Der Knochenwald - Christina Henry - E-Book
SONDERANGEBOT

Der Knochenwald E-Book

Christina Henry

0,0
12,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 13,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Eine verschneite Berghütte, Schreie im Wald und mehr als ein Monster: Der neue Horror-Roman von Christina Henry!

Die junge Mattie lebt mit ihrem Ehemann William allein in einer entlegenen Berghütte. Er ist ein gewalttätiger Mensch, den Mattie niemals verärgern darf. Doch als Mattie im Wald die verstümmelte Leiche eines Fuchses entdeckt, weiß sie, dass die Eheleute nicht alleine in der Wildnis sind. Wer – oder was – stößt jene seltsamen Schreie in der Nacht aus? Wessen krallenbewehrte Fußabdrücke sind im Schnee um die Hütte zu sehen? Als drei Fremde auf dem Berggipfel auftauchen und im Wald nach einer geheimnisvollen Kreatur suchen, weiß Mattie, dass die Neuankömmlinge William verärgern werden. Und wenn William wütend ist, passieren wahrlich schreckliche Dinge …

Schaurig, düster, furchterregend – verpass nicht die anderen Bücher von Christina Henry wie »Die dunklen Chroniken« oder »Die Legende von Sleepy Hollow« und »Der Geisterbaum«.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 441

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Buch

Die junge Mattie lebt mit ihrem Ehemann William allein in einer entlegenen Berghütte. Er ist ein gewalttätiger Mensch, den Mattie niemals verärgern darf. Doch als Mattie im Wald die verstümmelte Leiche eines Fuchses entdeckt, ahnt sie, dass die Eheleute nicht alleine in der Wildnis sind. Wer – oder was – stößt jene seltsamen Schreie in der Nacht aus? Wessen krallenbewehrte Fußabdrücke sind im Schnee um die Hütte zu sehen? Als drei Fremde auf dem Berggipfel auftauchen und im Wald nach einer geheimnisvollen Kreatur suchen, weiß Mattie, dass die Neuankömmlinge William verärgern werden. Und wenn William wütend ist, passieren wahrlich schreckliche Dinge …

Autorin

Die Amerikanerin Christina Henry ist als Fantasy-Autorin bekannt für ihre finsteren Neuerzählungen von literarischen Klassikern wie »Alice im Wunderland«, »Peter Pan« oder »Die kleine Meerjungfrau«. Im deutschsprachigen Raum wurden diese unter dem Titel »Die Dunklen Chroniken« bekannt und gehören zu den erfolgreichsten Fantasy-Romanen der letzten Jahre. Die SPIEGEL-Bestsellerautorin liebt Langstreckenläufe, Bücher sowie Samurai- und Zombiefilme. Sie lebt mit ihrem Mann und ihrem Sohn in Chicago.

Alle Bücher von Christina Henry:

Die Chroniken von Alice – Finsternis im Wunderland

Die Chroniken von Alice – Die Schwarze Königin

Die Chroniken von Alice – Dunkelheit im Spiegelland

Die Chroniken von Peter Pan – Albtraum im Nimmerland

Die Chroniken der Meerjungfrau – Der Fluch der Wellen

Die Chroniken von Rotkäppchen – Allein im tiefen, tiefen Wald

Die Legende von Sleepy Hollow – Im Bann des kopflosen Reiters

Der Geisterbaum

Der Knochenwald

Weitere Bände in Vorbereitung

Christina Henry

Der Knochenwald

Roman

Deutsch von Sigrun Zühlke

Die Originalausgabe erschien 2021 unter dem Titel »Near the Bone« bei Berkley, New York.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag behält sich die Verwertung des urheberrechtlich geschützten Inhalts dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Copyright der Originalausgabe © 2021 by Tina Raffaele

Published by Arrangement with Tina Raffaele

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover.

Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2023 by Penhaligon in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion: Catherine Beck

Covergestaltung und Artwork: Isabelle Hirtz, Hamburg

BL · Herstellung: mar

Satz und E-Book-Konvertierung: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 978-3-641-29115-0V001

www.penhaligon.de

Kapitel eins

Da lag ein toter Fuchs auf dem Weg.

Zuerst sah Mattie nur einen scharlachroten Streifen auf dem frisch gefallenen Schnee. Ein Raubtier musste sich eines der Kaninchen aus den Fallen geholt haben, nach denen sie sehen wollte.

Dann entdeckte sie das orangefarbene, vom Blut verfilzte Fell und die Stelle, an der etwas Scharfes den Fuchs der Länge nach aufgerissen hatte. Eingeweide lagen überall im Schnee verteilt, der Geruch war noch frisch und intensiv trotz der Kälte.

Es gab nicht viele Tiere, die einen Fuchs fressen würden – außer einem Bären vielleicht. Bären fraßen alles. Vielleicht ein Berglöwe, manchmal ein Adler, aber sonst würde kaum ein Tier sich die Mühe machen, ein Lebewesen zu töten und dann gar nichts davon zu vertilgen. Keines, um genau zu sein, bis auf den Menschen natürlich, aber es gab keine Menschen hier oben auf dem Berg außer Mattie und William.

Mattie ging in die Hocke, um sich das Tier genauer anzusehen, aber sie fand keine Abdrücke oder Krallenspuren daran, die ihr einen Hinweis auf den Täter hätten geben können. Sie stand wieder auf, klopfte sich den Schnee von ihrem schweren Wollrock und hielt einen Moment inne, unschlüssig, was sie nun tun sollte.

Vielleicht sollte sie direkt zurückgehen, um William von dem Fuchs zu erzählen. Doch dann kam sie zu dem Schluss, dass es besser wäre, erst nach den Fallen zu sehen. Deshalb hatte er sie ja überhaupt zum Bach geschickt, und wenn sie nicht tat, wie ihr geheißen, würde sie dafür bezahlen müssen.

Mattie ging um den toten Fuchs herum und blieb erneut stehen. Hinter dem Kadaver war eine seltsame Spur im Schnee zu erkennen, auf die sie sich keinen Reim machen konnte.

Die Spur hätte von einem Bären stammen können, aber wenn es einer war, dann musste er viel größer sein als jeder Bär, den Mattie je gesehen hatte – vielleicht doppelt so groß wie der größte Grizzly in der gesamten Gegend. Der Abdruck sah aus wie der von einer Hintertatze – sie konnte den Abdruck der Ferse und der fünf Zehenballen erkennen. Aber die Abdrücke der Krallen an der Vorderseite waren viel länger und tiefer als gewöhnlich. Der Größe des Abdrucks nach zu schließen, musste es sich hierbei um den größten Bären der Welt handeln.

Mattie sah sich um und hielt nach weiteren Abdrücken Ausschau. Der Pfad, dem sie folgte, war kein von Menschen angelegter Weg, sondern ein Wildwechsel, der zwischen den Stämmen hoher Bergkiefern und den kahlen Resten des Gestrüpps aus dem Sommer hindurchführte. Sie fand noch einen Abdruck – wieder eine Hinterpfote, in einiger Entfernung von der ersten. Auch das war seltsam.

Die Spur sah aus, als sei der Bär auf den Hinterbeinen gelaufen wie ein Mensch.

Manchmal taten sie das, vor allem wenn sie ein anderes Tier einschüchtern wollten, aber sie gingen nicht über längere Strecken auf zwei Beinen.

Mattie schüttelte den Kopf. Das war nichts, worüber sie sich den Kopf zerbrechen sollte. Im Geist konnte sie Williams Stimme schon hören, die sagte: »Spute dich, Mädchen. Das geht dich nichts an. Du bist viel zu neugierig, immer steckst du deine Nase in Sachen, die dich nichts angehen.«

Ja, sie sollte nach den Fallen sehen, bevor William noch selbst kommen musste, um herauszufinden, warum sie so lange brauchte.

Mattie ging weiter und wirbelte dabei mit ihren Stiefeln den Pulverschnee auf. Es war noch nicht einmal richtig Winter – im Grunde war der Sommer gerade erst zu Ende gegangen –, aber sie hatten bereits den ersten Schnee und mehrere ungewöhnlich kalte Tage gehabt. William machte sich Sorgen, dass sie vielleicht nicht genug Vorräte eingelagert haben könnten, sollte der Winter besonders hart werden. Zumal bald auch nicht mehr sehr viele Tiere unterwegs sein würden. Sie würden es sich alle in ihren warmen Höhlen gemütlich machen.

Das brachte Mattie zu der Frage, was mit einem Grizzly nicht stimmte, der frisches Fleisch einfach so liegen ließ. Um diese Jahreszeit waren die meisten von ihnen so gut wie im Winterschlaf. Die noch aktiven Bären würden sich die Gelegenheit, ein wenig zusätzlichen Winterspeck anzusetzen, nicht entgehen lassen. Wenn der Grizzly sich den Fuchs für später hätte aufheben wollen, hätte er die Beute irgendwo versteckt – auch wenn das bei einem so mageren Bissen kaum der Mühe wert gewesen wäre.

Sie musste aufhören, sich darüber Gedanken zu machen. William wartete.

Sie hatten drei Fallen im Unterholz am Bach aufgestellt.

Alle drei waren voll, was bedeutete, dass es Kanincheneintopf mit Karotten und Kartoffeln geben würde. William würde zufrieden sein.

Mattie packte die Kaninchen in ihren Leinensack, stellte die Schlingen sorgfältig wieder auf und machte sich auf den Weg zurück zur Hütte. Ein paar Schneeflocken schwebten vom Himmel, und sie streckte die Zunge heraus, um eine zu fangen.

(Hand in Hand mit Heather, wir legen die Köpfe in den Nacken und blicken in den Himmel, fangen so viele Schneeflocken wie möglich, unsere Wimpern sind weiß überkrustet)

Nein. Daran durfte sie auch nicht denken. Das war nur ein Traum. Wie oft hatte William ihr schon gesagt, dass sie sich das alles nur einbildete und er nichts mehr von diesem Unsinn hören wollte.

Sie sollte nicht länger über den Traum oder die seltsame Bärenspur oder den toten Fuchs nachgrübeln. Sie sollte mit den Kaninchen nach Hause eilen, wo ihr Mann sie erwartete. Er verlangte von ihr, dass sie ihm eine gute Ehefrau war.

Als sie auf dem Rückweg wieder bei dem toten Fuchs vorbeikam, achtete Mattie darauf, einen Bogen um den Kadaver und die Abdrücke im Schnee zu machen.

Vielleicht kam William später noch einmal her, um sie sich anzusehen, aber sie würde sich jetzt nicht länger damit aufhalten. Sie würde nicht darüber nachdenken, wie seltsam das alles war, denn William sagte ihr immer, was sie zu denken hatte, und sie war sicher, dass es ihm nicht gefallen würde, wenn sie hierüber nachdachte.

William stand draußen vor der Hütte und hackte Holz, als Mattie auf die Lichtung geeilt kam.

Die Lichtung war groß genug, um ihr Haus mit den zwei Zimmern, ein kleines Lagerhaus für Vorräte, ein Toilettenhäuschen mit Plumpsklo und einen Garten zu beherbergen. William hatte noch ein paar Bäume mehr gefällt, sodass sich vor dem Haus noch ein wenig offenes Gelände befand. Das musste so sein, damit sich niemand unbemerkt an ihr Heim anschleichen konnte, sagte er.

Ihr Mann war hochgewachsen und kräftig gebaut – er überragte Mattie deutlich –, mit breiten Schultern und riesigen Händen und Füßen. Sein Haar war dunkel, von grauen Strähnen durchzogen, doch seine Augen waren blauer als das Eis auf einem zugefrorenen Bachbett.

William stand mit dem Rücken zu ihr, drehte sich aber augenblicklich um, sobald er ihre Anwesenheit spürte, die schwere Axt noch immer in der Hand.

Er sagte nichts, während sie sich näherte, erwartete sie nur mit diesem fordernden, ungeduldigen Blick, der ihr verriet, dass sie etwas falsch gemacht hatte.

»Da war ein toter Fuchs auf dem Weg«, erklärte sie. »Aber die Fallen waren voll.«

Mattie dachte, der Verweis auf ein gutes Nachtmahl würde genügen, um ihn abzulenken – sie hätte es besser wissen müssen.

»Was geht dich ein toter Fuchs an? Ich habe gesagt, du sollst nach den Schlingen sehen und sofort zurückkommen.«

Mattie biss sich auf die Lippe. Sie saß in der Falle. Wenn sie nicht antwortete, würde ihn das erzürnen. Wenn sie versuchte, sich zu erklären, würde ihn das ebenfalls erzürnen.

»Nun?«

Sie sollte es wenigstens versuchen. Vielleicht verstand er es dieses Mal ja.

»Irgendetwas hat den Fuchs getötet und ihn dann dort liegen lassen«, sagte sie.

Sein Blick wurde schärfer. »Ein Mensch? Treibt sich da etwa jemand in unseren Wäldern herum?«

»Nein, nein«, antwortete sie schnell. Sie wusste, wie sehr er darauf bedacht war, den Standort ihres Hauses geheim zu halten, und wie unruhig er wurde, wenn es Anzeichen dafür gab, dass sich Menschen in der Nähe aufhielten. »Da war eine Spur wie die eines Bären, aber viel größer als von jedem Bären, den ich jemals gesehen habe.«

Williams Kiefer entspannte sich ein wenig. Er schien erleichtert zu sein, dass sie keine Hinweise auf die Anwesenheit anderer Menschen gefunden hatte.

Doch diese leichte Entspannung täuschte – und Mattie war nicht darauf gefasst, als die Axt in den Schnee fiel und seine Faust auf sie zuschoss.

Sterne tanzten in ihrem Blickfeld, und sie konnte Blut auf der Zunge schmecken. Ihr Hintern fühlte sich kalt an.

Du sitzt im Schnee. Steh auf, bevor dein Rock nass wird, dachte sie.

»Wenn du etwas Ungewöhnliches findest, kommst du zurück und holst mich, das weißt du genau.« William klang nicht zornig, das tat er nie. Es gab nie Geschrei oder sonst irgendeine Warnung, bevor der Schlag sie traf.

»Ich dachte, es wäre besser, wenn ich zuerst nach den Fallen sehe«, erklärte sie.

Sie wusste, dass sie aufstehen sollte, aber wenn sie auf dem Boden sitzen blieb, war sie für ihn schwerer zu erreichen.

»Das ist das Problem mit dir, Martha«, sagte er – es war immer ein schlechtes Zeichen, wenn er sie bei ihrem vollen Namen nannte. »Es ist nicht deine Aufgabe zu denken.«

»Ja«, sagte sie. »Es tut mir sehr leid.«

Er starrte sie an, und sie konnte erkennen, dass er überlegte, ob er sie für ihr Vergehen ausreichend bestraft hatte oder nicht.

»Nimm die Kaninchen mit ins Haus und zieh sie ab«, sagte er. »Wenn du damit fertig bist, zeigst du mir den toten Fuchs.«

»Ja«, sagte sie und stemmte sich aus dem Schnee hoch.

Ihre Strümpfe waren nass bis knapp über die Stiefel. Es wäre schön gewesen, sie gleich zu wechseln, aber wenn William mit dem Feuerholz hereinkam, könnte er sie dabei erwischen, wie sie etwas anderes tat als das, wozu er sie angewiesen hatte.

Mit gebeugten Schultern und eingezogenem Kopf eilte Mattie an ihm vorbei auf die Tür der Hütte zu. Sie entspannte sich erst, als sie das Pfeifen und Schlagen der Axt wieder hörte. Es bedeutete, dass William ihr nicht folgte.

Sie zog die Stiefel aus und machte sich daran, den Kaninchen das Fell abzuziehen und sie auszunehmen. Kaninchen waren klein und machten nicht viel Arbeit, also würde William damit rechnen, dass sie schnell mit den Vorbereitungen fertig war.

Mach ihn nicht schon wieder zornig. Mach einfach deine Arbeit, wie er dir aufgetragen hat.

Doch ihre Gedanken schweiften ab, wie so oft, obwohl sie sich ständig wieder zur Ordnung rief, damit William sie nicht beim Träumen erwischte. Ihre Hände verrichteten gekonnt die Arbeit an den Kaninchen, während ihre Gedanken anderswohin wanderten, an jenen Ort, an dem sie nichts zu suchen hatten.

William öffnete die Tür der Hütte und rief hinein: »Bist du fertig?«

Mattie wusste, dass er seine schneebedeckten Stiefel nicht ausziehen wollte. Dabei ging es weniger darum, ihr die Mühe des Aufwischens zu ersparen, als vielmehr darum, sich nicht die Mühe des Auf- und Zuschnürens machen zu müssen.

»Gleich«, rief sie zurück.

»Trödele nicht rum«, sagte er und schloss die Tür wieder.

In Wahrheit war sie längst fertig, doch sie wollte noch ein paar Minuten gewinnen, um sich zu waschen und zu sammeln. Sie hatte wieder an den Traum gedacht, an das Lied, das sie gehört hatte.

(Über eine Taube, das sind diese großen schwarzen Dinger, und die Musik kommt aus ihnen heraus, sie kommt von einer silbernen Scheibe, aber das kommt mir albern vor. Wie etwas aus einem Traum, genau wie William immer sagt)

William hielt Musik für sündig, daher wusste sie, dass es nichts war, was sie gehört haben konnte, seit sie bei ihm lebte.

Mattie tauchte die Hände in das kalte Wasser im Becken, schrubbte das Blut ab und versuchte, den Traum gleich mit abzuschrubben. William schien in der Lage zu sein, die Träume an ihr zu wittern, wie einen Duft, der an ihr haftete. Und er war bereits gereizt. Wenn sie mit diesen seltsamen Bildern vor Augen hinaustrat, würde er nur noch zorniger werden.

Wenige Augenblicke später war sie wieder draußen, dick eingemummelt in ihren Mantel sowie in Handschuhe und Stiefel. William hatte das Gewehr in der Hand.

»Zeig sie mir«, sagte er.

Mattie deutete auf den Wildwechsel. William mochte es nicht, wenn Mattie vor ihm ging, daher achtete sie immer darauf, hinter ihm zu bleiben. Ihre Spuren waren auf jeden Fall noch im Schnee zu sehen. Seit Mattie nach Hause zurückgekehrt war, waren nur ein paar Flocken gefallen.

Krähen hatten sich um den Fuchskadaver versammelt und pickten an dem freigelegten Fleisch. William verscheuchte sie, sie stoben auf und flogen laut krächzend davon.

Mattie war hinter ihm und ein wenig versetzt stehen geblieben, damit sie sein Gesicht sehen konnte. Sie hasste es, von seinen Stimmungsumschwüngen überrascht zu werden. Falls er zu dem Schluss kam, dass es dumm von ihr gewesen war, ihm von dem Fuchs zu erzählen, würde das seinen bereits schwelenden Zorn weiter befeuern und eine Wut auslösen, vor der es kein Entrinnen gab.

Manchmal fragte sich Mattie, warum er sie überhaupt geheiratet hatte, warum er ausgerechnet sie ausgewählt hatte, wenn er doch ständig Fehler an ihr fand. Er hätte sich ein anderes Mädchen aussuchen können, eines, das mehr von den Eigenschaften besaß, die er sich zu wünschen schien – jemanden, der weniger neugierig und weitaus fügsamer war.

Mattie beobachtete ihren Mann genau, als er die Gegend um den Fuchs herum absuchte. Als er den Tatzenabdruck erblickte, wurden seine Augen groß. »Hast du noch mehr von denen gefunden?«

Sie deutete auf das Gebüsch rechts von ihnen. »Dort.«

William ging hin, um ihn sich genauer anzusehen, und erst da bemerkte Mattie, dass das Gestrüpp aufgebrochen war, als wäre etwas sehr Großes dort hindurchgebrochen. Die Rinde an einem der Bäume wies lange, tiefe Krallenspuren auf, als hätte das Tier sie im Vorbeigehen zerkratzt. William strich mit der Hand über die Spuren, einen nachdenklichen Ausdruck im Gesicht.

»Wenn das ein Grizzly ist, dann ist es der größte verdammte Grizzly, den es je gegeben hat«, sagte er. »Ich frage mich, wo er herkommt. Etwas so Großes braucht eine Menge Wild.«

Da fiel Mattie wieder ein, wie spärlich ihre Jagdbeute in den letzten Wochen ausgefallen war. Sie hatten es auf den frühen Kälteeinbruch zurückgeführt. Doch vielleicht lag es gar nicht an der Kälte. Vielleicht war es dieser Bär, dieses Monstrum von einem Bären, der da draußen in den Wäldern umherstreifte und die Elche und Hirsche auffraß, die William erlegen wollte, um sie für den Winter in ihrem Lagerhaus aufzuhängen.

»Wahrscheinlich ist er längst aus der Gegend verschwunden«, sagte er. »Die Spuren deuten sowieso darauf hin, dass er bergab unterwegs war. Irgendein Glückspilz wird ihn schießen, und sein Bild wird in der Zeitung sein, ganz zu schweigen von der besten Trophäe, die man je gesehen hat.«

Selbst wenn jemand den Bären erlegte, würde Mattie dieses Bild nie zu sehen bekommen. Es war ihr ausdrücklich verboten, irgendetwas anderes zu lesen als die Bibel. Bei den seltenen Gelegenheiten, wenn William in die Stadt ging und mit einer Zeitung zurückkehrte, schloss er diese immer in seiner Truhe ein.

Mattie durfte sich nicht im Schlafzimmer aufhalten, wenn er die Truhe öffnete, und er bewahrte den Schlüssel an einem Schlüsselbund auf, den er stets bei sich trug. Die Schlüssel zur Hütte und zum Lagerhaus befanden sich ebenfalls daran, genauso wie zwei weitere, von denen Mattie nicht wusste, wozu sie gehörten. Als sie einmal danach gefragt hatte, hatte er ihr zwei blaue Augen verpasst, sodass sie das Thema nie wieder angesprochen hatte.

»An einem so großen Bären wäre allerdings eine Menge Fleisch«, überlegte er. »Wir könnten uns den ganzen Winter davon ernähren.«

Falls du ihn töten kannst, ohne selbst getötet zu werden, dachte Mattie.

William blickte sie an, und nicht zum ersten Mal hatte Mattie das Gefühl, dass er ihre Gedanken hören konnte.

»Du glaubst wohl nicht, dass ich ihn töten könnte?«, fragte er, und in seinen Eiszapfenaugen glitzerte etwas, das bei einem anderen Mann vielleicht Humor hätte sein können. »Nun, dieses eine Mal könntest du recht haben, Mattie. Einen Bären dieser Größe werde ich hiermit nicht erwischen.«

Er deutete auf das Gewehr, das er meistens für die Hirschjagd benutzte.

»Vielleicht ist er ja sowieso schon weg, wie du gesagt hast«, bot Mattie zaghaft an. »Runter vom Berg.«

Er sah sie an und blickte dann wieder auf die Klauenspuren in der Baumrinde. »Ich würde gern sichergehen. Aber für den Fall, dass er noch in der Nähe ist, will ich nicht, dass du allein in der Gegend herumwanderst. Halte dich dicht bei mir.«

Er schob sich durch das aufgebrochene Gestrüpp und erwartete, dass Mattie ihm folgte.

Sie tat es und hob dabei vorsichtig ihre Röcke, damit sie sich nicht in den abgebrochenen Ästen verfingen.

William schritt, ohne zu warten, voran, und Mattie musste sich beeilen, um mitzukommen.

»Da«, sagte er und deutete auf einen weiteren Abdruck im Schnee. »Das ist der verrückteste Bär, den ich je gesehen habe. Läuft er denn nie auf allen vieren?«

Mattie antwortete nicht. Sie wusste, dass er keine Antwort von ihr erwartete.

Sie folgten den Spuren noch eine ganze Weile. Jeder Schritt, den sie machten, versetzte Mattie einen kleinen Schauer. Sie durfte eigentlich nicht so weit den Berg hinuntergehen, sie durfte die unmittelbare Umgebung der Hütte nicht verlassen und auch nur nach draußen gehen, wenn William es ihr erlaubte.

Und es hatte lange gedauert, bis sie sich dieses Privileg verdient hatte. Anfangs hatte sie nirgendwo allein hingehen dürfen, nicht einmal zum Plumpsklo.

Der Wald sah hier nicht anders aus, dennoch war sich Mattie bei jedem Schritt bewusst, dass sie sich an einem verbotenen und neuen Ort aufhielt.

Nach einiger Zeit begannen ihre Gedanken, erneut zu wandern, wie so oft, und die Melodie des Lieds kam ihr wieder in den Sinn, aber sie konnte sich nicht an den Text erinnern. Wenn sie ihn nur zu fassen bekäme, dann könnte sie auch den Rest des Traums greifen, dieses verschwommene Etwas, knapp außerhalb ihrer Reichweite.

William blieb abrupt stehen, und Mattie riss sich gerade noch rechtzeitig aus ihren Träumereien, um nicht in seinen Rücken zu stolpern.

»Wo ist er hin?«, fragte er. »Die Abdrücke hören hier einfach auf.«

Sie waren bei einer kleinen Lichtung herausgekommen, die von hoch aufragenden Kiefern umstanden war, wie von einem Feenring.

(Aber woher soll ich das wissen, wenn ich noch nie einen gesehen habe, außer vielleicht doch, da ist Heather, die sich ins Gras hockt und auf die Pilze zeigt und sagt, das sei ein Feenring)

William stand einen Moment lang reglos da, während sein Blick über die Lichtung huschte, doch da war nichts außer einer makellos geschlossenen Schneedecke.

»Wie hat er das angestellt, ist er weggeflogen?«, fragte er.

»Vielleicht sind wir irgendwo falsch abgebogen«, sagte Mattie vorsichtig.

»Da ist ein Abdruck direkt vor der Lichtung, und er zeigt in diese Richtung«, gab William zurück. »Ich bin kein Narr, Mattie, im Gegensatz zu dir.«

»Natürlich«, murmelte sie. Ihr Herz pochte schneller. Wenn sie diese Art von Fehlern machte, musste er sie korrigieren.

Aber William war im Moment viel mehr an dem Geheimnis des Bären interessiert. Er suchte weiter die Umgebung nach Hinweisen ab, die er übersehen haben könnte.

Mattie verließ die Lichtung und ging in ihrer Spur bis zu dem letzten Hinterpfotenabdruck zurück. Sie musterte die Bäume, die die Lichtung umgaben.

»Da!«, sagte sie und deutete auf Kratzspuren weit oben an einem der Baumstämme.

William kam zu ihr, und sein Blick folgte der Richtung, in die ihr Finger zeigte. Sie blickten beide hinauf, in die dichte Decke aus Kiefernnadeln. Mattie hatte halb erwartet, in der Baumkrone einen Bären zu erblicken, der auf einem Ast schlief, aber natürlich war da keiner. Was für ein törichter Gedanke! Der Bär, zu dem dieser Abdruck gehörte, war bestimmt viel zu groß, um auf einem Ast zu schlafen.

William untersuchte die Bäume in der Nähe auf weitere Anzeichen.

»Nichts«, sagte er und schien dann zu einem Entschluss zu kommen. »Jetzt reicht es mit diesem Blödsinn. Wir haben noch genug zu tun.«

William hatte beschlossen, dass Mattie mit ihren Informationen über den Fuchs nur seine Zeit verschwendet hatte, und sie würde dafür bezahlen müssen, wenn sie den Rest des Tages ihre Aufgaben nicht tadellos erledigte.

Mattie dachte an ihren Nähkorb mit Williams Kleidung, die geflickt werden musste, und spürte ein leichtes Kribbeln in der Magengegend.

Das Nähen lag ihr nicht. Ihre Nähte waren zwar sauber, aber sie brauchte immer lange dafür. William gab Matties Mutter die Schuld daran, die, wie er sagte, »dir die Fertigkeiten, die einer anständigen Frau geziemen, hätte beibringen müssen, anstatt das mir zu überlassen«.

Schon früh in ihrer Ehe hatte William ihr einige alte Lehrbücher mit vergilbten und ausgefransten Seiten gegeben. Indem sie akribisch den Anweisungen folgte, hatte Mattie sich langsam selbst beibringen können, wie man Kleidung herstellte und ausbesserte. Sie erinnerte sich an viele Nächte, die sie mit blutenden Fingerspitzen über Stofffetzen gebeugt verbracht hatte, während William sie im flackernden Kerzenlicht beobachtete.

Er beobachtete sie immer, auch wenn sie nicht damit rechnete.

Sie gingen zurück zur Hütte und folgten dabei ihren eigenen Stiefelabdrücken im Schnee. Mattie konnte an Williams Schultern ablesen, dass er verärgert war. Er hatte das Rätsel der Spuren nicht lösen können, und jetzt wurde ihm klar, wie viel Zeit sie mit dieser sinnlosen Aufgabe verschwendet hatten.

Meinetwegen, dachte Mattie resigniert. Vielleicht hätte ich ihm doch nicht von dem Fuchs erzählen sollen. Aber wenn ich es nicht getan hätte, hätte ich noch mehr Ärger bekommen, weil ich mich dann viel zu lange damit aufgehalten hätte, nach den Fallen zu sehen.

Für Mattie gab es keine richtige Antwort. Die gab es nie.

Sie konnte nur an ihren Gedanken nagen wie ein nervöses kleines Streifenhörnchen.

Ein seltsamer Schrei durchbrach die stille Luft.

Es klang nicht ganz wie das Brüllen eines Bären und auch nicht wie der Ruf eines Berglöwen oder das Kreischen eines Adlers, sondern wie eine nervenzerfetzende Kombination aus allen dreien, gemischt mit einem weiteren Ton – beinahe menschlich, aber nicht ganz.

Erst da wurde Mattie klar, dass sie seit dem Krächzen der Krähen, die William von dem toten Fuchs aufgescheucht hatte, nichts mehr gehört hatte – nichts außer ihren eigenen Stimmen. Weder Vogelzwitschern noch das Huschen kleiner Lebewesen auf der Suche nach einer letzten Nuss für den Winter. Kein Knacken von fallenden Ästen, kein Flüstern des Winds.

Der ganze Wald war still und wartete ab, während sie und William in ihn hineingestolpert waren wie zwei ungeschickte Rindviecher. Sie spürte Blicke auf sich, die Blicke der Bäume, der Vögel, der Eichhörnchen und Kaninchen, Augen, die mitleidig auf die beiden törichten Menschen in ihrer Mitte blickten.

Der Schrei ertönte erneut. Er hallte durch die Luft, prallte von den Bäumen ab und machte es unmöglich, genau zu sagen, woher er kam.

»William, lass uns weitergehen«, bat sie und zerrte an seinem Ärmel. »Wir sollten nicht hier draußen sein.«

Als der erste Schrei ertönte, war er stehen geblieben, sein Körper still, aber wachsam, suchend, während er Ausschau nach seiner Beute hielt. Jetzt schob er Matties Hand von seinem Arm, viel zu beschäftigt, um ihr wehzutun oder sie zu verletzen, weil sie sich etwas herausgenommen hatte, das ihr nicht zustand.

»Leise«, flüsterte er. »Geh zur Seite, damit ich freies Schussfeld habe.«

Er wollte versuchen, es zu töten, was auch immer es sein mochte, und Mattie wusste nun mit Bestimmtheit, dass es kein Bär war. Kein Bär hörte sich so an. Kein Bär benahm sich so wie das Tier, das diese Spuren hinterlassen hatte. Doch wenn es kein Bär war, was war es dann?

Was es auch war, William würde scheitern. Es war zu groß, als dass ihr Mann es mit einem Gewehr töten könnte. Selbst sie, mit ihrem begrenzten Wissen, konnte das an den Spuren im Schnee erkennen.

Kaltes Grauen erfasste sie. Was sollte aus ihr werden, wenn William tot war? Sie wäre ganz allein auf dem Berg. Sie kannte nicht einmal den Weg in die Stadt, denn sie hatte sich noch nie weit vom Haus entfernt, seit sie hierhergekommen waren.

William trat ein paar Schritte von ihr weg und hob das Gewehr an die Schulter. »Es ist irgendwo vor uns. Bleib hinter mir.«

Sie nickte. Ihre Lippen und ihre Zunge waren taub – nicht vor Kälte, sondern vor Angst. Unter ihrem Mantel zitterte sie am ganzen Leib.

Lass nicht zu, dass ihm etwas zustößt, Herr. Lass nicht zu, dass ich allein zurückbleibe.

Doch dann wurde ihr klar, dass die riesige Bärenkreatur auch sie töten würde, wenn sie William überwältigte.

Erleichterung schoss durch ihren Körper wie ein Blitzschlag. Endlich nicht mehr versuchen und scheitern. Keine Fragen mehr ohne Antworten. Keine Träume mehr. Kein Schmerz mehr.

Mattie ging in Williams Fußstapfen, ruhiger jetzt. Was auch immer geschah, es war Gottes Wille, genau wie es Gottes Wille gewesen war, dass sie von William auserwählt worden war.

Irgendwo vor ihnen knackten Äste – viele Äste brachen in so schneller Folge, dass es sich anhörte wie Schüsse aus einem Gewehr. Pop, pop, pop.

Mattie warf einen Blick über die Schulter und erwartete halb, dass die Kreatur aus dem Himmel gefallen war und nun bedrohlich hinter ihnen aufragte. Aber da war nichts hinter ihnen und nichts vor ihnen, zumindest soweit sie sehen konnte.

William schlich noch einige Minuten weiter, das Gewehr im Anschlag. Zum dritten Mal an diesem Tag blieb er plötzlich stehen, und diesmal lief Mattie in ihn hinein.

Doch er war zu abgelenkt, um sie zu schelten. »Was um Himmels willen?«

Mattie spähte um seinen Arm herum und holte erschrocken Luft.

Vor ihnen befand sich eine scharlachrote Blutlache, die langsam im pulverigen Schnee versickerte. Etwas sehr Großes war hier getötet worden, und zwar erst kürzlich. Allerdings war nichts mehr davon übrig, und es gab auch keinerlei Spuren von dem Raubtier, das es getötet hatte. Die einzigen Abdrücke in der Nähe waren ihre eigenen.

»Das ergibt doch alles keinen Sinn«, murmelte William.

Mattie blickte nach oben, sah die gebogenen Äste über sich und dachte, dass es vielleicht mehr Sinn ergab, als William dachte. Doch das würde sie nicht laut aussprechen. Es war nie eine gute Idee, ihm zu widersprechen.

Aber ich frage mich schon, was es sein könnte. Auch wenn es mir nicht zusteht, mir den Kopf darüber zu zerbrechen.

Die Geschichte ließ William den ganzen Tag keine Ruhe mehr. Er schien kaum wahrzunehmen, was Mattie tat – und das war in jedem Fall ein Segen, da ihn ihre Arbeit grundsätzlich nur interessierte, wenn sie etwas verkehrt machte.

Auch während des Abendessens brütete er nur vor sich hin, schaufelte sich wortlos den Kanincheneintopf in den Mund und machte den Eindruck, als schmeckte er gar nicht, was er da aß. Nach dem Essen starrte er ins Feuer, während sie sorgfältig einen Riss in einem Ärmel und einen aufgegangenen Saum an einer Hose flickte und dann noch zwei Paar Socken stopfte.

Sie begann, vorsichtig zu hoffen, dass er ihre tägliche Pflicht vergaß, dass er so tief in Gedanken war, dass sie einfach so direkt zu Bett gehen könnte. Doch als sie die Nadel weglegte und ihre verkrampften Finger streckte, schien er wach zu werden.

Seine Eiszapfenaugen fingen ihren Blick ein, so sicher wie ein Kaninchen in der Schlinge. »Ein Mann muss Söhne zeugen, Mattie.«

Schweigend stand sie auf und ging ins Schlafzimmer.

Einige Stunden später wachte Mattie mit dem Lied auf den Lippen auf, an das sie sich zu erinnern versucht hatte. Eine Taube singt …, dachte sie, konnte jedoch den Rest des Lieds nicht fassen, und es entglitt ihr wieder.

William schnarchte neben ihr. Das Geräusch musste sie geweckt haben – wie so oft, obwohl sie sich nie darüber zu beschweren wagte. Langsam kletterte sie aus dem Bett, um ihn nicht durch eine plötzliche Bewegung zu stören.

Mattie trat in den Wohnraum und schloss die Schlafzimmertür hinter sich. Es war eiskalt. Sie hatte sich nicht die Mühe gemacht, einen Morgenmantel über das Nachthemd zu ziehen. Also legte sie sich einen Quilt um die Schultern. Ihr Atem bildete eine Wolke vor ihrem Gesicht.

Sie fühlte sich nicht mehr müde, obwohl sie wusste, dass sie schlafen sollte. Morgen würde es wieder Arbeit geben, und wenn sie müde war oder langsam oder sich ungeschickt anstellte, würde William es merken und …

Und es wird das Gleiche passieren wie immer, dachte Mattie, während ihr die Tränen in die Augen stiegen.

Einmal, als sie noch jünger gewesen war, hatte Mattie ihn gefragt, warum er sie so oft und so viel schlagen musste. Da hatte er sie wieder geschlagen, für ihre Unverschämtheit, und ihr dann erklärt, dass es seine Pflicht als Mann und Ehemann sei, sie zu disziplinieren, und dass er das nur tat, damit sie lernte, eine anständige, gehorsame Ehefrau zu sein.

Dann hatte er ihr die Bibel gegeben und sie angewiesen, laut aus Epheser 5 vorzulesen.

Sie hatte es getan, mit Blut im Mund und obwohl ihre Wange dick wurde und ihr rechtes Auge tränte. »Ihr Frauen, ordnet euch euren Männern unter wie dem Herrn. Denn der Mann ist das Haupt der Frau, wie auch Christus das Haupt der Gemeinde ist – er hat sie als seinen Leib gerettet. Aber wie nun die Gemeinde sich Christus unterordnet, so sollen sich auch die Frauen ihren Männern unterordnen in allen Dingen. Ihr Männer, liebt eure Frauen, wie auch Christus die Gemeinde geliebt hat und hat sich selbst für sie dahingegeben, um sie zu heiligen.«

Dann hatte er ihr die Bibel abgenommen, war vor ihr niedergekniet und hatte ihren Kopf sanft zwischen seine großen Hände genommen. »Gott will, dass du mir gehorchst. Ich will dir nicht wehtun, Mattie. Ich finde keinen Gefallen daran. Wenn du nur hören und deinen Pflichten gewissenhaft nachkommen würdest, müsste ich es nicht tun. Hast du das verstanden?«

Sie hatte genickt, obwohl sie es nicht verstanden und insgeheim gedacht hatte, dass William auch ruhig mal über den Teil nachdenken sollte, in dem es um die Ehemänner ging, die ihre Frauen lieben sollten.

Er hatte sie auf die Stirn geküsst und gesagt: »Ich habe dich aus allen Mädchen der Welt als meine Braut auserwählt. Du bist mein besonderes, mein ganz besonderes Mädchen.«

William feierte keine Geburtstage, und hier oben schienen die Tage einfach so ineinanderzulaufen, trotzdem versuchte Mattie, so gut es ging, die Jahre zu zählen. Sie schätzte sich selbst auf etwa zwanzig, vielleicht ein wenig älter. William war deutlich älter als sie, aber das lag daran, dass es nur recht und billig war, wenn ein älterer Mann seine jüngere Frau leitete.

Sie ging zu dem Fenster, von dem aus man den Holzstapel und das Lagerhaus sehen konnte. Unter der Fensterbank stand ein langer, schmaler Tisch, an dem Mattie das Essen zubereitete und andere Aufgaben erledigte. Gestern hatte sie hier die Kaninchen abgezogen und dabei William wachsam im Auge behalten, während er Holz hackte.

Jetzt stellte Mattie einen Krug mit Wasser und eine Tasse an ein Ende des Tisches. Auf dem Wasser befand sich eine dünne Schicht Eis. Sie brach die Schicht mit dem Stiel eines Löffels auf und schenkte sich ein wenig Wasser ein. Es war so kalt, dass sie nach Luft schnappen musste, als sie davon trank.

Dann starrte sie blind in die Schatten des Waldes hinaus. Was würde passieren, wenn sie jetzt einfach ihre Stiefel anzog, die Tür öffnete und in die Nacht hinauslief? William würde nichts mitbekommen. Dieser Tage schlief er so fest, dass er ihr Verschwinden vielleicht erst nach Stunden bemerken würde, wenn sie längst fort wäre. Vielleicht könnte sie es dann bis in die Stadt geschafft haben.

Mattie wusste nicht genau, wo die Stadt lag, aber sie würde sie doch sicher finden können. Sie lag am Fuß des Bergs, und William schaffte es immer am selben Tag hin und zurück.

Allerdings … Matties Gedanken gerieten ins Stocken, ihre Hoffnung starb noch im Werden. Die Leute in der Stadt kannten ihren Mann. Sie würden sie nur zu William zurückschicken.

Er hatte ihr immer gesagt, dass sie Mattie zu ihm zurückschicken würden, wenn sie versuchte wegzulaufen, denn sie war sein Eigentum, und sie wussten, wohin sie gehörte.

Außerdem, dachte Mattie hoffnungslos, kannst du nicht einfach so im Nachthemd, nur in eine Decke gehüllt, weglaufen. Du würdest dich zu Tode frieren.

Der Schrei der Bärenkreatur erscholl wieder aus dem Wald, weit entfernt und doch so nah, dass sie von dem Fenster zurückschreckte.

Und wenn du nicht erfrierst, wirst du von diesem Ding gefressen.

Es war kein Bär. Es klang nicht richtig, nicht so, wie ein Bär klingen sollte.

Aber es spielte beinahe keine Rolle, was es wirklich war. Mattie brauchte es nicht zu sehen, um zu wissen, dass es alles töten würde, was ihm in den Weg geriet.

Sie wusste, dass sie wieder ins Bett gehen sollte, dass William manchmal nachts aufwachte und nach ihr griff. Wenn er sie nicht neben sich fand, würde die Hölle losbrechen.

Aber ihre Füße wollten sich nicht bewegen. Sie blieb dort am Fenster stehen, bis sich das erste rosafarbene Licht der Morgendämmerung über den Baumwipfeln zeigte.

Kapitel zwei

Nach dem Frühstück sagte William: »Ich gehe heute nach draußen und sehe, ob ich diesen Bären aufspüren kann.«

Matties Überraschung musste sich auf ihrem Gesicht gespiegelt haben, denn William erklärte, was er vorhatte, was vollkommen untypisch für ihn war.

»Ich mache mir Sorgen, dass er näher ans Haus kommt. Wir haben Fleisch im Vorratshaus, und wenn der Bär erst mal alles in der näheren Umgebung aufgefressen hat, könnte er auf die Idee kommen, sich lieber an unseren Vorräten zu bedienen, statt weiter den Berg hinunterzugehen, um nach weiterem Wild zu suchen. Du weißt, dass es Bären schon früher geschafft haben, ins Vorratshaus einzubrechen.«

Mattie nickte. Zwei Schwarzbären – vielleicht auch derselbe Bär zweimal – hatten es geschafft, den Riegel an der Tür zu brechen und hineinzugelangen und sich mit ihren Vorräten den Bauch vollzuschlagen.

Beim ersten Mal war Mattie allein zu Hause gewesen, William war in die Stadt gegangen. Hilflos hatte sie am Fenster gestanden und zugesehen, ohne etwas gegen den Bären unternehmen zu können, weil William sich geweigert hatte, ihr beizubringen, wie man mit einem Gewehr schießt. Stundenlang hatte Mattie das Tier im Lagerhaus randalieren gehört, bis der Bär endlich herausgetrottet kam und seiner Wege ging.

Der einzige Trost lag darin, dass es im späten Frühjahr geschehen und nicht mehr viel im Lagerhaus eingelagert gewesen war. Über den Winter hatten sie das meiste aufgebraucht, und die Sommerjagd hatte noch nicht wirklich begonnen.

Der zweite Trost, zumindest für Mattie, hatte darin gelegen, dass William sich selbst die Schuld an dem Vorfall gegeben hatte und nicht ihr. Das geschah so selten, dass sie diesen Moment nie wieder vergessen hatte.

»Ich muss einen anderen Riegel an der Tür anbringen. Ich wusste, dass sie Türen öffnen können. Und ich hätte auch die Fenster verrammeln sollen.«

Mattie fragte nicht, woher er wusste, dass Bären Türen öffnen können, aber sie glaubte ihm. Sie hatte gesehen, wie das Tier in das Lagerhaus eingebrochen war – es hatte mit der Pfote auf die Klinke geschlagen, bis das Schloss aufgesprungen und die Tür aufgegangen war.

Einige Tage später, bevor William die Gelegenheit gehabt hatte, das Lagerhaus besser zu befestigen, war wieder ein Bär gekommen. Dieses Mal war William zu Hause gewesen und hatte kurzen Prozess ihm gemacht. Wenig später hing der Bär selbst im Lagerhaus.

Danach hatte William die Fenster verrammelt und alle Löcher in den Wänden geflickt. »Ich bin sicher, er hat einfach durchs Fenster geguckt und das Fleisch dort hängen gesehen. Diese Bären sind schlau wie sonst was.«

Außerdem hatte er die Klinke durch mehrere Riegel ersetzt, die mit Karabinerhaken gesichert waren, um es den Bären künftig schwerer zu machen, in das Haus einzubrechen.

Seither hatte es keine weiteren Zwischenfälle gegeben, doch jetzt machte William sich Sorgen. Eine Furche bildete sich zwischen seinen Augenbrauen, eine, die nur entstand, wenn er ganz besonders beunruhigt war.

Mattie zögerte – wenn sie William kritisierte (oder es auch nur wirkte, als wolle sie ihn kritisieren), regte ihn das immer schrecklich auf. Da er aber so außergewöhnlich guter Stimmung zu sein schien, wagte sie es.

»Ich dachte, du hättest gesagt, dass man mit einer Flinte einen Bären dieser Größe nicht töten kann.«

»Kann man auch nicht«, stimmte er ihr zu.

Da wusste sie, dass er sich ernsthaft Sorgen machte, denn es sah William ganz und gar nicht ähnlich, eine ihrer Bemerkungen einfach so und ohne Böswilligkeit durchgehen zu lassen.

»Ich will ihn auch nicht unbedingt töten, zumindest nicht heute. Aber ich würde ihn gern einmal sehen, vielleicht seinen Bau aufspüren. Es wird kälter, also muss er sich eine Höhle für den Winterschlaf ausgesucht haben, auch wenn er noch nicht die ganze Zeit darin verbringt. Wir wissen, dass er groß ist, also gibt es wahrscheinlich nicht viele Plätze, die für ihn geeignet sind. Ich wüsste gern, wie groß er tatsächlich ist. Immerhin frisst er das gesamte Wild hier in der Gegend, so viel steht fest.«

»Ja«, sagte Mattie und setzte dann hinzu: »Bitte sei ganz besonders vorsichtig«, weil es das war, was man von Frauen erwartete, wenn ihre Männer auszogen, um etwas möglicherweise Gefährliches zu tun. Sie war immer noch unschlüssig, was sie empfinden sollte, falls William etwas zustieß.

Ein Teil von ihr sehnte sich danach (ein böser Teil, du weißt, dass das ein böser Gedanke ist: zu wünschen, dass deinem Ehemann etwas zustößt), aber der andere Teil hatte Angst davor, was aus ihr werden sollte, wenn er nicht mehr da war. Er hatte ihr so viel Wissen vorenthalten, dass sie ganz sicher war, nicht ohne ihn überleben zu können.

»Du kommst mit«, sagte er.

»Ich? Warum?« Sie war davon ausgegangen, dass sie zu Hause bleiben und ihren häuslichen Pflichten nachgehen würde, wie sie es stets tat, wenn William zur Jagd ging.

William sah sie lange an, als versuchte er zu entscheiden, ob er ihr antworten sollte. Schließlich erklärte er: »Ich könnte ein Paar zusätzliche Augen gebrauchen, und deine sind die einzigen, die hier verfügbar sind. Wenn ich einen Sohn hätte, dann …«

Er ließ den Satz vielsagend ausklingen. Mattie errötete beschämt, wie es von ihr erwartet wurde, und spürte den vertrauten Stich der Trauer unter ihren Rippen, einer Trauer, die sie manchmal ganz unvermittelt überfiel und ihr den Atem verschlug.

Wieder und wieder hatte sie versucht, ihre Pflicht als Frau zu erfüllen, aber keine ihrer Schwangerschaften hatte gehalten. Zweimal hatte sie das Baby ausgeblutet. Nach dem zweiten Mal hatte William sie furchtbar geschlagen, glühend vor Zorn, und sie der Hexerei bezichtigt, um ihre Kinder loszuwerden. Ihr linker Arm war seither nie wieder ganz verheilt. An kalten Tagen schmerzte er, und wenn sie die Hände vor dem Körper ausstreckte, sah sie die buckelige Stelle an ihrem Unterarm, wo er nicht ganz gerade war.

Das dritte Kind war zu früh gekommen, viel zu früh, es war gar nichts an ihm dran gewesen, als er aus ihrem Körper gerutscht war. Sie hatte es in den Armen gehalten, auch wenn es nie geschrien hatte und sein kleiner Körper kalt geworden war, bevor sie auch nur die Gelegenheit hatte, ihm einen Namen zu geben. Das war das einzige Mal gewesen, dass Mattie William hatte weinen sehen.

»Es tut mir leid«, sagte Mattie, weil sie wusste, dass es ihre Schuld war, dass es an ihrem fehlerhaften Körper lag, und auch weil es seine Stimmung immer ein wenig aufhellte, wenn sie sich entschuldigte.

Wobei unser Sohn, selbst wenn er überlebt hätte, inzwischen wohl kaum alt genug wäre, um mit dir auf die Jagd zu gehen. Er wäre noch klein genug, um an meinem Rockzipfel zu hängen, und wie stündest du dann da, William? Was wäre dann mit deinem Paar zusätzlicher Augen? Du hättest keins, weil ich mit dem Kind zu Hause bleiben müsste.

Mattie stand auf und räumte rasch den Tisch ab, weil das ein ziemlich aufrührerischer Gedanke war und William ihr solche rebellischen Gedanken an den Augen ablesen konnte, es spüren konnte, wenn der Widerstandsgeist wieder aufflackerte, den er versuchte, ihr auszutreiben.

»Wenn du mit dem Frühstücksgeschirr fertig bist, zieh deine Hose an«, sagte er. »Deine Röcke sind nicht gut zum Laufen geeignet, und außerdem machen sie zu viel Lärm.«

Mattie hatte nur eine Hose, die sie sehr selten trug, weil William sie für unanständig hielt. Dennoch hatte er zugestehen müssen, dass sie gelegentlich praktisch war, besonders wenn er ihre Hilfe bei einer anstrengenden Arbeit benötigte.

Mattie konnte sich viel leichter bewegen ohne das Gewicht eines Rocks und zweier Unterröcke. Ihre Beine fühlten sich leichter und freier an, wenn sie die Hose trug. Sie fühlte sich dann leicht genug, um zu fliegen.

(Oder wegzulaufen)

Mattie beugte sich über die Wasserschüssel und schrubbte das Geschirr, ohne William anzusehen. Er würde ihr das »weglaufen« auf jeden Fall ansehen, selbst wenn es nur ein flüchtiger Gedanke war. Selbst wenn sie es nicht wirklich meinte.

(Auch wenn du es irgendwie doch wirklich gemeint hast)

Sie musste diese rebellischen Gedanken unterdrücken. Sie ziemten sich nicht für eine gute Ehefrau, und William erinnerte sie immer wieder daran, dass es ihre Aufgabe im Leben war, ihm eine gute Ehefrau zu sein.

Kurze Zeit später waren sie im Wald. Diesmal stiegen sie den Berg hinauf statt hinunter. William meinte, es gäbe etwas weiter oben eine kleine Wiese, die an eine Felswand mit mehreren Höhlen grenzte.

»Ich habe da manchmal schon große Grizzlys rein- und rausgehen sehen. Und ein Bär, der so groß ist wie der, hinter dem wir her sind, wird sich wohl kaum eine Höhle graben. Er wird sich etwas Fertiges suchen. Aber du hältst trotzdem die Augen offen, Mattie, mein Mädchen, nur für den Fall, dass er sich tatsächlich irgendwo anders eingegraben hat.«

Mattie verstand nicht, warum William so von dem Tier besessen war. Jedenfalls nicht richtig. Er sagte, es ginge ihm um die Vorräte, aber das schien nicht der eigentliche Grund zu sein. Und sie hielt auch die planlose Art, wie er es aufstöbern wollte, nicht für besonders sinnvoll. Warum gingen sie nicht zu der Stelle zurück, wo sie gestern die Spuren gefunden hatten, und suchten von dort aus weiter? Das war so untypisch für William, der normalerweise sehr methodisch und logisch vorging.

Er hat vor etwas Angst, dachte sie, während sie hinter ihm herstapfte. Er hat vor irgendetwas Angst, aber nicht davor, dass dieses Tier ins Lagerhaus eindringen könnte oder das ganze Wild in der Gegend auffrisst.

Mattie starrte auf seinen Nacken und versuchte zu überlegen, was ihm Angst machen könnte. Sie hatte das Gefühl, dass irgendetwas von dem, was er am Vortag gesagt hatte, ihr einen Hinweis geben könnte, doch sie konnte es nicht ganz fassen.

Wie dem auch sei, sie sollte sein zusätzliches Paar Augen sein, und wenn sie die ganze Zeit nur auf Williams Rücken starrte und darüber nachdachte, was gestern geschehen war, dann tat sie nicht das, was er ihr aufgetragen hatte.

Der Wald wirkte heute angenehmer, weniger dicht, weniger still und wachsam. Die Sonne tauchte aus der Wolkendecke auf und ließ den Schnee in blendendem Weiß erstrahlen. Vögel flitzten zwischen den Bäumen umher, zwitscherten und plapperten einander ihre vielen Gedanken zu. Eichhörnchen und Streifenhörnchen beobachteten sie von den Ästen herunter oder aus dem Unterholz heraus, großzügig gegenüber den Menschen, die durch ihren Wald irrten.

Mattie glaubte nicht, dass die Kreatur (sie wusste nicht mehr, wann sie aufgehört hatte, an einen Bären zu denken, gleichwohl war sie sich sicher, dass es nicht wirklich ein Bär war, egal, was William behauptete) irgendwo in der Nähe war. Der Wald wirkte anders als am Vortag. Jetzt, da sie darüber nachdachte, fiel ihr auf, dass der Wald gestern schon von dem Moment an anders gewirkt hatte, als sie hinausgegangen war, um die Fallen zu kontrollieren. Es hatte nicht an dem Fuchs gelegen. Sie hatte sich von Anfang an unwohl gefühlt, auch wenn sie das Gefühl da noch nicht erkannt hatte.

William ging wortlos voran und blieb nur stehen, um irgendwelche Spuren zu betrachten, die Mattie nichts sagten – abgebrochene Zweige, heruntergefallener Schnee, ein Stück aufgerissener Rinde. Nichts davon sah aus, als sei es das Werk dieser Kreatur. Die Anzeichen, die sie am Vortag gesehen hatten, waren sehr viel offensichtlicher gewesen.

Mattie spürte Williams wachsende Frustration und wünschte, er hätte nicht darauf bestanden, dass sie ihn begleitete. Es wäre irgendwie ihre Schuld, wenn sie keinerlei Anzeichen des Tiers fanden.

Nach etwa einer Stunde erreichten sie die Wiese. Sie war ungefähr viermal so groß wie die Lichtung, auf der sie lebten. Mattie stellte sich vor, wie sie im Sommer aussehen musste, voll mit den bunten Blüten der Bergblumen – Feinstrahlastern, Glocken- und Kokardenblumen und Fuchsbohnen. William hatte sie die Namen der Blumen gelehrt und auch, wie man essbare Kräuter und Beeren fand.

Plötzlich erinnerte sie sich daran, wie William sich einmal zu ihr heruntergebeugt hatte, um ihr eine Akelei zu zeigen. Da war sie noch sehr klein gewesen. Vor ihrem geistigen Auge sah sie ihre Hand, wie sie über die Blütenblätter strich, die Hand eines kleinen Mädchens.

Jetzt war die Wiese braun unter dem Schnee, alle Blütenblätter waren verweht oder vertrocknet. Oberhalb der Wiese ragte eine schräge Felswand auf, in der mehrere Höhleneingänge zu sehen waren.

»Da muss er sein, falls er überhaupt hier oben ist«, sagte William.

Mattie betrachtete den Hang. Er war sehr steil, und es gab eine Menge loses Geröll. Er sah gefährlich aus – unnötig gefährlich, denn es gab keine Anzeichen dafür, dass irgendetwas diese Wiese überquert hatte, das größer war als ein Nagetier. Und wenn sich da oben Bärenhöhlen befanden, wäre es töricht, darin herumzustochern, selbstzerstörerisch geradezu. Was dachte sich William nur dabei?

»Wenn da oben tatsächlich Bären schlafen …«, begann Mattie, aber William fiel ihr ins Wort.

»Glaubst du, ich weiß nicht, dass da welche sein könnten? Wir werden sie nicht aufwecken, wenn da welche sind. Wir sehen uns nur den Eingang an und halten nach Spuren Ausschau, die wir gestern gefunden haben.« Seine Faust ballte sich, doch er hob sie nicht. »Sag mir nicht, was ich zu tun oder zu lassen habe, Martha. Halt dich in meiner Nähe und mach jetzt keinen Mucks mehr.«

Du bleibst jetzt bei mir und hältst still.

Das erinnerte sie an etwas – an Dunkelheit, eine raue Hand über ihrem Mund. Ein Flüstern. »Du bleibst jetzt bei mir und hältst still.«

William merkte, dass sie ihm nicht mehr folgte, und drehte sich um, ein Muskel an seinem Kiefer zuckte. Mattie eilte ihm nach, bevor er noch etwas sagte oder ihr auf andere Weise in Erinnerung rief, dass er ihr einen Befehl gegeben und sie ihn zu befolgen hatte.

Leichtfüßig stieg er den Hang hinauf, während Mattie sich mühen musste, mit ihm Schritt zu halten. Seit William darauf bestand, dass sie sich stets in der Nähe des Hauses aufhielt, musste sie nur noch selten bergan steigen.

Am ersten Höhleneingang blieb er stehen, um den Boden in Augenschein zu nehmen. Mattie hielt sich schwer atmend ihre stechende Seite.

»Mach nicht so einen Lärm«, warnte William. »Du klingst ja wie ein Blasebalg.«

Mattie nickte und versuchte, ihren keuchenden Atem zu beruhigen. »Vielleicht sollte ich hierbleiben, während du weitergehst? Es ist sehr anstrengend für mich, William.«

Sie versuchte, nicht flehend zu klingen, weil ihn das immer verärgerte.

»Du bleibst bei mir«, knurrte William. »Sieh zu, dass du dranbleibst.«

Er machte sich auf den Weg zum nächsten Höhleneingang, ohne sich nach ihr umzusehen. Er wusste, dass sie ihm folgen würde.

Warum benimmt er sich so seltsam und besteht darauf, dass ich bei ihm bleibe? Normalerweise würde er mich sofort zurücklassen, wenn ich ihn behindere.Ich schaffe es ja kaum, mit ihm Schritt zu halten.

Als Mattie bei William eingezogen war, war es genauso gewesen – er hatte darauf bestanden, dass sie sich stets in seiner Nähe aufhielt –, aber das war lange her.

Damals hatte er Angst, dass ich mich davonschleiche, sobald er mich auch nur einen Moment lang aus den Augen lässt. Jetzt hat er wieder Angst davor, und zwar wegen des Tiers.

Allerdings konnte Mattie sich keinen Reim darauf machen, wie sie auf diesen Gedanken kam. Irgendwo fehlte da ein Zwischenschritt. Sie wusste nur, dass sich seit gestern etwas verändert hatte, und zwar durch die Anwesenheit eines neuen Tiers in der Nähe ihres Hauses.

Aber sie sollte nicht darüber nachdenken. Sie sollte nicht versuchen, das Rätsel um Williams Stimmung zu lösen, denn sie kam sowieso nie auf die richtige Lösung, und außerdem sagte William immer, sie solle das Denken ihm überlassen.

Der zweite Höhleneingang lag viel höher am Hang als der erste, und als sie ihn erreichten, fühlte sich Mattie schwindelig, und ihr war ein wenig übel.

William ging in die Hocke und schaute sich die Flecken Erde genau an, die zwischen den Felsen lagen. Mattie atmete tief und versuchte, ihr rasendes Herz zu beruhigen.

Sie fing den Geruch von etwas Verwesendem auf, diesen unverkennbaren dicken, feuchten Gestank, und spürte, wie ihr das Blut aus dem Gesicht wich. Kalter Schweiß rann ihr die Schläfen hinunter, während sie sich die Nase zuhielt und den Kopf abwandte. Nicht spucken, nur nicht spucken!, aber es half nichts, ihr war bereits übel, und der Geruch gab ihr den Rest.

Mattie stolperte zur Seite und versuchte, ein paar Meter zwischen sich und William zu bringen. Es widerte ihn zutiefst an, wenn sie sich übergeben musste. Er schien zu glauben, dass ihr nicht schlecht werden würde, wenn sie ihren Körper nur besser unter Kontrolle hätte.

»Ich habe dir doch gesagt, du sollst in meiner Nähe …«, begann er, aber da war sie schon dabei, hinter einem Felsbrocken ihr Frühstück von sich zu geben. »Oh … ekelhaft.«

Als sie fertig war, legte Mattie die Wange an den kühlen Felsen und sehnte sich nach etwas Wasser. Ihre Kehle fühlte sich wund an, und ein saurer Geschmack erfüllte ihren Mund.

William packte sie am Kragen, zerrte sie hoch und schleifte sie hinter sich her. Ihr wegen der Kälte bis oben zugeknöpfter Mantel schnürte ihr den Hals zu, und sie musste um Luft ringen und würgen. Ein paar Meter weiter schleuderte er sie grob zu Boden.

Dann kletterte er über sie, nahm sie zwischen seine Knie und packte mit beiden Fäusten die Aufschläge ihres Mantels, zerrte sie halb hoch und schüttelte sie.

»Bist du schwanger, Martha? Trägst du meinen Sohn unter dem Herzen und versuchst, es mir zu verheimlichen?« Williams Gesicht war rot, sein Mund zu einem Zähnefletschen verzogen, Spucke landete auf ihrem Gesicht. »Glaub ja nicht, dass du das vor mir verbergen kannst! Glaub ja nicht, du könntest ihn noch einmal mit deiner Hexerei aus deinem Körper ausbluten lassen.«

»Nein«, keuchte Mattie kaum hörbar. Sie konnte nicht atmen, konnte nicht denken, konnte die Worte nicht herausbringen. »Nein, das würde ich nie tun.«

Sein Gewicht drückte auf ihren Bauch, und alle ihre Organe stießen bei jedem Schütteln gegen ihre Rippen.

»Ich habe nicht … ich würde niemals … der Geruch …«

»Welcher Geruch?«, fragte William und schüttelte sie erneut so heftig, dass ihre Zähne klapperten.

»Ich kann nicht«, sagte sie und krallte sich an seinen Händen fest. »Ich kann nicht …«

Ich kann nicht atmen. Ich bekomme keine Luft.

Er ließ die Vorderseite ihres Mantels abrupt los, sodass sie nach hinten auf den Boden krachte. Scharfkantige Steine bissen in ihren Hinterkopf, und warme Flüssigkeit floss in ihr Haar. Sterne schossen durch ihr Gesichtsfeld und über Williams Gesicht, das über ihr schwebte.

»Erkläre dich«, sagte er mit dieser Stimme, die Mattie immer an zugefrorene Flüsse und Eiszapfen mit langen, scharfen Spitzen denken ließ.