hatte das so einfach geklungen, so vernünftig …

Er war unendlich stolz auf sie gewesen, als sie ebenfalls zur Polizei gegangen war, und obwohl sie ihn von ganzem Herzen vermisste, war ein kleiner Teil von ihr froh, dass er nicht mehr da gewesen war, um zu sehen, wie sie mit den vergangenen zwei Jahren klargekommen war. Mit der Schachtel in ihrem Kopf, unter deren Deckel die Grausamkeiten nur so herausquollen. Mit den Albträumen. Mit dem Umstand, dass sie, wie sich herausgestellt hatte, nicht derselbe Typ Ermittler war wie er und sich in einem fort fragte, ob sie es je werden könnte.

Und obwohl sie die Anweisungen ihres Vaters befolgte, dachte sie doch andauernd an ihn. Wie so oft fragte sie sich auch heute, ob er wohl enttäuscht von ihr wäre.

Sie war bereits auf dem Rückweg zu ihrem Auto, als ihr Handy klingelte.

Eine halbe Stunde später war Amanda zurück in Featherbank und lief quer über das Brachgelände.

Sie hasste diesen Ort. Sie hasste das spröde, von der Sonne ausgedörrte Gestrüpp. Die Stille und die Abgeschiedenheit. Dass sich die Luft hier jedes Mal krank anfühlte – als wäre dieses Stück Land verdorben, als könnte man die Fäulnis, das Gift im Boden instinktiv spüren.

»Dort haben sie ihn damals gefunden, oder?«

Detective John Dyson stapfte neben ihr her und zeigte auf einen vertrockneten Busch, der genauso hart, dürr und zäh war wie die übrige Vegetation.

»Ja«, antwortete sie. »Genau dort.«

Dort haben sie ihn damals gefunden.

Allerdings hatten sie ihn dort zunächst auch verloren. Zwei Jahre zuvor war genau hier auf dem Heimweg ein Junge verschwunden. Einige Wochen später war seine Leiche genau hier abgelegt worden. Amanda hatte damals die Ermittlungsleitung übernommen. Seitdem befand sich ihre Karriere mehr oder weniger im freien Fall. Vor dem Leichenfund hatte sie sich eingebildet, sie würde über die kommenden Jahre auf der Karriereleiter Sprosse für Sprosse nach oben klettern, während die Schachtel in ihrem Kopf sicher verschlossen bliebe. Wie sich herausgestellt hatte, hatte sie sich komplett falsch eingeschätzt.

Dyson nickte bedächtig. »Die sollten das hier absperren. Das ganze Gelände in die Luft jagen.«

»Wenn das nicht hier passiert«, sagte sie, »dann eben woanders.«

»Kann schon sein.«

Amanda hielt Dyson für ziemlich unterbelichtet. Allerdings musste man ihm zugutehalten, dass er das auch selbst zu wissen schien; zumindest hatte er in seiner kompletten bisherigen Laufbahn nicht den geringsten Ehrgeiz an den Tag gelegt. Inzwischen war er Anfang fünfzig, erledigte seine Arbeit, kassierte seinen Sold und ging abends nach Hause, ohne auch nur einen Blick zurückzuwerfen. Darum beneidete sie ihn.

Die Baumreihe, die den dahinter liegenden Steinbruch markierte, war jetzt direkt vor ihnen. Sie warf einen Blick über die Schulter. Die Absperrung rund um das Gelände, die sie angeordnet hatte, war hinter dem Gestrüpp nicht zu sehen, aber sie wusste, dass sie da war. Und dahinter ratterten – natürlich – schon die unsichtbaren Rädchen einer umfangreichen Ermittlung.

Dann hatten sie die Baumreihe erreicht.

»Passen Sie auf, wo Sie hintreten«, sagte Dyson.

»Sie aber auch.«

Demonstrativ übernahm sie die Führung, duckte sich unter dem Zaun hindurch, der die Brache vom Steinbruch trennte. Ein Stück weiter hing ein verblasstes Warnschild, das die Kinder aus der Gegend nicht davon abhielt, sich auf dem Gelände herumzutreiben. Vielleicht war es sogar ein Ansporn. Für sie als Kind wäre es einer gewesen. Trotzdem hatte Dyson recht. Hier ging es steil bergab, der Boden war locker, und während sie vorneweg ging, setzte sie vorsichtig einen Schritt vor den anderen. Wenn sie jetzt vor ihm den Halt verlieren würde, müsste sie ihn leider umbringen, um ihr Gesicht zu wahren.

Behutsam arbeitete sie sich voran. Ausgebleichte Wurzeln und Zweige hingen über dem Fels wie Sehnen, und sie musste mehrmals in das Gestrüpp greifen, um das Gleichgewicht zu halten. Es ging gut fünfzig Meter nach unten. Sie war erleichtert, als sie endlich wieder festen Boden unter den Füßen hatte.

Einen Augenblick später schlurfte Dyson wieder neben ihr über den steinernen Grund.

Dann kehrte Stille ein.

In diesem Steinbruch herrschte eine unheimliche, fast außerweltliche Atmosphäre. Das Gelände fühlte sich völlig verwaist und abgeschieden an, und während oben die Sonne auf die Brache heruntergebrannt hatte, war es hier unten spürbar kühler. Sie ließ den Blick über die Steinbrocken und die Handvoll versengter Sträucher schweifen, die hier unten Wurzeln geschlagen hatten. Das hier war ein einziges Labyrinth.

Ein Labyrinth, das sie mithilfe der Schilderungen von Elliot Hick jetzt durchqueren würden.

»Da lang«, sagte sie.

Am Nachmittag waren vor einem Haus ganz in der Nähe zwei Jugendliche aufgegriffen worden. Einer von ihnen – Elliot Hick – hatte kurz vor einem hysterischen Anfall gestanden, während der andere – Robbie Foster – komplett apathisch und still gewesen war. Jeder von ihnen hatte ein Messer und ein Buch in Händen gehalten, und beide waren von Kopf bis Fuß mit Blut bespritzt gewesen. Zur Stunde wurden sie auf dem Revier befragt. Allerdings hatte Hick dem Aufsicht führenden Beamten bereits erzählt, was sie getan hatten und wo die Polizei auf das Ergebnis stoßen würde.

Es sei nicht weit, hatte er gesagt.

So was wie hundert Meter.

Langsam, bedächtig, vorsichtig setzte sich Amanda quer durch das Geröll in Bewegung. Drückende Stille lastete auf allem, es war, als würden sie sich unter Wasser bewegen, und ihr zog sich vor Anspannung die Brust zusammen, sobald sie sich ausmalte, worauf sie gleich stoßen sollten. Natürlich nur, sofern Hick die Wahrheit gesagt hatte. Es bestand immer noch die Möglichkeit, dass sie überhaupt nichts finden würden. Dass die ganze Sache ein geschmackloser Scherz gewesen war.

Amanda schob ein paar dornige Zweige beiseite. Zu glauben, dass dies hier ein blöder Scherz gewesen sein sollte, war schlichtweg absurd – aber es wäre immer noch besser als die Vorstellung, im nächsten Moment die freie Ebene zu erreichen und vor sich zu sehen, was …

Sie blieb wie angewurzelt stehen.

Und so etwas vor sich zu sehen.

Dyson wich zur Seite aus und schloss zu ihr auf. Er keuchte leicht, auch wenn nicht ganz klar war, ob es an ihrem anstrengenden Abstieg und dem kurzen Marsch hierher oder an diesem Anblick lag.

»Herr im Himmel«, stieß er hervor.

Das Gelände vor ihnen war annähernd sechseckig, zu allen Seiten von Buschwerk und Bäumen bestanden und der Boden mit Geröll übersät, aber im Grunde flach. Es hatte fast etwas Okkultes – und der Eindruck wurde von dem Bild, das sich ihnen darbot, nur mehr verstärkt.

Die Leiche befand sich vielleicht fünf Meter entfernt in der Mitte der kahlen Fläche, die wie eine Lichtung wirkte. Jemand hatte sie in eine kniende Position gebracht und vornübergebeugt, fast wie zum Gebet. Die dünnen Arme lagen nach hinten ausgestreckt neben dem Körper. Auf den ersten Blick ein Junge im Teenageralter. Er hatte Shorts an und ein T-Shirt, das ihm bis unter die Achseln hochgerutscht war, allerdings war bei all dem Blut schwer zu erkennen, welche Farbe die Kleidung gehabt hatte. Mit dem Blick suchte Amanda den Leichnam ab. Auf den nackten Stellen konnte sie mehrere Stichwunden erkennen; die Blutschmierer drumherum sahen auf der Haut blassbraun aus. Unter dem Kopf schien sich mehr Blut gesammelt zu haben. Der Kopf selbst war in einem merkwürdigen Winkel zur Seite gedreht – zum Glück in die entgegengesetzte Richtung – und schien kaum noch am Hals festzusitzen.

Nüchtern, rief Amanda sich ins Gedächtnis.

Distanziert.

Pragmatisch.

Einen Augenblick lang stand die Welt still. Dann entdeckte sie noch etwas und runzelte die Stirn.

»Was ist das da am Boden?«, wollte sie wissen.

»Eine verdammte Kinderleiche, Amanda.«

Sie ging über seine Antwort hinweg, machte ein paar vorsichtige Schritte hinaus auf die Lichtung, wollte den Tatort nicht verunreinigen, musste aber in Erfahrung bringen, was das dort war. Auf dem steinigen Boden war noch mehr Blut zu sehen, bildete annähernd einen Kreis um die Leiche. Das Muster schien zu präzise gesetzt, um zufällig entstanden zu sein. Doch erst als sie unmittelbar davorstand, erkannte sie, worum es sich handelte.

Sie starrte nach unten, folgte der Spur mit dem Blick.

»Was ist das?«, fragte Dyson.

Wieder ging sie darüber hinweg, diesmal allerdings, weil sie nicht wusste, was sie hätte antworten sollen. Dyson kam näher. Zum Glück hielt er den Mund. Sie konnte ihm ansehen, dass er genauso verstört war wie sie selbst.

Sie versuchte, so gut es ging, die Abdrücke zu zählen, aber es waren unzählige – ein Sturm, der am Boden gewütet hatte.

Hunderte blutroter Handabdrücke, die sorgsam auf den steinigen Grund gesetzt worden waren.

2

Das Hospiz, in dem meine Mutter im Sterben lag, befand sich auf dem Gelände des Gritten Hospital.

Was für eine traurige Kombination. Während der Anreise quer durchs Land hatte ich mich gefragt, warum sie dort nicht gleich auch noch einen Friedhof angelegt hatten – und eine Art Transportsystem von einem Gebäude ins nächste, wenn man schon mal dabei war. Trotzdem entpuppte es sich als schönes Gelände. Wenn man am Krankenhaus erst mal vorbei war, verlief die Zufahrt zwischen gepflegten Rasenflächen mit bunten Blumenbeeten und Apfelbäumen hindurch und dann über eine kleine Brücke über einen rauschenden Bach. Es war ein heißer Tag, und ich hatte das Fenster runtergelassen. Draußen roch es nach frisch gemähtem Gras, und das Rauschen des Wassers vermischte sich mit Kinderlachen.

Eine friedliche Kulisse für ein Lebensende.

Etwa eine Minute später tauchte ein zweistöckiges Gebäude vor mir auf. Die verwitterten Mauern waren von üppigen Efeuranken überwuchert. Die Reifen knirschten durch das Meer aus ordentlichem Rundkies. Sobald ich den Motor abstellte, konnte ich nur noch Vogelgezwitscher hören und dahinter schwere, tiefe Stille.

Ich zündete mir eine Zigarette an und blieb noch kurz sitzen.

Es wäre immer noch nicht zu spät, um wieder umzudrehen.

Die Fahrt hatte vier Stunden gedauert, und mit jeder Meile war das Grauen größer geworden. Der Himmel mochte blau gewesen sein, trotzdem hatte es sich angefühlt, als würde ich durch einen Gewittersturm fahren, und ich hatte fast damit gerechnet, aus der Ferne ein Grollen zu hören und am Horizont die ersten Blitze zu sehen. Als ich schließlich die maroden Straßen und die Industrieflachbauten passiert hatte und an reihenweise heruntergekommenen Ladengeschäften und Fabriken mit Außenbereichen voller Müll und Glasscherben vorübergefahren war, war mir so schlecht gewesen, dass ich mich ernsthaft hatte zusammenreißen müssen, um nicht auf der Stelle kehrtzumachen.

Die Zigarette zwischen meinen Fingern zitterte.

Fünfundzwanzig Jahre, seit ich zuletzt in Gritten gewesen war.

Das wird wieder, redete ich mir ein.

Ich drückte die Zigarette aus, stieg aus dem Wagen und ging auf das Hospizgebäude zu. Die Glastüren am Eingang glitten zur Seite. Dahinter lag ein Empfangsbereich mit einem blitzblanken schwarz-weißen Boden. An der Rezeption nannte ich meinen Namen und wartete. Der Geruch von Putz- und Desinfektionsmitteln hing in der Luft. Außer dass irgendwo in einem Seitentrakt Besteck klapperte, war es still wie in einer Bibliothek, und ich hatte das unbändige Bedürfnis zu husten, einfach weil es sich anfühlte, als wäre das hier verboten.

»Mr. Adams? Daphnes Sohn?«

Als ich aufblickte, kam eine Frau auf mich zu. Sie war vielleicht Mitte zwanzig, klein, hatte blassblaues Haar, massenhaft Piercings in den Ohren und trug normale Straßenkleidung. Also keine Krankenschwester.

»Ja«, antwortete ich. »Sind Sie Sally?«

»Höchstpersönlich.«

Wir gaben einander die Hand. »Sagen Sie doch bitte Paul.«

»Gerne.«

Sally lotste mich in den ersten Stock und durch ein Gewirr aus stillen Fluren und machte Smalltalk.

»Wie war die Anreise?«

»Gut.«

»Wie lange waren Sie denn schon nicht mehr in Gritten?«

Meine Antwort schien sie zu erschüttern.

»Also … wow. Haben Sie noch Freunde hier?«

Bei der Frage musste ich sofort an Jenny denken, und mein Herz setzte für einen Schlag aus. Ich fragte mich, wie es wäre, sie nach all der Zeit wiederzusehen.

»Ich weiß nicht …«, antwortete ich.

»Die Entfernung macht es wahrscheinlich nicht gerade leichter?«

»Stimmt.«

Sie meinte die Kilometer, aber entfernt konnte man auch in anderer Hinsicht sein. Die Fahrt heute mochte vier Stunden gedauert haben, aber dieser kurze Weg durch das Hospiz fühlte sich jetzt schon viel länger an. Und während ein Vierteljahrhundert durchaus eine geschichtsträchtige, bedeutsame Zeit sein konnte, war mir insgeheim angst und bange; es fühlte sich an, als wären die Jahre schlagartig von mir abgefallen und als wäre das, was hier in Gritten vor all diesen Jahren passiert war, erst gestern passiert.

Das wird wieder.

»Tja, aber wie gut, dass Sie kommen konnten«, sagte Sally.

»Im Sommer hab ich nicht ganz so viel zu tun.«

»Sie sind Professor, oder?«

»Ach was, nein. Ich unterrichte Englisch an der Uni, aber bis zum Professor habe ich es nie geschafft.«

»Englisch – heißt das auch Creative Writing?«

»Das ist ein Schwerpunktfach, ja.«

»Daphne war stolz auf Sie, wissen Sie das? Sie hat immer erzählt, aus Ihnen würde mal ein berühmter Schriftsteller werden.«

»Ich schreibe nicht.« Dann hielt ich kurz inne. »Das hat sie wirklich erzählt?«

»Ja, klar.«

»Das wusste ich nicht.«

Dann wiederum hatte ich über meine Mutter so vieles nicht gewusst. Wir hatten vielleicht einmal im Monat telefoniert, aber die Telefonate waren stets kurz gewesen, beiläufige Gespräche, in denen sie sich nach mir erkundigt und ich Sie belogen und nie nach ihr gefragt hatte, sodass sie selbst nie hatte lügen müssen. Sie hatte nie auch nur angedeutet, dass mit ihr etwas nicht in Ordnung war.

Und dann hatte ich aus heiterem Himmel vor drei Tagen den Anruf von Sally bekommen, der Betreuerin meiner Mutter. Ich hatte von einer Sally noch nie gehört. Ich hatte auch noch nie davon gehört, dass meine Mutter seit Jahren an fortschreitender Demenz erkrankt gewesen sein sollte und sich in den vergangenen sechs Monaten der Krebs so weit ausgebreitet hatte, dass er nicht mehr behandelbar war. Ich hatte nicht gewusst, dass meine Mutter in den letzten Wochen so sehr abgebaut hatte, dass sie kaum mehr hatte Treppen steigen können und sich fast nur noch im Erdgeschoss aufgehalten hatte. Dass sie sich trotzdem geweigert hatte auszuziehen. Und dass Sally eines Abends Anfang der Woche das Haus betreten und sie bewusstlos am Fuß der Treppe gefunden hatte.

Weil meine Mutter wohl – entweder aus Frust oder weil sie verwirrt gewesen war – versucht hatte, in den ersten Stock hochzukommen, und ihr Körper sie im Stich gelassen hatte. Sie hatte sich eine ernste, wenn auch nicht lebensbedrohliche Kopfverletzung zugezogen, allerdings hatte der Sturz allem Anschein nach dazu geführt, dass ihre anderen Leiden sich verschlimmert hatten.

Ich hatte so vieles nicht gewusst.

Sally hatte mir mitgeteilt, dass es wohl bald zu Ende ginge. Ob ich vorbeikommen könnte.

»Daphne schläft die meiste Zeit«, sagte sie jetzt. »Sie wird palliativ behandelt und bekommt Schmerzmittel, und sie hält sich wacker. Aber was in den nächsten Tagen auf uns zukommt, ist … Sie wird immer öfter schlafen, immer länger, und irgendwann wird sie …«

»Nicht mehr aufwachen?«

»Genau. Sie wird ganz friedlich einschlafen.«

Ich nickte. Das klang für mich nach einem gnädigen Tod. Wenn man bedachte, dass es ein Ende geben musste, war dies womöglich die Art, auf die wir alle hofften – einfach wegzudämmern. Es gab Leute, die glaubten, dass danach Träume oder Albträume kämen, aber so recht habe ich nie verstanden, warum. Allerdings weiß ich auch besser als viele andere, dass man nicht in der Tiefschlafphase träumt, und ich habe wohl immer gehofft, dass der Tod noch sehr viel tiefer ginge als Schlaf.

Vor einer Tür blieben wir stehen.

»Ist sie ansprechbar?«

»Mal so, mal so. Manchmal erkennt sie Leute wieder und scheint vage zu begreifen, wo sie sich befindet. Dann wiederum gibt es Phasen, in denen sie an einem anderen Ort und in einer anderen Zeit zu sein scheint.« Sie drückte die Tür auf und sagte deutlich sanfter: »Ah, da ist ja meine Liebe!«

Ich trat hinter ihr ein, wappnete mich innerlich für den Anblick – trotzdem war es ein Schock für mich. Ein Krankenbett auf Rollen. Daneben mehr Apparate, als ich befürchtet hatte: ein Rollwagen mit Monitoren, ein Halter mit transparenten Beuteln, aus denen Schläuche ragten und mit der Gestalt unter der Bettdecke verbunden waren.

Mit meiner Mutter.

Ich schwankte leicht. Ich hatte sie seit fünfundzwanzig Jahren nicht mehr gesehen, und von meinem Posten in der Tür sah sie aus wie ihre eigene Wachsfigur, nur noch kleiner und dünner, als ich sie in Erinnerung gehabt hatte. Mein Herz krampfte sich schmerzhaft zusammen. Ihr Kopf war an der Seite verpflastert, und was von ihrem Gesicht zu sehen war, war gelb verfärbt und reglos. Die Lippen waren leicht geöffnet. Die dünne Decke schien sich kaum hinreichend zu wölben, dass darunter ein Körper liegen sollte, und für einen kurzen Moment war ich mir nicht sicher, ob sie überhaupt noch am Leben war.

Sally mit ihren blassblauen Haaren hingegen wirkte komplett unbeeindruckt. Sie lief auf die Maschinen zu, beugte sich leicht vor und studierte die Monitore. Daneben stand eine Vase mit Blumen, und ein Dufthauch stieg mir in die Nase, allerdings war er mit etwas fast ekelerregend Süßlichem durchsetzt.

»Setzen Sie sich doch.« Sally schien mit den Monitoren fertig zu sein und richtete sich auf. »Aber vielleicht ist es besser, Sie wecken sie nicht.«

»Klar.«

»Da ist Wasser auf dem Tisch, wenn sie aufwacht und durstig ist.« Sie zeigte auf den Bettrahmen. »Und da ist der Alarmknopf, falls etwas sein sollte.«

»Danke«, sagte ich.

Als sie ging, schloss sie die Tür hinter sich.

Und dann Stille.

Also, nicht ganz. Das Fenster direkt neben dem Bett stand halb offen, und ich konnte das beruhigende, einschläfernde Rattern eines Rasenmähers aus der Ferne hören. Und darunter – ganz langsam und flach – die Atemzüge meiner Mutter. Dazwischen lagen lange Sekunden, in denen sie gar nicht zu hören war. Als ich sie ansah, fiel mir zum ersten Mal, seit ich eingetreten war, das Blumenmuster auf der Bettwäsche auf, und der Anblick weckte den Hauch einer Erinnerung. Es war nicht dieselbe Bettwäsche, die ich in meiner Kindheit gekannt hatte, aber sie sah doch verblüffend ähnlich aus. Sally musste sie von uns zu Hause geholt haben, damit meine Mutter sich hier ein wenig heimischer fühlte.

Ich sah mich um. Das Zimmer erinnerte mich an eins der Wohnheimzimmer aus meinem ersten Semester an der Uni: klein, aber nicht ungemütlich, mit einem eigenen Bad in der Ecke, Tisch und Kleiderschrank an der Wand gegenüber vom Bett. Auf diesem Tisch hier lagen mehrere Dinge. Einige davon waren eindeutig medizinischer Natur – leere Fläschchen, offene Tablettenschachteln, ein paar Streifen Verband. Andere sahen vertrauter aus, normaler: ein Stapel ordentlich zusammengelegter Wäsche. Eine Brille in einem offenen Brillenetui. Das Hochzeitsbild meiner Eltern. Das hatte früher in meiner Kindheit auf dem Kaminsims gestanden. Es war so arrangiert, dass meine Mutter es vom Bett aus sehen konnte, sobald sie aufwachte.

Ich ging ein Stück näher. Das Foto hätte eigentlich einen glücklichen Moment einfangen sollen, aber während meine Mutter tatsächlich lächelte und optimistisch aussah, blickte mein Vater wie immer ernst drein. An einen anderen Gesichtsausdruck konnte ich mich aus meiner Kindheit nicht erinnern, sei es im Widerschein der Feuer, die er ständig im Hinterhof angezündet hatte, oder in der Dunkelheit unseres Hausflurs, auf dem wir stets wortlos aneinander vorbeigegangen waren. Er war immer bitterernst und griesgrämig gewesen – ein Mann, den das Leben auf ganzer Länge enttäuscht hatte –, und wir waren beide froh, einander los zu sein, als ich zu guter Letzt von zu Hause auszog. In all den Jahren, in denen ich mit meiner Mutter telefoniert hatte, hatte sie ihn nie auch nur erwähnt. Als er vor sechs Jahren gestorben war, war ich nicht zur Beerdigung nach Gritten gefahren.

Ich ließ den Blick weiterschweifen und entdeckte etwas, was mir zuvor nicht aufgefallen war. Ein dickes Buch, das mit dem Titel nach unten auf dem Tisch lag. Es sah alt aus und zerlesen, der Buchrücken verzogen, als wäre das Buch mal nass geworden. Meine Mutter war nie eine begeisterte Leserin gewesen, mein Vater hatte alles Fiktive sogar rundheraus abgelehnt und auf mich, der Romane liebte, spöttisch herabgeschaut. Vielleicht hatte meine Mutter nach seinem Tod ja eine Leidenschaft fürs Lesen entwickelt, und möglicherweise hatte sie vor ihrem Unfall dieses Buch gelesen. Nett von Sally, auch wenn es mir ein bisschen zu optimistisch vorkam zu glauben, dass meine Mutter es in ihrem derzeitigen Zustand noch fertig lesen könnte.

Ich drehte das Buch um, vom Umschlag grinste mir eine rote Teufelsfratze entgegen – und ich ließ es sofort fallen, als hätte ich mir daran die Finger verbrannt.

Sie sind dein Albtraum.

»Paul?«

Ich zuckte heftig zusammen und drehte mich um. Meine Mutter war aufgewacht. Sie hatte sich auf die Seite gedreht, auf den Ellbogen aufgestützt und sah mich misstrauisch an – zumindest mit dem Auge, das ich erkennen konnte. Ihr dünnes graues Haar fiel hinab aufs Kissen.

Mein Herz schlug eindeutig zu schnell.

»Ja.« Ich sprach leise, versuchte, mich wieder zu beruhigen. »Ich bin’s, Mama.«

Sie runzelte die Stirn. »Du hättest … nicht herkommen sollen.«

Neben dem Bett stand ein Stuhl. Langsam ging ich darauf zu und setzte mich. Sie folgte mir mit dem Blick – argwöhnisch wie ein Tier, das im nächsten Moment die Flucht ergreifen würde.

»Du hättest nicht kommen sollen«, sagte sie wieder.

»Ich musste kommen. Du bist gestürzt. Erinnerst du dich daran?«

Sie starrte mich einen Moment lang an. Dann schien sich ihr Misstrauen zu legen. Sie beugte sich zu mir vor und flüsterte verschwörerisch: »Ich hoffe, Eileen ist nicht da.«

Ich sah mich verunsichert um. »Nein, Mama, sie ist nicht da.«

»Ich sollte so etwas nicht sagen. Aber wir wissen beide, was für eine Hexe diese Frau ist! Der arme Carl!« Sie machte ein trauriges Gesicht. »Und der arme James! Wir tun das für ihn, nicht wahr? Ich glaube, du weißt das. Wir müssen nicht darüber reden, aber du verstehst mich schon.«

Sie schien an einem anderen Ort und in einer anderen Zeit zu sein.

Aber diesen Ort und diese Zeit kannte ich.

»Ja, Mama«, sagte ich. »Ich hab es verstanden.«

Sie ließ sich vorsichtig zurücksinken und schloss die Augen. »Du hättest nicht kommen sollen.«

»Willst du etwas trinken?«, fragte ich.

Für einen Moment schwieg sie, lag einfach nur da und atmete regelmäßig, so als würde es einen Augenblick dauern, bis sich die Frage durch den Irrgarten ihres Gehirns vorgearbeitet hätte. Ich hatte wenig Hoffnung, dass sie je am Ziel ankäme, aber mir war nichts eingefallen, was ich sonst hätte fragen können. Und dann urplötzlich schnellte meine Mutter hoch, setzte sich auf und packte mich am Handgelenk. Alles geschah so schnell, dass ich nicht hatte zurückweichen können.

»Du hättest nicht kommen sollen!«, kreischte sie.

»Mama …«

»Rote Hände, Paul! Da sind überall rote Hände!«

Sie hatte die Augen weit aufgerissen, und ohne auch nur ein einziges Mal zu blinzeln, starrte sie mich entsetzt an.

»Mama …«

»Rote Hände, Paul!«

Sie ließ mich los und sackte zurück auf die Matratze. Unwillkürlich sprang ich auf und taumelte ein Stück zurück. Der weiße Abdruck ihrer Finger auf meiner Haut war immer noch zu erkennen. Ich sah ein Klettergerüst vor mir, einen mit roten Flecken besudelten Boden, und ihre Worte hallten mit jedem Herzschlag in meinem Kopf wider.

Rote Hände, rote Hände, überall rote Hände …

»Gott, Paul, es ist im Haus!«

Im nächsten Moment verzerrte meine Mutter gequält das Gesicht und kreischte die Zimmerdecke an – oder vielleicht auch irgendetwas, was über ihr schwebte und was ich nicht erkennen konnte.

»Es ist im verdammten Haus!«

In heller Panik tastete ich nach dem Alarmknopf.

3

In den Sommerferien, als ich vierzehn war, fuhr meine Mutter mit mir und meinem Freund James zur Gritten Park, unserer neuen Schule. Wir hatten James gleich früh am Morgen abholen wollen, und ich weiß noch, wie meine Mutter mir auf dem Weg zur Haustür zuflüsterte: »Ich hoffe, Eileen ist nicht da.«

Ich nickte. Das hoffte ich auch. Eileen war James’ Mutter. Nicht dass man das gemerkt hätte, so wie sie ihn behandelte. Nie konnte James es ihr recht machen – sofern sie ihn überhaupt mal zur Kenntnis nahm. Ich hatte immer ein bisschen Angst vor ihr. Sie roch nach Sherry, schien Kette zu rauchen – immer mit einer Hand am anderen Ellbogen – und sah einen misstrauisch an, als würde sie einen verdächtigen, sie soeben beklaut zu haben.

Doch an diesem Morgen machte Carl die Tür auf.

Carl war James’ Stiefvater, und den fand ich richtig klasse. James’ leiblicher Vater hatte Eileen noch während der Schwangerschaft sitzen lassen, und Carl hatte James wie einen eigenen Sohn großgezogen. Er war ein bescheidener Mann, ruhig und freundlich, und obwohl ich froh war, dass er so nett zu James war, fragte ich mich doch, wie er mit einer Frau wie Eileen hatte enden können. Carl und meine Mutter waren Sandkastenfreunde, und ich nahm an, dass sie es sich auch nicht erklären konnte. Jahre zuvor hatte ich mal gehört, wie die beiden sich unterhalten hatten. Du hättest es besser treffen können, weißt du, hatte meine Mutter zu ihm gesagt. Es hatte eine Weile gedauert, ehe Carl darauf erwidert hatte: Ehrlich gesagt glaube ich das nicht.

Carl sah an jenem Morgen müde aus, aber er lächelte uns beide freundlich an, bevor er sich umdrehte und nach James rief, der einen Augenblick später an der Tür erschien – in einer ausgebeulten Jogginghose, einem alten T-Shirt und mit einem schiefen Grinsen im Gesicht. Er war ein zurückhaltender Junge, schüchtern, höflich, komplett defensiv. Immer darauf bedacht, alle zufriedenzustellen, nur dass er nie so recht wusste, was die anderen wollten.

Außerdem war er mein bester Freund.

»Auf geht’s, ihr zwei Bengel«, sagte meine Mutter.

Zu dritt marschierten wir los, in Richtung der Schnellstraße, die unsere Siedlung mit dem Rest von Gritten verband. Der Morgen war warm und die Luft voll von Staub und Mücken. Der Stahl schepperte unter unseren Füßen, als wir die Überführung zur Bushaltestelle auf der anderen Straßenseite überquerten. Unter uns floss ein steter Strom aus Lkws und Sattelzügen vorbei. In unserer Siedlung war von Verkehr nie viel zu spüren; auf einer Karte musste man sie regelrecht suchen, obwohl sie ganz offiziell ein Stadtteil von Gritten war. Aber sogar der Name – Gritten Wood – zollte eher dem nahe gelegenen Wald Tribut als der Vorstellung, dass so weit abseits noch irgendwer wohnen könnte.

Endlich tauchte der Bus in der Ferne auf.

»Euer Fahrgeld habt ihr?«, fragte meine Mutter.

Wir nickten beide, allerdings verdrehte ich heimlich die Augen, und James grinste zurück. Wir fuhren schließlich nicht zum ersten Mal Bus, und die Gritten Park hatten wir im vergangenen Schuljahr schon einmal besucht, als gerade bekannt geworden war, dass es unsere eigene kleine Schule bald nicht mehr geben würde. Aber auch wenn James es nie zugegeben hätte, hatte er Bammel davor, ab dem kommenden Schuljahr an eine neue Schule zu gehen, und meine Mutter hatte sich überlegt, wie wir ihm helfen könnten, ohne dass er sich bloßgestellt fühlte. Ich spielte das Spielchen bereitwillig mit.

Die Fahrt dauerte etwa dreißig Minuten. Gritten war ziemlich ärmlich und der Blick aus dem Busfenster trostlos. Stellenweise konnte man leer stehende von bewohnten Gebäuden nicht unterscheiden. Ich wäre am liebsten von hier abgehauen – irgendwo anders hingezogen und nie wieder zurückgekehrt –, aber dass es je dazu käme, war schwer vorstellbar. Dieser Ort hatte eine ganz spezielle Magie – er hielt fest, was immer man hier fallen ließ. Und das galt auch für Leute.

Vom Bus brauchten wir etwa fünf Minuten zu Fuß zur Gritten Park.

Die Schule war noch viel größer und furchterregender, als ich sie in Erinnerung gehabt hatte. Die Turnhalle war rund hundert Meter von der Hauptstraße zurückversetzt, und die riesigen Scheiben reflektierten den ausdruckslosen Himmel und bannten ihn in Glas. Dahinter war ein Stück des Hauptgebäudes zu sehen: vier Stockwerke voller schmuddeliger, eintöniger Flure; massive, schwere Türen zu den Klassenräumen, so wie ich mir Türen im Gefängnis vorstellte. Hauptgebäude und Turnhalle standen nicht ganz rechtwinklig zueinander, sodass es von der Straße aussah, als würde sich die Schule vom Boden aufrappeln und eine Schulter irgendwie angeknackst und schief den ganzen Rest überragen. Ich sah zur Turnhalle. Das Gelände rundherum wurde gerade saniert, und ich konnte das Rattern eines Pressluftbohrers hinter der Absperrplane hören. Ein immer wieder unterbrochenes Stakkato wie von fernen Maschinengewehrsalven.

Wir blieben stehen.

Und ich weiß noch, wie unwohl ich mich fühlte. Diese Schule strahlte etwas Bösartiges aus – in ihrer Stille, in der Art und Weise, wie sie zu mir zurückstarrte. Dass James beunruhigt war, weil wir bald hierhergehen sollten, hatte ich schon irgendwie nachvollziehen können. Die Schule war riesig – Heimat, wenn man es so nennen wollte, für mehr als eintausend Schüler –, und James war immer schon das perfekte Mobbingopfer gewesen. Trotzdem war er mein bester Freund. Ich hatte in der Vergangenheit immer gut auf ihn aufgepasst, redete ich mir ein, und das würde auch weiter so bleiben. Trotzdem war etwas so Seltsames an dieser Schule, die ich in diesem Augenblick vor mir sah, dass mich bereits da ein leiser Zweifel beschlich.

Die Stille dehnte sich aus.

Ich weiß noch, dass ich mich zu meiner Mutter umdrehte und ihr die Verwirrung ansehen konnte – als hätte sie eine gute Tat tun wollen und ahnte, dass es schiefgegangen war.

Und ich weiß auch noch, wie James aussah. Er starrte vollkommen panisch zu den Gebäuden hinüber. Dieser Ausflug hatte ihm alles andere als gutgetan.

Es wirkte fast, als wäre er hergebracht worden, um zu sehen, wo er hingerichtet würde.

Der direkte Weg vom Hospiz in die Siedlung hätte ausgerechnet an der Schule vorbeigeführt. Also fuhr ich einen Umweg. Solange es nur ging, wollte ich jede Konfrontation mit den schrecklichen Ereignissen von damals vermeiden.

Nur war das nicht länger möglich, sobald ich Gritten Wood erreichte. Die Siedlung, in der ich aufgewachsen war, schien sich in der Zwischenzeit kein bisschen verändert zu haben. Dieses Spinnennetz aus stillen, verwaisten Straßen war mir sofort wieder zutiefst vertraut, der dunkle Waldrand dominierte noch immer die Kulisse und überragte die heruntergekommenen zweistöckigen Häuser auf ihren stoppeligen Grundstücken. Irgendwie hatte ich das Gefühl, dass sogar der feine Sand, der unter meinen Reifen aufstob, derselbe war wie in meiner Kindheit. Hier wirbelte er auf, dort setzte er sich wieder ab, aber weit kam er nie.

Das mulmige Gefühl, das ich schon den ganzen Tag über gehabt hatte, wurde stärker. Ich sah diesen Ort nicht nur vor mir, ich spürte ihn wieder. Erinnerungen drohten hochzukommen – die Vergangenheit kräuselte bereits die Wasseroberfläche der Gegenwart –, und ich würde bloß versuchen können, sie bestmöglich von mir fernzuhalten. Das Lenkrad unter meinen Händen war inzwischen schweißnass, und das hatte nur bedingt mit den Außentemperaturen zu tun.

Der Besuch im Hospiz bei meiner Mutter saß mir immer noch in den Knochen. Nachdem ich den Alarmknopf gedrückt hatte, war Sally binnen einer Minute da gewesen, aber bis dahin war meine Mutter auch schon wieder eingeschlafen. Sally hatte beunruhigt sämtliche Apparate kontrolliert.

»Was ist passiert?«

»Sie ist aufgewacht und hat geredet.«

»Was hat sie gesagt?«

Ich hatte ihr nicht sofort geantwortet, weil ich ehrlich gestanden nicht gewusst hatte, was ich hätte sagen sollen. Meine Mutter habe mich wiedererkannt, erklärte ich schließlich, habe aber gewirkt, als sei sie ganz woanders gewesen und habe eine Erinnerung durchlebt, die sie eindeutig aufgeregt hatte. Allerdings erzählte ich Sally nicht, von wo und wann diese Erinnerung stammte – und auch nicht, was meine Mutter danach gesagt und wie heftig mich das erschüttert hatte.

Überall rote Hände.

Trotz der Hitze lief es mir eiskalt den Rücken hinunter. Ich versuchte noch immer, eine rationale Erklärung dafür zu finden. Meine Mutter war nicht mehr bei klarem Verstand und lag im Sterben. Da war es nur einleuchtend, dass sie sich in ihre eigene Vergangenheit zurückzog – und dass ein Teil davon sie durcheinanderbrachte. Aber ganz gleich, was ich versuchte, mir einzureden: Dieses mulmige Gefühl, diese schlimme Vorahnung wurde bloß immer schlimmer.

Du hättest nicht kommen sollen.

Aber ich war gekommen.

Vor dem Haus meiner Mutter stellte ich den Wagen ab. Wie fast alle Häuser in der Siedlung war es ein baufälliges zweigeschossiges Gebäude. Ein staubiger Durchgang nach hinten und Hecken – hauptsächlich Brombeergestrüpp – trennten es von den Nachbarn. Die Holzfassade war wettergegerbt. Die Fenster sahen allesamt dunkel und leer aus. Im Garten hatte es wild gewuchert. Regenrinnen und Fallrohre waren rostzerfressen und drohten jeden Moment auseinanderzufallen.

Das Haus hatte sich über die Jahre kaum verändert, es war lediglich alt geworden. Bei seinem Anblick stiegen starke Gefühle in mir auf. Hier war ich aufgewachsen. Dort drin hatten vor fünfundzwanzig Jahren zwei Polizisten mit mir darauf gewartet, dass meine Mutter nach Hause käme.

All das hatte ich hinter mir gelassen, doch hier war es die ganze Zeit gegenwärtig gewesen.

Ich stieg aus. Im Haus war das Erste, was mir auffiel, der Geruch – als würde man eine Kiste mit Kinderklamotten und Spielsachen aufmachen, sich darüberlehnen und einmal tief einatmen. Doch dann kamen sofort andere Gerüche hinzu. Die Wand entlang der Treppe war mit schwarz-grauen Schimmelflecken übersät. Der Putzmittelgeruch in der Luft konnte nicht über den Staub und die Feuchte hinwegtäuschen. Es roch nach Ammoniak. Und dann war da der gleiche ekelerregend süßliche Geruch, den ich auch im Hospiz wahrgenommen hatte.

Dieser Geruch war im Wohnzimmer am stärksten. Hier hatte meine Mutter eindeutig die meiste Zeit verbracht. Sally schien ein bisschen sauber gemacht zu haben, aber bei dem Haufen Decken auf der Sofalehne – auch wenn sie ordentlich zusammengelegt waren – hatte ich sofort ein improvisiertes Bett vor Augen. Ein Beistelltischchen war danebengerückt worden. Es war leer, aber ich konnte mir vorstellen, was dort gelegen hatte.

Die Brille meiner Mutter. Ein Glas Wasser.

Das Buch vielleicht, das ich im Hospiz in der Hand gehalten hatte.

Sie sind dein Albtraum.

Zurück im Flur folgte ich dem Ammoniakgeruch zum winzigen Gästeklo hinter der Treppe. Ein paar Fliegen surrten gegen das dunkelgrüne Glas des Fensterchens, und der Teppich davor war aufgerollt und in eine Tüte geschoben worden. Es dauerte ein paar Sekunden, bis mir dämmerte, warum: Weil sie es in den letzten Wochen nicht mehr nach oben geschafft hatte, musste sie das Klo als Bad benutzt haben.

Bei der Vorstellung, wie meine Mutter, diese abgemagerte und körperlich wie geistig geschwächte Frau, sich innerhalb eines sich stetig verkleinernden Radius bewegt haben musste, hatte ich schlagartig ein schlechtes Gewissen.

Du hättest nicht kommen sollen.

Doch, trotz allem hätte ich kommen müssen.

Die Treppe knarzte unter meinen Schritten, und zögerlich setzte ich einen Fuß nach dem anderen auf. Auf halber Treppe warf ich einen Blick zurück. Durch die Glasscheibe in der Haustür fiel ein Streifen Licht auf ein paar Bodendielen, die allem Anschein nach saubergewischt worden waren. Wieder dauerte es einen Moment, bis mir klar wurde, was ich dort vor mir sah. Dort musste meine Mutter nach ihrem Sturz gelegen haben.

Oben blieb ich vor dem Zimmer stehen, das früher eine gefühlte Ewigkeit lang mein Kinderzimmer gewesen war. Die Scharniere quietschten, als ich die Tür aufschob und dahinter immer mehr zum Vorschein kam. Nichts hatte sich verändert. Augenscheinlich hatten meine Eltern in all den Jahren, seit ich von hier weggezogen war, das Zimmer nicht benutzt. Der einzige Unterschied zu früher war, dass es mir jetzt viel kleiner vorkam. Mein altes Bett stand noch an der Wand – das Metallgestell und die abgezogene Matratze –, und der alte Holzschreibtisch stand immer noch gegenüber am Fenster. Viel mehr hatte ich nie besessen. Meine Klamotten hatten am Boden vor dem Heizkörper gelegen, und meine Bücher hatte ich zu windschiefen Türmen die Wand entlang gestapelt.

Es war fast, als wäre ich gestern erst ausgezogen. Ein Teil von mir konnte regelrecht den Jungen vor sich sehen, der spätabends noch an seinem Schreibtisch saß und an den Geschichten arbeitete, die er damals so gern geschrieben hatte.

Ich durchquerte das Zimmer und zog die Vorhänge über dem Schreibtisch beiseite, um Licht hereinzulassen. Vor mir lag der verwilderte Garten, hinter dem Zaun fing der Wald an.

Die Siedlung Gritten Wood mochte nach diesem Wald benannt worden sein, aber wie allen anderen Einwohnern auch war er mir unter dem Namen »Shadows« bekannt. Solange ich denken konnte, hatten das immer schon alle gesagt. Trotz der Sonne, die auf die eine oder andere Lichtung fiel, hatte der Wald stets gewirkt, als wäre er tiefdunkel und voller Geheimnisse – wir waren immer »in die Schatten« gegangen. »In den Wald« hätte nicht annähernd gefahrvoll genug geklungen. Als ich jetzt hinab in den Garten blickte, holte mich eine Erinnerung aus den Schatten ein, eine tiefschwarze, unwillkommene Erinnerung.

Wie Charlie uns dorthin mitgenommen hatte.

Damals hatten wir uns am Wochenende immer auf dem alten Spielplatz getroffen, waren dann zu James nach Hause gelaufen und durch seinen Garten weiter in die Schatten. Wir waren meilenweit gewandert, Charlie immer vorneweg. Er hatte jedes Mal behauptet, in den Schatten würde es spuken und dass dort ein Gespenst umginge, aber obwohl ich mich dort tatsächlich irgendwie beobachtet gefühlt hatte, als hätte etwas zwischen den Bäumen gelauert, hatte ich normalerweise eher Schiss, dass wir uns verlaufen könnten. Der Wald war mir immer schon wie ein lebendiges, bedrohliches Wesen vorgekommen. Je tiefer man hineinlief, umso mehr fühlte man sich, als stünde man still – als wäre das Gehen bloß eine Illusion und als würde sich die Umgebung um einen herum verändern. Ganz so, als würden sich die Felder auf einem Schachbrett rund um die Figuren neu anordnen.

Trotzdem brachte Charlie uns jedes Mal wieder heil zurück.

Allerdings wusste ich auch noch genau, wie ich das letzte Mal mit ihnen dort gewesen war. Irgendwo tief drinnen zwischen den Bäumen und meilenweit von der nächsten Menschenseele entfernt hatte Charlie mit einer Katapultschleuder auf mein Gesicht gezielt.

Ich zog die Vorhänge wieder zu.

Und ich wollte gerade das Zimmer verlassen, als ich bemerkte, dass es nicht komplett ausgeräumt worden war – dass neben dem Schreibtisch eine alte Umzugskiste stand, deren Deckel mit mehreren Streifen braunen Paketklebebands zugeklebt und irgendwann wieder aufgeschnitten worden war, und jetzt war der Deckel lose. Vorsichtig ging ich davor in die Hocke und zog ihn auf.

In der Kiste lagen ein paar letzte Habseligkeiten von mir. Das Erste, was mir ins Auge sprang, war eine vergilbte Zeitschrift. Die Kunst zu schreiben. Genau wie bei dem Buch im Hospiz kribbelten meine Finger, als ich sie hochnahm. Eilig warf ich sie neben mir auf den Boden. Darunter hatte ein dünnes Buch gelegen. Ich wusste genau, worum es sich handelte, und wollte es lieber gar nicht ansehen geschweige denn berühren.

Doch darunter wiederum lag eine Handvoll alter Notizbücher. Die ich als Teenager für meine unbeholfenen Schreibversuche benutzt hatte.

Unter anderem.

Ich nahm das oberste heraus, schlug es auf und las den ersten Satz.

Ich bin auf dem dunklen Markt.

Mit einem Mal stoben in meinem Kopf Erinnerungen auf wie ein Vogelschwarm aus einem Baum.

James, der an jenem Tag auf dem Klettergerüst kauerte.

Später das Klopfen an der Tür.

Ein und derselbe Gedanke, den ich schon so oft gehabt hatte.

Du musst wegen Charlie etwas unternehmen.

Ich legte das Notizbuch wieder zurück. Trotz der Wärme zitterte ich. Als Sally mich Anfang der Woche angerufen, mir vom Unfall meiner Mutter erzählt und gefragt hatte, ob ich kommen könnte, hatte ich ihr nicht sofort geantwortet, weil die Vorstellung, nach Gritten zurückzukehren, für mich einfach nur entsetzlich gewesen war. Dann hatte ich mir alle Mühe gegeben, mir einzureden, dass die Vergangenheit Geschichte war. Dass ich nicht mehr daran würde denken müssen, was hier geschehen war. Dass ich nach all diesen Jahren in Sicherheit wäre.

Und ich hatte mich getäuscht.

Weil jetzt Erinnerungen düster und wütend auf mich einströmten und mir dämmerte, dass es völlig egal war, wie sehr ich mit der Vergangenheit abschließen wollte; was zählte, war vielmehr, ob die Vergangenheit mit mir abschließen wollte. Und während ich dem seltsamen Pulsieren der Stille im Haus lauschte, fühlte sich die schlimme Vorahnung, die ich schon den ganzen Tag lang gehabt hatte, zusehends wie das Grauen an, das ich vor fünfundzwanzig Jahren durchlebt hatte.

Etwas Grässliches würde passieren.

4

Damals

Es war Anfang Oktober, und wir gingen schon seit ein paar Wochen auf die Gritten Park School. An diesem Tag stand Rugby auf dem Stundenplan. James und ich hatten uns zusammen mit den anderen im Schulgebäude umgezogen und trotteten über den gepflasterten Weg in Richtung Sportplatz. Ich weiß noch, dass sich die Luft an meinen Oberschenkeln eisig anfühlte und mein Atem Wölkchen bildete. Um uns herum klang das Klackern der Stollen auf dem Weg stahlhart und schneidend.

Ich sah zu James, der wie ein Verurteilter neben mir herlief. Misstrauisch spähte er zu den größeren Jungs, die vorneweg gingen. Obwohl wir uns beide so unauffällig wie nur möglich bewegten, war James seit Tag eins von diversen Typen gemobbt worden. Ich gab mein Bestes, um mich vor ihn zu stellen, sobald wir zusammen waren, aber ich konnte nicht ständig bei ihm sein. Und das Rugby fühlte sich gerade an wie die Eröffnung der Jagdsaison – und der Sportplatz wie ein Ort, an dem Gewalt nicht nur toleriert, sondern sogar aktiv gefördert wurde.

Unser Sportlehrer, Mr. Goodbold, marschierte mit seinen Lieblingsschülern an der Spitze. Der Mann wirkte selbst wie eine ältere, größere Version eines Schulhofschlägers. Er hatte den gleichen provokant rasierten Schädel, den gleichen wuchtigen Körperbau, die gleiche Wut auf die Welt und die gleiche kaum verhohlene Verachtung für die weicheren, eher empfindsamen Schüler. Ich hatte ihn in Gritten ein paarmal mit seiner Bulldogge Gassi gehen sehen, und sie bewegten sich beide im gleichen kraftstrotzend-geduckten Takt.

An der Straße mussten wir kurz an einer Fußgängerampel warten, während der Verkehr gefährlich um die Kurve donnerte. Im Luftzug der vorbeirasenden Wagen biss ich die Zähne zusammen. So schnell, wie einige hier unterwegs waren, war ich mir nicht sicher, ob sie selbst bei Rot rechtzeitig hätten anhalten können.

Ich beugte mich zu James. »Das ist doch, als wäre jeder einzelne Schritt hier dazu gedacht, uns umzubringen.«

Er lächelte nicht einmal.

Als wir endlich sicher die Straße überquert hatten, führte Goodbold uns bis ans entlegene Ende des Sportplatzes, wo ein Aushilfslehrer schon mit einem Netz voller Rugbybälle herumhantierte. Der Himmel über uns war grau und endlos.

»Zwei Teams!«

Goodbold breitete die Arme aus und schaffte es irgendwie, seine Schützlinge allesamt in das eine und den kläglichen Rest ins gegnerische Team zu stecken.

»Am Spielfeldrand aufstellen! Sortiert nach Gewicht!«

Dann führte er die größeren Jungs übers Feld, während wir übrigen einander ansahen und uns grob nach Gewicht in einer Reihe aufstellten. Ich war einen guten Kopf größer als James, sodass ich ein Stück entfernt von ihm an der Seitenlinie landete. Der Aushilfslehrer drückte mir einen Ball in die Hand. Auf der anderen Seite sortierte Goodbold das Team, sodass der größte Junge unserem kleinsten genau gegenüberstand.

»Wenn ich pfeife«, rief er und hielt seine Trillerpfeife in die Höhe, »versucht ihr, den Ball bis hier raus übers Seitenaus zu bringen. Euer Gegenspieler versucht, das zu verhindern. Einfache Aufgabe. Haben mich alle verstanden?«