Der Kommissar und das Biest von Marcouf - Maria Dries - E-Book

Der Kommissar und das Biest von Marcouf E-Book

Maria Dries

0,0

Beschreibung

Monsieur le Commissaire und die toten Liebenden.

Auf der einsamen Vogelinsel Île de Terre wird ein ermordetes Liebespaar aufgefunden. Jemand hat ihnen die Kehlen durchgeschnitten und mit dem Blut der Opfer eine Botschaft hinterlassen. Commissaire Philippe Lagarde tappt im Dunkeln, jede Spur scheint ins Leere zu führen. Kurz darauf werden zwei skelettierte Leichen gefunden. Auch an diesem Tatort entdecken die Ermittler eine zynische Botschaft des Mörders. Als ein weiteres Liebespaar plötzlich nicht mehr erreichbar ist, muss der Commissaire sich fragen: Ist er auf der Jagd nach einem Serienmörder?

Atemberaubende Landschaften und ein hochspannender Wettlauf gegen die Zeit.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 317

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.


Ähnliche


Über Maria Dries

Maria Dries wurde in Erlangen geboren und hat Sozialpädagogik und Betriebswirtschaftslehre studiert. Heute lebt sie mit ihrer Familie in der Fränkischen Schweiz. Schon seit vielen Jahren verbringt sie die Sommer in der Normandie. Im Aufbau Taschenbuch sind bisher ihre Krimis »Der Kommissar von Barfleur«, »Die schöne Tote von Barfleur«, »Der Kommissar und der Orden von Mont-Saint-Michel«, »Der Kommissar und der Mörder vom Cap de la Hague« zuletzt »Der Kommissar und der Tote von Gonneville«, »Der Kommissar und die Morde von Verdon«, »Der Kommissar und die verschwundenen Frauen von Barneville«, »Der Kommissar und das Rätsel von Biscarrosse« und »Der Kommissar und das Biest von Marcouf« erschienen.

Informationen zum Buch

Monsieur le Commissaire und die toten Liebenden

Auf der einsamen Vogelinsel Île de Terre wird ein ermordetes Liebespaar aufgefunden. Jemand hat ihnen die Kehlen durchgeschnitten und mit dem Blut der Opfer eine Botschaft hinterlassen. Commissaire Philippe Lagarde tappt im Dunkeln, jede Spur scheint ins Leere zu führen. Kurz darauf werden zwei skelettierte Leichen gefunden. Auch an diesem Tatort entdecken die Ermittler eine zynische Botschaft des Mörders. Als ein weiteres Liebespaar plötzlich nicht mehr erreichbar ist, muss der Commissaire sich fragen: Ist er auf der Jagd nach einem Serienmörder?

Atemberaubende Landschaften und ein hochspannender Wettlauf gegen die Zeit

ABONNIEREN SIE DEN NEWSLETTERDER AUFBAU VERLAGE

Einmal im Monat informieren wir Sie über

die besten Neuerscheinungen aus unserem vielfältigen ProgrammLesungen und Veranstaltungen rund um unsere BücherNeuigkeiten über unsere AutorenVideos, Lese- und Hörprobenattraktive Gewinnspiele, Aktionen und vieles mehr

Folgen Sie uns auf Facebook, um stets aktuelle Informationen über uns und unsere Autoren zu erhalten:

https://www.facebook.com/aufbau.verlag

Registrieren Sie sich jetzt unter:

http://www.aufbau-verlag.de/newsletter

Unter allen Neu-Anmeldungen verlosen wir

jeden Monat ein Novitäten-Buchpaket!

Maria Dries

Der Kommissar und das Biest von Marcouf

Philippe Lagarde Ermittelt

Kriminalroman

Inhaltsübersicht

Über Maria Dries

Informationen zum Buch

Newsletter

So bete ich dich an

Îles Saint-Marcouf

Sainte-Mère-Église – Erster Tag

Die Vogelschutzinsel Île de Terre – Zweiter Tag

Das Gehöft in den Marschen – Dritter Tag

Der Wandteppich von Bayeux – Vierter Tag

Das napoleonische Fort – Fünfter Tag

Märchenweiher – Sechster Tag

Der Wolf von Fresville – Siebter Tag

Die Marina von Sainte-Marie-du-Mont – Achter Tag

Die Batterie von Azeville – Neunter Tag

Am nächsten Abend

Fünf Wochen später

Impressum

Für alle meine treuen Leser

So bete ich dich an

So bete ich dich an, wie nächt’ger Wölbung Neigen,

Urne der Traurigkeit, o großes, dunkles Schweigen,

Und liebe, Schöne, dich gleich heiß, ob du mich fliehst,

Ob du, Zierat der Nacht, durch meine Träume ziehst,

Um lächelnd und voll Spott endlose Kluft zu breiten,

Die meine Arme trennt von blauen Ewigkeiten.

Zum Angriff stürme ich, berenne, dringe vor

Wie an dem Leichnam klimmt der Würmer Schar empor,

Liebkos dich, grausam Tier. – Du höhnst mein Liebesmühen,

Doch deine Kälte lässt nur heißer mich erglühen.

Charles Baudelaire

»Die Blumen des Bösen«

»Les Fleurs du Mal«

Îles Saint-Marcouf

Die Saint-Marcouf-Inseln bilden einen kleinen Archipel im Ärmelkanal. Sie liegen sieben Kilometer vor der Ostküste der Halbinsel Cotentin in der Normandie. Die Île de Terre ist ein Vogelschutzgebiet, auf dem sich im Winter Zehntausende von Möwen niederlassen. Die etwas größere Île du Large wird von einer verlassenen Festung aus dem neunzehnten Jahrhundert dominiert. Bei Ebbe ragen die Inseln nicht mehr als zehn Meter aus dem Meer.

1795 eroberten die Engländer den Archipel und behinderten den Warenverkehr in der Bucht Baie de Seine. So kam das erste U-Boot, die »Nautilus«, auf Anweisung von Napoleon zum Einsatz. Im Rahmen des Friedens von Amiens 1802 gingen die Inseln an Frankreich zurück. Daraufhin ließ Napoleon auf der größeren Insel eine Festung, das Fort Circulaire, erbauen, um eine erneute Erstürmung zu verhindern.

Drei Wochen vor der Landung der Alliierten in der Normandie im Jahr 1944 wurde im Fort Circulaire ein schwer bewaffneter deutscher Vorposten vermutet. Ein Kommando schwamm zu den Inseln und stellte fest, dass sich dort keine Deutschen befanden.

Dann wurde die Insel von Amerikanern besetzt. Der südliche Abschnitt der Ostküste wird daher auch als Utah Beach bezeichnet.

Der Zugang zur Île du Large ist verboten, da das Fort einsturzgefährdet ist. Das Betreten der Île de Terre ist ebenfalls untersagt, damit die Vögel nicht beim Nisten und Brüten gestört werden.

Ende August kann das Wetter im Cotentin rasch umschlagen und an manchen Tagen stürmisch und rau sein. Von Ravenoville aus sieht man die Inseln an solchen Tagen schemenhaft und dunkel im Nebel liegen. Auf einer Sandbank suchen Strandläufer nach Würmern. Das Meer ist aufgewühlt, und der Wind peitscht schwarze Wolkengebirge darüber hinweg.

Über dem Archipel ziehen kreischend Möwen ihre Kreise, andere sitzen mit zerzaustem Gefieder auf verfallenen Mauerresten vor den düsteren Schießscharten der Festung. Der Wind heult um die Ruine und über den von Flechten überwachsenen Innenhof. Ungestüm rüttelt er am Strandhafer und wirbelt durch die Dünenrosen, während zwei Meter hohe Wogen grollend gegen die maroden Außendeiche klatschen.

Sainte-Mère-Église Erster Tag

Sainte-Mère-Église war ein beschaulicher Ort mit gut zweitausend Einwohnern, der von Utah Beach zehn Kilometer entfernt im Landesinneren lag. Berühmtheit hatte er dadurch erlangt, dass es das erste Dorf war, das 1944 am D-Day von den Alliierten befreit worden war. Dabei blieb der amerikanische Fallschirmjäger John Steele mit seinem Fallschirm an einem der Ecktürme des Kirchturms hängen. An diesen ungewollten Landepunkt erinnerte eine Puppe, die am Glockenturm der Kirche hing, und ein Kirchenfenster zeigte die Mutter Gottes mit drei Fallschirmjägern zu ihren Füßen.

Das Rathaus erhob sich am östlichen Rand des Marktplatzes. Von dort aus führte eine breite Treppe zum Eingangsportal, das von blühenden Azaleen in Tontöpfen flankiert wurde. Das Granitsteingebäude war einstöckig und verfügte über bogenförmige weiße Sprossenfenster. Der Mittelbau hatte einen wuchtigen quadratischen Aufsatz, den ein sechseckiger Turm krönte, in dem sich früher die Feuerglocke befunden hatte. An der Fassade flatterte die Trikolore.

Das Büro der Bürgermeisterin befand sich im Erdgeschoss und war schlicht und geschmackvoll eingerichtet. An der Wand hinter dem Schreibtisch hing ein Porträt von Emmanuel Macron, Frankreichs neuem Staatspräsidenten. Alice Ferrand hatte vor einem Jahr überraschend die Wahl gewonnen und den langjährigen Gemeindechef abgelöst. Der Großbauer war in einen Umweltskandal verwickelt gewesen, hatte jedoch beharrlich seine Unschuld beteuert, und niemand hatte damit gerechnet, dass ihm diese Geschehnisse das Amt kosten würden.

Alice Ferrand war zweiundvierzig Jahre alt und eine sehr attraktive Frau. Ihre schulterlangen braunen Haare hellte sie mit blonden Strähnchen auf. Ihr ovales Gesicht war ebenmäßig, die Nase zart, die Lippen sinnlich. Besonders auffällig waren ihre weit auseinander stehenden smaragdgrünen Augen, über die sich feine Brauen wölbten. Wenn sie im Dienst war, trug sie entweder elegante Kostüme oder Hosenanzüge. Sie war mit François Ferrand, dem Inhaber des Dorfbistros, verheiratet und hatte mit ihm zwei Kinder.

Vor ihr auf dem Schreibtisch lag eine Liste mit den Themen für die morgige Gemeinderatssitzung, die sie noch einmal mit all ihren Anmerkungen konzentriert durchlas. Der Kindergarten benötigte eine weitere Kindertagesstätte für die Gruppe der Ein- bis Dreijährigen, »Die kleinen Strolche« genannt. Weiter lag ein Antrag für die Baugenehmigung eines Einfamilienhauses in der Nähe des Dorfweihers vor. Am ersten Wochenende im September sollte in Ravenoville-Plage das jährliche Fischerfest stattfinden, an dem sich auch andere umliegende Gemeinden beteiligten. Die Freiwillige Feuerwehr und der Sportverein von Sainte-Mère-Église waren für das leibliche Wohl zuständig. Unter dem Punkt Verschiedenes gab es eine Beschwerde über zwei Gemeindearbeiter, die während ihrer Arbeitszeit schon häufiger in einer Kneipe in Montebourg gesehen worden waren. Alice runzelte die Stirn und beschloss zunächst mit den beiden Männern, die sie bisher als sehr zuverlässig und engagiert erlebt hatte, zu sprechen. Als sie sich eine Notiz machte, klopfte es, und ihre Sekretärin Sophie steckte den Kopf durch den Türspalt.

»Monsieur Basson möchte sich verabschieden, er ist mit seiner Arbeit fertig.«

Alice Ferrand lächelte sie freundlich an. »Dann soll er doch bitte hereinkommen.«

»In Ordnung.«

Ein großer, athletisch gebauter Mann betrat das Zimmer. Seine dunklen Haare waren nach hinten gekämmt und ließen Geheimratsecken erkennen. Er hatte eine kräftige, leicht gebogene Nase, volle Lippen und rehbraune Augen. Ein gepflegter Bart betonte seine markanten Gesichtszüge. Er war leger mit einer grauen Cargohose und einem schwarzen T-Shirt bekleidet, sein rechtes Handgelenk zierten mehrere geflochtene Lederbändchen.

Pierre Basson war ein selbständiger Computerspezialist, der alle zwei Wochen in das Rathaus von Sainte-Mère-Église kam, um das Computersystem zu warten. Er strahlte sie an.

»Es ist alles in Ordnung mit der Anlage, Madame Ferrand, ich habe die PCs und den Server überprüft. Im Standesamt gab es ein kleines Problem mit den Mails, das habe ich behoben. Die Installierung der Cloud hat sich bewährt, seitdem können keine verwaltungsinternen Daten mehr auf Sticks gespeichert und mitgenommen werden.«

»Das beruhigt mich sehr, Monsieur Basson.«

Ein Mitarbeiter des Einwohnermeldeamtes hatte kürzlich Dateien auf einen Stick gespeichert, um sie mit nach Hause zu nehmen. Dort hatte er sie angeblich bearbeiten wollen, da er es zeitlich im Büro nicht geschafft hatte. Den Datenträger verlor er jedoch unterwegs in einem Straßencafé. Zum Glück wurde der Stick gefunden und wieder im Rathaus abgeliefert. Wer weiß, was sonst mit den vertraulichen Daten geschehen wäre. Der Mitarbeiter hatte eine Abmahnung bekommen.

»Danke für Ihre Arbeit, Monsieur Basson, dann sehen wir uns in zwei Wochen wieder.«

»Keine Ursache, bis in zwei Wochen. Falls es davor Probleme geben sollte, rufen Sie mich einfach an.«

»Das mache ich, einen schönen Tag noch, und kommen Sie gut nach Hause.«

»Merci, au revoir, Madame Ferrand.«

Sie sah ihm nach, wie er das Zimmer verließ und die Tür hinter sich zuzog. Dann schaute sie auf ihre Armbanduhr und lächelte versonnen. Dreizehn Uhr, eine Stunde noch. Diszipliniert arbeitete sie weiter, bis es schließlich Zeit war zu gehen. Sie packte ihre Tasche, verabschiedete sich von Sophie und verließ ihre Dienststelle. Gegenüber saßen vor einem Café einige Leute, die ihr zuwinkten. Gutgelaunt winkte sie zurück. Hinter dem Rathaus war für sie ein Parkplatz reserviert. Sie setzte sich in ihr Auto, startete den Motor und machte sich auf den Weg nach Ravenoville-Plage.

Das Dorfbistro von François Ferrand lag südlich der Kirche an der Hauptstraße, die nach Carentan führte. Es befand sich im Erdgeschoss eines Granitsteinhauses, auf dessen Schieferdach sich Gauben reihten. Das Lokal beherbergte einen Bar-Tabac-Laden mit einem Tresen und Barhockern, wo man einen Mokka oder ein Glas Wein trinken konnte. Im Speiseraum nebenan waren Tische eingedeckt. Auf dem Bürgersteig vor dem Lokal standen Bistrotische und Korbstühle unter einer blauen Markise. Dort hatte sich eine Gruppe durstiger Touristen niedergelassen, die gerade bei Beatrice ihre Bestellung aufgaben. Früher hatte auf dem Platz vor der Kirche der größte Viehmarkt der Region stattgefunden, deshalb hieß das Bistro Le Bœuf Rouge, Der Rote Ochse.

Der Eigentümer stand hinter der glänzenden Mahagonitheke, polierte Gläser und hörte mit einem Ohr der Unterhaltung der Männer am Stammtisch zu. Sie tranken Rotwein und diskutierten mit lauten Stimmen und lebhaften Gesten über die Politik des neuen Präsidenten. Einig waren sie sich nur darin, dass er für das tragende Staatsamt zu jung und unerfahren war. Außerdem spekulierten sie darüber, welche öffentlichen Aufgaben seine Frau Brigitte übernehmen werde.

François Ferrand war einundfünfzig Jahre alt, von kleinem Wuchs und hatte einen gewaltigen Bierbauch. Die welligen grauen Haare waren kurz geschnitten, die Nase grob, die Wangen fleischig. Er war kurzsichtig und trug eine randlose Brille. Früher, als aktiver Rugbyspieler, war er schlank und muskulös gewesen.

Nachdem er das letzte Glas auf einem Regal abgestellt hatte, rief er im Rathaus an und wollte seine Frau sprechen. Von ihrer Sekretärin Sophie erfuhr er, dass sie nicht mehr da war, also versuchte er es auf ihrem Handy. Sie nahm das Gespräch jedoch nicht entgegen, und er hinterließ verärgert eine Nachricht auf ihrer Mailbox. Er war sehr eifersüchtig und mochte es nicht, wenn er nicht wusste, wo sie war. Schließlich schenkte er eine Runde Calvados ein und setzte sich zu den Männern an den Stammtisch. Nachdem sie angestoßen und getrunken hatten, musterte sein Freund Jacques ihn. »Du schaust so mürrisch, was ist denn los?«

»Ich kann Alice nicht erreichen und frage mich, wo sie steckt. In der mairie ist sie nicht.«

»Alice ist unsere Bürgermeisterin und hat viel um die Ohren. Wahrscheinlich ist sie bei einem Außentermin. Mach dir keine Gedanken. Wenn sie Feierabend hat, wird sie kommen und ein Glas Wein mit uns trinken, wie immer.«

Der Wirt nickte, Jacques hatte recht.

Aber es wurde später und später, und Alice kam nicht.

Alice erreichte Ravenoville-Plage nach knapp fünfzehn Minuten. Vom Ort führte eine befestigte schmale Straße durch weites Marschland, das von Prielen durchzogen war, zur Küste. Hin und wieder kam sie an einem Gehöft vorbei. Sie fuhr an einer hüfthohen, verwitterten Mauer entlang, die die Straße vom Strand trennte. Dieser Strandabschnitt war schmal und von Muschelschalen übersät. Schließlich erreichte sie die bunten, liebevoll restaurierten Fischerhäuschen, die sich am Ufer aneinanderreihten. Früher hatten dort tatsächlich Fischer mit ihren Familien gewohnt, jetzt dienten sie als Ferienhäuser. Nicht weit hinter der Ansiedlung lag die kleine Marina. Dort parkte sie, griff nach ihrer Tasche und stieg aus. Da die helle Augustsonne sie blendete, setzte sie ihre Sonnenbrille auf. Vor ihr lagen der glitzernde Ozean und die Marcouf-Inseln, Möwengeschrei erfüllte die Luft. In dem kleinen Hafen lag ihr Boot, die AdrienI, ein robuster Einkieler mit Innenbordmotor und Steuerkabine, der für den rauen Ärmelkanal gut geeignet war. Es schaukelte sanft neben zwei weiteren Booten, weit und breit war kein Mensch zu sehen. Nicht einmal die Angler standen an ihren gewohnten Plätzen. Ihr Mann François nutzte das Boot so gut wie nie, er hielt sich am liebsten in seinem Bistro auf. Alice dagegen liebte es, auf dem Meer unterwegs zu sein und die salzige Luft zu atmen. Es war eine willkommene Abwechslung zu ihrer anstrengenden politischen Arbeit. Außerdem war sie Mitglied im Vogelschutzverein und besuchte manchmal die Île de Terre, um die Vögel zu beobachten und Ruhe zu finden. Für die Allgemeinheit war es verboten, die Insel zu betreten, die Naturschützer jedoch hatten freien Zugang.

Über glitschige Steinstufen gelangte sie auf einen Absatz, der um das winzige Hafenbecken herum führte. Von dort aus stieg sie auf ihr Boot. Sie tauschte das Kostüm gegen Jeans, Fischerpullover und Leinenschuhe, die sie immer in einer Seekiste auf dem Boot hatte. Dann löste sie das Tau, trat in den Steuerstand und ließ den Motor an. Langsam fuhr sie aus der Marina. Den einsamen Angler, der sie beobachtete, bemerkte sie nicht.

Das Meer lag ruhig und azurblau vor ihr, und sie nahm Kurs nach Norden. Ihr Ziel war eine kleine Bucht südlich von Quinéville, die zwei Seemeilen entfernt lag und von der Küste aus nur über einen Fußweg zu erreichen war. Als sie auf den henkelförmigen Sandstrand zusteuerte, stand dort bereits Pierre Basson und wartete auf sie. Als er das Boot entdeckte, winkte er ihr zu. Im seichten Wasser drosselte sie den Motor, und er watete barfuß und mit hochgekrempelten Hosen durch die Brandung. Über der Schulter trug er einen Rucksack. Er kletterte über die Leiter an Deck. Als sie sich gegenüberstanden, schenkte er ihr sein schönstes Lächeln und schloss sie in die Arme.

»Endlich«, murmelte er in ihr Ohr. »Ich hatte solche Sehnsucht nach dir.« Er küsste sie leidenschaftlich, seine Hand wanderte unter ihren Pullover und streichelte eine Brust. Entschlossen schob sie ihn weg.

»Nicht hier, mein Liebster. Von der Küste aus kann uns jeder sehen. Lass uns auf die Insel fahren, dort sind wir ungestört.«

Widerstrebend ließ er sie los. »Also gut, fahren wir.«

Je weiter sie sich von der Küste entfernten, desto unruhiger wurde die See. Schaumkronen tanzten auf den Wellen, das wuchtige Fort Circulaire auf der Île du Large nahm immer mehr Gestalt an. Nach fünfunddreißig Minuten erreichten sie die Île de Terre. Sie hatte die Form eines Halbmondes und war vierhundert Meter lang sowie hundert Meter breit. Auf dem flachen Eiland gab es zerklüftete Felsen, dorniges Gestrüpp, Teppiche aus Strandsegge sowie unzählige Möwen und Kormorane. Das einzige steinerne Gebäude auf der Insel war das verfallene Wachhaus einer ehemaligen Verteidigungsanlage, an dessen Mauern sich Stranddisteln krallten.

Alice ankerte in einer kleinen Bucht an der Südwestküste, die zwischen Klippen verborgen lag. Über die Leiter gelangten sie in das kühle flache Wasser und wateten über den weichen Sand an Land. Ihr Ziel war eine Blockhütte in einer geschützten Senke in der Nähe des Wachhauses, die der Vogelschutzverein vor sechs Jahren gebaut hatte. Dort konnten Mitglieder, Ornithologen, Studenten oder Helfer bei schlechtem Wetter Unterschlupf finden und auch übernachten. Meistens jedoch stand sie leer.

Alice hatte einen Schlüssel. Im Holzhaus gab es neben einem Abstellraum noch einen Wohnraum mit einer Schlafcouch, einer Sitzecke, einem Schrank und einem Regal. Auf einem Campingtisch stand ein Gaskocher. Die Einrichtung war einfach und zweckmäßig. Durch das einzige Fenster sah man eine kleine Düne, die mit Strandgras überwachsen war und über der sich ein lichtblauer Himmel wölbte.

Alice und Pierre küssten sich, zogen sich gegenseitig aus und liebten sich leidenschaftlich auf der Couch. Sie waren so mit sich selbst beschäftigt, dass sie nicht bemerkten, wie jemand sie durch die Fensterscheibe anstarrte.

Er beobachtete sie. Hass loderte in seinen Augen, und die Eingeweide krampften sich vor Zorn zusammen. Als sich das Paar voneinander löste, zog er sich vorsichtig und lautlos zurück.

Vor drei Monaten war er zufällig auf der Insel gewesen, als die beiden mit dem Boot kamen, ankerten, in der Hütte verschwanden und sich liebten. Das war an einem Dienstagnachmittag im Mai gewesen. Daraufhin hatte er die Bürgermeisterin beobachtet und auf der Insel in einem Versteck auf sie gewartet. Schnell fand er heraus, dass das Paar jeden zweiten Dienstag etwa um dieselbe Zeit auf das Eiland kam. Einmal waren sie nicht gekommen. An dem Tag war ein Orkan über das Cotentin hinweggefegt. Er zitterte vor Erregung. Heute war der große Tag, der Tag, den er ausgewählt hatte. Er würde über das Schicksal der beiden entscheiden.

Alice und Pierre beschlossen auf dem kleinen Kiesstrand vor dem Wachhaus zu picknicken, da sie sich sicher waren, dass sich außer ihnen niemand auf der Insel aufhielt. Sie verzichteten auf ihre Kleidung.

Alice breitete eine Decke aus, auf der sie sich am Ufer niederließen. Kleine Wellen glitten über die Kieselsteine. Das Rauschen der Brandung und das Geschrei der Kormorane, die sich wie schwarze Wolken über die Insel bewegten, waren die einzigen Geräusche. Pierre holte aus seinem Rucksack gegrilltes Hähnchen, Baguette, Tomaten und eine Flasche Champagner hervor. Aus der Hütte hatte er zwei einfache Gläser mitgebracht. Gekonnt entfernte er den Korken, schenkte ein und reichte ihr ein Glas. Dabei strahlte er sie verliebt an. »Auf uns beide.«

Alice erwiderte seinen Blick zärtlich. »Auf uns beide.«

Sie stießen an und genossen das perlende Getränk. Alice nahm sich ein Hühnerbein und biss hungrig hinein. Pierre sah ihr dabei zu. Er mochte es, wie sie aß, ohne falsche Zurückhaltung und mit Appetit. Er schnitt ein Stück Baguette für sie ab und reichte es ihr, dann strich er ihr liebevoll eine Strähne aus dem Gesicht. »Ich möchte öfter mit dir zusammen sein. Eigentlich immer.«

»Ich auch, das weißt du, aber so einfach ist es nicht.«

»Doch, wir lassen uns beide scheiden und fangen zusammen ein neues Leben an.«

»Und was ist mit unseren Kindern?«

»Wir finden auch dafür eine Lösung. Entweder wohnen sie bei uns, oder sie können uns besuchen, so oft sie wollen.«

Alice seufzte. »Lass uns den schönen Nachmittag genießen. Wir reden ein andermal darüber, einverstanden?« Sie wartete die Antwort nicht ab. »Weißt du, was? Nächste Woche bin ich auf einer Tagung in der Gegend, wo du wohnst. Wir treffen uns dort und reden. Und jetzt komm, ich will ins Wasser und mich abkühlen.«

Hand in Hand rannten sie ins Meer, schwammen ein Stück hinaus und ließen sich treiben. Sie beobachteten die Wolken und die Vögel. Zurück in Ufernähe bespritzten sie sich ausgelassen wie Kinder mit Wasser. Eng umschlungen kehrten sie zum Strand zurück, sanken auf die Decke und liebten sich erneut. Schließlich rollten sie sich auf den Bauch, erschöpft von der Liebe und schläfrig vom Champagner, und dösten ein. Pierre hatte den Arm um Alice’ Schultern gelegt und bedauerte schon jetzt, dass sie bald zurückmussten.

Sie waren beide in Gedanken versunken und bemerkten nicht die tödliche Gefahr, die immer näher kam.

Er schlich von hinten heran, stellte sich breitbeinig über Pierre, beugte sich blitzschnell vor, packte ihn bei den Haaren und riss seinen Kopf zurück. Bevor er reagieren konnte, durchtrennte er mit einem einzigen Schnitt seine Kehle. Alice fuhr hoch und starrte ihn entsetzt an. Trotz ihrer Panik nahm sie im Bruchteil einer Sekunde wahr, dass die Glatze des Mörders seltsam hell und matt schien. Bevor sie schreien oder gar flüchten konnte, hatte er ihre Haare gepackt und das Messer an ihren Hals gelegt. Ein schneller, tiefer Schnitt von einem Ohr zum anderen, und sie brach gurgelnd zusammen. Ihr Herz blieb stehen.

Er trat vor das Paar und betrachtete zufrieden sein Werk. Dann ging er zum Ufer und reinigte in aller Ruhe das Messer, bevor er es zurück in die Scheide steckte. Jetzt hatte er nur noch drei Aufgaben zu erledigen, bevor er verschwinden würde. Niemand würde jemals herausfinden, wer er war. Er war perfekt.

Gegen dreiundzwanzig Uhr löste sich der Stammtisch im Le Bœuf Rouge auf. François Ferrand hatte sich kaum an den Gesprächen beteiligt. Er versuchte immer wieder, seine Frau auf ihrem Smartphone zu erreichen. Inzwischen kam nur noch die automatische Ansage, dass sie nicht erreichbar war. Eine Zornesfalte erschien auf seiner Stirn, und er knallte sein Handy auf den Tisch, so dass die Abdeckung absprang.

»Ich rufe jetzt die Gendarmerie an«, verkündete er. »Etwas muss mit Alice passiert sein.«

Sein Freund Jacques versuchte, ihn zu beruhigen. »Die Wache ist um diese Zeit nicht mehr besetzt, das weißt du doch. Willst du unsere Gendarmen aus dem Bett klingeln? Oder willst du einen Notruf absetzen, während deine Frau vielleicht in einer Bar nach einem schönen Abendessen noch einen Drink nimmt? Es kann doch sein, dass sie eine Freundin getroffen hat und mit ihr essen gegangen ist. Du weißt doch selbst, wie schnell man dann die Zeit vergisst.«

»Dann kann sie doch wenigstens Bescheid sagen.«

»François, sie ist eine erwachsene Frau und kann machen, was sie will. Sie muss sich nicht bei dir abmelden. Pass auf, wir gehen jetzt alle nach Hause, und wenn sie morgen früh immer noch nicht da ist, melden wir sie bei der Gendarmerie als vermisst und suchen sie.«

»Aber …«

»Nichts aber, denk doch mal nach. Womöglich ist sie ja auch zur Île de Terre gefahren, das ist doch einer ihrer Lieblingsplätze. Sie hat die Zeit vergessen, dann ist die Nacht hereingebrochen, Wind kam auf, und sie hat sich nicht getraut, in der Dunkelheit zurückzufahren. Das Gewässer um den Archipel ist tückisch.«

Die anderen Männer stimmten ihm zu. Ferrand gab nach. Er war hundemüde, und wenn er ehrlich war, machte er sich keine Sorgen, dass Alice etwas passiert war. Sie konnte sehr gut auf sich aufpassen. Vielmehr hatte er schreckliche Angst davor, dass sie einen anderen Mann kennenlernen und ihn verlassen könnte. Vielleicht lag sie gerade mit jemandem im Bett. Diese Vorstellung war unerträglich. Er versuchte, den Gedanken zu verdrängen.

Zusammen verließen die Männer das Bistro, und der Wirt verriegelte die Eingangstür.

Als Ferrand zu Hause feststellte, dass seine siebzehnjährige Tochter Charline ebenfalls nicht da war, beschloss er wütend, beide Frauen am nächsten Tag zur Rede zu stellen. So durften sie nicht mit ihm umgehen. Dann ging er zu Bett und zog die Decke über den Kopf. Lange Zeit konnte er nicht einschlafen.

Während Alpträume ihn peinigten, drang aus dem Fort Circulaire auf der Île du Large ein diffuser Lichtschein, und Schatten huschten über die Mauern der Ruine.

Die Vogelschutzinsel Île de Terre Zweiter Tag

Das kleine weiße Fischerhaus mit dem Bullauge und den blauen Fensterläden lag im ersten Licht der Sonne, die sich hinter dem Marcouf-Archipel erhob. Drei Heringsmöwen saßen wie Statuen auf der Mauer, hinter der sich der Strand von Ravenoville-Plage erstreckte. Kleine Wellen überspülten die golden schimmernden Muschelschalen und ließen sie leise klackern. Ein zwei Meter hoher Oleanderbusch verströmte einen süßen Duft.

Simone Groult und ihre Tante Eugénie saßen in der Küche beim Frühstück. Die zart gebaute, zweiundfünfzigjährige Frau mit den ungebändigten schwarzen Locken war seit drei Wochen bei ihrer Tante zu Besuch, doch in Wirklichkeit waren die Tante und das kleine Fischerhäuschen ihr Zufluchtsort. Vor vierundzwanzig Tagen war ihr Mann Benoît aus der gemeinsamen Wohnung ausgezogen. Er war Professor für französische Literatur und Literaturgeschichte an der Universität von Le Mans und hatte sich vor einigen Monaten in eine seiner Studentinnen verliebt. Danielle erwiderte seine Liebe, und jetzt war er zu ihr gezogen, nur einen Tag, nachdem er seine völlig überrumpelte Frau um Verständnis und eine Auszeit gebeten hatte. Daraufhin hatte Simone sich in ihr Auto gesetzt und bei Eugénie Unterschlupf gefunden.

Die einundachtzigjährige alte Dame freute sich sehr über diesen Besuch, war sie doch seit vielen Jahren Witwe und vermisste die Gesellschaft eines vertrauten Menschen. Außerdem war sie in letzter Zeit immer gebrechlicher geworden und hatte inzwischen sogar Mühe, mit dem Rad zum nächsten Bäcker zu fahren. Simone erledigte für sie die Einkäufe, unternahm Ausflüge mit ihr und half ihr im Haushalt. Am Abend sahen sie zusammen fern, hörten Musik oder spielten Schach.

All das lenkte sie wenigstens für einige Stunden von ihrem Kummer ab. Die Frauen unterhielten sich ausgiebig. Oft ging es um Benoît, und Tante Eugénie, die geistig absolut auf der Höhe war, prophezeite, dass die Studentin den alten Mann bald vor die Tür setzen werde. Ihre Argumente waren stichhaltig. Er werde auf Dauer den Anforderungen der jungen Frau nicht gewachsen sein, außer in finanzieller Hinsicht, und das reiche nun mal nicht, basta.

Simone war sich da nicht so sicher und ärgerte sich sehr über diesen Verrat. Jeden Morgen betrachtete sie sich mit kritischen Blicken im Spiegel und entdeckte immer neue Falten.

Eugénie liebte Vögel und war schon viele Jahre Mitglied im Vogelschutzverein. Als Simone vor drei Wochen völlig verzweifelt zu ihrer Tante gekommen war, hatte Eugénie sie ebenfalls dort angemeldet. Ein Freund von Eugénie, Edmond-Marie, hatte sie einige Male mit auf die Île de Terre genommen und ihr die Regeln erklärt, die im Vogelschutzgebiet zu beachten waren. Er hatte ihr die ungestüme Schönheit dieses Eilandes vor Augen geführt, und sie hatte sich in das karge Kleinod verliebt. Er hatte ihr auch beigebracht, wie man einen kleinen Außenborder steuerte, und sie über die Gefahren des Ärmelkanales aufgeklärt. Er ließ sie das Boot benutzen, wann immer sie wollte, und sie fuhr jeden Tag, wenn das Wetter es erlaubte, auf die Insel und zeichnete Vögel. Das beruhigte sie nicht nur, sondern weckte in ihr eine Begeisterung, die sie schon lange nicht mehr gespürt hatte. Während Simone unterwegs war, backte Tante Eugénie wunderbare Früchtetartes, arbeitete in ihrem winzigen Garten oder tratschte mit den Nachbarn.

Auch an diesem Morgen wollte Simone früh los, um an ihren Kormoranskizzen weiterzuzeichnen. Edmond war so angetan von ihren feinen und präzisen Zeichnungen, dass er sie in einer ornithologischen Fachzeitschrift, zu dessen Herausgeber er einen guten Kontakt hatte, veröffentlichen lassen wollte.

Simone gab Butter und Marmelade auf eine Scheibe Baguette.

»So ein verdammtes Klischee«, schimpfte sie. »Ein Professor verliebt sich in seine Studentin, warum muss das ausgerechnet uns passieren? Ich dachte, er liebt mich.«

Eugénie legte den Kopf schief und lächelte sie an. »Das sagst du jeden Morgen, meine Liebe. Du drehst dich im Kreis, hör auf damit. Erzähl mir lieber, wie es Paul geht.«

Paul war Simones und Benoîts Sohn. Er war über die plötzliche Trennung seiner Eltern zuerst total schockiert gewesen, versuchte jetzt aber, zwischen ihnen zu vermitteln und sie wieder zusammenzubringen. Er hatte bereits vor dem Frühstück angerufen und mit seiner Mutter gesprochen.

»Es geht ihm gut. Er wollte mir nur erzählen, dass er seinen Vater in der Stadt vor einem Waschsalon getroffen hat. Er wollte dort seine Wäsche waschen, weil seine neue Freundin sich weigerte, das zu tun.«

Eugénie grinste zufrieden. »Das sind doch erfreuliche Neuigkeiten.«

Simone räumte den Tisch ab.

»Ich mache das schon«, sagte ihre Tante. »Fahr rüber auf die Insel und verbring einen schönen Tag. Ich weiß doch, dass du weiter an den Kormoranskizzen arbeiten willst.« Sie deutete auf die Anrichte. »In der Kühlbox sind ein Schinkenbaguette mit Ei und Salat und Madeleines für Mittag, dazu zwei Flaschen Wasser. Zum Abendessen gibt es ein köstliches Kaninchenragout.«

Simone gab ihr einen Kuss. »Toll, du bist ein Schatz. Bis später.«

»Bis später! Ach, und halte dich von der Île du Large fern. Dort gehen seltsame Dinge vor sich, besonders nachts. Beim letzten Seniorennachmittag wurde wieder erzählt, dass die Insel am Samstag in einem eigenartigen Feuerschein lag.«

Simone grinste. »Alles klar.«

Der kleine Außenborder schaukelte neben dem Holzsteg. Simone kletterte über eine Leiter an Bord, verstaute ihre Tasche mit den Zeichenutensilien sowie den Proviant und startete den Motor. Sie nahm Kurs auf den Archipel und genoss den frischen salzigen Wind, der ihr ins Gesicht blies. Das Boot pflügte ruhig durch die Wellen, und nach einer Dreiviertelstunde erreichte sie ihr Ziel. Auf der Westseite der Île de Terre gab es eine Mole, die früher zur Festung gehört hatte. Die Mitglieder des Vogelschutzvereins nutzten sie häufig als Anlegestelle.

Als Simone dort ankam, vertäute sie ihr Boot an einem Eisenring und gelangte über einige Stufen ans Ufer. Sie war stolz, dass sie die Überfahrt gut gemeistert hatte. Edmond-Marie war ein guter Lehrer gewesen.

Auf ihrem Weg zu den Klippen im Norden führte ein Trampelpfad an der alten Festung und dem Blockhaus vorbei, gegenüber lag der kleine Strand. Dort hatte sie sich in den vergangenen Tagen schon einmal niedergelassen, ihren Proviant verzehrt und die Sonnenstrahlen auf ihrer Haut genossen. Dabei waren nur das Rauschen der Wellen und die Schreie der Vögel zu hören gewesen.

Plötzlich stutzte sie und blieb stehen. Da lag etwas auf den Kieselsteinen, das dort auf keinen Fall hingehörte. Verwundert trat sie näher. Es war eine karierte Decke, die der Wind zerknüllt hatte, und die an einem Büschel von Strandastern hängen geblieben war. Nicht weit davon entfernt standen zwei Gläser und eine Champagnerflasche auf einem flachen Stein. Davor lag ein Rucksack. Die Steine um die Decke herum sahen seltsam aus. Sie waren nicht weiß wie die anderen, sie waren rötlich verfärbt. Es sah aus wie Blut. Was hatte das zu bedeuten? War hier ein Unfall passiert oder gar ein Verbrechen geschehen?

Unruhe beschlich sie. Zum ersten Mal wurde ihr bewusst, wie einsam ihr Lieblingsplatz mitten im Meer lag. Als sie hinter ihrem Rücken ein Geräusch vernahm, fuhr sie erschrocken herum. Ein Mann stand dort und starrte sie an. Der kräftige Hüne hatte lange helle Haare, einen wilden Bart und durchdringende Augen, die jetzt zwischen ihr und den rötlichen Steinen hin und her wanderten. Simone erinnerte sich, dass sie ihn schon zwei-, dreimal auf der Insel gesehen hatte. Er hatte Vögel beobachtet, die Nachgelege kontrolliert und sich Notizen auf einem Klemmbrett gemacht. Einmal hatte er sie bemerkt und kurz die Hand zum Gruß erhoben, das war alles gewesen. Sie hatte noch nie ein Wort mit ihm gewechselt. Bisher war sie davon überzeugt gewesen, dass es sich bei diesem Mann um einen harmlosen Vogelschützer handelte. Auch jetzt blieb er stumm. Dann löste er den Blick von ihr, drehte sich abrupt um und ging auf die Schutzhütte zu. Kurz zögerte er, dann riss er die Tür auf und verschwand darin.

Das schauerliche Geheul, das kurz darauf aus dem Inneren der Hütte drang, ließ Simone das Blut in den Adern gefrieren. So ein Geräusch hatte sie noch nie gehört. Es klang eher wie die Laute eines Tieres als die eines Menschen. Sie überlegte, was sie machen sollte. Sollte sie ihm folgen? Was hatte er nur entdeckt, dass er so schrie?

Sie gab sich einen Ruck und folgte ihm in das Blockhaus. Als sie realisierte, was der seltsame Mann dort vorgefunden hatte, blieb ihr die Luft weg. So etwas Entsetzliches hatte sie noch nie gesehen.

Ein Mann und eine Frau lagen nackt auf dem Schlafsofa. An ihren Hälsen klafften grauenvolle Wunden, die Augen waren aus den Höhlen getreten, alles war voller Blut. Der Geruch des Todes war unerträglich.

Simone taumelte an dem erstarrten Mann vorbei, lief aus der Hütte und übergab sich. Als sie sich keuchend aufrichtete und versuchte, regelmäßig zu atmen, hörte sie Stimmen und sah sich um. Von der Mole her näherten sich vier Personen, eine junge Frau und ein älterer Mann in Uniform sowie zwei weitere Männer, ein kleiner Dicker und ein größerer Mann in Zivilkleidung.

Der heute Morgen eilig zusammengestellte Suchtrupp hatte das Auto von Alice Ferrand an der Marina von Ravenoville-Plage entdeckt und festgestellt, dass die AdrienI ausgelaufen war. Als die Gruppe näher gekommen war, sprach Simone die Gendarmen an.

»Wie gut, dass Sie da sind. Es ist etwas Schreckliches passiert.« Mit zitternden Fingern wies sie auf das Blockhaus. »Dort, in der Hütte«, brachte sie mühsam hervor. Die Gendarmen gingen mit entschlossenen Schritten auf das Haus zu, gleichzeitig rannte der kleine dicke Mann an ihnen vorbei und stürmte hinein. »Nein«, schrie er, »das darf nicht sein!« Dann war es still.

François Ferrand hatte das Bewusstsein verloren und war auf dem Boden zusammengebrochen. Sein Freund Jacques kniete sich neben ihn und sah ihn hilflos an. Die Gendarmin Annie Lucas stand wie festgewurzelt da und konnte den Blick nicht von den Toten abwenden. Ihr Chef Arsène Ruet rang um Fassung. Schließlich zog er sein Handy aus der Hemdtasche. »Wir müssen die Kripo benachrichtigen.«

Simone sah sich erstaunt um. »Der Mann ist weg«, stellte sie fest.

»Welcher Mann?«, fragte Gendarmin Lucas.

»Der Mann, der die Toten gefunden hat.« Ein furchtbarer Verdacht keimte in ihr auf. War er der Mörder? Aber warum hatte er dann so furchtbar geschrien?

Das alte Granitsteinhaus mit den taubenblauen Fensterläden befand sich nördlich von Barfleur. Philippe Lagarde saß auf der Terrasse und frühstückte. Von dort aus hatte man einen herrlichen Blick auf den Ärmelkanal, der sich unterhalb der Dünen tintenblau ausdehnte und schließlich mit dem Horizont zu einem silbergrauen Band verschmolz. Die Sonne lag eingebettet in Wolkengebilden, die wie Perlmutt schimmerten. Vor der Küste erstreckten sich kilometerlange Muschelbänke bis zur Insel Tatihou. Der Wind wehte eine feuchte Brise heran, die nach Tang und Fisch roch. Ab und zu war der Schrei eines Seevogels zu hören. An der Nordostspitze der Halbinsel erhob sich stolz der Leuchtturm von Gatteville.

Der Kommissar im Ruhestand hatte kurzes dunkles Haar über einem markanten Gesicht, das von saphirblauen Augen und einem kantigen Kinn geprägt war. Seine Freizeit verbrachte er am liebsten mit seiner Freundin Odette. Sie fuhren mit seinem Boot zum Angeln aufs Meer hinaus oder probierten neue Restaurants. Um sich fit zu halten, fuhr er häufig mit seinem Rennrad kreuz und quer über die Halbinsel Cotentin. Den Rudersport hatte er wegen einer Schussverletzung an der linken Schulter aufgeben müssen. Da er seinen geliebten Beruf nicht ganz an den Nagel hängen konnte, hielt er Vorlesungen und Seminare für Anwärter an der Polizeiakademie in Rennes, hin und wieder wurde er bei komplizierten Kriminalfällen als Berater hinzugezogen.

Er las gerade einen interessanten Artikel in der Tageszeitung über eine Mordserie an alten alleinstehenden Frauen in Paris, als sich der zugelaufene Wildkater Alexandre auf den Tisch plumpsen ließ und ihn mit seinen gelben Augen fixierte. Gleichzeitig klingelte Philippes Handy. Er legte die Zeitung zur Seite, stand auf und fand das Telefon auf dem Esszimmertisch. Es war Frank Lanoux, der Polizeipräsident der Normandie.

»Bonjour, Philippe.«

»Bonjour, Frank.« Seit ihrem letzten gemeinsamen Fall, bei dem es um verschwundene Frauen ging, duzten sie sich.

»Störe ich?«, fragte der Polizeichef.

»Aber nein. Was gibt es denn?«

Lanoux rief nie ohne Grund an.

»Entschuldige, aber ich muss gleich mit der Tür ins Haus fallen.«

»Es brennt also mal wieder?«

»Ja, die Gendarmerie von Sainte-Mère-Église hat einen Doppelmord gemeldet. Auf der Vogelschutzinsel Île de Terre wurden ein Mann und eine Frau tot aufgefunden. Beiden hat man die Kehle durchgeschnitten.«

»Also ist Cherbourg zuständig.«

»Ja, aber wie du weißt, befindet sich der zuständige Hauptkommissar Ludovic Cleroc in Elternzeit. Selbstverständlich hat er einen Stellvertreter, der sich am Wochenende unglücklicherweise einen Bandscheibenvorfall zugezogen hat. Jetzt liegt er im Krankenhaus und muss operiert werden. Gerade eben habe ich mit einem jungen Kollegen gesprochen, der kürzlich die Prüfung für die gehobene Laufbahn mit Bravour bestanden hat. Ich habe ihm kurz die Umstände geschildert und ihn gebeten, den Fall zu übernehmen.« Plötzlich verstummte er, als hätte es ihm die Sprache verschlagen. Lagarde hakte nach.

»Und was hat er gesagt?«

»Er hat abgelehnt. Die erste große Chance, sich zu beweisen und praktische Erfahrungen zu sammeln, hat er abgelehnt, stell dir das vor.«

»Hat er einen Grund genannt?«

»Ja, ein Doppelmord sei ihm eine Nummer zu groß, das traue er sich noch nicht zu, nicht als leitender Ermittler.«

Jetzt war Lagarde klar, was der Polizeipräsident von ihm wollte. »Du möchtest, dass ich den Fall übernehme?«

»So ist es. Du kennst die knappe Personalsituation. Es tut mir leid, dass ich dich so überfalle, aber es ist wirklich dringend. Kannst du dir den Fundort ansehen und dir ein erstes Bild machen? Die Gendarmen warten dort. Danach sehen wir weiter.«

»Ja, das ist kein Problem. Ich mache mich gleich auf den Weg.«

»Nein, warte! Delphine Moreau soll auch mitkommen.« Delphine Moreau war die Leiterin des Rechtsmedizinischen Instituts in Cherbourg. »Ein Polizist fährt sie. Sie sind schon unterwegs und nehmen dich mit. Die Spurensicherung hat sich auch schon auf den Weg gemacht, der Bestatter wurde informiert. In der Marina von Ravenoville-Plage wartet ein Polizeiboot auf euch, das euch auf die Insel bringt. Die Küstenwache ist ebenfalls unterwegs. Offenbar ist eine Zivilperson zusammengebrochen.«

»Alles klar, ich rufe dich später an und berichte.«

»Ich danke dir.«

»De rien.«

Lagarde räumte den Tisch ab, duschte kurz und zog eine Leinenhose und ein Hemd an. Dabei dachte er darüber nach, was Frank ihm erzählt hatte. Er kannte die Marcouf-Inseln. Mit seinem Boot war er schon oft vorbeigefahren, geankert hatte er dort jedoch noch nie. Und jetzt waren zwei Tote auf einer kleinen unbewohnten Insel entdeckt worden, die als Vogelschutzgebiet ausgewiesen war. Er fragte sich, was ihn dort erwarten mochte.

Rasch steckte er Portemonnaie und Handy ein und verließ das Haus. Als er die Gartenpforte hinter sich schloss, näherte sich gerade ein Polizeifahrzeug und hielt neben ihm an. Er öffnete die Tür, nahm auf dem Rücksitz Platz und begrüßte die Kollegen.