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Neuübersetzung von Hans Magnus Enzensberger Nach dem Absturz in der Wüste Sahara beschäftigte sich Antoine de Saint-Exupéry unermüdlich mit einem neuen Projekt. Ein Gesicht ging ihm durch den Kopf, das er – zeichnerisch ungeübt – unaufhörlich versuchte, auf Papier zu bringen. Das konnte nicht verborgen bleiben, und er bekam von seinem amerikanischen Verleger den Auftrag, eine Geschichte für Kinder zu schreiben. Was Antoine de Saint-Exupéry schrieb und zeichnete, ist bekannt. Entstanden ist ein Weltklassiker.
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Antoine de Saint-Exupéry
Der kleine Prinz
Übersetzt von Hans Magnus Enzensberger
dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München
Als ich sechs war, habe ich einmal ein Buch gelesen, das Wahre Geschichten hieß. Es handelte vom Urwald und war mit phantastischen Bildern illustriert. Auf einem davon war eine Riesenschlange zu sehen, die gerade ein wildes Biest verschlang. Ich habe es abgemalt, weil es mir gefiel.
In dem Buch stand: »Die Boa verschluckt ihre Beute auf einen Sitz, ohne sie zu zerbeißen. Dann kann sie sich nicht mehr rühren und schläft ein halbes Jahr lang, bis sie das Biest verdaut hat.«
Ich habe mich damals viel mit den Abenteuern beschäftigt, die so ein Dschungel zu bieten hat. Ich habe angefangen, mit meinen Buntstiften zu malen. Wollt ihr mein allererstes Bild sehen? Hier ist es:
Ich habe mein Werk Nummer eins den Erwachsenen gezeigt und sie gefragt, ob es ihnen einen Schreck einjage.
»Warum sollen wir vor einem Hut erschrecken?« Das war ihre Antwort.
Auf meinem Bild war aber gar kein Hut zu sehen, sondern eine Riesenschlange, die gerade dabei ist, einen Elefanten zu verdauen. Damit die Erwachsenen das endlich kapieren, habe ich extra dazugemalt, wie die Boa von innen aussieht. Den Erwachsenen muss man immer alles erklären.
Hier ist mein Bild Nummer zwei:
Die Erwachsenen haben mir davon abgeraten, Riesenschlangen zu malen, ganz egal ob von außen oder von innen. Interessiere dich lieber für Geographie oder Geschichte oder Rechnen oder Grammatik, sagten sie. Das führte dazu, dass ich schon mit sechs auf eine glänzende Künstlerkarriere verzichtete, weil niemand meine Bilder Nummer eins und zwei gut fand. Den Erwachsenen fehlte jedes Verständnis für meine Werke, und es ist zu mühsam, ihnen andauernd zu erklären, worauf es ankommt.
Ich musste einen anderen Beruf ergreifen, und so bin ich Pilot geworden. Ich bin auf der ganzen Welt herumgeflogen. Tatsächlich hat sich herausgestellt, dass die Geographie viel für sich hatte. Ein Blick auf die Karte, und ich wusste sofort, ob ich in China oder in Arizona war. Das ist praktisch, wenn man sich in der Nacht verflogen hat.
Im Lauf meines Lebens hatte ich viel mit seriösen Leuten zu tun. In meiner Umgebung gab es zahlreiche Erwachsene, die ich aus der Nähe studieren konnte. Besonders begeistert war ich nicht von ihnen.
Wenn ich einen traf, der mir gescheiter vorkam als die anderen, holte ich mein Bild Nummer eins hervor, das ich immer bei mir hatte. Ich wollte ausprobieren, ob er wirklich intelligent sei. Aber die Antwort war immer die gleiche: »Das ist ein Hut.« Daraufhin ließ ich es bleiben, mit ihm über die Boa, den Urwald oder die Sterne zu reden. Ich hielt mich an das, worauf er sich verstand: Politik und Golf, Poker und Krawatten. Dann war der Erwachsene froh, dass er einen so vernünftigen Menschen wie mich kennengelernt hatte.
Ich war also auf mich selbst angewiesen, weil keiner da war, mit dem ich mich richtig unterhalten konnte. Das ging so lange, bis ich vor sechs Jahren einmal eine Bruchlandung in der Sahara hatte. In meinem Motor war etwas kaputtgegangen. Ich war ohne Passagiere geflogen und hatte keinen Bordmechaniker dabei. So musste ich mich allein daranmachen, die Maschine zu reparieren. Das war nicht nur verdammt schwierig; es war lebensgefährlich. Ich wäre beinahe umgekommen, denn mein Trinkwasser reichte nur für acht Tage.
Am ersten Abend bin ich mitten in der Sandwüste eingeschlafen, tausend Meilen weit vom nächsten bewohnten Ort. Es war schlimmer als ein Schiffbruch mitten auf dem Ozean. Ihr könnt euch vorstellen, wie überrascht ich war, als mich am Morgen eine komische kleine Stimme weckte:
»Sei so gut und male mir ein Schaf.«
»Was sagst du da?«
»Mal mir bitte ein Schaf!«
Ich bin aufgesprungen, als hätte ein Blitz eingeschlagen. Ich rieb mir die Augen und sah genauer hin. Vor mir stand ein kleines, sonderbares Kerlchen, das mich ernsthaft betrachtete. Hier habt ihr das beste Porträt, das ich später von ihm gemalt habe:
Natürlich ist dieses Bild nicht so sympathisch wie der kleine Kerl. Dafür kann ich nichts. Die Erwachsenen haben ja, als ich sechs war, meine Künstlerkarriere kaputt gemacht. Das Einzige, was ich wirklich gelernt hatte, war, Riesenschlangen zu malen, ganz egal, ob von außen oder von innen.
Ich riss also die Augen auf und sah mir den Kleinen verwundert an. Ihr wisst doch, dass ich tausend Meilen weit von jeder menschlichen Behausung in der Wüste gelandet war. Aber was war los mit dem kleinen Kerl? War er halb tot vor Hunger, Durst, Angst oder Müdigkeit? Hatte er sich verirrt? Er machte nicht den Eindruck, als hätte er sich tausend Meilen weit in der Wüste verirrt. Als ich mich so weit gefasst hatte, dass ich wieder sprechen konnte, fragte ich ihn:
»Aber was machst du hier, in dieser verlassenen Gegend?«
Ganz ruhig und voller Ernst wiederholte er die Bitte:
»Sei so gut und male mir ein Schaf.«
Das war so rätselhaft, dass ich keinen Widerspruch wagte. Obwohl mir sein Verlangen absurd vorkam – schließlich befanden wir uns, wie gesagt, tausend Meilen weit weg von der nächsten Hütte und in Lebensgefahr –, zog ich ein Blatt Papier und einen Füllfederhalter aus der Tasche. Dann erst fiel mir ein, dass ich immer nur Geographie und Geschichte und Rechnen und Grammatik studiert hatte, aber leider wenig von der Kunst des Zeichnens verstand.
»Das macht nichts«, sagte er. »Zeichne mir ein Schaf.«
Das hatte ich noch nie versucht. Deshalb malte ich ihm eins von den beiden einzigen Bildern hin, die ich bis dahin zustande gebracht hatte: das mit der Riesenschlange, von außen gesehen. Stellt euch vor, wie verblüfft ich war, als ich hörte, was das Kerlchen dazu sagte:
»Nein, nein! Ich möchte keinen Elefanten im Bauch einer Riesenschlange. Riesenschlangen sind zu gefährlich, und ein Elefant braucht zu viel Platz. Bei mir zu Hause ist der Platz knapp. Ich brauche ein Schaf. Zeichne mir ein Schaf!«
Da habe ich eben eins gezeichnet.
Der kleine Kerl sah mir über die Schulter. Dann sagte er:
»Nein! Dein Schaf sieht ganz krank aus. Mach bitte ein anderes.«
Ich versuchte es.
Mein neuer Freund setzte ein nachsichtiges Lächeln auf:
»Du merkst wohl, dass das kein Schaf ist, sondern ein Widder. Das sieht man an den Hörnern.«
Also fing ich nochmals von vorne an. Aber auch diese neue Zeichnung wurde abgelehnt:
»Das ist ein viel zu altes Schaf. Ich möchte eines, das noch ein langes Leben vor sich hat.«
Da riss mir der Geduldsfaden. Es war höchste Zeit, meinen Motor zusammenzuflicken. Die nächste Zeichnung kritzelte ich eilig hin und brummte:
»Hier hast du eine Kiste. Da steckt das Schaf drin, das du brauchst.«
Ich war erstaunt, als das Gesicht meines kleinen Kritikers aufleuchtete, und er sagte:
»Genau so habe ich es mir gedacht. Sag mal, glaubst du, dass dieses Schaf viel Gras braucht?«
»Warum?«
»Weil bei mir zu Hause alles so klein ist …«
»Es wird schon reichen. Ich habe dir nämlich ein ganz kleines Schaf geschenkt.«
Er beugte sich über die Zeichnung.
»Ob es wohl klein genug ist? Aber siehst du? Jetzt ist es eingeschlafen.«
Das war meine erste Begegnung mit dem kleinen Prinzen.
Lange Zeit habe ich nicht verstanden, wo er hergekommen ist, der kleine Prinz. Er hat mich dauernd ausgefragt, aber wenn ich etwas von ihm wissen wollte, hat er einfach nicht hingehört. Erst nach und nach habe ich mir aus seinen Andeutungen zusammengereimt, was er verschwieg. Zum Beispiel, als er zum ersten Mal mein Flugzeug sah (ich habe es nicht gezeichnet, weil mir das zu kompliziert war) – da fragte er mich:
»Was ist denn das für ein Dings?«
»Das ist kein Dings. Das kann fliegen. Es ist ein Flugzeug und es gehört mir.«
Ich war stolz darauf, dass ich fliegen konnte. Da rief er:
»Na so was! Du bist also vom Himmel gefallen?«
»Ja«, sagte ich bescheiden.
»Das ist aber lustig …«
Und er fing an, mich auszulachen. Das ärgerte mich, denn ich mag es nicht, wenn man sich über meine Unfälle lustig macht.
Er aber fragte mich weiter aus:
»Du kommst also auch aus dem Himmel! Auf welchem Planeten bist du denn zu Hause?«
Plötzlich verstand ich, wie er hierhergekommen war, und ich bohrte weiter:
»Du kommst also von einem anderen Planeten?«
Wieder gab er keine Antwort. Er schüttelte nur ein wenig den Kopf und betrachtete mein Flugzeug.
»Na ja, mit diesem Dings kannst du natürlich nicht allzu weit gekommen sein …«
Eine ganze Weile schien er zu träumen. Endlich zog er mein Schaf aus der Tasche und vertiefte sich in mein Werk.
Ihr könnt euch vorstellen, dass ich seine Andeutungen über einen anderen Planeten ziemlich aufregend fand. Ich wollte mehr darüber wissen.
»Nun sag schon, woher du kommst, mein Kleiner? Wo bist du zu Hause? Wo willst du mein Schaf hinschleppen?«
Er dachte eine ganze Weile nach. Dann antwortete er:
»Das ist das Gute an der Kiste, die du mir geschenkt hast. Sie kann ihm als Stall dienen, wenn es dunkel wird.«
»Na also. Und wenn du nett zu mir bist, gebe ich dir auch noch einen Strick dazu, damit du das Schaf tagsüber anbinden kannst. Sogar einen Pflock lege ich dazu.«
Dieser Vorschlag schien dem kleinen Prinzen zu missfallen.
»Anbinden? Wozu denn das? Du hast ja komische Ideen.«
»Wenn du es nicht anbindest, wird es dir davonlaufen.«
Er lachte schon wieder.
»Davonlaufen? Wohin denn?«
»Irgendwohin, immer der Nase nach …«
»Das macht nichts«, gab der kleine Prinz zur Antwort. »Bei mir zu Hause ist es ja so klein.«
Und mit einem Hauch von Wehmut fügte er hinzu:
»Da kommt man nicht weit, wenn man immer geradeaus geht.«
Ich hatte noch etwas anderes herausgefunden, etwas Wichtiges: Sein Heimatplanet war kaum größer als ein Haus!