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Jean Pauls Roman 'Der Komet: Eskapaden eines edlen Narren' ist ein Meisterwerk der deutschen Literatur des 18. Jahrhunderts. Der Roman erzählt die Geschichte des geheimnisvollen Kometen, der am Himmel erscheint und das Schicksal einer kleinen Stadt verändert. Mit einem reichen literarischen Stil, der von ironischer Satire bis hin zu tiefgründiger Symbolik reicht, weckt Jean Paul die Fantasie seiner Leser und fordert ihr intellektuelles Verständnis heraus. Der Autor schafft es, die Absurditäten der menschlichen Natur durch die Handlungen seines narrenhaften Protagonisten humorvoll zu beleuchten und gleichzeitig auf die dunklen Seiten der Gesellschaft hinzuweisen.
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Seitenzahl: 743
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Die Pflicht der Selbererhaltung verlangt, daß ich hier eine Vorrede zu zwei Büchern auf einmal ausarbeite, zu dem Buche, das der Leser eben in die Hände bekommt, und zu einem andern, das erst, geliebts dem Himmel, künftig erscheinen kann.
Die Vorrede zum gegenwärtigen Werkchen, wovon schon der erste und der zweite Teil hier fertig vorliegt, braucht nicht lang zu sein. In meiner künftigen Lebensbeschreibung wird man mit einiger Verwunderung lesen, daß ich am zweiten Bande desselben länger als neun horazische Jahre – denn schon 1811 fing ich an –, obwohl unter vielen Unterbrechungen, geschaffen und gezeugt. Übrigens gibt freilich nicht eine Polar- und Doppelnacht an sich einen Herkules, wenn der Jupiter fehlt, und bloß der Heraklide da ist. Als er endlich fertig war, der zweite Band – welcher so schön hätte der erste sein können –, erhielt ich durch Hände (im Buche selber wird man sie gleichsam mit Händen greifen) einen ganz neuen Band, nämlich den ersten, d. h. alle Baumaterialien zu des Helden Kindheit- und Jugendgeschichte, also zu einer ganzen Vorstadt, die ich erst spät an die Stadt selber anzubauen hatte, wiewohl freilich überall die Vorstädte neuer sind als deren Stadt. Aus Vorsicht werden denn die Geschichten des ersten Bandes und der Jugend des Helden bloß Vorkapitel genannt und nur fliegend vorübergeführt, weil man mit Recht zur Hauptgeschichte und zu wahren Kapiteln eilt. Es ist indes in jedem historischen Buche nicht anders, von der jüdischen Geschichte an bis zum Romane, wo anfangs Sprünge Wunder tun, und erst später Schritte gut lassen, so daß man in der Geschichte zum Erzählen, wie im Schache zum Spielen, im Anfange mit dem größern Vorteile den Springer und die Königin gebraucht, und erst gegen das Ende desselben nur Schritt vor Schritt vermittelst der Bauern zieht.
Ich vertraue den guten Lesern die herzliche Bitte im stillen an, ihren lieben Leserinnen, mögen sie diese nun geheiratet oder gezeugt haben, oder an Kindes Statt angenommen, oder sonst kennen gelernt, kein Wort von der ganzen Vorkapitelsache zu sagen, sondern die Vorrede (worüber keine leicht gerät) für sich zu behalten, weil die Guten sonst, wenn sie wissen, daß das beste Historische erst später kommt, nicht aufhören zu überschlagen und Sprünge zu machen, obgleich ihnen schon die körperlichen ein altes Reichsgesetz (nach Möser) ernstlich untersagt.
Was jedoch gutgesinnte Leser tun können, ist, daß sie ihren Leserinnen aus der Vorrede berichten, wie ich bloß für sie nach jedem Vorkapitel einige gefühlvolle Ausschweife gemacht, welche wirklich am Ende des Buchs gesammelt stehen, um durch Zusätze ernster Art den magern Band sowohl zu verbrämen als zu verdicken. In der Tat, ohne alle Ausschweife bliebe der Schweifstern oder Komet als ein gar zu dünner Haarstern in seiner ersten Ferne dastehen, da nicht jeder weiß wie ich, daß er, sobald er nur einmal in seine Sonnennähe gelangt, so gut einen Schweif von 12 Millionen Meilen vorzeigen wird, als der Elfer Komet nach Herschel trug, – um darauf mit Ehren als Bartstern davonzugehen.
Noch ist über den Titel »Komet« zu erinnern, daß bei diesem Namen des Buchs niemand zu Gevatter gestanden als dessen Held Marggraf selber mit seiner Natur. Ich hätte daher, um seine Ähnlichkeit mit einem Kometen darzustellen, der bekanntlich sich im Himmel unmäßig bald vergrößert, bald verkleinert – sich ebenso stark bald erhitzt, bald erkältet – der auf seiner Bahn oft geradezu der Bahn der Wandelsterne zuwiderläuft, ja imstande ist, von Mitternacht nach Mittag zu gehen – und der oft zweien Herrinnen oder Sonnen dient und von einer zur andern schweift – ich hätte, sag' ich, um die Ähnlichkeit mit einem Kometen zu beweisen, nichts nötig, als bloß die Geschichte des Helden selber vorzuführen, worin die Ähnlichkeiten nach der Reihe vorkommen; – nun eben die Geschichte habe ich ja in folgenden Bänden gegeben, und ich brauche also die ganze Historie hier nicht zu wiederholen oder auch vorauszugeben.
So weit die kurze Vorrede zum gegenwärtigen Buche.
Aber die Vorrede zu dem andern, das erst erscheinen soll, hat vielleicht desto mehr zu sagen, da sie sich noch auf nichts Vorhandenes steuern kann. Gerade im politisch-bösen Jahre 1811, da in mir der »Komet Nikolaus Marggraf« aufging, entwarf ich den Plan zu einem großen Romane, welchen ich auf dem Titel »mein letztes komisches Werk« nennen wollte, weil ich darin mich mit der komischen Muse einmal in meinem Leben ganz auszutanzen vorhatte; in der Tat wollt' ich mich einmal recht gehen und fliegen lassen, ästhetische und unschuldige Keckheiten nach Keckheiten begehen, ein ganzes komisches Füllhorn ausschütteln, ja mit ihm wie mit einem Satyrhörnchen zustoßen, nicht viele Ausschweifungen im Buche machen und einschwärzen, sondern der ganze Roman sollte nur eine einzige sein und sollte deswegen (vielleicht mit mehr Recht als dieses unschuldige Werkchen) der Komet oder Schwanzstern betitelt werden, weil er wirklich ins Unendliche, in eine Hyperbel hinausfahren und nichts zurücklassen sollte als starken Kometenwein für Leser von Magen und Kopf. Kurz ich wollte in meinem Alter, worin andere Schreiber und Philosophen und Dichter, geistig wie körperlich, durch lauter Funken-Geben zu hohlbauchigen und gekrümmten Feuerzeugen geschlagen und ausgetieft sind, mich als runden Wilsonschen Knopf elektrisch zeigen und vollgeladen mich entladen und unausgesetzt blitzen; – aber, wie ich freilich deshalb mich an den galvanischen unsterblichen Säulen eines Gargantua und Don Quixote unaufhörlich zu laden suchte, dies läßt sich vorstellen.
– Bei der ganzen Sache ist nun nichts zu beklagen, als daß der Verfasser nach seiner offenherzigen Voreiligkeit etwas davon herauspolterte, wie er seit Jahren Papiere aller Art zusammentrage, Herrenpapier und Kartaunenpapier, Trauerpapier mit vergoldetem Schnitte und Staatspapier und Stempelpapier, um alles zurechtzuschneiden und zu leimen zu einem außerordentlichen Papierdrachen, den er als eine Spielsache gegen das elektrische Gewölke wolle zum Scherze, zum Untersuchen und zum Ableiten steigen lassen, wenn der rechte Wind dazu bliese. – Aus diesen Zurüstungen, die das Rüstzeug nicht eben hätte zu zeigen gebraucht, wurde nun von Briefwechslern und Reisenden der Schluß gezogen und umhergetragen, gegenwärtiger Verfasser habe, besonders da er den alten Don Quixote immer in Händen hatte, einen neuen unter der Feder, einen detto, nämlich einen Vize-Detto oder Substituten sine spe succedendi, und wolle sich zu einem Ehrenmitgliede, wenn auch nicht korrespondierenden Mitglied am spanischen Spaßvogel schreiben, und kurz, es sei von ihm nach so langer Arbeit und Zeit etwas Erträgliches nächstens zu erwarten ...... Himmel, Cervantes! Der Verfasser sollte dir einen neuen Don Quixote nachzuliefern wagen, welcher sogar dem ästhetischen Mockbird1, Wieland, einem Manne von so großen und mannigfaltigen Nachahmtalenten, in seinem Don Sylvio so gänzlich verunglückte? – Wahrlich du erlebtest dann an deinem Nachahmer und Schildknappen einen neuen irrenden Ritter mehr und müßtest jenseits lachen.
Inzwischen ist das verdrießliche Gerücht nun einmal in Deutschland auf den Beinen und im Laufe und schwerlich einzufangen; ja es steht uns niemand dafür, daß nicht sogar dieser Nikolaus Marggraf anfangs – wenigstens ehe man diese Vorrede und ihn selber gelesen – von manchen als der lang erwartete Don Quixote und oben gedachte Papierdrache in die Hand genommen werde.
Der Drache wird freilich einmal steigen, aber kann es einer, zumal ein so langgestreckter, in der Windstille? Unter dieser wird hier, sieht man leicht, das fünfjährige Karlsbader Zensurprovisorium gemeint, das eigentlich mehr dem Scherze Schranken droht und anweist als der Untersuchung und Aufklärung. Gegen letzte vermögen sogar Licht-Verbote nur wenig; es ist damit wie mit Sonnenfinsternissen2: bleibt auch nur ein Stückchen Sonne dabei unbedeckt, so erfolgt keine Abnahme des Taglichtes. Ja ein gewaltsames Anhalten der Völker gibt ihnen bloß einen neuen Stoß zum Vorwärts, wie man in einem Wagen, der schnell stehen muß, einen Stoß vorwärts bekommt. – Der Scherz hingegen schlägt sich an jedem Gitter die Flügel wund. Er begehrt noch mehr Freiheit zu seinem Spielraum, als er benützt, und muß über das Ziel hinaushalten, um in dasselbe zu treffen; daher ist jeder unter seinesgleichen am leichtesten komisch und witzig, weil die größere Freiheit das Aufstehen aller Ideen begünstigt, deren Vielzahl eben zum Begegnen und Befruchten untereinander nötig ist. Der komische Genius gleicht der Glocke, welche frei hängen muß, um einen vollen Ton zu geben, aber dumpf und widertönig erklingt, von der Erde berührt.
Sind freilich die fünf Jahre Provisorium vorüber, gleichsam das Quinquennell für manche Schuldner der Satire, so gehen frische Winde, und lange Drachen können steigen. Ob ich gleich jetzo bloß den Kometen mit seinem unschuldigen Schweifchen liefern darf, das nach allen neuern Sternsehern niemand verbrennt, nicht einmal ersäuft, den Drachen hingegen mit seinem Papierschwanze, der leicht einen Gewitterschlag auf mich oder andere herunterleiten kann, zu Hause behalten muß: so wird doch darum weder die Welt noch ich dabei verlieren, sondern vielmehr außerordentlich gewinnen. Kann ich nicht die schöne Zeit von fünf ganzen Jahren zu Hause im stillen dazu verwenden, daß ich die kecksten Satiren auf alles fertig arbeite, um nach dem Ablaufe des Quinquennells sogleich damit bei den Quinquennalien-Spielen als Quinquennalis zu erscheinen – und kann ich mir nicht gleichsam ein Kontingent ad quintuplum von den berühmtesten Philistern, nämlich fünf güldene Ärse zollen lassen? – Oft wünsch' ich mir selber Glück, wenn ich es berechne und bemesse, welche lange Schwanzfedern und breite Flügel ich meinem Drachen anzunähen vermag aus so manchen Papieren, aus Flugschriften und Einlösscheinen – aus Hirtenbriefen und gnädigsten Handschreiben – aus Komödienzetteln und diplomatischen Berichten und Konkordaten, wobei ich die Liebebriefe und Küchenzettel und Arzeneizettelchen als bloße Bauchfedern gar nicht einmal mitzähle. – Wie, wenn ich nun einen so bekielten Drachen an der Schnur oder Nabelschnur in die Welt lasse: solle er bei solchen Umständen nicht so hoch steigen, als ein Meteorstein fällt?
Die Welt merke nur im Meßkatalog auf das Werk, das nach fünf Jahren unter dem Titel »Papierdrache« von mir erscheint.
Beschau' ich vollends die günstigen literarischen Zeitläufte, wo schon jetzo so viele herrliche Schreibfedern zu Schwungfedern meines Drachen zu gebrauchen und anzusetzen sind: so sind die Aussichten für ein komisches Werk lachend, das noch fünf ganze Jahre lang ein Zeitalter benutzen und abernten kann, wo so viel für die komische Muse geschieht. Nimmt man fünf Musenberge bei uns an – den englischen, welsch-spanischen, französischen, orientalischen und altdeutschen –: wahrlich, jeder Berg gebiert seine Maus von Gold, folglich eine Ausbeute von fünf goldnen Philister-Mäusen zu den obigen goldnen Philister-Sitzen.
Vernunft – hie und da höheren Orts bloß kaum Landes verwiesen – wird von theologischen Schreibern, wie v. Müller und v. Haller und Harms, viel sachdienlicher in Ketten gelegt, aber noch besser von Dichtern gar im Feuer verflüchtigt. So weit hat nämlich schon jetzo der Deutsche es im Komischen gebracht und ist ein gemachter Mann in Flögels komischer Literatur; aber vollends nach fünf Jahren, wenn er so fortarbeitet, so darf sich jeder Deutsche, der Teukterer, der Brukterer, der Usipeter, der Cherusker, der Sigamber, der Friese, der Chauke, der Jüte, der Marse und Marsate, oder wen sonst noch Adelung unter die germanischen Cimbern am rechten Rheinufer steckt, er darf sich sehen lassen auf der komischen Bühne. Denn ich schmeichle weder mir noch andern Schriftstellern, wenn ich schon jetzo die britischen sehr verschieden von unsern deutschen finde, indem ich jenen zwar wohl einen Scott und einen Byron zugestehen kann – welche mit sinnlicher, ja leidenschaftlicher Naturwahrheit darstellen und Feuer auf einem festen Erdboden anschüren, oder ihre Naphtha phantastischer Flammen aus einer Erdtiefe ziehen –, aber bei ihnen dafür jene deutschen Mystiker und Romantiker nicht aufzutreiben vermag, die uns ein ganz anderes und feineres Feuer ohne Boden geben, das sie in Funken aus den Augen drücken und schlagen, und welche wahrlich nicht spärlich in allen, sogar schlechtesten Taschenbüchern und Romanen ausstehen. Männer (worunter ich auch die Weiber mitzähle), welche, eben weil sie Ländern und Dichtern voll ursprünglicher Wärme und reichen Wachstums und Anbau durch Pflanzungen gar nicht ähnlich sind, desto mehr den Polarländern gleichen, die so zauberisch alle südliche Farbenglut und üppige Gestalten-Aussaat oben in einem kalten Himmel, ohne Wärme von oben, oder unten durch bloßen Nordschein vorzeigen, samt dem wunderbar untereinander knisternden Strahlen-Spielleben. – Kurz kühne Sterne erster romantischer Größe in ihren Romanen, welche sich wohl dem unvergeßlichen Kometen von 1811, dessen Kern nach Herschel zwar nur 93 Meilen, dessen Nebelglanzmasse aber 27000 Meilen betrug, gleichsetzen mögen .....
Hier bringt mich die Vergleichung auf meinen eignen, eben in Druck erscheinenden Kometen zurück, der etwa bloß dem kleinen, auch im Jahr 1811 erschienenen ähnlich sein mag, an welchem nichts groß war als der Kern.3 – Für ein besonderes Geschenk werd' ich es übrigens von den sämtlichen Hevelischen Kometographen in den verschiedenen Rezensieranstalten ansehen, wenn sie hinter ihren Kometensuchern die Bemerkung machen wollten, daß der Schwanzstern erst sichtbar wird und noch manche Sternbilder zu durchlaufen hat, eh' er seine Sonnennähe erreicht; denn früher können sie unmöglich die Elemente seiner Bahn berechnen, noch weniger auf einen außerordentlichen Schwanz aufsehen, der den halben Himmel hinunterhängt. Wie gesagt, ich würde die Bemerkung für ein besonderes Geschenk ansehen.
Baireuth, den 5ten April 1820.
Dr. Jean Paul Fr. Richter Legationrat.
1. Mockbird, Spottvogel, oder die sogenannte amerikanische Nachtigall welche eine nachahmende lebendige Orgel aller Vogelgesänge ist.
2. Zachs Ephemeriden etc. März 1805.
3. Für Unkundige des Himmels mag hier erinnert werden, daß im Jahr 1811 neben dem großen, durch seinen Schweif und Wein berühmten Kometen noch ein kleiner, weniger gekannte erschienen, der einen Kern nach Herschel von 870 Meilen im Durchmesser hatte, aber nur einen winzigen Nebel um sich her.
worin die Beleihung der Leser mit der Geschichte vorgeht, nämlich die Investitur durch Ring und Stab
In der Markgrafschaft Hohengeis liegt das Landstädtchen Rom, worin der Held dieser vielleicht ebenso langen als bedeutenden Geschichte, der Apotheker Nikolaus Marggraf, jetzo im Belehnkapitel von weitem auftritt. Auch der Unwissendste meiner Leser, der nie ein Buch gesehen, kann dieses Hohengeiser Rom weder mit jenem großen italienischen verwechseln, das so viele Helden und Päpste aufzog, noch mit dem kleinen französischen4, das sich bloß durch Eselzucht auszeichnet. Verständige Leser suchen ohnehin meine Städte und Länder selten auf der Karte, weil sie schon wissen, daß ich meistens, wenn auch nicht verfälschte Namen, doch ganz neue angebe, zu welchen erst spätere Reisebeschreiber die Örter und die Stiche liefern.
Sämtliche Romer nun – so, aber nicht Römer hießen sie sich, noch ehe Wolke so zu schreiben vorgeschlagen – konnten unter dem einzigen ausgemachten Narren, unter dem Großkreuz der Narren ihres Städtchens, sich niemand anders vorstellen als den Apotheker Henoch Elias Marggraf – wegen der Hoffnungen von seinem Sohne – also gerade den Vater eines Helden, für welchen der Verfasser dieses mehre Jahre seines Schreiblebens, wie die Verlagbuchhandlung mehre Ballen ihres Schreibpapiers, aufzuwenden entschlossen ist. Ob aber Rom recht hat, oder der Verfasser und die Buchhandlung und der Apotheker, dies wird die Zeit lehren, – die man auf das Lesen dieser Geschichte verwendet. Der alte Henoch Elias war nun ein Männchen, das nicht mit bloßen Federn, sondern über seine ganze kurze Länge hinab mit lauter Flügelchen von Tag-, Abend- und Nachtfaltern besetzt war – überall oben oder unten hinausfahrend und wieder zurückfahrend und sich dann setzend als Apotheker der Stadt. Aufgeräumter, gesprächiger, toller war niemand in Rom als er. Aber diese springende Lebhaftigkeit eines Affen wird in einem schönern Licht erscheinen, wenn man die gesetzter Denkenden versichert, daß er hinter ihr bloß eine andere Ähnlichkeit, nämlich Hab- und Greifsucht eines Affen geschickt verbergen wollte, weil er alle leere Plätzchen (volle hatt' er gar nicht) sowohl in seiner Apotheke als in seiner Kasse so zu benutzen suchte wie die Bienen die ihrigen, welche jede Zelle, sogar eine eben vom ausgekrochnen Bienenwurm ausgeleerte, sogleich mit Honig nachfüllen. Lustigkeit ist die beste Fledermausmaske des Nehmens, sogar des Geizes; und der Apotheker setzte in seinen lebhaften, aufflackernden, italienischen Lustfeuern wohl häufig Ehre und Verstand beiseite, aber niemals einen Profit.
Zum Glücke hatt' er nun in seinen Mitteljahren, als er den Erbprinzen von Hohengeis als Reiseapotheker nach den warmen Bädern von Margarethahausen begleitete, auf eine reizende italienische Sängerin getroffen, welche gerade an den Hopstänzen seiner Glieder und Worte besondern Gefallen fand. Da er dieses Gefallen und noch dazu ihre zwei Hände voll Ringe und diese wieder voll Steine sah, so entschloß er sich, Hände und Ringe zu wechseln, bloß aus Liebe gegen ihre Hände (denn an seinem Ringfinger und Fingerring steckte fast nichts), um die Reisende heimzuführen. In der Tat konnte die schöne Sängerin – von welcher die Nachtigall wohl die Stimme hatte, aber nicht Augen und Schönheit – ihr Wachsen, wie Bäume und Tierhörner das ihrige, nach Ringen messen und abzählen; denn welchen hohen Ohren sie vorgesungen, diese lieferten steinreiche Ringe, wenn auch nicht Ohrringe, an ihre Ohrfinger, Zeigefinger, Mittelfinger und Daumen ab.
– Und Margaretha – so wiedertaufte die Italienerin sich deutsch, wie Mara sich welsch – versprach dem unschuldigen Henoch-Elias (der Ringrenner oder -stecher und Steinschneider oder -gräber erstaunte selber) wirklich Hand und Hände zu geben, sobald sie sich nur durch die anwesenden hohen Badgäste hindurchgesungen habe. Der selige, gen Himmel fahrende Henoch! – Diesen Aufschub seiner Seligkeit wünschte eben still sein Herz, weil jetzo unerwartet immer so viele Fürsten in Margarethahausen5 eintrafen, welche anzusingen waren, daß das Margarethahäuser Badwasser, nur schöner als das Karlsbader, versteinern und die Hand mit Juwelen inkrustieren konnte.
Glücklicherweise für die Verlobten bekam die allda badende Fürstenbank auf einmal so viele Feste zu feiern – teils Freuden-, teils Trauerfeste, weil Eilreiter mit Nachrichten sowohl geborner Erbprinzen als gestorbner Apanage-Prinzen eintrafen –, daß die Sängerin fast nichts zu tun hatte, als nur einigermaßen vor ihnen ihre sämtlichen hohen Freuden und Leiden durch die Singstimme auszusprechen. Mitten unter diesen Festgelagen händigte unerwartet Margaretha, reichlich beschenkt, halb von Feierlichkeiten übertäubt, halb vom Singen entkräftet, vielleicht der Fürsten und Höfe selber satt, dem treuen Bräutigam ihre weiße Hand mit den feinen langen Fingern ein; sie wollte lieber den Hoffer und Harrer mit einem prosaischen Ja eilig beglücken als länger mit einem poetischen Sirenen-Nein. Diese schmeichelhafte Eile war dem guten Henoch Elias noch nie begegnet. Und dabei eine solche Göttin an sich zu haben! – Er sah mit ihrer glänzenden und mit seiner närrisch-kurzen Gestalt so kostbar und unbeholfen aus wie ein gesprenkelter Frosch, dem ein aufgeschnappter Schmetterling mit den breiten Flügeln, die der Frosch schwer hineinzustopfen vermag, das grüne runde Maul beflügelt. – Und dabei besaß er an seiner so fürstlich beschenkten Margaretha noch gleichsam jenen schwedischen Bergknappen zur Ausbeute, welcher nach vielen Jahren mit allen reichen Erzadern durchschossen und durchwachsen aus dem Stollen gezogen wurde.
Noch im Bade wurd' er priesterlich eingesegnet.
Nach neun kurzen Februar- oder Hornung-Monaten gab die Sängerin dem Reiseapotheker schon die schöne Frucht ihres Brunnen-Ja zu pflücken, den Helden dieses Werkes, namens Nikolaus, er, wie eine Amphions-Baute, gleichsam eine Schöpfung der Töne.
– Müßt' ich mich nur nicht zu weit rückwärts schreiben in einer Woche und Geschichte, wo ich noch nicht einmal vorwärts gekommen: wahrlich, Winke – Schlüssel – Nachschlüssel – Grubenlichter – Notae ad usum Delphinorum – versiones interlineares – Ergänzblätter – Supplement-Bände – complementa possibilitatis und mehr wollt' ich hier einschieben und darüber mich ausbreiten; aber Verfasser langer Werke müssen sich leide ins kurze ziehen, um nicht den kürzern zu ziehen. –
Die Ehe fing schon mit Unehe an; denn mehre Glanzsteine in den Ringen, die der Apotheker zu Bausteinen seines Glücks zu vermauern gedacht, wurden als Meteorsteine befunden oder unecht und der helle farbige Regenbogen auf ihren Fingern, der ihm heitres trocknes Wetter versprochen, ergrauete erbärmlich und wurde selber zu Wasser; nur die Vorsteckringe verblieben echt, nämlich von Gold. Der Apotheker, der in seinem Leben nie etwas verschenkt hatte als diesesmal seine Hand selber, mußte seine Ergebenheit bereuen und den ganzen Tag unbeschreiblich sauer zu allem sehen; und wenn er, der immer vor andern ein aufprasselndes, durcheinander fahrendes, lustiges Feuerwerk war, sich vor Margaretha als das abgebrannte, rauchige, geschwärzte Gerüst hinstellte: so war dies nur ein Anfang. Denn als vollends noch dazu sein Erstgeborner kam: so wußte die arme Sängerin ein Lied davon zu singen von seiner losplatzenden selbzünderischen Natur; wohin sie nur griff, in jedem Winkel und Schiebfache, in jedem Fleisch- und Zuckerfasse, in jeder Hauben- und jeder Pillenschachtel und Nadelbüchse und Bratenpfanne, saß er als Bombardierkäfer und knallte los wenn sie ihn anrührte, ihr ganzer Lebensweg war voll Selbschüsse gelegt, womit er vor ihr unversehens auffuhr.
Die Ursache war, sie liebte ihren Erstgebornen, den kleinen Nikolaus, ganz übermäßig, nicht einmal zu erwähnen – weil dies erst später eintreten konnte –, daß sie es vier Jahre lang hintereinander tat, als sie schon zwei Töchter nachgeboren und auf das vierte Kind jede Stunde aufsah. Der Kleine hatte zwei medizinische Merkwürdigkeiten, die ihn von seinem Vater so wie von tausend andern unterschieden. Er hatte nämlich auf der Nase zwölf Blatternarben auf die Welt gebracht, als hätt' ihn die Natur schon ungeboren mit diesen Stigmen (Wundenmalen) für das Leben gestempelt und tätowiert, was aber nicht gewesen sein kann, da er später die wahren Pocken bekam und also die Narben früher als die Wunden hatte. Das zweite Wunder war, daß sich im Dunkeln, schon in der Wiege, eine Art Heiligenschein um seinen Kopf ansetzte, besonders wenn er schwitzte, oder später, wenn er sehr betete oder sich ängstigte. Dieser Heiligenschein war wohl weiter nichts als die Bosische Beatifikation6, nur daß bei ihm das elektrische Laden und Ausstrahlen von selber sich machte, so wie z. B. bei Castilhon in Bouillon, der sich und seinen Schlafrock oft in Flammen stehen sah und überall aus sich mit Fingern Funken ziehen konnte.7
Seine Mutter gab nun der Blatternase und dem Heiligenscheine einen Mann zum Vater, an welchem sie sich in Margarethahausen nach der Hochzeit versehen habe, als sie durch ein Zimmer gegangen und der Mann im Finstern zufällig einen so heftigen Heiligenschein aus den Haaren geschossen, daß alle zwölf Blätternarben auf seiner Nase plötzlich erleuchtet geworden und zu zählen gewesen. So schön-natürlich sie aber alles ableitete, so verübte doch in ihr als einer Erzkatholikin die Heiligensucht eine solche Blendgewalt, daß sie die Stigmen und den Nimbus um ihren kleinen Nikolaus heimlich für Titelvignetten und Buchdruckerstöcke, für Vorbilder eines künftigen Heiligen ansah, bei welchem der Körper dem Geiste gleichsam vorangewachsen und vorausgelaufen.
Aber die Mutter fand auch einen geistigen Nachtrab des körperlichen Vortrabs schon jetzt an dem bloßen Knaben von kaum vier Jahren; – darum hatte sie ihn so unsäglich lieb; – und dies waren zwei Vorzüge, welche die katholische Kirche am meisten, und besonders an Heiligen sucht; nämlich der Knabe zeigte erstens eine ans Wunderbare grenzende Mildtätigkeit, ein gänzliches Unvermögen, Schmerzen zu ertragen, die nicht die seinigen waren, und zweitens eine außerordentliche Phantasie, aber eigner und katholisch-heiliger Art – wie etwa die des Ignatius von Loyola –, welche ihre Darstellkraft nicht nach außen, sondern nach innen gegen den Besitzer selber kehrt und nur ihm, nicht andern vordichtet und vorspiegelt ....... Doch nun kein Tröpfchen Dinte weiter für das Kind vermalt, da es nie mein Vorteil noch Wille sein konnte, im Ur- und Belehnkapitel jemand anders in Handlung vorzuführen als bloß die Eltern. Der Kleine wird noch Kapitel genug füllen als Held.
Dem Pflegevater – so nenn' ich mit Bedacht den Reiseapotheker, denn jeder rechte Vater ist ein Pfleger und Pflegevater seines Kindes – behagte am Kleinen noch außer dem Verschenken auch Statur und Nase sehr schlecht, weil er die Länge beider mit seiner eignen Doppelkürze und mit seinem kurznasigen und kurzstämmigen Tochterzwei zusammenhielt und dann seine Gedanken hatte. Er hätte sich, wär' er im päpstlichen Rom gewesen, in Margarethens katholischen Beichtvater eingekleidet, um vielleicht ihrer Beichte so viel Sünden abzugewinnen, daß er ihr die Aussetzung oder Alien-Bill eines ihm fremden Kebs- und Vexierkindes oder Volten- und Hokuspokussohnes als Pönitenz im Beichtstuhle hätte auferlegen können. Gelten ließ ers, daß sie den Kleinen aus Mutterliebe und Mutterkirchenliebe in die päpstliche Kirche hineinzulocken suchte – z. B. durch Vorhalten Augsburgischer Heiligenbilder und besonders des heiligen Nikolaus und der heiligen Maria, ihrer Schutzpatronin und Namenschwester. Weniger gab sie dafür sich mit seinen Töchtern ab, welche ohnehin nicht so leicht zur Hölle fahren konnten, da sie nach dem Ehevertrage der Mutter in die allein seligmachende Kirche folgen mußten, wie der Sohn dem Reiseapotheker in die protestantische. In einer solchen Ehe sehe ich den Vater ordentlich in einer Halblähmung (Hemiplexie) vor seinen Kindern stehen, mit der fühllosen starren Seite gegen die Töchter gerichtet und mit der andern voll Bewegungen und Zuckungen gegen die Söhne; – die Mutter ist ebenso gelähmt und geteilt, nur nach den umgekehrten Seiten hin – und die Kinder sind es auch wieder herwärts – – Himmel! wie viele menschliche Gefühle wurden von jeher den Altären geschlachtet!.........
Glücklicherweise trat jetzo der Alexander der dicksten Knoten auf, oder vielmehr der wahre Mattheis, der das stärkste Eis bricht, oder wo es nicht ist, macht – der Tod, oder die Leichenfrau, die viel stärker und schneller als die Hebamme auf Thronen und andern Höhen die Zeiger der Weltuhr rückt und vorwärts dreht.
Margaretha mußte ihre dritte und schönste und ihr ähnlichste Tochter mit dem Leben erkaufen. Zum Glücke für ihre letzten Stunden, die der alte Elias Marggraf mit keiner Versöhnung versüßte, ging ein Franziskaner-Mönch durch das Städtchen Rom, bei welchem sie die lang entbehrte Beichte ablegen konnte. – Hier fiel dem Reiseapotheker ein, ob er einen alten engen Wandschrank dicht mitten am Bette der Frau, mit einer Tapetentüre nach dem einen Zimmer und einer nach dem andern, nicht zum letzten Male – er stand oft halbe Nächte darin – mit einigem Gewinn benutzen und betreten könne während der Beichte.
– Und da hörte er so deutlich wie der Franziskaner, daß ihr Nikolaus der Sohn eines katholischen weltlichen Fürsten sei, dessen Namen sie zu verschweigen beschworen, und der eben seinen Heiligenschein und seine Nasen-Narben auf den Kleinen fortgepflanzt; – und endlich, daß sie für die echten Steine in den Ringen des Fürsten die ähnlichen falschen hineingesetzt, die rechten Juwelen hingegen hinter dem Bilde des heiligen Nikolaus zwischen dem Papier und dem Holzdeckel samt einem Anweiszettelchen aufgehoben, weil sie durch die Steine künftig für eine katholische und fürstliche Erziehung des armen Wesens besser zu sorgen gedacht. – Und sie bitte nun, ihr an Gottes Statt zu vergeben....
Hier riß Henoch die Schranktüre so weit auf, als das Bett erlaubte, und streckte den Arm darüber hinein und rief: »Ich vergebe, vergebe. – Hab' alles vernommen. – Ich spring' nur um die Stube herum und schieße gleich vor dein Bett und versöhne mich.«
Er sprang auch zur entgegengesetzten Tapetentüre hinaus, aber vor allen Dingen zum Bilde des heiligen Nikolaus, um es einzustecken, und dann erschien er vor dem Bette als ein umgestülpter Ehemann voll Liebeblicke. »Dacht' ichs nicht längst?« (sagt' er) – »Das lass' ich mir schon gefallen. Fahre hin in Gottes Namen! Ich will unser Söhnchen zu einem Fürsten ausbacken, daß sein Durchlauchtigster Herr Vater Ihre Lust daran sehen sollen, wenn ich ihm den Schelm überbringe.... Und Sie, hochwürdiger Herr Beichtvater, sollen mir bezeugen, daß alles wahr ist und die Mutter es wirklich auf dem Sterbbette in der Beichte so ausgesagt.«
– – In meinen jüngern, frischern Jahren in Leipzig hätt' ich vielleicht durch langes Jagen ein Gleichnis aufgetrieben, um damit das betroffne Gesicht des Franziskaners notdürftig darzustellen; – jetzt aber bei so späten in Baireuth ist alles Ähnliche, was ich geben kann, etwa die Maulschelle, welche in Hamburg der Stadtphysikus Paul Marquardt Schlegel von einem Kadaver bekam, der unversehends auflebte, als er ihn eben mit dem Messer auseinanderlegen wollte.8 – Schlegel selber verschied darüber an einem hitzigen Fieber; der Franziskaner kam bloß mit einem milden Zahnfieber davon, das durch das Knirschen des Gebisses das Naturtreiben eines wachsenden anzeigte. Er stotterte mit rauher Bauerstimme heraus: »Negatur; der Ketzer versteht nichts vom Sigillum confessionis (Beichtsiegel), das ich der heiligen Dreifaltigkeit selber nicht öffne. Aber den heiligen Nikolaus hat sie der Kirche vermacht; den verlang' ich.« – »Ich hab' ihn schon in der Tasche,« versetzte Henoch, »und Ihr habt Euer Beichtsiegel gebrochen. Ich verklag' Euch künftig, wenn Ihr nicht bezeugt, daß ich die Beichte mitgehört.«
Nun kamen die Hundezähne bei dem Mönche zum Durchbruche, und er rief der Beichttochter zu, er absolviere sie nicht, wenn sie nicht laut der Kirche die Steine vermache. Glücklicherweise aber hatte Schrecken und Schreien die Schwache schon in die letzte Stunde gesenkt, worin die Sängerin zufolge einzelner Zeichen schon ihre eignen schönen Töne aus alten Blütenwäldern herüberhörte. Da nun ihr Mann immer lauter ihr zuschrie: »'s ist vergeben, vergeben; und dein Sohn wird fürstlich erzogen«, so kann sie leicht noch einen Lebens-Endtriller mehr genossen und die eheliche Stimme für die beichtväterliche genommen haben.
Der Franziskaner renne immer mit einem Schocke von Weisheitzahnfieber-Ausbrüchen davon und uns aus dem Gesicht; uns allen ist hauptsächlich daran zu wissen gelegen, warum Henoch durch dieses Horchen früher in den Himmel gefahren als die Frau, und warum er mit ihr so zufrieden geworden, als hätte sie ihm zum Brautschatze statt eines Fürstleins ein Fürstentum mitgebracht und nachgelassen; denn die abgelauschte Erbschaft der echten Ringsteine konnt' ihn eigentlich mehr gegen sie verhärten als erweichen. Allein der Umstand oder der Mann war dieser: da Henoch ein wahres Knall-Quecksilber von Mensch war, das Schießpulverlärm macht, selten gegen Not und oft ohne Not: so hatt' er sich an Margarethens Sterbbette aus ihrem wenigen Goldschlich und Apothekergolde von Wahrheit auf der Stelle eine der längsten Schlußketten geschmiedet, welche für ihn als eine goldne Gnadenkette oder Ziehbrunnenkette in die Zukunft hinunterhing. Denn er sagte nämlich zu sich – und wahrscheinlich innen in dem Stile, den er außen gebrauchte –: »Kostgelder – Postgelder – Tafelgelder – Lehrgelder – Beichtgelder – Trankgelder verschwend' ich auf das kleine Markgräflein Nikolaus; und zwar davon dreimal mehr als auf mein jetziges Tochterdrei; nur daß ich dabei die Ringsteine nicht angreife; denn die Zeit wird kommen, die Stunde, die Minute, das Jahr, wo ich mich hinstelle und das Markgräflein seinem hohen Herrn Vater ganz fertiggemacht hinhalte und des Ersatzes der Auslagen (sie sind aber sämtlich bescheinigt) samt einigen Gratialen und Verzugzinsen gewärtig bin. Womit mein hoher Sohn mir noch für seine Person erkenntlich ist, will ich erwarten und mit Jubel empfangen.«
Über das künftige Auftreiben eines Vaters zum Markgräflein war, schien es, Marggraf gar nicht in Angst. »Ich gehe«, dacht' er, »bloß der Nase nach, nämlich der fürstlichen pockennarbigen, mit welcher ich dann den Vater auf die gleiche kindliche stoßen will. Hab' ich nur erst ein gekröntes Haupt an der seinigen: die Nebenumstände werden sich schon von selber ausweisen.« – Herr v. Benkowitz in seiner mehr herz- als kunstreichen Gemäldeausstellung der klopstockischen Gemäldedarstellungen bernerkt zwar ganz richtig, daß ein Heldengedicht wie die Messiade die Nase als ein zu gemeines Wort nicht einlasse, sondern auslasse – haben doch vielleicht deswegen, möcht' ich hinzusetzen, viele Heiden selber dieses alltägliche Gliedmaß im Heldengedichte ihres Lebens an höhere Schönheiten aufgeopfert –; aber gerade eine Nase erhob des Reiseapothekers gemeines Leben zum Epos, zum Pik mit Nasenlöchern9, in welche nicht nur Tabakpflanzungen, sondern ganze Tabakpflanzer gehen.
Und sah er nicht noch außer der Nase den väterlichen Heiligenschein vor sich, unter welchem er die Krone, wie unter einem Flämmchen einen Kronschatz, finden konnte, der ihn als Grubenlicht und Feuersäule und Leuchtturm zum Vater führen mußte? – Denn er wollte durchaus alles, Überreichung des Markgräfleins und der Rechnungen, so lange ersparen, bis beide groß genug gewachsen und erstes gut ausgearbeitet, zugeglättet, ausgeprägt, und Kopf samt Hand zu Kron- und Zepterträgern mit vielen Kosten abgerichtet, dem Potentaten quaestionis zu überreichen war, so daß dieser das Kind mit in den geheimen Staatsrat gehen lassen konnte. Die Freude des vielleicht gar kinderlosen Fürsten, dem er auf einmal einen Stammhalter einpelze, konnt' er sich gar nicht unbeschreiblich genug vormalen und sie keiner andern gleichstellen als seiner eignen darüber, daß er so was von einem apanagierten oder erbenden Prinzen im Meisenkasten seines Ehebettes wirklich gefangen oder mit den Schlagwänden von dessen Vorhängen einen Wappen-Falken erwischt, womit er künftig hohe Jagd auf Beute machen könne, an die wohl niemand denke.
– Und so wäre denn das Ur- oder Belehnkapitel zu Ende gebracht und der stärkste Schritt zum ersten Vorkapitel getan. Im ersten kann der Held selber auftreten – in jedem Falle reif, zwar nicht für den Thron, aber doch für das Dintenfaß – und kann bestimmter leiden und handeln und überhaupt das Ding führen, was wir Menschen ein Leben nennen. Denn es war nie mein Vorsatz, ihn nur um einen halben Bogen früher vorzuführen, oder anders denn als ein ganz fertiges Kind. Wer wird Embryonen Taufnamen geben, da sie inkognito fortkommen können? Oder wer einem bloßen Fötus ein Ordenband umhängen? Letztes kann erst an die Stelle der abgerißnen Nabelschnur treten, bei neugebornen Prinzen. Alles dies gälte schon, wenn ich hier auch keine Geschichte schriebe, sondern einen bloßen Roman. Denn die Kindheit, wodurch einige Romanschreiber das Spätleben zu motivieren glauben, braucht ja selber wieder motiviert zu werden. Gestaltet der nackte Geist sich seine Gehirn-Organe? Oder destillieren letzte durch Helm und Kolben sich ihren besondern Geist ab? – Oder formen weiches Gefäß und weicher Teig sich einander gegenseitig durch Erharten? Dies hieße aber nur die Aufgabe in zwei Hälften auseinanderrücken, ohne sie doch über irgendeine zu lösen. Kurz vom Helden selber – ich rede noch immer vom Helden des Roman-, nicht des Geschichtschreibers – muß mit einem Allmachtschlage das ganze Wunder seines Daseins und Gipfels voll gegeben sein; und die Zeit kann nicht seiner aufplatzenden Aloeknospe, wie einer italienischen Seidenblume, Blatt nach Blatt einsetzen. Wenn nun dieses die Dichtkunst tut, welche nach Aristoteles noch mehr als die Geschichte belehrt: so muß die wahre Geschichte sich so gut als möglich ihr zu nähern suchen – wie Voltaire in seinen Lebensbeschreibungen Peters und Karls getan –, und ich werde mein Ziel erreichen, wenn ich die historischen Wahrheiten dieser Geschichte so zu stellen weiß, daß sie dem Leser als glückliche Dichtungen erscheinen, und daß folglich, erhoben über die juristische Regel: fictio sequitur naturam (die Erdichtung oder der Schein richtet sich nach der Natur), hier umgekehrt die Natur oder die Geschichte sich ganz nach der Erdichtung richtet und also auf Latein natura fictionem sequatur.
– Und so stehen wir denn vor der Façade oder Antlitzseite des ersten Vorkapitels, auf dessen Schwelle wir unsern Helden und Kleinen schon so lange spielen sahen mit seinen – Eltern.
Die ernsten Ausschweife für Leserinnen zum Urkapitelsind: Die Ziele der Menschen – Klage des verhangnen Vogels – Die Weltgeschichte – Die Leere des Augenblicks – Die sterbenden Kinder.
4. Ein Dorf im Departement der Deux-Sevres. Siehe in Jägers Zeitungslexikon, von Mannert neu bearbeitet, den Artikel Rom.
5. Soeben vernehm' ich von einem Liebhaber meines Vorlesens, daß es noch ein zweites Margarethahausen gebe, ein ritterschaftliches Dorf in württembergischen Amte Balingen, ja noch ein drittes, ein Franziskaner Nonnenkloster unweit davon mit einigen Höfen und Zehnten. Und wirklich fand ich das zweite und dritte in Jägers Lexikon, von Mannert überarbeite (Band 2. Seite 273); aber dafür stand das erste oder meines gar nicht darin.
6. So nennt man den elektrischen Kopfschimmer an Menschen, die auf einem isolierenden Pechkuchen elektrisiert werden.
7. Wilhelms Unterhaltungen über den Menschen. B. 2
8. So steht die Geschichte in Vulpius' Kuriositäten erzählt; etwas verschieden aber in Unzers Arzte.
9. Die beiden Öffnungen des Pik auf Teneriffa sehen nämlich zwei Nasenlöchern ähnlich.
wie der kleine Nikolaus die Menschen sehr zu lieben weiß
Leser und Leserinnen bekommen nun den Helden dieses Werks, den sie durch unzählige Bände hindurch mir nachziehend begleiten müssen, zum ersten Male in Handlung zu Gesicht, wie er noch seine Mutter hat und neben einem großen Pudel kniet, dem er die ungeheuern Ohren, solange solcher frißt, wie zwei Schleppen über der warmen Schwarz-Suppen-Schüssel in die Höhe hält, damit sie sich nicht eintauchen und beschmutzen oder verbrennen. Feurig und ernst sieht er mit seinen schwarzen Augen und mit der großen welschen Nase darein, und die langen blonden Haare fallen ihm über die Backen, und das sonst zartweiße Gesicht ist bis an die Schläfe rotangelaufen. Er war nämlich mit seiner Seele in den Pudel hineingefahren und stellte sich vor, wie es ihm selber täte, wenn seine Ohren in die Suppe hingen.
Mit dieser Seele nun fuhr er in alles hinein; doch aber in Puppen vorzüglich, und es konnte ihnen kein Glied abgerissen werden, wovon er nicht die Schmerzen am ersten verspürte. Dadurch wird Licht auf die Tatsache geworfen, daß er, ein Knabe, die weiblichen Puppen seiner Schwestern in ihren alten abgeschabten Tagen gewöhnlich an Kindes Statt annahm – nämlich nicht zum Spielen, sondern zum Leimen. Eine arme Schäferin mit ihren Schafen in Moos zu sehen, aber so, daß ihr abgedrehter Arm nur noch am Schäferstabe anpicht – vielleicht gar mit mehren Schäfchen, denen ihre Baumwolle nicht abgeschoren, sondern geradezu ausgerissen ist (man sieht die bloße Haut von Teig) – oder ein schön geputztes und angefärbtes Ehepaar von Stand in einer Kutsche mit abgebrochnen Beinen (man sieht an den vier Stümpfen das nackte Fleisch von Kleister) – solche schuldlose Wesen dieser Art zu sehen, welche nach der schönen Weihnachtfreudenzeit, vielleicht schon vor dem großen Neujahre, so weit heruntergebracht waren, dies stand er nicht aus, sondern er setzte sich an ihre Stelle und fühlte ihre Leiden und tat, was er konnte, um ihnen Beine, Arme oder Wolle wieder anzukleistern in seinem Lazarett; und mich dünkt, sein Puppenhospital kann wenigstens als Vorhof neben dem Tierhospital in Surate stehen, in welches die weichen Indier sogar Flöhe und Wanzen aufnehmen. Es ist in der Marggrafschen Apotheke eine bekannte Sache, daß er, als seine älteste Schwester, ihm zum Ärger, in das bildschöne Wachslärvchen ihrer schon abgetragnen Puppe mit der Schere einstach, er auch das schwesterliche Gesicht und Haare bedeutend handhabte. – Und warum sollte er sich nicht ärgern? Man kann Mörder werden eines Wachsbildes und Menschenfresser von einem Affen; die Menschengestalt sei uns bis in jeden fernsten Nachschatten heilig – wie dem Türken jedes Papier, auf das er, weil Gottes Name könne darauf geschrieben werden, so wenig tritt, als ein zartfühlender Mensch auf das steinerne verwitterte Gesicht eines liegenden Marmormenschen Stiefel und Ferse setzen wird. – Wenn die Familiennachricht noch dazusetzt, daß unser Nikolaus diese Puppe später, nachdem sie aus einer geputzten Theaterprinzessin und Palastdame allmählich durch den Verbrauch und das Spielen mit ihr zu einem Aschenbrödel geworden, bis sie endlich alles Wächserne, Gesicht, Brust und Hände, abgenützt und verloren, wenn die Familiennachricht berichtet, daß er die zu einem Maden-, nämlich Leinwandsäckchen eingewelkte Puppenmumie in großer Bewegung seines Herzchens ordentlich zu Grabe bestattet und – wie wir uns untereinander im Sarge auf Hobelspäne – sie unter die Sägespäne gelegt, die schon überall aus den Wunden der Leinwand herausrieselten: so glaub' ich nichts lieber und leichter; aber der Himmel (wünsch' ich) verschone künftig ein solches mitseufzendes Wesen mit dem Anblicke jener trüberen beseelten Spielpuppen der Männerfäuste in Lustseuchenhäusern, welche, als Karyatiden fremder und eigner Sündenlasten, auch wie Puppen Glieder und Gestalt hingeben, aber keine von Wachs, sondern vielmehr für solche von Wachs; – ach! er kann diese vergrößerten mit keinem Grabe bedecken, solange sie ihr eignes offnes bleiben ....... Himmel! laß uns schnell vom städtischen Schmerze wieder zur kindlichen Unschuld kommen!
Auf diese Weise ist es sehr erklärlich, wie der kleine Nikolaus Marggraf, obwohl von verschiedner Kirchenkonfession, doch immer mehr seine katholische Mutter an sich fesselte; welche als Armenfreundin freilich nichts lieber haben konnte als einen Armenfreund wie er. Wohl war er ein Narr aufs Geben. Nur daß er vom Vater nichts dazu bekam als sein bißchen Essen. Einigemal konnte ihm die Mutter nur mit zehn Lügen bei dem Apotheker durchhelfen, als er einer alten zahnlosen Frau, die in der Nacht auf der Gasse über das fürchterlichste Zahnweh in der Kälte geklagt, sein Schnupftuch um die Kinnbacken gebunden, und als darauf die Frau und das Weh und das Tuch auf immer wie weggeblasen waren. – Übrigens mögen die Tränen manches Armen, so viel mangelt und so wenig brauchen sie, mit einem Schnupftuch abzutrocknen sein, das von bloßer Hausleinwand ist und das man ihnen schenkt.
Ich muß mirs gefallen lassen, wenn Weltleute und Weltweise dieses Nachgefühl fremder Schmerzen durch eigne – so wie sein Mitjubeln über fremden Jubel – fast körperlich und ebensosehr aus mitzitternden Nervensaiten als aus seiner dem Herzen vorspielenden Phantasie erklären; ich treffe ja fast das Ähnliche bei dem lieben Montaigne an, welcher einem fremden Husten nachhusten mußte, so wie er sich vom Anblick gesunder Leute zu leben getraute.10 Stand eine gelbe abgedorrte Bettlerin mit ihrem Gicht-Reißen in allen Gliedern vor Nikolaus: so steckte er der Hungrigen, um nur selber nicht länger zu siechen und zu hungern, heimlich etwa einen Wurmkuchen oder ein Brechmittel zu, oder einige Pillen, oder was er erwischen konnte; denn er glaubte, sein Vater teile auch alle Arznei gaben und Bissen (boli) als Geschenke und milde Gaben aus; aber möge nur der Himmel bei ihm besser als bei einem praktischen Arzte dafür gesorgt haben, daß er mit den Laxiertränkchen und Klistieren und Pflastern unter den kränklichen Bettelkindern, denen er die Mittel gereicht, kein bedeutendes Unheil angestiftet.
Wir sahen ihn im Urkapitel bei dem Leichenbette seiner Mutter stehen. Daß er bei solcher Rege der Phantasie nicht an ihrem Sterben mitgestorben, verdankt er eben dieser Phantasie.
Da nämlich die Weiber im Hause bei der tödlichen Niederkunft Margarethens ihre großen eleusinischen Mysterien feierten – die kleinen feiern sie gewöhnlich mehre Monate vorher –, so vernahm er geheimnisvolle Worte und die Rede, Maria (wie sie außer Margaretha noch hieß) sei in den Himmel gefahren. Dabei sprach der Apotheker seit der Entdeckung seines Beichtkindes mit mehr Verehrung von der Donna Sängerin. Da nun für das Beichtkind Nikolaus schlechterdings nichts so Unglaubliches und Tolles zu erfinden war, was er nicht in der Minute steif geglaubt hätte, so daß er den ganzen Legendenglauben seiner Mutter in seinen vier Gehirnkammern unterbrachte, und doch noch Erker und Eckstuben für alle nordische und indische Fetischerei übrig behielt –: so ward es ihm nicht schwer, den Tod seiner Mutter Maria für eine Himmelfahrt der Madonna anzusehen, und das dagebliebne Kind für ein Jesuskindlein, wie so viele fromme Nonnen nach den mütterlichen Erzählungen dergleichen kleine Jesuskindlein in ihren Zellen in der Wiege hatten und wiegten und anputzten. Das Ineinanderrühren mehrer Geschichten kann eine neue backen. So warf sich nun seine ganze Liebe auf das schöne Schwesterchen Libette; und er faltete die Hände vor ihm und sah ihm stundenlang ins schlafende Gesicht. Nach einigen Tagen war er von Maria Himmelfahrt so feurig überzeugt, daß er versicherte, er habe selber die Maria gen Himmel fahren sehen, und sie habe einen sehr goldnen Mantel angehabt. Sein kurzer Irrtum war ein Glück für sein Herz; wie hätte dieses sonst die teuere sinnverwandte Mutter nicht beweinen müssen und die schuldlos muttertötende Schwester anfeinden!
Als der Reiseapotheker seine Regierung über den kleinen Regenten antrat, um ihn zu einem erwachsenen zu erziehen, änderte er sein Moralsystem über die Mildtätigkeit und frischte unablässig den Kleinen zu den freigebigsten Gesinnungen an und stellte ihm vor, wie sehr sie den Menschen zieren; nur schoß er keinen Heller zu ihrer Ausübung her, sondern sagte, sobald er einmal sein eigner Herr werde – nämlich ein regierender, meinte er und hoffte für sich –, so könn' er verschenken, und zwar nicht genug. Bedeutende Eßwaren mußte Nikolaus als eine Pension im Lande selber, in der Apotheke, verzehren. Das Abschneiden der bisherigen mütterlichen Lieferungen an die Armut, dieser ihrer Karitativsubsidien, peinigte ihn oft an der Apothekertüre, wenn eine zaundürre grauhaarige gelbe Hand sich vor ihm aufsperrte und er nichts hineinzulegen hatte als seine ebenso leere. – Und doch warf er deshalb nicht den mindesten Groll auf den filzigen Vater; so warm ist die kindliche Liebe, oder vollends die seinige ......
– Mehre Leser und Feinde der sittlichen Hartleibigkeit Henochs haben gewiß auf den ersten Bogen dieses Werks bedauert, daß ein ihnen längst teuer gewordner Schriftsteller – meine unbedeutende Person meinen sie – jetzo auf so viele Bände und Jahre lang einen Helden anzuschauen und abzumalen bekomme, welcher nach allem, was man aus dem pflegväterlichen Vorbilde und Vorsatze schließen könne, zuletzt und mit den Jahren mit kalten dürren Augen, wie ein Stabs-Wundarzt, über das ganze Wundenfeld der Menschheit schreiten müsse und unter allen niemand verbinden werde als sich zuerst, falls er sich etwan an dem Knochensplitter eines Verwundeten gestoßen hätte ...... Himmel! so seht aber doch vor allen Dingen dem Helden selber ins Gesicht und blickt seine runden Vollippen und die sanfte Bogenstirn und die äußerst zarte lilienweiche und lilienweiße Gesichthaut an, deren Schnee bei der kleinsten Herzbewegung sich, wie ein Schneehügel vor der Abendsonne, mit dünnem Rot bis zu Stirn und Schläfen überdeckt! – Übrigens freilich ein seltsamer Ineinanderbau von welschem und deutschem Gesicht, von schwarzen Augen und lichten Haaren und mächtiger Nase mit weißzarter Haut!
Nur auf einen Menschen in ganz Rom war Nikolaus heftig ergrimmt, und dies war der Scharfrichter, der im Frühling vor der Stadt draußen (stark gefoltert hatt' er ohnehin schon viele Leute, wie der Kleine gehört) einem blutjungen Menschen Vatermords wegen den ganzen Kopf abgeschlagen. »O wenn ich nur könnte und der Kaiser wäre,« sagte der Knabe, »ich ließe dergleichen Scharfrichter – diese verfluchten Teufel – einsperren und abköpfen, damit sie auch spürten, wie es tut; denn sie fragen ja nach nichts und hauen hin, du lieber Heiland!« – Da er am Tage vor der Hinrichtung das aschenbleiche Kerker- und Richtplatz-Gesicht des Missetäters gesehen hatte: so hatt' er sich in der Nacht unaufhörlich selber auf das Armensünderstühlchen gesetzt und war der langen blanken Schwertschneide, wie einem Malerpinsel, zum Treffen gesessen, so daß er im Gewühle der einander nachziehenden Träume und schlaftrunkner Halbgedanken zuletzt zu glauben anfing, er selber sei auch ein hinlänglicher reifer Missetäter an seinem Vater, dem Apotheker, und zum Köpfen gezeitigt. Erst um elf Uhr morgens, als er die Zuschauer der Hinrichtung zurückkommen sah – er selber hätte um kein Geld zugesehen –, holte er wieder frischen Atem und fühlte sich, so wie den Geköpften, um vieles erleichtert und glücklicher.
Ernste Ausschweife für Leserinnen des ersten Vorkapitelssind: Die Erinnerung an Dahingegangne – Trost der Greise – Unverlierbarer Seelenadel – Sittliche Vollendung – Wärme- und Kälte-Entwicklung aus andern Menschen.
10. Dessen Essais L. I. ch. 20.
welches zeigt, wie unendlich viel der kleine Nikolaus war sowohl in der Wirklichkeit als in seiner Einbildung, und wie er sein eigner Papst ist und sich kanonisiert, nebst einer Schlägerei dabei
Nikolaus rückte nun in die Jahre, wo es sich von Seiten seiner Talente immer mehr entwickelte, welche seltene er hatte, indem er ein großer Seeheld, ein großer Gastprediger, ein großer Heiliger (der größte Apotheker ohnehin), kurz alles Große war, was ihm eben unter die Hände kam oder unter die Füße; denn seine köstliche Phantasiekraft setzte sich nicht, wie die des Dichters, an die Stelle der fremden Seele, sondern er setzte, wie ein Schauspieler, die fremde an die Stelle der seinigen und entsann sich dann von der eignen kein Wort mehr.
Als z. B. Lavater in Rom kurz nach der Mutter Tode gepredigt und gerührt hatte: so hielt sich Nikolaus zwei Sonntage hintereinander für Kaspar Lavater den zweiten – bis er am dritten darauf Iffland II. wurde, weil Iffland der erste durchgereiset und von dessen Spielen in der Hauptstadt viel Redens gewesen – und bei einer solchen eignen Metallveredlung unterstützte ihn nichts so sehr, als daß er sich allemal hinsetzte und sich es stundenlang ausmalte, wie alles erst wäre, wenn er den großen Mann tausendmal überflügelte und z. B. eine so kostbare himmlische göttliche Predigt Lavaters hielte, daß die Zuhörer vor Schluchzen und Bußfertigkeit ganz des Teufels würden und ordentlich heulten und stampften und die Kirchgänger sich vor dem Manne niederwürfen und ihn halb anbeteten, wenn er die Kanzeltreppe herabkäme voll seiner unbegreiflichen unendlichen Demut. Auf diese Weise strich nun selber der große Mann die Segel vor Nikolaus, und dieser fuhr lustig mit dem Winde dahin.
Man halte mich hier um des Himmels willen mit keinem Vorwurf auf, daß mein Held nach solchen Beweisen ein Narr sei – ich gedenke wohl noch stärkere zu liefern – und also ganz frisch aus Brands Narrenschiffe aussteige; denn dies ist ja eben bei einer so langen komischen Geschichte mein Gewinn, daß ich für ein Jahrzehend wie unseres, wo Überchristentum und Überpoesie statt der alten paar Monatrosen und Monatnarren des ersten Aprils und der Fastnacht dauerhaftere Jahrnarren liefern, weil beide ihr tollmachendes Bilsenkraut11 zum Fliegen eingeben, mein Gewinn ists, sag' ich, daß ich einen Helden aufgetrieben, der den Flug mit ihnen aufnimmt und so toll ist wie nicht jeder. Narrheiten hat, so wie Eingeweidewürmer, jeder vernünftige Mensch, und niemand ist dadurch vom andern verschieden; nur ein langer unaufhörlicher Bandwurm des Kopfes, so wie einer des Unterleibs, unterscheidet die Personen. Insofern dürfte nun den mystischen Musensitzen, Kanzeln und Lehrstühlen wenigstens für dieses Jahrzehend das Privilegium gebühren, welches die Stadt Troyes besaß, für die französischen Könige die Narren zu liefern.12
Ich fahre nun in Nikolausens Knabenzeit fort und stoße darin mit wahrem Vergnügen auf eine Begebenheit, die am schönsten beweisen wird, daß er die Gabe besaß, ohne welche kein Held, am wenigsten ein komischer, gedenklich ist, nämlich die mäßige Gabe zeitverwandter Tollheit samt großen Anlagen zur Wahrheit und zur Unwahrheit. Im Christmonate, dem eigentlichen Erzählmonate, pflegte Nikolaus gern seine Schulkameraden mit Erzählungen, und zwar am liebsten von Heiligengeschichten, zu beschenken, weil er in diesen die schönsten unglaublichsten Wunder – die mannigfältigsten Teufels-Charaktermasken – die gräßlichsten Martern – und die feinsten Erhaltungen, nur die der Köpfe nicht13, liefern konnte, da er sie aus der besten und nächsten historischen Quelle geschöpft, aus seiner Mutter. Dabei verstand er besser als die größten Bollandisten, Heiligengeschichten mit solchen neuen guten Zügen zu bereichern und das geschichtliche Kunstwerk oder Stückwerk eines Heiligen, wie römische Restauratoren ein marmornes, durch solche frische Glieder zu ergänzen, daß man geschworen hätte, man habe eine ganz neue frische Geschichte vor sich.
Nun gab er am sechsten Dezember, gerade am Festtage des heiligen Nikolaus, seines Taufpaten, den die katholische Mutter gern in seinen Schutzpatron verwandelt hätte, da gab er abends der Welt, nämlich einem gebildeten Knabenzirkel um den Ofen herum, nebst einigen Magenmorsellen die Heiligengeschichten seines heiligen Herrn Paten. Er trug aber in der Dämmerung das Leben und die Verdienste des Bischofs Nikolaus so feurig vor, daß die Zuhörer leicht einsahen, warum er der Schutzpatron nicht nur der Schiffer, sondern auch aller Russen geworden. Er berichtete, daß dessen Bild im russischen Riesenreiche an so viel tausend Wänden hange und noch mehre tausend Verbeugungen erhalte, weil zuerst ihm jeder eine mache, der eintrete. Aber wie warm floß erst seine Rede, als er den Schirmherrn des Weltwassers und des Foliokaisertums vor den Zuhörern – sämtlich Schüler der lateinischen oder deutschen Schule – gar als den Schutzheiligen ausstellen konnte, der sich niederbückte zu den Schulen als der Schutzpatron derselben, indem er der kleinern Schüler sich annehme, sie ansporne und fördere und ihnen am Niklastage die herrlichsten Eßwaren zu Tür und Fenster einwerfe. Und als er vollends in der Erzählung auf die Ölquelle aus dessen Grabe stieß, aus welcher so viele Kranke sich gesund geschöpft: da konnt' er es sich gar nicht anders vorstellen, als daß der Erzbischof, wie tausend schlechtere heilige Märterer, enthauptet worden – ob er gleich selber so wenig davon gehört als die allgemeine Weltgeschichte –, und er setzte also die Märtererkrone, die er erst auf dem Sessel fertig geschmiedet, unter lauter Tränen dem armen geköpften Bischof vor allen Hörern auf.
Seine Herz-Bewegung bei dem unerwarteten Schicksal eines solchen Menschenfreundes war unbeschreiblich. Jetzo sah er im Spiegel den bekannten elektrischen Heiligenschein, den sein eigner Kopf, wenn er sich sehr erhitzte, ausdampfte. Nun war kein Halten der Rührung mehr denklich. »Vielleicht« – fuhr er unter heißem Weinen fort – »hat mich der heilige Märterer zu seinem Nachfolger auf der Erde ausersehen und hat meinen Kopf von Kindes Beinen an mit einem Schein angetan, zum Zeichen, daß ich so gut geköpft werde wie er. Und in Rußland, wenn sie diesen Schein sehen und dabei hören, daß ich mich Nikolaus schreibe, werden sie mich für einen Betrüger und Nachmacher ihres Schutzpatrons halten und mir deshalb den Kopf wegputzen. Ach! mit Freuden werd' ich zu einem Märterer und einem Heiligen, wenns auch ein kleiner ist, und zu einem Schutzpatron der Schüler, um nur allen recht zu helfen. Ja ich will schon jetzo für euch fürbitten, und zwar immer länger, je länger ich werde. Ich vermahne euch alle aber insgesamt zum Fleiße, und lernt brav, vorzüglich das Schreiben und Lesen, und die Exzeptionen in der Langischen Grammatik, die merke jeder besonders. Jedoch euer Freund und Fürbitter werd' ich verbleiben auf der ganzen kurzen Laufbahn, die ich hienieden zu wallen habe bis zu meinem frühen Grabeshügel.«
Hier konnt' er vor Bewegung nichts mehr vorbringen als statt der Worte einige Gerstenzuckerstengel, welche dem bewegten Zuhörerzirkel ordentlich lieber und süßer vorkamen als die längsten Dornen seiner Märtererkrone und alle Strahlen seines Haarabglanzes.
Ich mache gar kein Geheimnis daraus, daß er in der einsamen Nacht nach diesem Erzählabende, die ihm erst den Kopf recht heiß anstatt kalt machte, ohne Bedenken sich an seine selige Mutter mit dem Gesuche wandte, den Herrn Bischof, da sie gewiß bei ihm sei, durch Fürbitten dahin zu vermögen, daß er als ein Wundertäter mit Heilöl und als ein Retter der Schiffbrüchigen für seinen Namenverwandten auch etwas tun und ihn schon bei Lebzeiten mit einigen Kräften zum Beglücken der romischen Schüler versehen möchte. Wie gesagt, ich mache kein Geheimnis aus der Sache. Wenn Zinzendorf als Kind Briefe an den Heiland schrieb und zum Fenster hinauswarf, weil er sie, bemerkte der Graf, finden würde; oder wenn er gar mehre Stühle um sich setzte und sie zu erbauen suchte durch eine kurze Predigt, als wären sie ordentlich besetzte Kirchstühle14; ja wenn sogar Lichtenberg Zettelchen mit Fragen an Gott unter den Dachstuhl legte und sagte: »Lieber Gott, etwas aufs Zettelchen!« – so wird mich niemand überreden, daß mein Held anders gehandelt als der Professor und der Graf.
Dies bewies er so schön am Tag darauf. Er schritt durch die romischen Gassen mit Würde, ohne einen einzigen Sprung, er hob den Kopf mehrmal gen Himmel, als woll' er etwas daran sehen, und senkte ihn schwer nieder, weil er darin viel hatte, und blickte einige Schuljugend, als sie aus der Schule mit Sprüngen rannte, in welche sie nur mit Schleichen wallfahrte, ganz bedeutend an, aber doch milde, weil ihm war, er habe als Schutzpatron sie mehr zu lieben und zu bedenken.
Einen wildesten Springinsfeld, namens Peter (sein Vater hieß Worble), der, die Bücher im Riemen über den Kopf schleudernd, ihm auf dem Schulheimwege entgegentanzte, hielt er an und sagte zu ihm mit ungewöhnlichem Ernste: da er gestern bei seiner Geschichte nicht gewesen, so mög' er heute kommen und die andern mitbringen, er wolle sie wieder geben und etwas Süßes zu essen dazu. Peter versetzte: »Wer wird nicht kommen? – Mache nur kein so hochtrabendes Leichenbitters-Gesicht dazu!«
– Jetzo aber wünschte ich, bevor ich die Sache hinauserzählt, wohl zu wissen, ob irgendein Mann, der eben gelesen, wie Nikolaus zugleich sich und andere in die Gaukeltasche steckte, noch den Mut behält, sein Scheidewasser aufzugießen und in den Reden eines Muhammeds, Rienzis, Thomas Münsters, Loyolas, Cromwells und Napoleons das, was solche zeittrunkne Männer andern vorspiegeln, rein von dem, was sie sich selber vorspiegeln, abzusondern und so durch eine Hahnemannsche Weinprobe ihren Schein niederzuschlagen aus ihrem Sein. Es wird aber schwerlich ein Leser diese Scheidung zwischen den Wassern versuchen, wenn er merket, daß er nicht einmal meinem noch unerwachsenen Nikolaus gewachsen ist, der noch viele Jahre hin hat zu dem seines erwachsenen Namenvetters auf Helena15 –
Und herrlich bestätige ich meinen Satz, wenn ich fortfahre. Die gestrige Hörergesellschaft samt Peter Worble erschien, und Nikolaus teilte sein Süßes aus – dieses Mal aus Mangel an Geld süße Mannakörner, die bekannte biblische Speise in der Wüste, obwohl eine Kinderlaxanz in der Apotheke; – denn Geben war ihm so zur zweiten Natur geworden wie seinem großen Namenvetter auf Helena das Nehmen, welcher letzte dem heiligen Nikolaus, der nach der Legende sogar an der Amme bei heiligen Zeiten fastete und erst abends sog16, nur so weit nachahmte, daß er statt seiner die Amme selber, die Jungfer Europa, fasten ließ, und für seine Person fortsog. – Nun wollte der Kleine die Erzählung noch tausendmal frischer und farbiger als tags vorher auftragen – obgleich ich meines Orts bedacht hätte, nur das Körperliche kann man wiederholen, selten das Geistige –, und er strengte sich tapfer an; ein paar Babeltürme höher suchte er heute seinen Bischof zu stellen, zumal da er selber ihm seit gestern um manches nachgewachsen war bis zu einem halben Weihbischof; wahrlich er wollte mit Gewalt sich und alle außer sich und in Schwung bringen.
– Es ist hier weder Zeit noch Ort, dem Keimen und Treiben der Mannakörner tiefer nachzugehen und daher zwischen Gehirn und Gedärm alles gehörig zu vermitteln: genug Nikolaus hätte ebensogut die Erfurter Glocke samt dem Turme in Schwung gebracht als sich oder sonst einen Jungen. Nun weiß ich nicht, war es unglücklicher oder gewählter Zufall, daß er seine Heiligengeschichte bei brennendem Lichte versteigerte, wie in manchen Städten mit Waren geschieht, die mit auslöschendem zugeschlagen werden; kurz die Zuhörer von gestern baueten darauf, er werde wieder mit dem Haarschein dasitzen, wenn das Licht weg sei. Als daher der kleine Peter dieses ausschneuzte, damit endlich die Haarglorie zu sehen wäre: so stand der Kopf ganz lichtkahl und ohne die geringste Fassung oder Einfassung im Finstern; an abbrennende Zündkraute oder Feuerwerke heiliger Triumphe war nicht zu denken. Da sang Peter die sehr einfältigen Kinderverse (sie stehen entweder im Wunderhorn oder in den grimmischen Wäldern) spottend ab: »Nikolaus, fang' die Maus, mach' mir ein Paar Handschuh draus.«
– – Ich glaube nicht, daß ich es schildern kann; aber so viel berichten will ich doch, daß auf der Stelle Nikolaus aufsprang und an sich und jeden andern Nikolaus oder an einen Verehrer desselben mit keiner Silbe mehr dachte, sondern den kurzen Peter Worble an den Haaren mit einer Geschwindigkeit an die Erde legte, die ich am besten Niederreißen nenne – und zwar alles dies bloß zu dem Endzweck, auf der Kehrseite Peters auf- und abzuspringen, gleichsam wie auf der Harzscheibe eine elektrische Korkspinne oder sonst eine elektrische Figur, welche tanzt.
Er trat ihn natürlich bloß darum mit seinen Füßen, um das geistige Unkraut, so weit es körperlich zu tun war, umzutreten. Schade wars, daß der Junge nicht zweimal so lang gewesen: das kleine Weihbischöfchen hätte nicht so oft dieselbe Stelle bei ihm zu treten gebraucht. Inzwischen mit jedem Eilschritte – Peters Glieder stellten die Springhölzer in einem Vogelbauer vor – prägte er ihn mit einem andern Namen aus: »Du Satanas! – du Höllenbesen! – du Höllenbrand!« –
In die Länge hielt Peter, wie jeder, eine solche Verknüpfung von Verbal- mit Realinjurien, von Wort- mit Tatbeleidigungen nicht aus, sondern drehte und schnalzte sich unverletzt empor und faßte den künftigen Schutzheiligen bei der besten oder heiligsten Seite, nämlich bei den Haaren der Heiligenphosphoreszenz und leitete sonach an diesen einen neuen, steilrechten Wettstreit ein ...... Rede oder schreibe nur aber niemand etwas wider die Wildheit, worein jetzo Nikolaus vollends verfiel, als einige riefen, da er unter dem Balgen zu phosphoreszieren anfing: »Niklas, du hast den Heiligenschein wieder auf!« – »Den lebendigen Höllenschein hab' ich« – rief er – »der Teufelsbraten hier hat mich um Himmel und Hölle und alles gebracht, und da steh' ich« – und sah in den Spiegel, als ihn Peter losließ.
»Ja« – fuhr er fort und fing an zu weinen – »ich seh' es, ich sitze schon leibhaftig in der Hölle und brenne voraus – kein Heiliger darf sich raufen und die Menschen mit Füßen treten.« – Je länger er sich im Spiegel besah, desto mehr rührte er sich selber: »Ich fahre nun zum Teufel und hätt' ein solcher Schutzheiliger werden können.«