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Der stille Vogel fängt den Wurm
Martin Wehrle bringt es ans Licht: Das Zeitalter der Zurückhaltenden hat begonnen. Ein leises Wesen eröffnet ungeahnte Chancen, fürs Leben und für die Karriere – aber nur, wenn Introvertierte ihre speziellen Stärken nutzen: Besonnenheit, Tiefgang, ein gutes Urteilsvermögen. Martin Wehrle zeigt mit amüsanten Anekdoten und überraschenden Tipps, wie stille Menschen ihre Trümpfe in einer lauten Welt ausspielen.
Ein überzeugendes Plädoyer für mehr Lauterkeit und weniger Lautstärke, heiter und tiefgängig zugleich.
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Seitenzahl: 403
Buch
Ein leises Wesen eröffnet ungeahnte Chancen, fürs Leben und für die Karriere – aber nur, wenn Introvertierte ihre speziellen Stärken nutzen: Besonnenheit, Tiefgang, ein gutes Urteilsvermögen. Martin Wehrle zeigt mit amüsanten Anekdoten und überraschenden Tipps, wie stille Menschen ihre Trümpfe in einer lauten Welt ausspielen. Ein überzeugendes Plädoyer für mehr Lauterkeit und weniger Lautstärke, heiter und tiefgängig zugleich.
Autor
Der Erfolgsautor Martin Wehrle ist Deutschlands bekanntester Karriere- und Lebenscoach. Seine Bücher haben rund um den Globus begeisterte Leser gefunden, zuletzt erschien der Bestseller »Sei einzig, nicht artig«, »Bin ich hier der Depp?« und »Herr Müller, Sie sind doch nicht schwanger?!«. An seiner Karriereberater-Akademie gibt er Erfahrungen weiter und bildet mit großem Erfolg Coachs aus. Firmen schätzen ihn als unterhaltsamen Redner und Podiumsteilnehmer.
Kontakt: www.karriereberater-akademie.de und www.wehrle-redner.de
Außerdem von Martin Wehrle im Programm:
Sei einzig, nicht artig ( auch als E-Book erhältlich)
»Herr Müller, Sie sind doch nicht schwanger?!«
Bin ich hier der Depp?
Geheime Tricks für mehr Gehalt
Martin Wehrle
Der Klügere denkt nach
Von der Kunst, auf die ruhige Arterfolgreich zu sein
Die Ratschläge in diesem Buch wurden vom Autor und vom Verlag sorgfältig erwogen und geprüft, dennoch kann eine Garantie nicht übernommen werden. Eine Haftung des Autors bzw. des Verlags und seiner Beauftragten für Personen-, Sach- und Vermögensschäden ist ausgeschlossen.
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Originalausgabe
Copyright © 2017 Wilhelm Goldmann, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München
Illustrationen: Dirk Meissner
Cover: *zeichenpool
Covermotiv: shutterstock/Wision
Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling
MZ · Herstellung: sh
ISBN 978-3-641-18254-0V007
www.mosaik-verlag.de
»Man ist nie so lächerlich durch Eigenschaften,
die man besitzt, wie durch jene, die man zu haben vorgibt.«
François de La Rochefoucauld
Inhalt
Vorwort
Warum Großmäuler keine Vorbilder sind
Stiller Aperitif:
Kommt Ihnen das bekannt vor?
Klappe eins: Die Party-Falle
Klappe zwei: Die Party-Chance
Julia und die glorreichen Sieben
1 All die Schwätzer und ich:
Warum nicht jeder schüchtern ist, der sich so fühlt
Ein Leben ohne Blaulicht
Es ist nicht alles Gold, was brüllt!
Prominente Zurückhaltung: Der unsichtbare Erfolgsunternehmer
Der Lärm frisst seine Kinder
Der Wetterbericht der Seele: Wie sehen Sie sich selbst?
2 Der große Temperaments-Test:
Introvertiert, hochsensibel, glücklich?
Die Temperaments-Bombe
Das Kitzel-Geheimnis – warum Introvertierte mehr spüren
Der große Temperaments-Test: Wie introvertiert oder hochsensibel sind Sie?
Prominente Zurückhaltung:Der Schüler, der alles zweimal sagte
Der Stärken-Finder
Raus aus der Opfer-Rolle!
3 Stoppt den Action-Film!
Warum Sie nicht auf jeder Hochzeit tanzen müssen
Klappe zwei: Die Party-Chance
Hallo, Spiegel, gibt’s mich noch?
Prominente Zurückhaltung:Der Schüler, der alles zweimal sagte
Die Opa-Wilhelm-Strategie
Das entzauberte Fabelwesen
4 Die Smalltalk-Lüge:
Wie Sie den Phrasen-Hasen abhängen
Die rhetorische Gehirnwäsche
Der Wettkampf im Fahrstuhl
Achtung, Small-Stalker!
Die Reporter-Methode
5 Die No-Casanova-Strategie:
Warum ehrlich am längsten liebt
Beziehungsmarkt: Herz zu verkaufen!
Die Landkarte der Liebe
Partnersuche als Staatsgeheimnis
Ist mein Schatz ein Gegensatz?
Prominente Zurückhaltung: Ich schenke dir 100 Minuten!
6 Bewerbung ohne Kanonenkugel:
Wie Sie Baron Münchhausen ehrlich übertreffen
Die Abrakadabra-Bewerbung
»Ich bin doch kein Mauerblümchen!«
Fankurve im Vorstellungsgespräch
Prominente Zurückhaltung: Vom schlingernden Radfahrer zum Gipfelstürmer
Zehn Richtige: Lauter Erfolg für leise Bewerber
7 Meeting ohne Mätzchen:
Wie Sie die Ritter der Schwafelrunde beeindrucken
Wenn der Mund zur Mündung wird
Brainstorming: Die Dummheit des Schwarms
Endlich mitreden – so geht’s!
Von der Frau, die so laut schwieg, dass alle zuhörten
Prominente Zurückhaltung: Ein Vertrag bei Kerzenlicht
8 Das Rede-Duell:
Wie leise Töne Ihnen lauten Applaus bringen
Ein Stummfisch im Redeseminar
Liefern Sie Ihre Rede als Pizza-Bote!
Es lebe die Unzulänglichkeit!
Zehn Tipps für zurückhaltende Redner
Prominente Zurückhaltung: »Ich habe die Sache total verpatzt!«
9 Elefanten-Alarm:
Wie Sie mit Dickhäutern umgehen
Warum tue ich, was ich gar nicht will?
Im Hagel der Erwartungen
Die Kellner-Falle
Schließen Sie die Seelen-Tür!
Wir brauchen mehr Sensible!
Die zehn Elefanten-Bremsen
10 Die Schwätzer-Bremse:
Wie Sie Maulhelden entzaubern
Rede nie mit Säbelzahntigern!
Rote Karte für Schwätzer
Warum ein Gespräch keine Schlacht ist
Die sieben fiesesten Angriffe: So wehren Sie sich gegen Schwätzer!
Das Laber-Abwehr-Training
Die sieben fiesesten Angriffe: So wehren Sie sich gegen Schwätzer!
Das Angriffs-Abwehr-Training
Stilles Dessert:
Vom Reden zur Redlichkeit
Weiterführende Literatur
Quellenverzeichnis
Register
Zitatnachweis
Dieses Buch ist garantiert das falsche für Sie, falls Sie eine Besserungsanstalt von 350 Seiten erwarten, die Sie als zurückhaltender Mensch betreten und als Rampensau verlassen. Dieses Buch ist das falsche, wenn Sie Ihre dünne Haut durch einen Panzer ersetzen und mit stählerner Faust auf den Tisch hauen wollen. Keinen Rednerkurs will ich Ihnen aufs Auge drücken, Sie nicht für die Weltmeisterschaft im Smalltalk qualifizieren. Und es liegt mir fern, Sie vor einen Spiegel zu treiben, damit Sie sich dort die Körpersprache eines Burgschauspielers antrainieren.
Denn ich bin fest überzeugt, all diese Ratschläge gingen von einer falschen Voraussetzung aus: dass mit Ihnen etwas nicht stimmt, dass Sie zu zurückhaltend, zu sensibel, dass Sie selbst das Problem sind. Aber was, wenn es umgekehrt ist? Was, wenn Sie alle Stärken für Ihren Erfolg mitbringen? Was, wenn nicht in erster Linie Sie zu leise sind – sondern Ihre Umgebung zu laut?
In Amerika, dem Land der unbegrenzten Geschwätzigkeit, steigt die Zahl der Menschen, die sich für schüchtern halten, laut Studien sprunghaft an.1 Jeder Zweite hat mittlerweile das Gefühl, er sei ein Bewohner des Schneckenhauses. Und warum? Weil die Maßstäbe sich verschieben!
Wir leben in einer Lärmgesellschaft. Wer sich nicht von morgens bis abends wie ein Marktschreier anpreist (sondern mit Eigenlob zurückhält), nicht eine Konzerthalle voller jubelnder Freunde um sich versammelt (sondern gern allein oder unter wenigen Freunden ist) und nicht sein Intimleben wie eine Live-Reportage vor der Welt ausbreitet (sondern Privates privat belässt)– der fühlt sich heutzutage schon im Abseits.
Auch in Deutschland hat das Kontaktfreuden-Haus eröffnet, aus jeder Stellenanzeige springen uns Vokabeln an wie »offen«, »teamorientiert« und »aufgeschlossen«. Der Teamgeist spukt durch Großraumbüros, und über zurückhaltende Menschen wird gesprochen, als trügen sie eine unzeitgemäße Krankheit in sich: Introversion! Das klingt wie »Infektion«, nach Schweige-Bakterien auf einer gelähmten Zunge. Großmäuler geben oft den Takt vor, ihre Marotten werden zum Maßstab erklärt und gelten in vielen Büros als erstrebenswert:
Versprich mehr, als du halten kannst!
Rede über Dinge, von denen du nichts verstehst!
Drück Menschen an die Brust, die du kaum kennst!
Zeige immer gute Laune, auch wenn dir zum Heulen ist!
Schlag den ganzen Tag die Trommel, damit niemand die Chance hat, deine Pracht und deine Herrlichkeit zu überhören!
So lacht und lärmt es rund um die Uhr. Zurückhaltende Menschen fühlen sich unter Druck gesetzt, werden kritisch beäugt und immer wieder aufgefordert: »Sag doch auch mal was!« Der natürliche Vorgang des Schweigens wird zur Sprech-Verweigerung umgedeutet. Ein Stirnrunzeln bei einer kritischen Bemerkung reicht, damit einer raunzt: »Sei doch nicht so sensibel!« Und noch immer schreiben Lehrerinnen ihren Schülern ins Zeugnis: »Die mündliche Mitarbeit lässt zu wünschen übrig«, statt erfreut festzuhalten: »Das Kind besitzt die große Fähigkeit, Dinge im eigenen Kopf zu entwickeln, hört gut zu und lässt seinen Mitschülern viel Raum.«
Kann es wahr sein, dass die Vorlauten Ihnen als Vorbilder eingeredet werden? Haben Sie mal überlegt, warum Rednerkurse für Stille der Renner sind – während kein Dauerredner es für nötig hält, einen Kurs im Zuhören zu buchen? Und sind Sie einverstanden damit, dass Bücher für Hochsensible ein Verkaufsschlager sind – während es die Unsensiblen nicht für nötig halten, sich über ihr mangelndes Einfühlungsvermögen zu informieren?
Machen Sie sich bewusst, dass Ihre Eigenschaften kein Problem sind, sondern eine Chance! Ich gratuliere Ihnen, falls Sie vor dem Sprechen denken, statt umgekehrt (wie die Schwätzer). Ich gratuliere Ihnen, falls Sie in die Tiefe gehen, statt an der Oberfläche zu surfen. Und ich gratuliere Ihnen, falls Sie feinfühlig sind und anderen Menschen zuhören, statt pausenlos Ihr Ego zu produzieren.
Rät Ihnen dieses Buch also, Ihre Komfortzone keinen Zentimeter zu verlassen? Eben nicht! Sie lernen Wege kennen, wie Sie unter Schwätzern glänzen können, ohne selbst einer zu werden. Zum Beispiel erfahren Sie …
wie Sie mit unsensiblen Bemerkungen souverän umgehen, ohne einen Stacheldraht um Ihre Seele zu ziehen;
wie Sie im Meeting die Schwätzer ausstechen, ohne die gängigen Luftblasen der Selbst-PR zu produzieren;
wie Sie mit fremden Menschen ins Gespräch kommen, ohne peinliche Smalltalk-Phrasen zu dreschen;
wie Sie im Vorstellungsgespräch Ihre Qualitäten rüberbringen, ohne sich dabei wie ein Laienschauspieler zu fühlen;
wie Sie beim Flirten mit eigenen Qualitäten punkten, statt im Super(wo)man-Kostüm mit billigen Flirt-Tipps zu hantieren
und wie Sie das Wort in einer Gruppe auch dann ergreifen, wenn die Schwätzer es eigentlich nicht loslassen wollen (und das wollen sie nie!).
Setzen Sie Ihre Vorzüge so in Szene, dass es sich für Sie gut anfühlt: mit berechtigtem Selbstbewusstsein, aber ohne PR-Sprechblasen und Laber-Lametta. Denn die wichtigste Lektion ist die: Bleiben Sie echt! Widerstehen Sie der Versuchung, Schwätzer zu imitieren; denn in der Produktion heißer Luft sind diese Typen nicht zu schlagen, das garantiere ich Ihnen! Arbeiten Sie mit Ihrer Natur – und nie gegen sie.
Das heißt auch: Machen Sie nicht jeden Quatsch mit, nur weil andere ihn vormachen. Welche Partys sind überflüssig? Welche Flirts lohnen sich nicht? Welche Meetings dürfen Sie sausen lassen? Welche Dienstreisen absagen? Welche Gesprächspartner wie Baustellen weiträumig umfahren? Und welchen Netzwerken niemals ins Netz gehen? Sie werden staunen, was Sie sich alles schenken können, ohne etwas zu verpassen.
Und ich ermutige Sie, Maulhelden in ihre Grenzen zu verweisen. Dieses Buch liefert eine Bestandsaufnahme unserer Großmaul-Gesellschaft und enttarnt Tricks, mit denen Schwätzer sich in den Mittelpunkt quatschen, auch wenn sie nur Quatsch reden. Hier werden Sie fit für die rhetorische Notwehr. Erobern Sie die Lufthoheit über wichtige Debatten zurück.
Schluss damit, dass die Lautesten die Maßstäbe prägen, nur weil sie laut sind! Die Vernünftigsten sollen es tun, auch wenn viele von ihnen leise und sensibel sind. Packen Sie’s an! Damit Sie bekommen, was Sie verdient haben – auf die leise Weise!
Eine Anmerkung zum Sprachgebrauch: Als »zurückhaltende Menschen« bezeichne ich in diesem Buch Introvertierte und Hochsensible. Der Begriff »Schwätzer« aber meint nicht alle Extrovertierten, sondern nur den unangenehmen Teil: die Schaumschläger, Maulhelden und Allzu-viel-Versprechenden.
LEISE & WEISE
»Es sind nicht immer die Lauten stark, nur weil sie lautstark sind.«2
Konstantin Wecker, deutscher Liedermacher
Dieses Buch meint Sie, falls die folgende Geschichte nicht nur von Julia handelt, sondern zumindest in Ansätzen auch von Ihnen selbst.
Lange hatte Julia nach einem Grund gesucht, sich vor der großen Marketing-Party zu drücken. Plötzlicher Kopfschmerz? Übelkeit? Ein privater Termin? Doch solche Ausreden hatte sie schon viel zu oft benutzt. Und eben noch hatte ihr Chef am Messestand gemahnt: »Wir müssen Flagge zeigen bei dieser Feier.« Das hieß: Sie sollte auf die Party gehen, nur damit sie auf die Party gegangen war. Sachliche Gründe gab es keine.
Unschlüssig stand sie vor dem Saal. Die Bässe dröhnten wie Presslufthämmer. Das verstand sie bis heute nicht: warum erwachsene Menschen die Musik so laut aufdrehten, dass man brüllen musste, um noch verstanden zu werden – und an seinen Gesprächspartner dicht wie für einen Kuss heranrücken, um noch zu verstehen. Sie hatte empfindliche Ohren und litt unter stickiger Luft.
Hinter ihr lag ein anstrengender Tag am Messestand. Morgens war sie direkt aus dem überfüllten Frühstückssaal zur Messe gehetzt. Rund um die Uhr hatte sie den Stand betreut, umlagert von Menschen. Mittags hätte sie sich gerne für eine Pause zurückgezogen. Aber der Chef hatte ihr nahegelegt, am Stand zu bleiben – und ihr im Gegenzug eine Currywurst mitgebracht.
Dabei laugte es sie aus, reihenweise neue Menschen kennenzulernen – vor allem, wenn sie nicht als Einzelexemplare an den Stand kamen (dann fielen ihr die Gespräche am leichtesten), sondern als ganzer Schwarm. Vor einer Gruppe zu sprechen, fixiert von vielen Augen, das hasste sie. Schon in der Schule hatte sie sich selten gemeldet, auch wenn sie die Antworten wusste. Sie stand nicht gern im Mittelpunkt.
Dagegen hatte ihr Chef die Kunden mit dröhnenden Anekdötchen aus seinem Leben unterhalten. Je größer die Gruppen waren, desto mehr drehte er auf. Nur seine Fachaussagen blieben so dünn, dass Julia schon beim Zuhören rote Ohren bekam. Doch auf diese Tour war es ihm gelungen, dreimal so viele Visitenkarten wie Julia einzusammeln. Abends zählte er sie genüsslich und erklärte sich zum »Tagessieger«, wodurch sie sich zwangsläufig als Verliererin fühlte – sie konnte solche Wettbewerbe nicht leiden.
Ein Bassschlag riss sie aus ihren Gedanken. Sie zwang sich: Los jetzt, in den Saal! Zuckende Scheinwerfer ließen ihre Augen flackern. Die Luft war so dick, dass man sie hätte schneiden können. Wortfetzen flogen durch den Raum, Gelächter schwoll an und ab, Gläser klirrten. Gesichter hier, Gesichter dort. Julia fühlte sich überflutet von Reizen, also schnappte sie sich erst mal ein Sektglas und hielt sich daran fest.
An den Stehtischen hatten sich Grüppchen versammelt, die so taten, als würden sie miteinander reden. In Wirklichkeit – das kannte sie schon – wurden doch nur Monologe gehalten. Man brüllte sich Belanglosigkeiten zu, und sobald die Gefahr bestand, dass ein interessantes Gespräch aufkam, wechselte garantiert einer das Thema: von der Marktlage zur Wetterlage. Auf solchen Partys wurde viel geredet, aber wenig gesagt. Julia liebte es umgekehrt.
Sie wusste, was sie jetzt tun sollte: an einen der Tische gehen, sich vorstellen, ihre Visitenkarte austeilen – und mit fremden Menschen sprechen, als wären es ihre ältesten Bekannten. Und sie wusste, was sie jetzt viel lieber getan hätte: auf die Toilette gehen, allein sein und ein paar Minuten durchatmen.
Die Stimme kam von der Seite: »Julia, alte Freundin – wie geht’s?« Der Mann, der bis über beide Ohren grinste, eilte in bedrohlicher Geschwindigkeit auf sie zu. Im letzten Augenblick erkannte sie ihn als Michael Klein, einen ehemaligen Kollegen. Schnell streckte sie ihm ihre Hand entgegen, damit er nicht noch auf die blöde Idee kam, sie zu umarmen. Was brachte ihn dazu, sie als »Freundin« zu bezeichnen, nur weil sie vor fünf Jahren bei einem Projekt zusammengearbeitet hatten?
Seine Frage »Wie geht’s?« bezog Michael vorsichtshalber auf sich selbst und sprudelte los. Die neue Firma: großartig. Der neue Chef: sein Duzfreund. Sein Privatleben: nach der Scheidung – »Du erinnerst dich?« – wieder perfekt auf Kurs: neue Frau, neues Glück, Kinderpläne. Und dann, nach zwei Minuten, ehe Julia richtig zu Wort gekommen war: »Entschuldige, da drüben sehe ich gerade ein paar Bekannte. Hier meine Visitenkarte. Und viel Spaß noch!«
Dunkel erinnerte sich Julia, dass Michael Klein ihr damals jeden Tag mit seiner Ehekrise in den Ohren gelegen hatte, was ihr peinlich gewesen war – sie selbst hätte ein so intimes Thema niemals vor Kollegen ausgebreitet, sondern nur vor echten Freunden (davon hatte sie zwei). Aber sie galt als gute Zuhörerin, deshalb zog es Menschen mit Problemen zuverlässig an ihren Schreibtisch. Feine Signale reichten oft nicht aus, ein solches Gespräch zu beenden. Manchmal nervte es, dass sie mit den Sorgen anderer überschüttet wurde, während sich für ihre eigenen niemand zu interessieren schien.
Julia sah Michael hinterher. Er hatte sich zu einer Gruppe gesellt und schien sich prächtig zu unterhalten. Ach, einmal so unbeschwert wie er Menschen ansprechen! Am Stehtisch nebenan kicherte jemand. Etwa über sie? Immerhin stand sie hier so einsam in der Partylandschaft wie ein Kind, das seine Eltern im Kaufhaus verloren hatte.
Also gut, sie gab sich einen Ruck, trat an einen Tisch und murmelte ihren Namen. »Sehr erfreut!«, säuselten ein paar Menschen, ohne wirklich erfreut zu sein (ihr Lächeln war oberflächlich, das sah Julia). Ein Typ am Tisch schwang große Reden über Direktmarketing. Die anderen hingen an seinen Lippen, als spräche der Papst. Dabei durchschaute Julia seine Aussagen als Laienpoetik, denn Direktmarketing war ihr Fach. Zweimal wollte sie einhaken und korrigieren – aber bis sie sich ihre Worte zurechtgelegt hatte, war die Chance vorbei. Sie war einfach zu langsam! Als der Papst den Tisch wechselte, fragten einige nach seiner Visitenkarte. Julia streckte er auch eine hin – ungefragt! Nun begann ein oberflächliches Geplauder, zu dem sie ein paar Belanglosigkeiten beitrug, auch wenn sie sich schlecht dabei fühlte.
Um 23.30 Uhr – endlich! – brachen die ersten Gäste auf, darauf wartete Julia seit Stunden. Sie rief ein Taxi und fuhr zum nahen Hotel. Unterwegs machte sie sich Vorwürfe, dass sie kaum Visitenkarten eingesammelt und Kontakte geschlossen hatte. Sie war einfach zu introvertiert und sensibel, sie musste mehr aus sich herauskommen!
Erschöpft und unzufrieden ließ sie sich auf ihr Hotelbett fallen und schaltete das Licht aus. Sie würde schlecht schlafen heute Nacht.
LEISE & WEISE
»Lärm beweist gar nichts. Eine Henne, die ein Ei gelegt hat, gackert, als sei es ein Planet.«
Mark Twain3, US-Autor
Haben Sie in Julia Anteile von sich selbst wiedererkannt? Und fragen Sie sich, was hätte Julia anders machen können? Ohne Rhetorik-Training, ohne sich zu verstellen, eben auf ihre eigene Art? Nach dem Lesen dieses Buches wäre der Tag vielleicht so verlaufen:
Gut ausgeruht spazierte Julia an den Messestand. Statt sich in den vollen Frühstücksaal zu quetschen, hatte sie sich im Hotelzimmer einen Tee gekocht und ein Vollkorn-Sandwich gegessen. Danach hatte sie bei einem Morgenspaziergang im Park frische Luft getankt und den Sonnenaufgang genossen.
Am Messestand sagte sie zu ihrem Chef: »Ich übernehme die Einzelkunden.« Das war ihm mehr als recht, denn er brannte darauf, vor Gruppen den Alleinunterhalter zu spielen. Darin war er gut. Ihre Stärken lagen im Vier-Augen-Gespräch: Sie konnte zuhören, Themen vertiefen, Bedürfnisse erspüren und Angebote maßschneidern. So hob sie sich von den typischen Messeberatern ab, die jedem Kunden dieselbe Rhetorik-Soße übergossen. Ihre Gesprächspartner wussten das zu schätzen, im Laufe des Vormittags wurde sie mehrfach gelobt.
Alle zwei Stunden zog sich Julia zehn Minuten vom Messestand zurück. Sie hatte ihrem Chef am Vortag erklärt, dass sie ihren Akku zwischendurch aufladen muss, um den ganzen Tag hoch konzentriert und effektiv zu bleiben. Eine Mittagspause von 45 Minuten gehörte dazu. Zwar spürte sie, dass ihr Chef sie lieber am Stand behalten hätte (sie spürte ohnehin oft, was andere von ihr erwarteten). Aber in erster Linie fühlte sie sich für ihr eigenes Wohl verantwortlich, nicht für seines. Gemütlich aß sie zu Mittag, ging eine Runde um den Block und wechselte noch ein paar Worte mit ihrer Lieblingskollegin.
Der Tag war anstrengend, aber die Pausen lockerten ihn auf. Abends warf ihr Chef einen Stapel Visitenkarten auf den Tresen, um den Tagessieg auszuzählen. Sie schlug vor: »Lassen Sie uns doch zählen, wer mehr über die Wünsche der Kunden erfahren hat« – und begann mit einer Aufzählung, die immer länger wurde. Ihr Chef, der viel geredet, aber kaum zugehört hatte, verstummte und steckte die Visitenkarten wieder ein.
Abends stand die große Marketing-Party an. Julia hatte die Not zur Tugend gemacht und sich schon Wochen vorher mit Jan Schmidt verabredet, einem Branchenkollegen. Der arbeitete am selben Thema, ihr fachlicher Mailwechsel war tief und lebendig gewesen. Sie hatte gedacht: Besser ein produktives Zweiergespräch am Rande der Party, als in der Mitte unproduktiv mit einem Sektglas rumzustehen!
Tatsächlich wartete Jan vor dem Partysaal und winkte ihr zu; sie fühlte sich willkommen. Angesichts der lauten Bässe schlug sie vor: »Wollen wir uns erst mal hier draußen unterhalten? Dort drüben ist eine Sesselgruppe.« Jan stimmte freudig zu. Das Gespräch war spannend, sie lernte viel über die Strategien des Wettbewerbers.
Nach einer Stunde gingen sie gemeinsam in den Saal – da sie ins Gespräch vertieft war, bekam sie das Getöse nur am Rande mit. Jan führte sie an einen Tisch und stellte sie zwei Kollegen vor. Offenbar funkten sie mit Jan auf einer Wellenlänge, denn sie kannten sich fantastisch mit Direktmarkting aus – anders als ein Typ am Nebentisch, der so platt über das Thema dröhnte, dass seine Unkenntnis ihr in den Ohren noch mehr wehtat als die viel zu lauten Bässe.
Julia genoss das Gespräch mit den Fachkollegen, denn es ging um ihr Spezialgebiet. Wenn sie ein Thema liebte, fand sie die Worte immer viel leichter als sonst – zumal sie sich vorher überlegt hatte, welche Punkte sie mit Jan besprechen wollte. Auf diesen Vorrat an Gedanken griff sie immer wieder zurück. Sie mochte ihre Gesprächspartner und erfuhr viel über ein neues Direktmarketing-Tool. Morgen würde sie ihrem Chef davon berichten.
Ihr Blick wanderte durch den Saal. An einem Nebentisch kicherte es – offenbar amüsierten sich die Leute gut. Dann blieb sie hängen an einem Männergesicht. Der Typ kam ihr bekannt vor, wer war das bloß? Jetzt erinnerte sie sich: Michael Klein, ein Ex-Projektkollege. Immer wieder hatte er ihr Krisengeschichten aus seiner Ehe erzählt, bis sie ihm klar gesagt hatte: »Es ist mir unangenehm, dass du mir so intime Dinge aus deinem Leben erzählst.« Danach hatte er sie nie wieder behelligt, aber sie deutlich mehr respektiert. Jetzt, als sich ihre Blicke trafen, winkte er ihr kurz zu, fast ein wenig schüchtern.
Mittlerweile spürte sie Müdigkeit. Es war 21.45 Uhr – spät genug, um aufzubrechen. Sie kümmerte sich nicht darum, ob andere auch schon gingen, sondern folgte ihrem Bedürfnis. Mit den Kollegen am Tisch tauschte sie die Visitenkarten, bedankte sich für das Gespräch und brach auf.
Statt ein Taxi zu rufen, ging sie zu Fuß. Diese halbe Stunde Bewegung bis zum Hotel würde ihr helfen, den anstrengenden Tag abzuschütteln und ihre Gedanken zu ordnen. Sie fragte sich dasselbe wie jeden Tag: Was ist heute gut gelaufen? Sie dachte an den morgendlichen Sonnenaufgang im Park, ein produktives Kundengespräch und den erfrischenden Austausch mit den Fachkollegen.
Als sie die Tür des Hotelzimmers hinter sich schloss, hatte sie Abstand zum Tag gewonnen. Sie war zufrieden mit sich und dem Lauf der Dinge. Sie würde gut schlafen heute Nacht.
LEISE & WEISE
»Die größte Entscheidung deines Lebens liegt darin, dass du dein Leben ändern kannst, indem du deine Geisteshaltung änderst.«
Albert Schweitzer, deutsch-französischer Arzt
Jeden Tag können Sie sich für einen Lebensfilm entscheiden: Das Bühnenbild ist immer dasselbe, aber das Drehbuch in Ihrem Kopf bestimmt, was Sie aus der Szene machen.
Wie ist es Julia gelungen, ihren Tag beim zweiten Mal zu retten? Sieben Ansätze, die Ihnen noch ausführlicher begegnen werden, haben das Ruder herumgerissen:
Das Tankstellen-Prinzip: Julia hat erkannt, dass sie als ruhiger und sensibler Mensch Ruhe braucht, um Energie zu schöpfen und für Trubel gerüstet zu sein. Deshalb meidet sie unnötige Bäder in der Menge, zum Beispiel den überfüllten Frühstückssaal im Hotel, und zieht sich mehrfach für Pausen zurück. Ihr Gespräch mit Jan beginnt sie abseits des Lärms auf einer Sesselgruppe. Abends spaziert sie zum Hotel, um Stress durch Bewegung abzubauen.Der Stärken-Sensor: Julia konzentriert sich auf ihre Stärken, zum Beispiel bevorzugt sie Vier-Augen-Gespräche (erst am Messestand, dann bei der Party), hört mit feinen Antennen zu und geht bei der fachlichen Beratung in die Tiefe. So kann sie die geringere Zahl ihrer Kontakte durch eine hohe Qualität mehr als ausgleichen. Das kommuniziert sie offensiv an ihren Chef (siehe Punkt 5, Zöllner-Prinzip).Das Laut-leise-Team: Statt ihren extrovertierten Vorgesetzten als nutzlosen Schwätzer zu betrachten, erkennt sie ihn als ideale Ergänzung zum eigenen Talent – und überlässt ihm die Beratung der größeren Gruppen. Wie es in Fußballmannschaften Verteidiger und Angreifer braucht, damit ein konkurrenzfähiges Team entsteht, braucht es in Arbeitsgruppen für den Erfolg Leise ebenso wie Laute, Sensible ebenso wie Vorpreschende.Der Planungs-Marathon: Julia mag es nicht, spontan zu reagieren, aber umso mehr, Dinge von langer Hand einzufädeln. Ihr weiter Denkhorizont ermöglicht es, dass sie sich im Vorfeld der Party einen interessanten Gesprächspartner organisiert. Über diesen Kontakt schließen sich die weiteren Kontakte wie von allein.Das Zöllner-Prinzip: Julia setzt anderen Menschen klare Grenzen: ihrem Chef, als er sie zum Visitenkarten-Zählen herausfordern und ihr (suggestiv) die Mittagspause rauben will; und dem Kollegen, als er ihr immer wieder mit seinen Eheproblemen in den Ohren liegt. Sie unterwirft sich nicht den Bedürfnissen der anderen, sondern nimmt ihre eigenen wichtiger.Das Themen-Heimspiel: Julia hat ein Rezept entdeckt, wie sie ihre Redefreudigkeit steigern kann: indem sie über Themen spricht, in denen sie sich zu Hause fühlt, diesmal über Direktmarketing. Das Auswärtsspiel, vor anderen zu reden, fühlt sich wie ein Heimspiel an, sobald sie sich auf dem Platz ihrer vertrauten Themen bewegt. Zusätzliche Sicherheit bezieht sie aus ihrer guten Vorbereitung: Sie hat sich Fragen und Ideen für das Gespräch vorher überlegt.Die Positiv-Lupe: Julia bezieht das Gelächter vom Nebentisch nicht mehr auf sich, sondern geht davon aus, dass die Leute sich gut amüsieren. Abends fragt sie sich nach den besten Augenblicken des Tages, statt über mögliche Fehler nachzudenken. Sie hat begriffen, dass ihre Wahrnehmung wie eine Lupe ist und immer das vergrößert, worauf sie sich richtet. Wer oft über seine Stärken nachdenkt, wird sie automatisch verstärken und ausbauen – und sein Wohlbefinden steigern.LEISE & WEISE
»Erfahrung ist nicht das, was einem zustößt. Erfahrung ist das, was man aus dem macht, was einem zustößt.«
Aldous Huxley, britischer Autor
In diesem Kapitel erfahren Sie …
was Sie tun können, wenn Ihnen der Sauerstoff ausgeht, weil Sie ins Menschenmeer tauchen,
wie ein Erfolgsunternehmer sich unsichtbar und unfassbar reich machte,
warum Schwätzer zwar die Kurzstrecke, Sie aber den Marathon gewinnen
und wo leise und sensible Kinder als Anführer am beliebtesten sind.
»Tatütata«: Ein Polizeiwagen jagt durch den Stadtverkehr, drängt andere Autos zur Seite und hält mit quietschenden Reifen. Zwei Uniformierte springen heraus, mit baumelnden Pistolen am Halfter. Alles schaut hin. Wenig später hält daneben ein normaler Wagen. Zwei Menschen in Straßenkleidung steigen aus, Polizisten in Zivil. Niemand beachtet sie.
Zurückhaltende Menschen fahren ohne Blaulicht durchs Leben. Sie machen in der Öffentlichkeit nicht gern auf sich aufmerksam. Sie agieren wie Polizisten in Zivil: leise und effektiv. Zum Beispiel fällt mir in Karriereberatungen an ihnen auf:
Sie leisten Großes, ohne große Reden darüber zu schwingen. Sie sagen Sätze wie: »Das muss der Chef doch von alleine sehen!« Erfolg wollen sie haben durch ihre Leistung, nicht durch ihre Selbst-PR (wie sie dieses Wort hassen!).
Sie haben enorme Ansprüche an sich selbst und springen höher, als andere die Latte für sie legen. Weniger anspruchsvoll sind sie bei ihrem Gehalt und bei Statussymbolen – bis ihr ausgeprägter Gerechtigkeitssinn den Aufstand probt.
Sie haben das Glück, für jede Diskussion das beste Argument zu finden – und das Pech, dass es ihnen meist erst ein paar Stunden später einfällt, weshalb sie solche Gespräche dann gern im inneren Dialog fortführen und jene rhetorischen Treffer landen, die ihnen in der realen Situation versagt geblieben sind.
Sie könnten gut verzichten auf öffentliche Ehrungen, etwa die Kür zum »Mitarbeiter des Monats« – schon deshalb, weil sie lieber für sich oder unter Vertrauten sind, als im Mittelpunkt einer Masse zu stehen.
Sie sehen die Gletscherspalte eines Problems schon, bevor sie sich – zur Überraschung anderer! – tatsächlich öffnet. Dennoch werden ihre leisen Warnrufe oft überhört. Und manchmal sehen sie auch Probleme, wo’s keine gibt, denn sie sind sehr kritisch.
Sie empfinden persönliche Kritik als Boxhieb, der sie am Kinn trifft und regelrecht umwirft. Manchmal brauchen sie Wochen, um wieder auf die Beine ihres Selbstvertrauens zu kommen.
Sie haben feine Sensoren und spüren, wenn ein Konflikt sich zusammenbraut. Ebenso ahnen sie, was andere Menschen (heimlich) von ihnen erwarten. Solchen Wünschen kommen sie manchmal nach, um die Harmonie zu wahren – was langfristig zu Frust führen kann.
Wenn sie sich unterhalten, dann gerne mit Substanz und Tiefgang. Sie mögen keinen Smalltalk und halten es für moralisch fragwürdig, Netzwerke nur mit Blick auf einen möglichen Vorteil aufzubauen – weshalb sie im Büro und auch sonst nur wenige, aber dafür enge Freundschaften pflegen.
Ich weiß, wovon ich rede; ich gehöre selbst zu diesen Menschen. Zwar halte ich meinen Kopf gelegentlich vor Fernsehkameras, trete als Redner vor volle Säle und bin in der Lage, einen Smalltalk unfallfrei über die Bühne zu bringen. Aber was tue ich, sobald ich Feierabend habe? Ich fahre an einen Natursee, steige in mein Angelboot und rudere in meine Lieblingsbucht – vorzugsweise dann, wenn dort kein anderes Boot liegt. Auf dem Wasser, ganz für mich allein, bläst mir der Wind den Kopf frei. Dann kommen mir die besten Gedanken. Einzelne Menschen und Gespräche mag ich sehr, aber Lärm und Menschenmengen strengen mich an; ich muss mich in der Natur davon erholen.
Genau hier liegt der Unterschied zwischen introvertierten und extrovertierten Menschen. Die Introvertierten sind wie Quellen: Die Energie sprudelt aus ihnen heraus, sie kommt von innen und erneuert sich, wenn sie allein sind oder unter Vertrauten – während ihre Quelle verstopft, sobald sich viele Menschen um sie scharen und ein Sinneseindruck den nächsten jagt.
Umgekehrt bei Extrovertierten: Sie halten die Stille kaum aus. Wenn sie umringt von Menschen sind, neue Eindrücke sammeln und mit Höchsttempo durchs Leben fahren, dann strotzen sie vor Lebendigkeit. Sie gleichen Regentonnen: Die Energie kommt von außen. Ihr Speicher füllt sich nur, wenn es um sie herum ordentlich prasselt und quasselt, wenn (neue) Reize auf sie einhageln. Bleibt dieser Regen aus, verdunstet die Energie.
Ein Extrovertierter tankt nach einem Stresstag auf, indem er abends durch die Bars zieht, Freunde trifft oder durch die Disco hüpft. Eine Introvertierte wie Julia zieht einen stillen Spaziergang oder ein Treffen zu zweit vor.
Beide Temperamente sind in Ordnung, sollte man meinen. Doch von Kindheit an wird uns eingebläut: Gesellig zu sein ist gut, Rückzug ist schlecht. Wer sich dem Trubel entzieht oder eigenen Gedanken nachhängt, statt sich ins Gespräch einzumischen, hört schon als Kind: »Mach dich nicht zum Außenseiter!« Die Schule des Lebens senkt den Daumen: »Mündliche Mitarbeit: sechs – bitte setzen!«
Viele Zurückhaltende sehen sich als Mängelexemplare, hadern mit ihrer Natur und quälen sich von einem Rhetorikseminar ins nächste – immer in der Hoffnung, dass dieses Training ihr Charisma wachsen lässt wie ein Hanteltraining den Bizeps. Und dass sie – endlich, endlich! – zu den Lauten aufschließen können.
Aber ist das überhaupt erstrebenswert? Hat es nicht genauso Nachteile, extrovertiert zu sein? Nehmen Sie den Chef in Julias Geschichte. Zwar sammelt er die Visitenkarten stapelweise und unterhält Menschengruppen. Aber der hohen Quantität seiner Kontakte steht eine geringe Qualität gegenüber: Er weiß nichts über die Bedürfnisse der Kunden. Der Kontakt ist mehr als flüchtig. Wer nur oberflächliche Begegnungen hat, kennt die halbe Welt fast, aber niemanden richtig.
Oder Julias Ex-Kollege Michael: Sicher, er tut sich leicht damit, Menschen anzusprechen und ein Gesprächsthema zu finden – mit dem kleinen Haken, dass dieses Gesprächsthema ausschließlich er selbst ist, bis in intime Details wie Ehestreit und Kinderpläne. Und das geht entfernte Bekannte nun wirklich nichts an. Er verletzt Grenzen und ist eine Nullnummer in Empathie.
Oder finden Sie, der »Papst« am Stehtisch macht eine gute Figur? Schon wahr, alle Augen sind auf ihn gerichtet, er schwingt das Wort. Und als er abgeht, wird er nach seiner Visitenkarte gefragt. Als Redner hat er vielleicht überzeugt. Aber auch menschlich und als Fachmann? Kann es nicht sein, dass weiteren Gesprächsteilnehmern ebenso wie Julia seine Inkompetenz aufgefallen ist? Wer solchen Typen zuhört, vermutet aus der Ferne hinterm Wortnebel oft einen Kompetenzriesen. Aber wenn man näher kommt, bleibt von ihm nur übrig, was er selbst verbreitet hat: heiße Luft.
LEISE & WEISE
»Wer stark ist, kann sich erlauben, leise zu sprechen.«
Theodore Roosevelt, US-Präsident
TEMPERAMENT IM SCHNELLTEST
Wie ist es um Ihr Temperament bestellt? Und wie um Ihre Sensibilität? Hier bekommen Sie einen ersten Anhaltspunkt. Entscheiden Sie sich jeweils für eine Antwort:
1. Auf einer Party stehe ich gerne
a) im Mittelpunkt des Treibens.
b) etwas abseits im ruhigen Gespräch.
2. Wenn ich Fremde treffe,
a) fällt mir das Plaudern leicht.
b) komme ich schwer ins Gespräch.
3. Es ist für mich sehr entspannend
a) mit einer Gruppe von Freunden um die Häuser zu ziehen.
b) einen ruhigen Abend (mit Freunden oder ohne) zu verbringen.
4. Bei Gesprächen bin ich in erster Linie
a) jemand, der viel erzählt.
b) jemand, der viel zuhört.
5. Wenn ich etwas sage,
a) schieße ich oft aus der Hüfte.
b) denke ich vorher länger nach.
6. Lärm und unangenehme Gerüche
a) setzen mir überdurchschnittlich zu.
b) berühren mich nicht mehr als andere.
7. Wenn in einer Gruppe schlechte Stimmung herrscht,
a) färbt das schnell auf mich ab.
b) beeinträchtigt mich das nicht besonders.
8. Wenn ich im Fernsehen einen brutalen Mord sehe,
a) durchzuckt es mich, als wäre ich selbst das Opfer.
b) wühlt mich das nicht besonders auf.
Auswertung: Wenn Sie von Frage eins bis fünf mindestens dreimal Antwort »b« gewählt haben, neigen Sie wahrscheinlich zu introvertiertem Verhalten. Wenn Sie von Frage sechs bis acht mindestens zweimal Antwort »a« angekreuzt haben, sind Sie möglicherweise hochsensibel. Bitte nutzen Sie den ausführlichen Test ab Seite 79, um diese erste Einschätzung zu prüfen. Dann erfahren Sie, wie ausgeprägt Ihr Temperament ist – und welche Chancen und Risiken daraus erwachsen.
Wir alle kennen Menschen, die vor Selbstbewusstsein fast aus dem Anzug platzen. Immer haben sie einen Spruch auf den Lippen, eine Story auf Lager. Der Mittelpunkt jeder Party ist dort, wo sie sich aufbauen. Freundschaften schließen sie so schnell, dass man in Steno mitschreiben müsste, um auf dem neuesten Stand zu bleiben. Im Büro sind sie der Platzhirsch. In Meetings reden sie immer am lautesten und als Erstes. Selten finden sie die Ideen der anderen gut oder hören sie auch nur an.
Und trotzdem sollten Sie sich vorsichtshalber erneut die Visitenkarte geben lassen, wenn Sie einen solchen Typen ein paar Monate nicht gesehen haben – gut möglich, dass er auf der Karriereleiter gestiegen ist.
Geselligkeit ist gefragt in unserer Lärmgesellschaft, ohne Vitamin B geht wenig, ohne Sichtbarkeit nichts. Aber allzu oft mündet Geselligkeit in Geschwätzigkeit, und das Sprechen verkommt zum leeren Spruch. Menschen präsentieren sich wie Produkte im Werbefernsehen: mit Superlativen. Oft habe ich als Beobachter erlebt, dass Bewerber im Vorstellungsgespräch auf der Kanonenkugel den Job erobert haben.
Große Sprüche, große Wirkung? Auf der Kurzstrecke geht diese Gleichung auf, da sind die Schaumschläger immer einen Schritt voraus:
schneller gesehen,
schneller beliebt,
schneller eingestellt,
schneller befördert,
schneller im Bett mit einem Traumpartner.
Diese Seite der Wahrheit kennt jeder. Aber kennen Sie auch die andere Seite? Auf der Langstrecke gewinnen oft die Authentischen. Ruhige und sensible Menschen bringen Stärken mit, die es gar nicht nötig machen, sich zu verstellen. Denn sie bleiben auf Kurs, statt pausenlos zu schlingern; sie halten Wort statt nur große Reden; und sie gewinnen umso mehr Ansehen, je mehr Zeit vergeht, denn sie überzeugen durch Kompetenz, Zuverlässigkeit und Charakterstärke. Hinzu kommt eine starke Bodenhaftung. Diese Mischung ist ihr Erfolgsgeheimnis.
Denken Sie an Bundeskanzlerin Angela Merkel, eine introvertierte Frau, die zunächst als »Kohls Mädchen« verspottet und von Parteifreunden als hoffnungsloser Führungs-Lehrling gesehen wurde. Zu leise, zu unscheinbar, zu nett, hieß es hinter vorgehaltener Hand. Und doch hat sie es zur mächtigsten Frau Europas gebracht. Dank ihrer Rhetorik? Ach was, die nimmt es kaum mit einem Dorfbürgermeister auf. Dank ihres Charismas? Nein, vor ihr fließt allenfalls der Kuchenteig dahin (denn Backen gibt sie ungeniert als Hobby an).
Aber gerade weil Angela Merkel sich gibt, wie sie wirklich ist, kam sie bei den Leuten über viele Jahre sehr gut an. Sie verwendet keine Energie darauf, ihren Charakter zu verbergen, ihre Vorliebe fürs Backen genauso wenig wie ihre Neigung zur unspektakulären Rede. Sie wirkt nicht perfekt, nicht elegant, nicht wortgewandt – aber echter als ihre Konkurrenten.
Und hätte sie mich vorm Einzug ins Kanzleramt gefragt, ob sie ihre Körpersprache verändern soll, hätte ich ihr dringend abgeraten. Offenbar sah das ein Beraterkollege anders und hat ihr – »Damit Sie im Fernsehen besser rüberkommen!« – die »Merkel-Raute« antrainiert, diese seltsame Daumen-Zeigefinger-Haltung, die an dieser bodenständigen Frau das Künstlichste ist.
Man muss Angela Merkels Politik nicht mögen, um neidlos anzuerkennen: Aus ihren Stärken als zurückhaltende Frau hat sie mehr gemacht, als sie mit dem Austilgen der vermeintlichen Schwächen je hätte erreichen können.
Die Zeit ist der Freund der Zurückhaltenden – und der Feind der Großmäuler, denn sie werden von ihr entzaubert. Je länger man ihrem Treiben zuschaut, desto mehr durchschaut man ihre rhetorischen Tricks, ihre leeren Versprechungen und ihren Mangel an Substanz. Ihre Werte? Beliebig. Ihre Rhetorik? Windig. Ihre Persönlichkeit? Ein Fähnchen im Wind. Die Jahre verhageln den Schwätzern die Bilanz, eines Tages heißt es:
schneller abgeschrieben,
schneller unbeliebt,
schneller degradiert,
schneller geschasst,
schneller geschieden.
Denken Sie an Karl-Theodor zu Guttenberg, der wie ein politischer Messias aus einem bayrischen Dorf in den Berliner Politikzirkus einzog. Gefeiert wurde er in der BILD-Zeitung, hofiert von den Unternehmern, gehandelt als neuer Parteichef der CSU und gar als Nachfolger Angela Merkels. Und dass er nicht mit dem Amt des Papstes in Verbindung gebracht wurde, kann nur an seinem Ehering gelegen haben. Er hat den Menschen alles versprochen – und sie sich von ihm.
Dieser politische Wunderknabe: Was ist heute von ihm geblieben? Ex-Verteidigungsminister, Ex-Umfrageliebling, Ex-Promovierter. Die Zeit hat ihn gnadenlos entzaubert – während die leise Angela Merkel in den Jahren danach von einem Umfragehoch zum nächsten kletterte.
Aber bis Karl-Theodor zu Guttenberg mit seiner abgeschriebenen Doktorarbeit auf die Nase fiel und aus sämtlichen Ämtern, wurde er als großes Vorbild gepriesen, auch für Angela Merkel: Sie sollte sich mal eine Scheibe abschneiden von ihm, dem Weltmann und Großrhetoriker.
Ob an Ihrem Arbeitsplatz, bei der Familienfeier, im Verein oder auf dem Podium, vergessen Sie beim Blick auf dröhnende »Erfolgstypen« nie: Es ist nicht alles Gold, was brüllt – viele Schwätzer glänzen nur auf den ersten Blick, denn:
Wer sein Riesen-Ego wie einen Pokal vor sich herträgt, hat es offenbar nötig, sich selbst großzureden. Vor allem »histrionische«, also zur Hysterie neigende Persönlichkeiten bekämpfen ihre Selbstzweifel, indem sie um Aufmerksamkeit buhlen und andere »total blenden und bezaubern«.4 Wahres Selbstbewusstsein kommt ohne solches Getöse aus.
Wer andere mit Sprüchen beschallt, geht etlichen Menschen gehörig auf den Geist – erst recht, wenn er selbst aufmerksames Zuhören erwartet, aber nie in der gleichen Münze zurückzahlt. Gerade narzisstische Persönlichkeiten neigen zu der Überzeugung: »Die anderen sind nach mir dran.«5
Wer selbst in den Mittelpunkt drängt, schiebt andere beiseite. Er stiehlt ihnen Raum und Redezeit. Dabei mahnte schon Freiherr von Knigge: »Rühme (…) nicht zu laut deine glückliche Lage! Krame nicht zu glänzend deine Pracht, deinen Reichtum, deine Talente aus. Die Menschen vertragen selten ein solches Übergewicht ohne Murren und Neid.«6
Die Halbwertszeit seiner »Freundschaften« und »Erfolge« ist so kurz, dass eine frische Sardelle in der Mittelmeer-Sonne im Vergleich als haltbare Ware erscheint.
Und die hohen Erwartungen, die er bei anderen weckt, platzen oft wie ungedeckte Schecks. Wer sich selbst in den Himmel hebt, kann weit fallen und hart aufschlagen. Siehe zu Guttenberg.
Es gibt keinen Grund, vermeintliche »Charismatiker« zu beneiden; viele davon sind arme Würstchen und Scheinriesen. Machen Sie den Test und rufen Sie sich einen Menschen ins Gedächtnis, der beim Reden aus jedem Leistungskrümel eine Sahnetorte backt. Und jetzt führen Sie bitte folgende Sätze zu Ende:
Wenn er wirklich selbstbewusst wäre, dann würde er nicht …
.
Wer ihn länger kennt, kommt dahinter, dass …
.
Hinter seinem Rücken sagen andere (wohl) oft, dass er …
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Diese Qualitäten, die mich auszeichnen, fehlen ihm völlig:
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Dieser Blickwinkel hilft Ihnen, die Vorteile Ihres eigenen Temperaments zu würdigen. Die erste Voraussetzung, um als zurückhaltender Mensch Anerkennung zu finden? Erkennen Sie sich selbst an! Dann finden Sie Zugang zu Ihren Stärken und können es weit bringen. Wie man sieht: sogar bis ins Kanzleramt!
LEISE & WEISE
»Ein Langweiler ist einer, der seinen Mund aufmacht und seine Heldentaten hineinsteckt.«
Henry Ford, US-Unternehmer
Am 29. November 1971 lauerten zwei Männer, ein verschuldeter Rechtsanwalt und ein Tresorknacker, »Diamanten-Paul« genannt, vor einer Firmenzentrale in Herten bei Recklinghausen.7 Die Kirche schlug 19 Uhr, es war stockfinster. Ihr Augenmerk galt einem Mercedes 280 L mit dem Kennzeichen RE-AL 280. Wenn sie richtig informiert waren, würde in diesen Wagen gleich ein millionenschwerer Unternehmer einsteigen. Einen Erfolgstypen im Maßanzug erwarteten sie, mit Manschetten aus Gold und funkelnder Armbanduhr.
Stattdessen schlurfte aus dem Firmengebäude ein höchst unscheinbarer Mann. Sein Anzug war alt und abgewetzt, ein Kleidungsstück von der Stange. Aber das konnten die Entführer in der Dunkelheit nicht erkennen. Erst als sie den Mann geschnappt hatten, erschraken sie: Verdammt, das musste der Falsche sein, ein kleiner Buchhalter! Vorsichtshalber ließen sie sich den Ausweis zeigen. Dort stand der Name: Theo Albrecht – Gründer von Aldi Nord.
Seine Familie kaufte ihn mit sieben Millionen Mark Lösegeld frei, er überlebte. Danach tauchte er wieder ab in sein Element: vollkommene Zurückhaltung und Bescheidenheit. Nie gab er Interviews, nie tanzte er auf Promi-Partys, nie erhob er seine Stimme in öffentlichen Debatten. Keinem Unternehmer-Netzwerk gehörte er an, keinen Kongress besuchte er, nie betrat er eine Rednerbühne. Jahrzehntelang lagen Paparazzi vergeblich auf der Lauer, um ein neues Foto von ihm zu schießen.
In seiner Freizeit züchtete Theo Albrecht Orchideen, ging sonntags in die Kirche und blieb ein höchst bodenständiger Mensch, ebenso introvertiert wie sein Bruder Karl, der Inhaber von Aldi-Süd. Andere Unternehmer wirbelten durchs Land, machten fette Schlagzeilen und gaben rauschende Champagner-Empfänge. Als letzter Gast klingelte dann oft der Insolvenzverwalter, so wie beim Drogisten Anton Schlecker.
Die streng katholischen Albrecht-Brüder lebten auf kleinem Fuß, aber groß war ihr Erfolg. Auf die leise Tour, mit viel Fleiß und ohne Sprüche, stiegen sie auf zu den reichsten Deutschen. Ein Familienvermögen von geschätzten 30 Milliarden türmten sie auf.8 Sie konnten es sich leisten, aufs Klappern zu verzichten– denn sie verstanden ihr Handwerk.
Der Coaching-Dialog: »Mir fehlen die Worte!« (Teil 1)
Klient: Mein Kopf ist wie leergefegt, wenn ich in einer großen Runde sitze. Dann bin ich immer zu schüchtern, um die richtigen Worte zu finden und den Mund aufzumachen.
Coach: Zu »schüchtern«? Oder zu »introvertiert«?
Klient: Ist doch dasselbe!
Coach: Eben nicht. Wenn Sie schüchtern sind, leiden Sie unter einer sozialen Angst – Sie wollen sich nicht blamieren. Die Gegenwart anderer macht Sie befangen. Ihr Herz kann rasen, Schweiß fließt, die Hände zittern – weil es Ihnen an Selbstsicherheit fehlt. Schüchternheit entsteht meist durch schlechte Erfahrungen. Sie ist antrainiert – und lässt sich abtrainieren.9
Klient: Und die Introversion?
Coach: Ist keine soziale Angst, sondern ein gesundes Temperament: Sie leben in Ihren Gedanken wie in einem Königreich, schöpfen aus einem opulenten Inneren. So beziehen Sie Energie und Unabhängigkeit. Viele Kreative und Vordenker waren oder sind Introvertierte, von Albert Einstein bis Woody Allen, von Alfred Hitchcock bis Bill Gates. Die meisten von ihnen mögen Menschen sehr wohl – nur eben nicht (zu lang) in großen Gruppen oder bei Smalltalk-Anlässen. Das überstimuliert sie und kostet Energie.
Klient: Ich glaube, dann bin ich introvertiert, nicht schüchtern. Schlimm genug, dass ich in dieser Ecke festsitze!
Coach: Sie sitzen nicht fest! Jeder Mensch hat introvertierte und extrovertierte Seiten. Stellen Sie sich die Bandbreite Ihres Verhaltens wie ein Fußball-Spielfeld vor: Die meiste Zeit stehen Sie im eigenen Torraum, der Introversion; dort fühlen Sie sich am sichersten. Aber manchmal, wenn Sie sich wohlfühlen, stürmen Sie nach vorne: Sie gehen auf Menschen zu und »extrovertieren«.10
Klient (kratzt sich am Kinn): Ich überlege gerade, wann das bei mir der Fall ist.
Coach: Sie sagten anfangs, dass Ihnen in Gruppen »immer« die richtigen Worte fehlen. Heißt das: Ihr ganzes Leben lang ist Ihnen keine halbwegs vernünftige Wortmeldung gelungen?
Klient: Na ja, gelegentlich bekomme ich doch einen brauchbaren Beitrag hin, zuletzt bei einer Sitzung meines Schachvereins. Da kam ich unter all den Vielrednern zu Wort und habe angeregt, wie wir unser Turnier noch besser organisieren können.
Coach: Und wie haben Sie sich das Wort erobert?
Klient: Unspektakulär: Ich habe dem Sitzungsleiter vorher schon gemailt, dass ich einen Vorschlag machen will. Er hat mich dann angesprochen.
Coach: Gute Strategie! Offenbar fällt Ihnen der Auftritt unter den Schachkollegen leichter als in geschäftlichen Meetings. Warum?
Klient: Ich fühle mich sicherer. Ich weiß, dass die Leute mich mögen. Ich verstehe viel vom Thema. Und zwischen den Versammlungen vergeht ein halbes Jahr – genug Zeit, mir was Gescheites zu überlegen.
Coach: Dann würde ich Ihren anfänglichen Satz »Mein Kopf ist wie leergefegt« gerne positiv für Sie übersetzen: »Mein Kopf ist wohlgefüllt unter drei Voraussetzungen: dass ich die Wertschätzung der anderen spüre, meinen Beitrag in Ruhe vorbereiten kann und sicher im Thema bin.« Korrekt?
Klient (grübelt lange): Stimmt – so habe ich das noch nie gesehen!
Fünf Coaching-Impulse für Sie:
Welches Bild haben Sie von Introversion (oder Schüchternheit): ein positives oder ein negatives? Und wodurch wurde dieses Bild geprägt?
Angenommen, Sie wären in Asien aufgewachsen, wo Introversion und hohe Sensibilität als Tugenden geschätzt werden: Was könnte dann anders an Ihrem Denken sein? Und wie würde sich das auf Ihr Verhalten auswirken?
Wann »extrovertieren« Sie? In welchen Gruppen fallen Ihnen Wortmeldungen am leichtesten? Warum gerade dort?
Welches war der stimmigste Wortbeitrag, der Ihnen je gelungen ist? Und was würden andere, die ihn gehört haben, darüber sagen?
Wenn Sie drei Faktoren nennen müssten, die Sie zu diesem Auftreten befähigt haben, zum Beispiel mit Blick auf Ihr Wohlfühlen oder Ihre Vorbereitung – welche wären das? Und was können Sie tun, diese erneut zu erzeugen?
Im Zeugnis der Schülerin stimmt der Lehrer ein Loblied an: »Es gelingt ihr immer wieder, dem Unterricht still und konzentriert zu folgen. Bei Wortmeldungen lässt sie anderen den Vortritt und hört respektvoll zu. Wenn sie spricht, dann angenehm leise. Für ihre Zurückhaltung wird sie nicht nur von uns Lehrern, sondern auch von ihren Mitschülern in hohem Maße geschätzt.«
Dieses Zeugnis kommt Ihnen spanisch vor? Treffender wäre: chinesisch! In Asien steht Zurückhaltung hoch im Kurs. Stille Menschen sind begehrt, bescheidene werden verehrt, Zurückhaltung wird als Charakterhaltung anerkannt. Die Gedanken der Stillen gelten als groß, denn sie ernten sie erst, wenn sie spruchreif sind. Ihre soziale Kompetenz wird geschätzt, denn sie hören gut zu und inspirieren andere. Und ihre Nachdenklichkeit gilt als Eintrittskarte für brillante Ideen, für tiefes Wissen und für Meisterschaft in einem Fach. Stillarbeiter haben viele Freunde – in Asien!
Aber fragen Sie mal einen Lehrer in der westlichen Welt, in Europa oder Amerika, was einen Top-Schüler auszeichnet. Die Lernkultur enthält viel Lärmkultur: Der Schüler soll sich im Unterricht möglichst oft zu Wort melden, manchmal gar mit Fingerschnipsen, um im Antwortrennen seine Mitschüler abzuhängen. Seine Gedanken soll er in Windeseile auf der Zunge haben, bei der Gruppenarbeit das Wort führen und auf dem Pausenhof besser in der Mitte einer Clique plaudern, statt (scheinbar) unbeteiligt am Rand zu stehen. Das Vielsprechen steht in keinem Stundenplan, aber heimlich gibt’s doch Zensuren dafür, ein Leben lang.
Die quasselnde Geselligkeit ist zur Norm erhoben worden, und jedes Gespräch wird zum Duell. Es ist wie im Wilden Westen: Wer gefragt wird (oder auch nicht), muss blitzschnell den Colt seiner Antwort ziehen und die Konkurrenz aus dem Weg räumen. Bloß nicht zögern, sonst trifft ihn die Kugel eines Vorurteils: Wer schweigt, hat offenbar nichts im Kopf. Richterliches Urteil: Er ist dumm, zumindest aber schüchtern.
Das Brandmal »Schüchternheit« wird Kindern aufgedrückt, wenn sie aus rätselhaften Gründen mit fünf, sieben oder elf Lebensjahren noch nicht so selbstbewusst wie Erwachsene durchs Leben marschieren. Wer als Kind den Blick vom Gesprächspartner kurz abwendet, um für die Antwort in sich zu gehen, macht sich schon einer sozialen Phobie verdächtig. Die kleinen Antwort-Automaten haben ohne Rucken zu funktionieren, sekundenschnell, sonst muss nachgeholfen werden.
Die Erwartungen an die Kinder spiegeln die Ideale einer Gesellschaft. Gefragt ist heute der unkomplizierte Mensch, der auf Knopfdruck plaudert, weil er sein Herz auf der Zunge trägt. Gefragt ist einer, der keine Gedanken für sich behält, gern auch deshalb, weil er keine eigenen hat. Gefragt sind Mitarbeiterköpfe, die sich wie Suppenteller mit den Gedanken ihrer Vorgesetzten füllen lassen: »Bitte keine Fragen, überlassen Sie das Denken uns!« Und falls Weltkonzerne an die Wand fahren, falls Abgaswerte manipuliert werden wie bei VW, falls Schmiergelder fließen wie bei Siemens – einfach in den Jubelchor des Managements einstimmen. Stiller Widerstand ist nicht gefragt!