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Ça va, Monsieur le Commissaire?
Das alte Ehepaar Delcroix wird grausam erschlagen aufgefunden. Zuerst sieht alles nach einem Raubüberfall aus. Doch warum wurden einige wertvolle Gegenstände im Haus zurückgelassen? Philippe Lagarde soll der Sache auf den Grund gehen. Diesmal betrifft ihn der Todesfall auch persönlich, denn das Mordopfer war jahrelang ein Mentor für ihn, und sie standen sich nahe. Hat Bertrand Delcroix etwas beobachtet, wofür er sterben musste? Bei seinen Ermittlungen stößt Philippe Lagarde auf ungeahnte Abgründe – und bald gibt es eine weitere Leiche ...
Philippe Lagarde ermittelt in seinem emotionalsten Fall.
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Seitenzahl: 319
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Maria Dries wurde in Erlangen geboren und hat Sozialpädagogik und Betriebswirtschaftslehre studiert. Heute lebt sie mit ihrer Familie in der Fränkischen Schweiz. Schon seit vielen Jahren verbringt sie die Sommer in der Normandie.Im Aufbau Taschenbuch sind bisher ihre Krimis »Der Kommissar von Barfleur«, »Die schöne Tote von Barfleur«, »Der Kommissar und der Orden von Mont-Saint-Michel«, »Der Kommissar und der Mörder vom Cap de la Hague« und zuletzt »Der Kommissar und der Tote von Gonneville« erschienen.
Ça va, Monsieur le Commissaire?
Das alte Ehepaar Delcroix wird grausam erschlagen aufgefunden. Zuerst sieht alles nach einem Raubüberfall aus. Doch warum wurden einige wertvolle Gegenstände im Haus zurückgelassen? Philippe Lagarde soll der Sache auf den Grund gehen. Diesmal betrifft ihn der Todesfall auch persönlich, denn das Mordopfer war jahrelang ein Mentor für ihn, und sie standen sich nahe. Hat Bertrand Delcroix etwas beobachtet, wofür er sterben musste? Bei seinen Ermittlungen stößt Philippe Lagarde auf ungeahnte Abgründe – und bald gibt es eine weitere Leiche.
Philippe Lagarde ermittelt in seinem emotionalsten Fall
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Maria Dries
Der Kommissar und das Rätsel von Biscarrosse
Philippe Lagarde Ermittelt
Kriminalroman
Inhaltsübersicht
Über Maria Dries
Informationen zum Buch
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Das Unlösbare
Biscarrosse, Côte d’Argent
Biscarrosse-Plage – Erster Tag
Das Manoir Stella Maris – Zweiter Tag
Die Winterstadt von Arcachon – Dritter Tag
Die Brasserie Der Seestern – Vierter Tag
Das Seerosenbild von Monet – Fünfter Tag
Die Höhlen von Saint-Émilion – Sechster Tag
Schokolade aus Bayonne – Siebter Tag
Der Leuchtturm von Cap Ferret – Achter Tag
Das Sommerhaus in Mimizan-Plage – Neunter Tag
Der Sumpf von Les Landes – Zehnter Tag
Die Hütte am See – Elfter Tag
Die Silberne Auster – Zwölfter Tag
Zwei Wochen später
Nach einigen Wochen
Impressum
Für meine Freunde Rotraut und Helmut Linz aus Roth
Eine Form, ein Hauch, ein Seelenschwingen
Schied vom Äther, fiel aus lichtem Blau
In des Sumpfes Schlamm und bleiern Grau,
Wo kein Himmelslicht zu ihm kann dringen,
Und ein Engel, töricht und verirrt,
Ließ von Liebe sich ins Dunkel locken,
Wilder Albdruck macht das Herz ihm stocken,
Und er wehrt sich angstvoll und verwirrt,
Wie ein Schwimmer in der Nacht, o Grausen!
Gegen eines Wirbelstroms Gewalt,
Dessen Sang wie Sang von Narren schallt,
Der im Kreis sich dreht mit tollem Brausen;
Und ein Mensch, behext von böser Macht,
Will mit nutzlos hastigem Tasten fliehen
Einen Ort, wo Wurm und Schlangen ziehen,
Sucht umsonst die Tür in finstrer Nacht. […]
Charles Baudelaire »Die Blumen des Bösen« (»Les Fleurs du Mal«)
Der Trichter der Gironde weitet sich zum Atlantik hin, dennoch ist diese Mündung ein ziemlich ruhiges Gewässer. Wendet man sich jedoch an der Pointe de Grave nach Süden, stößt man auf einen zuweilen tosenden Ozean. Von Soulac-sur-Mer bis nach Saint-Jean-de-Luz an der baskischen Küste erstreckt sich über zweihundertfünfzig Kilometer ein schnurgerades, in der Sonne glitzerndes Sandband, dem dieser Küstenabschnitt den Namen Silberküste verdankt.
Gewaltige Wanderdünen begruben einst ganze Dörfer unter sich, so dass nur noch die Kirchturmspitze herausragte. Im achtzehnten und neunzehnten Jahrhundert wurden sie durch Bepflanzungen befestigt. Im Hinterland breitet sich Les Landes aus, einstmals ein sumpfiges Ödland, das mit würzig duftenden Kiefern bepflanzt wurde und Westeuropas größten zusammenhängenden Wald bildet. Vor der Trockenlegung diente das Feuchtgebiet als Schafweide, auf der sich die Schäfer auf Stelzen fortbewegten.
Die Austern, die im Bassin von Arcachon gezüchtet werden, gelten nicht nur in Gourmetkreisen als Delikatesse. Die Larven werden an kalkbestrichenen Ziegeln aufgefangen, vier Jahre lang in Gärten gemästet und schließlich in Klärbecken gereinigt. Beim Verzehr wird offenbar, wer die Kunst beherrscht.
Im Osten von Bordeaux begrenzen die beiden Flüsse Dordogne und Garonne die Region Entre-Deux-Mers, eine liebliche Landschaft mit Schlössern, Festungen, Kirchen und vor allem Weinbergen, die für ihren hervorragenden Weißwein bekannt ist. Dort, in der Nähe des Ortes Verdelais, fand der berühmte Maler Henri de Toulouse-Lautrec nach einem ausschweifenden Leben Zuflucht bei seiner Mutter auf Schloss Malromé. In dem Dorf befand sich auch seine Stammkneipe, in der er gerne einige Gläschen Absinth, seine grüne Fee, trank. Zwischen der Kirche und dem Kalvarienberg liegt der Friedhof, auf dem er begraben wurde.
Die ersten Badegäste in Biarritz waren Wale. Bereits im Mittelalter wurden am Golf von Biskaya die Meeresriesen von verwegenen Walfängern gejagt, getötet und am Strand zerlegt. Damals war der Ort ein vom Wind gepeitschtes Fischerdorf. Der Aufstieg vom Piratennest zum mondänen Seebad begann mit Kaiser Napoleon III., als er 1853 mit der spanischen Comtesse Eugénie dort die Flitterwochen verbrachte, sich eine prunkvolle Villa leistete und bis 1868 jedes Jahr zur Sommerfrische wiederkehrte. Natürlich schlossen sich bald der Adel, Künstler und Literaten, später auch Leinwandstars wie Frank Sinatra oder Rita Hayworth dieser Modewelle an.
Am Fuß der Pyrenäen, im Dorf Ostabat, kreuzten sich im Mittelalter drei der bedeutendsten Pilgerwege zum Jakobsgrab in Santiago de Compostela. In der Bastide, geschützt von einer Stadtmauer, sollen einst bis zu fünftausend Pilger übernachtet haben, bevor sie zur nächsten Tagesetappe aufbrachen.
Biscarrosse-Plage, ein Städtchen mit etwa neuntausend Einwohnern, liegt eingebettet zwischen drei Seen und dem Atlantik inmitten eines Kiefernwaldes. Das pulsierende sommerliche Leben spielt sich am Strand, in Bars und Restaurants, auf dem Freiluftmarkt und bei Konzerten auf der Promenade ab. Es ist ein Eldorado für Wellenreiter, Strandsegler und Mountainbiker.
Im Jahr 2003 wurde die Gemeinde von schweren Unwettern heimgesucht. Campingplätze wurden überflutet, und es kam vielerorts zu Zerstörungen und Waldbränden. In den darauffolgenden Jahren geschahen keine weiteren Katastrophen, bis eines Tages ein grausames Verbrechen den Ferienort erschütterte.
Das Manoir Stella Maris lag im Osten des Ortes direkt am Waldrand. Stolz erhob sich der Prachtbau mit dem verspielten Charme der Belle Époque inmitten eines parkähnlichen gepflegten Gartens, der von einer dichten Lorbeerhecke begrenzt war. Das einstöckige Gebäude war in einem zarten Rosé gestrichen. Drei Terrassentüren im Erdgeschoss reichten vom Boden bis zur Decke und wurden flankiert von zwei Bullaugenfenstern. Die Terrasse war von einer steinernen Balustrade begrenzt, auf deren Sockeln pausbäckige Engelsputten saßen. Davor blühten prächtige weiße Hortensienbälle, die einen süßen Duft verströmten. Im ersten Stock reihten sich drei hohe Bogenfenster mit Einfassungen aus glasierten fuchsienroten und blauen Steinen. Das Dach der Villa war flach, verfügte über kleine spitze Erker sowie kunstvoll gestaltete Kamine und wurde seitlich von einem chinesischen Türmchen gekrönt. Knorrige Douglasien, grünblaue Libanonzedern und Pinien mit dicken Zapfen überragten es. Auf den Ästen hatten sich Ringeltauben niedergelassen und stießen ihren Lockruf aus. Das Licht der untergehenden Sonne ließ die Fassade des Hauses bernsteinfarben leuchten. Vom Golf von Biskaya her wehte ein sanfter Wind, der salzige Luft mit sich brachte. Das Grollen und Brausen der heranströmenden Flut waren zu vernehmen.
Madeleine Delcroix stand in der Küche an einem robusten Holztisch und schnitt Kartoffeln für ein Gratin. In der Backröhre köchelten gefüllte, mit Trüffeln gespickte Wachteln in einer Steinpilzsauce und verströmten einen verlockenden Duft. Obwohl Madeleine eine tüchtige Haushälterin hatte, kochte sie am liebsten selbst. Die routinierten, zielgerichteten Handgriffe beruhigten sie und machten den Kopf frei. Sie hatte die Küche zusammen mit einem bekannten Architekten aus Arcachon eingerichtet und mochte die ultramarinblauen Einbauschränke, den Kochblock aus Edelstahl in der Mitte des Raumes und die passende Umrandung, an der glänzende Kochutensilien hingen. Das einzige Zugeständnis an die Vergangenheit war der alte Tisch aus Holz, um den sich schon ihre Schwiegereltern mit ihrer zahlreichen Kinderschar in der damals bescheidenen Küche versammelt hatten.
Man sah der Hausherrin ihre vierundfünfzig Jahre nicht an. Ihr herzförmiges Gesicht war von der Sonne goldbraun getönt und faltenlos. Dominiert wurde es von meerblauen Augen, die sie mit einem silbern schimmernden Lidschatten betonte. Ihre Lippen waren fein geschwungen. Die blonden schulterlangen Haare hatte sie zu einem kunstvollen Zopf geflochten, der von einem schwarzen Samtband zusammengehalten wurde. Madeleine Delcroix war schlank und muskulös. Sie segelte häufig auf dem Lac Nord, nahm an Regatten teil und hielt sich auf diese Weise fit. Den wohlgeformten Körper umspielte ein salbeigrünes Sommerkleid, das bis zu den Waden reichte und von einem breiten Gürtel tailliert wurde. Zum Kochen hatte sie eine Schürze darübergebunden.
Madeleine legte die Kartoffelscheiben in eine gebutterte Form, fügte Sahne hinzu, streute geriebenen Käse darüber und schob sie in den Backofen. Mit einem kurzen Blick kontrollierte sie die eingestellte Garzeit. Perfekt. Bevor sie sich der Zubereitung des Linsensalates widmete, schenkte sie sich ein Glas kühlen Sauternes ein. Sie erfreute sich an der goldgelben Farbe und genoss das Aroma mit einem Anklang von Aprikose und Honig, bevor sie den ersten Schluck probierte. Sie schaltete das Radio ein und suchte einen Sender mit klassischer Musik.
Derweil saß ihr Mann in seinem Büro im ersten Stock am Schreibtisch aus Kirschbaumholz und blätterte konzentriert in einer Mappe. Über dem Kamin, auf den Seidentapeten, hing ein Ölgemälde in einem goldenen Rahmen. Es zeigte Saint-Émilion mit dem Turm der Benediktinerkirche, dem Donjon du Roi und den Umrissen des Franziskanerklosters über einem Meer von Weinreben. Bertrand Delcroix war sechsundsiebzig Jahre alt und hatte, seit er in den Ruhestand gegangen war, ordentlich an Gewicht zugelegt. Das wellige Silberhaar war über der breiten Stirn zurückgekämmt, das Gesicht mit den wachsamen grauen Augen wirkte offen und sympathisch. Bertrand trug eine helle Leinenhose, ein kurzärmliges weißes Hemd sowie eine bordeauxrote Fliege. Er legte großen Wert darauf, auch zu Hause angemessen gekleidet zu sein. An der linken Hand funkelte sein mit einem Diamanten besetzter Ehering, den er niemals ablegte. Er liebte seine Frau.
Als durch das geöffnete Fenster Hundegebell ertönte, blickte er auf und schüttelte lächelnd den Kopf. Seine beiden rabenschwarzen Doggen, Princesse und Bonaparte, reagierten jedes Mal auf die kecke Nachbarskatze, ließen sich von ihr an der Nase herumführen und ablenken. Dabei war es doch ihre Aufgabe, das Grundstück zu bewachen. Entschlossen klappte er die Mappe zu und erhob sich. Er hatte lange genug gearbeitet. Jetzt wollte er für Madeleine und sich einen erfrischenden Drink mixen, den sie vor dem Abendessen gemeinsam auf der Terrasse trinken würden. Seine Frau war eine hervorragende Köchin.
Kurz trat er an das Fenster und blickte auf den Garten, über den sich die einsetzende Dämmerung senkte. Es roch würzig nach Piniennadeln. In der Ferne grollte Donner, ein Sturm zog auf. Am Golf von Biskaya schlug das Wetter häufig um. Von den Hunden war nichts mehr zu hören. Er schloss das Fenster, knipste die Schreibtischlampe aus und machte sich auf den Weg nach unten.
Durch den Kiefernwald, der sich hinter dem Manoir bis nach Biscarrosse-Bourg erstreckte, näherte sich eine Person. Sie bewegte sich leise und zielstrebig und beobachtete aufmerksam die Umgebung. Niemand war zu sehen. Bald würde es dunkel werden, und die meisten Leute waren mit den Vorbereitungen für das Abendessen beschäftigt. Als in der Nähe ein Zweig knackte, erstarrte sie und schlüpfte dann schnell hinter ein Gebüsch. Dort verharrte sie einige Minuten und lauschte. Nichts war mehr zu hören. Wahrscheinlich war es nur ein Tier gewesen, das gestört worden war. Die Person lief weiter und erreichte schließlich die hintere Gartenpforte. Sie war ungefähr zwei Meter hoch und natürlich verschlossen. Damit hatte die Person gerechnet und war vorbereitet. Doch zunächst musste sie sich um die Hunde kümmern. Sie hatten inzwischen Witterung aufgenommen und näherten sich bellend dem Tor. Dort verharrten sie und ließen ein tiefes grollendes Knurren hören, das sehr bedrohlich klang. Die Person zog eine Plastiktüte aus der Hosentasche und entnahm ihr zwei blutige Rindersteaks, die sie präpariert hatte. Geschickt warf sie das Fleisch über die Pforte in den Garten. Die Doggen waren sehr gut abgerichtet und fraßen für gewöhnlich nichts von Fremden. Dennoch schnupperten sie zögerlich an den Leckerbissen und lauschten dabei verstört, mit gespitzten Ohren, der Stimme, die leise hinter dem Zaun erklang. Schließlich konnte Bonaparte nicht mehr widerstehen und verschlang gierig ein Steak. Princesse tat es ihm nach, bevor er sich auch noch über das zweite Stück Fleisch hermachte. Die Person wartete geduldig, während sie ihre Umgebung nicht aus den Augen ließ. Das Knurren verstummte, verwandelte sich in jämmerliches Winseln, verzweifeltes Röcheln, bis endlich Stille eintrat. Die Person griff nach dem Werkzeug, das sie bei sich trug, und knackte binnen Sekunden das Schloss. Vorsichtig öffnete sie die Tür und spähte in den Garten. Die Doggen lagen auf dem Rasen, die Beine weit von sich gestreckt, und rührten sich nicht mehr. Die glasigen Augen waren erstarrt, aus den Mäulern lief blutiger Schaum. Im Schutz der Bäume durchquerte der Eindringling den Garten und bewegte sich zielstrebig auf die offen stehenden Terrassentüren zu. Er gelangte in den Salon, der im Dämmerschein lag, schlich auf die geöffnete Tür zu und trat, zu allem entschlossen, in die erleuchtete Eingangshalle. Dort traf er auf Bertrand Delcroix, der gerade die Treppe heruntergekommen war.
Als er die schwarzgekleidete Gestalt mit der Sturmhaube wahrnahm, blieb er wie angewurzelt stehen und starrte sie erschrocken an. Sie hatte einen metallisch glänzenden, schwertähnlichen Gegenstand in den Händen und erhob ihn. Mit eisblauen Augen fixierte sie ihr Gegenüber.
Die Schrecksekunden kosteten Bertrand das Leben. Als er sich auf den Einbrecher stürzen wollte, schwang dieser, den Schaft fest umklammernd, die martialische Waffe durch die Luft und spaltete Bertrand mit der scharfen Klinge den Schädel. Lautlos, mit ungläubigem Blick, sackte der Mann zusammen und fiel auf den Teppich, der sich rasch mit dem sprudelnden Blut vollsog.
Am nächsten Morgen hatte sich der Sturm verzogen, und die Sonne erhob sich über dem Kiefernforst. Zu dieser frühen Stunde bestieg Lidia-Maria Che Sangui, die Haushälterin von Madeleine und Bertrand Delcroix, ihr Fahrrad und machte sich auf den Weg zum Manoir Stella Maris. Die kugelrunde Frau mit der milchkaffeebraunen Haut und den glänzenden schwarzen Haaren, die zu einem strengen Knoten gesteckt waren, hatte ein heiteres Gemüt und stammte aus Guatemala. Wie immer trug sie einen langen Rock, dessen Muster aus bunten geometrischen Formen bestand, und eine weiße, mit Lochstickerei verzierte Bluse. Ihre Kleidung nähte sie selbst. Sie war verheiratet und hatte drei Kinder im Grundschulalter, das temperamentvolle Mädchen Isabella und zwei eher stille Jungs, Miguel Junior und Fernandito, das Nesthäkchen. Die Familie hatte lange unter schwierigen Verhältnissen in Frankreich gelebt. Deshalb waren Lidia-Maria und ihr Mann Miguel sehr glücklich gewesen, als sie vor vier Jahren eine Arbeitserlaubnis bekommen hatten. Miguel bot den wohlhabenden Villenbesitzern seine Dienste als Gärtner und Hausmeister an, Lidia-Maria putzte die herrschaftlichen Häuser und kümmerte sich, wenn es gewünscht war, um den Haushalt und die Wäsche.
Sie fuhr von ihrer Wohnung, die im Süden von Biscarrosse-Plage in der Nähe des großen Strandparkplatzes lag, auf einer schmalen Straße zu dem zentralen Platz, wo sich die Gendarmerie, das Postamt und das Tourismusbüro befanden. Auf der anderen Seite gab es einen Salon de Thé, in dem auch eine Bäckerei untergebracht war. Als sie ihr Fahrrad abstellte, sog sie den Duft frischer Baguettes ein.
Sie trat ein, grüßte freundlich und stellte sich in die morgendliche Schlange. Als sie an der Reihe war, kaufte sie ein Baguette und vier Croissants für das Frühstück des Ehepaares Delcroix sowie zwei Chocolatines für Princesse und Bonaparte. Die Doggen liebten das süße Schokoladengebäck und warteten jeden Morgen darauf. Monsieur wusste nichts von diesem täglichen Ritual und hätte es sicher missbilligt.
Danach fuhr sie weiter zum Bar-Tabac-Laden, um die Tageszeitung Sud Ouest zu kaufen. Vor der Bar saßen einige Handwerker um einen Bistrotisch, tranken Mokka und rauchten. Freundlich tauschten sie ein Bonjour aus. Die wenigen Hundert Meter zum Manoir legte sie dank des Westwindes mühelos in kurzer Zeit zurück.
Nachdem sie ihr Fahrrad abgestellt und den Korb vom Gepäckträger genommen hatte, wunderte sie sich darüber, dass die Hunde sich nicht blicken ließen. Über dem Garten lag eine Stille, die ihr sonderbar vorkam. Sie stieß einen Pfiff aus, um die Tiere auf sich aufmerksam zu machen, und scheuchte dadurch einen Schwarm Lachmöwen auf. Die Vögel erhoben sich unter schrillem Protestgeschrei vom Rasen in die Lüfte und zogen einen Kreis, um sich dann wieder zwischen den Bäumen niederzulassen.
Lidia-Maria beschlich ein ungutes Gefühl. So viele Vögel auf einmal hatte sie hier noch nie gesehen. Während sie die Stufen zum Anbau hinaufstieg, wo sich das Hauptportal befand, bekreuzigte sie sich. Dabei fiel ihr Blick auf die Terrasse, und sie wunderte sich, dass die drei Türen sperrangelweit offen standen. Vielleicht war Madame früh aufgestanden und lüftete, redete sie sich ein. Normalerweise war das Lidia-Marias Aufgabe.
Als sie den Korridor betrat, der zur Eingangshalle führte, blieb sie kurz stehen und horchte. Im Haus war es ganz still. Ob das Ehepaar noch schlief? Je näher sie dem Entree kam, desto stärker wurde der Geruch. Er war sehr unangenehm, metallisch und süßlich. Sie konnte ihn nicht zuordnen. Durch eine Glaskuppel fielen Lichtstrahlen quer durch die Halle auf einen Perserteppich und brachten seine Farben zum Leuchten. Darauf lag, seltsam verdreht, Monsieur Delcroix. Sein Gesicht und das Silberhaar waren voller verkrustetem Blut, über die grauen Augen hatte sich ein Schleier gebreitet. Das glänzende Rot auf dem Teppich war ebenfalls Blut.
Lidia-Maria strauchelte und stieß einen Schrei aus. Dann presste sie die Hände auf den Mund und sah mit aufgerissenen Augen auf die Leiche. Was war geschehen? War er die Treppe heruntergestürzt? Was sollte sie jetzt tun? Wo war Madame? Lida-Maria musste ihr beistehen. Benommen vor Entsetzen stieg sie die Treppe hinauf und folgte dem Flur bis zur Schlafzimmertür ihrer Chefin. Zaudernd klopfte sie an, dann stärker, und als sich nichts tat, öffnete sie die Tür und spähte hinein. Der Raum war leer. Das französische Bett war gemacht, die Tagesdecke ordentlich darübergebreitet. Das Badezimmer war verlassen, ebenso der kleine Erkerbalkon.
Lidia-Maria lief zurück zur Treppe und hastete die Stufen hinab. Am Fuß angelangt, bemerkte sie, dass aus der angelehnten Küchentür ein Lichtschein drang. Mit pochendem Herzen ging sie darauf zu und drückte sie mit der flachen Hand langsam auf.
Als sie Madeleine Delcroix auf den Küchenfliesen liegen sah, rang sie nach Luft. Alles war voll Blut, die Haare, das Kleid, der Boden. Ein zerbrochenes Weinglas lag in der dunkelroten Lache. In Madeleines Augen war kein Leben mehr. Lidia-Maria wurde schwindlig, sie taumelte und hielt sich am Türrahmen fest. Schließlich begriff sie, dass sie die Polizei rufen musste.
Nur fünf Beamte arbeiteten bei der Gendarmerie von Biscarrosse-Plage. Als das Telefon klingelte, nahm die Polizistin Stéphanie Marat den Anruf entgegen. Sie zog die Stirn kraus und machte sich Notizen. Als sie das Gespräch beendet hatte, informierte sie ihren Kollegen Nicolas Dupré über den eingegangenen Notruf. »Zwei Leichen in der Villa Stella Maris. Wir fahren sofort hin. Ich informiere die Kripo in Arcachon und den Notarzt.«
Der blau-weiße Dienstwagen stand im Schatten eines Olivenbaumes. Die Gendarmin übernahm das Steuer und startete den Motor. Im Losfahren fragte sie ihren Kollegen: »Weißt du, wo die Avenue du Clair de Lune, die Mondscheingasse, liegt?«
»Ja, ich lotse dich, es ist nicht weit. Dafür brauchen wir kein Navi.«
Wenige Minuten später erreichten sie das Manoir. Lidia-Maria Che Sangui saß auf einer Stufe der Außentreppe und wartete auf sie. Gerade als sie ausgestiegen waren, näherte sich schon der Notarztwagen mit Blaulicht und Martinshorn. In den Sommermonaten war immer ein Notarzt am Wachposten der Wasserwacht neben dem Hubschrauberlandeplatz stationiert, um bei Badeunfällen eine schnelle medizinische Versorgung zu gewährleisten. Der Fahrer preschte mit überhöhter Geschwindigkeit um die Kurve und kam in einer Staubwolke direkt vor der Eingangspforte zum Stehen. Eine junge Notärztin riss die Tür auf und sprang vom Beifahrersitz, in der Hand hatte sie ihren Arztkoffer.
»Wo sind die Personen?«, rief sie.
»Im Haus«, antwortete Lidia-Maria. »Monsieur liegt im Entree, Madame in der Küche. Die Haustür ist offen.«
Die Ärztin und der Rettungssanitäter rannten die Treppe hinauf und verschwanden im Haus. Die Gendarmen baten Madame Che Sangui, auf sie zu warten, und folgten ihnen. Als sie die Eingangshalle betraten, kniete die Ärztin neben dem Mann.
»Er ist tot«, stellte sie mit tonloser Stimme fest. »Und so wie es aussieht, ist er nicht durch einen Treppensturz ums Leben gekommen.« Dann ging sie in die Küche, deren Tür weit offen stand. Es war nicht notwendig, die Frau, die auf den Fliesen zusammengebrochen war, zu untersuchen. Offensichtlich war auch sie nicht mehr am Leben.
»Die Kripo Arcachon ist unterwegs«, informierte Dupré die Ärztin.
»In Ordnung, dann fahren wir wieder. Wir können hier leider nichts mehr tun. Die Frau und der Mann sind schon seit Stunden tot. Alles Weitere ist Sache der Gerichtsmedizin und der Spurensicherung.«
Die Gendarmen begleiteten sie und ihren Kollegen nach draußen und schlossen die Eingangstür. Danach wandten sie sich an die Frau auf der Treppe, die immer noch zitterte und verweinte Augen hatte. »Ich nehme an, Sie haben den Notruf gewählt?«, fragte Dupré. »Sie sind doch Madame Che Sangui?«
Die Frau nickte. »Ja.«
Die Notärztin setzte sich neben sie und studierte besorgt ihr bleiches, schweißnasses Gesicht. »Sie haben einen Schock erlitten. Ich kann Ihnen eine Beruhigungsspritze geben, wenn Sie möchten.«
Madame Che Sangui schüttelte energisch den Kopf. Von Spritzen hielt sie gar nichts. »Danke schön«, sagte sie, »aber es geht schon.«
»In Ordnung, wie Sie wollen. Aber wenn Sie zu Hause sind, machen Sie sich einen schönen heißen Tee und legen sich ein wenig hin.« Die Notärztin legte kurz ihre Hand auf Lidia-Marias Arm, dann ging sie mit dem Rettungssanitäter zum Wagen, und sie fuhren weg.
Dupré wandte sich erneut an die Frau. »Sie haben also den Notruf gewählt. Was haben Sie hier gemacht?«
Lidia-Maria atmete tief ein und aus, um sich besser konzentrieren zu können. »Ich bin die Haushälterin und komme zwei-, dreimal in der Woche am Vormittag, um zu putzen und die Wäsche zu machen. Ich habe das Haus, wie immer, um Punkt halb acht durch den Haupteingang betreten, dann habe ich sie gefunden. Zuerst Monsieur im Entree, dann Madame in der Küche.« Sie konnte die Tränen nicht mehr zurückhalten. »Ich verstehe es nicht. Überall ist Blut, es ist so entsetzlich. Was ist nur geschehen?«
»Beruhigen Sie sich bitte, Madame. Wir nehmen Ihre Personalien auf, dann können Sie nach Hause gehen. Sollen wir einen Kollegen rufen, der Sie heimbringt? Wir müssen hier bleiben, den Tatort sichern und auf die Kriminalpolizei warten. Der zuständige Kommissar wird später mit Ihnen sprechen.«
Die Frau schüttelte den Kopf. »Ich rufe meine Nachbarin an, sie holt mich bestimmt ab.«
Zehn Minuten später stieg sie in einen klapprigen Citroën. Kurz darauf traf Kommissar Mathieu Renaud ein. Er hatte den Rechtsmediziner Claude Fouché, einen stattlichen Hünen um die fünfzig, in seinem Dienstwagen mitgenommen. Die Techniker der Spurensicherung parkten ihren Bus direkt dahinter. Renaud begrüßte die Gendarmen und bedankte sich für die kollegiale Unterstützung. Sie kannten sich und hatten schon einige Male zusammengearbeitet. Renaud sah eher aus wie der Juniormanager eines Softwareunternehmens und nicht wie jemand, der ständig gegen das Verbrechen kämpfte. Er war Mitte dreißig, schlank, groß und trug eine randlose Brille. Sein Anzug war elegant, die Haare modisch geschnitten.
Gemeinsam gingen sie in das Haus. Die Techniker folgten ihnen. Als Fouché den Leichnam in der Diele sah, hielt er einen Moment inne und nahm das Bild in sich auf. »So viel Blut«, murmelte er. Dann zog er sich Einmalhandschuhe über und begann den Mann zu untersuchen. »Sein Schädel ist gespalten«, stellte er fest. »Er muss sofort tot gewesen sein. Zeichen eines Kampfes oder von Gegenwehr sind auf den ersten Blick keine auszumachen.«
»Eine Axt?«, fragte Renaud.
»Soweit ich das im Moment beurteilen kann, eher nein. Es war eine schmale, äußerst scharfe, lange Klinge, keine keilförmige Waffe. Der Schlag wurde mit großer Wucht von vorne ausgeführt. Die Schädeldecke ist durchgängig durchtrennt worden. Meine Arbeit hier ist für den Moment beendet, die Spurensicherung kann anfangen.« Er schwieg und dachte nach. »Dann sehe ich mir jetzt die Leiche der Frau an.«
Keuchend erhob er sich und betrat die Küche mit versteinerter Miene. Es dauerte nicht lange, bis er sich äußerte. »So wie es scheint, wurde dieselbe Waffe benutzt. Auch hier ist die Schädeldecke komplett durchtrennt. Es scheint die gleiche Vorgehensweise wie bei dem Mann gewesen zu sein. Weitere Verletzungen kann ich bei beiden nicht feststellen. Sie wurden getötet, sind zusammengebrochen und zu Boden gestürzt. Ich denke, sie wurden beide überrascht, sonst hätten sie normalerweise Verletzungen an den Händen oder den Armen. Das wäre eine normale Abwehrreaktion.«
»Können Sie schon etwas über den Todeszeitpunkt sagen?«
»Unter Berücksichtigung der Totenstarre und der sichtbaren Leichenflecken würde ich sagen, dass sie ungefähr seit zwölf Stunden tot sind, plus minus eine Stunde.«
»Also wurden sie gestern Abend gegen zwanzig Uhr getötet.«
»So könnte es gewesen sein, aber Genaueres nach der Autopsie.«
Renaud sah sich in der Küche um und bemerkte das Essen in der Backröhre. »Sie wollten wohl zu Abend essen, als der Täter in das Haus eindrang. Der Herd hat eine Zeitschaltuhr, ansonsten wäre womöglich ein Feuer ausgebrochen.«
Der Rechtsmediziner stimmte ihm zu. »Ein Doppelmord … Kennt man die Namen der Opfer, wer wohnt denn hier?«
Stéphanie Marat konnte weiterhelfen. »Bei den Opfern handelt es sich um Madeleine und Bertrand Delcroix, die Eigentümer der Villa. Im Ort kennt sie fast jeder.«
Zwei Polizisten der Spurensicherung kamen hereingestürzt. »Kommen Sie bitte mit, wir haben im Garten etwas entdeckt.«
Der Anblick war grauenvoll. Zwei Doggen lagen tot auf dem Rasen. Die beiden Kadaver hatten die Möwen angelockt, und die Augen der Hunde waren herausgepickt, der Rumpf von Wunden übersät, die die gierig hackenden Schnäbel hinterlassen hatten. Schwärme von schillernd grünen Schmeißfliegen hatten sich auf den Körperöffnungen niedergelassen und ließen sich nicht stören. Fouché packte den dürren Ast einer Pinie, der auf der Erde lag, und scheuchte die Fliegen auf. Brummend stoben sie davon. »Ich hasse diese Viecher«, schnaubte er.
»Wir können hier nichts tun«, sagte Renaud. »Außer sie gut abzudecken, bis sie vom Veterinäramt abgeholt und untersucht werden.« Er wandte sich an die Kollegen der Spurensicherung. »Macht bitte schnell, die Schmeißfliegen sind ja ekelhaft.«
Der Rechtmediziner stimmte ihm zu. »Ich werde das veranlassen. Sehen Sie den blutigen Schaum vor den Mäulern? Das deutet auf eine Vergiftung hin.«
»Ja.«
»Die Leichen des Ehepaars Delcroix lasse ich in das Institut bringen. Nach der Autopsie kann ich sicher mehr sagen.«
»In Ordnung. Während die Techniker Fotos machen und Spuren sichern, schaue ich mir das Manoir genauer an.«
Renaud ging zurück ins Haus und bat die Gendarmen, ihn zu begleiten. Er brauchte Zeugen bei seinem Rundgang. Im Erdgeschoss gab es neben der Küche einen Vorratsraum, in dem sich außer haltbaren Lebensmitteln und Mineralwasserflaschen auch Dosen mit Hundefutter stapelten. Auf der anderen Seite des Korridors erstreckte sich der Salon mit dem Esszimmer über die ganze Länge der Villa. Er war mit einem Mix aus modernen Möbeln und erlesenen Antiquitäten in hellen Farben geschmackvoll eingerichtet. Alles schien an seinem Platz zu sein, offenbar war nichts verrückt worden. Marat ließ den Blick über die eierschalenfarbenen Wände gleiten und stutzte.
»Da fehlt ein Bild.« Sie zeigte auf eine Stelle über der Ledercouch. Auf der Wand zeichnete sich ein helleres Rechteck ab, wo einst ein Bild gehangen haben musste. »Ob es der Täter mitgenommen hat?«
»Wir werden sehen«, antwortete der Kommissar vage und zeigte auf die offen stehenden Terrassentüren. »Gestern Abend war es ziemlich warm, wahrscheinlich waren die Glastüren geöffnet, um eine frische Brise ins Haus zu lassen. Der Täter könnte hier ganz leicht hereingekommen sein.« Er wies den Polizeifotografen auf die helle Fläche an der Wand hin, dann stiegen er und die Gendarmen über die Marmortreppe in den ersten Stock.
Im Raum auf der rechten Seite befand sich ein Schlafzimmer, an das ein geräumiges Bad anschloss. Das Bett war unberührt. Am Schrank hing auf einem Bügel ein Kleid. Auf der Kommode stand eine aufgeklappte Schmuckschatulle mit Ringen, Halsketten und Armbändern, die in mit Samt ausgelegten Fächern einsortiert waren. Edelsteine glitzerten rubinrot, saphirblau und smaragdgrün, Diamanten funkelten. Offenbar handelte es sich um das Schlafzimmer der Hausherrin. Als Nächstes betraten sie ein riesiges aufgeräumtes Badezimmer mit Whirlpool und Eckbadewanne, die von einem türkisblauen Mosaikhimmel überspannt wurde.
Im Schlafzimmer des Hausherrn dagegen herrschte ein heilloses Durcheinander. Schranktüren waren aufgerissen und Kleidungsstücke auf den Boden geworfen worden. Durchwühlte Schubläden lagen kreuz und quer auf dem Stäbchenparkett. Die Matratze war aus dem Bettkasten gezogen und aufgeschlitzt worden. Die Fächer eines mit Seide ausgelegten Lederetuis für die Aufbewahrung von Uhren waren leer. Über dem Bett entdeckten sie einen weiteren rechteckigen Umriss. Auch hier schien ein Bild zu fehlen.
Jetzt wandten sie sich den verbliebenen Zimmern auf der anderen Seite der Diele zu. Sie betraten nacheinander zwei Gästezimmer, in denen sie nichts Ungewöhnliches entdecken konnten. Derzeit wohnte da offensichtlich niemand. Schließlich betraten sie das Büro, das sich ebenfalls in einem chaotischen Zustand befand. Unzählige Dokumente, aus Schreibtischschubladen und Mappen gerissen, waren auf dem Teppich verstreut. Bücher waren aus dem Regal gezogen, offensichtlich durchsucht und fallengelassen worden. Der Laptop hingegen stand auf der Schreibtischoberfläche und machte einen unversehrten Eindruck. Wieder fehlte an der Wand ein Bild, der Abdruck zeichnete sich ganz deutlich über dem Kamin ab.
»Es sieht so aus, als hätte sich jemand für die drei Bilder interessiert und sie gestohlen«, merkte Renaud an. »Wir müssen herausfinden, um welche Werke es sich handelt. Das Gemälde in der Diele mit den Seerosen wurde nicht mitgenommen.«
»Und es sieht so aus, als hätte jemand etwas gesucht«, fügte Dupré hinzu. »Ich frage mich, ob derjenige es gefunden hat?«
Stéphanie Marat betrachtete eingehend einen prächtigen Wandteppich, der eine Jagdszene zeigte. Er war gerahmt und hing über einem Klavierhocker, der als Bar diente. Ihr fiel eine minimale Unebenheit auf. Entschlossen trat sie auf das Kunstwerk zu und klopfte mit der Faust die Wand dahinter ab. Zunächst erzeugte sie dumpfe Geräusche, die jedoch plötzlich metallisch klangen. Ihre aufmerksamen Augen erspähten auf der linken Seite des Teppichs, versteckt hinter der vergoldeten Einfassung, winzige Scharniere. Sie klappte den Rahmen auf wie die Tür eines Einbauschrankes. Dahinter befand sich ein Safe.
»Gute Arbeit!«, lobte Renaud sie. »Der Einbrecher hat den Safe nicht gefunden.«
»Oder er konnte ihn nicht öffnen«, erwiderte die Polizistin. »Es ist ein neueres hochwertiges Modell, dafür braucht man Spezialwerkzeug oder Sprengstoff.«
»Da haben Sie recht. Wir werden ihn öffnen lassen. Hoffentlich hilft uns der Inhalt weiter.«
Über eine schmale Wendeltreppe gelangten sie auf den Dachboden, der bis auf einige ausrangierte Möbel und Holzkisten leer war. In den Kisten befanden sich abgelegte Kleidungsstücke, verstaubte Bücher und Puppen mit ausgeblichenen Kleidern. In einer dunklen Ecke entdeckten sie ein mit Spinnweben überzogenes Schaukelpferd. Es gab keinen Hinweis oder eine Spur, dass hier jemand etwas gesucht oder entwendet hatte.
Im Kellergeschoss gab es einen temperierten Weinkeller, der das Herz von Weinliebhabern höher schlagen ließ. Unter dem Gewölbe reihten sich auf Holzregalen Weine unterschiedlicher Lagen und Jahrgänge, von der höchsten Klassifizierung Premier Grand Cru classic der berühmten Châteaus bis zu Grand Cru kleiner feiner Weingüter. Daneben lagerten Sauternes aller Kategorien, Armagnac und natürlich Champagner.
Durch eine Kellertür und über eine steile Steintreppe hinauf gelangten sie hinter das Haus. Sie schlossen ihren Rundgang mit einem Blick in das Blockhaus ab, das im Garten an die Hecke grenzte. Ein Abteil diente als Aufbewahrungsort für Gartengeräte, ein größeres Zimmer als Partyraum mit Theke und rustikalen Sitzgelegenheiten. Unter dem Vordach erhob sich ein gemauerter Grill.
Als sie über einen gepflasterten Weg zur Eingangspforte zurückliefen, stellten sie fest, dass die Doggen bereits abtransportiert worden waren. Vor dem Haus stand ein Leichenwagen, in den gerade zwei Metallsärge eingeladen wurden. Fouché stand dabei und rauchte mit undurchsichtiger Miene ein Zigarillo. Als der Fahrer die Doppeltür mit einem Knall schloss, fuhr er unmerklich zusammen.
Auf der Straße hatten sich in der Zwischenzeit einige neugierige Nachbarn versammelt. Der aufgereihte Fuhrpark und die Aktivitäten in der sonst ruhigen Straße hatten ihre Aufmerksamkeit erregt. Ein älterer Herr, der eine Bulldogge an der Leine führte, schwang sich zum Wortführer auf.
»Was ist denn passiert?«, fragte er. »Wer ist in den Särgen? Wir machen uns große Sorgen. Bitte, klären Sie uns doch auf.«
Die Frau neben ihm nickte und konnte den Blick nicht von dem schwarzen Kombi abwenden, der langsam davonrollte. Renaud trat zu der kleinen Ansammlung, grüßte freundlich und stellte sich vor. Es gab nichts zu beschönigen. Morgen würden alle Zeitungen von den Verbrechen berichten. Sie würden die Sensationsmeldung des Tages werden, groß aufgemacht auf dem Titelblatt.
»Es tut mir sehr leid, Mesdames et Messieurs. Madeleine und Bertrand Delcroix sind tot. So wie es aussieht, sind sie einer Gewalttat zum Opfer gefallen. Mehr kann ich Ihnen im Moment nicht sagen. Hat jemand von Ihnen etwas Verdächtiges bemerkt? Sagen wir in den letzten vierundzwanzig Stunden oder auch vorher?« Niemand sagte etwas. »Dann gehen Sie jetzt bitte nach Hause.« Er verteilte einige Visitenkarten. »Wenn Ihnen etwas einfällt, sollte es Ihnen auch noch so unwichtig erscheinen, zögern Sie nicht, mich jederzeit anzurufen. Vielen Dank.«
Mit betroffenen Gesichtern, aufgeregt diskutierend und gestikulierend, folgten die Nachbarn seiner Aufforderung. Fouché warf sein Zigarillo auf die Straße und drückte es mit der Schuhspitze aus, schließlich wandte er sich an den Kommissar. »Wissen Sie, wer Bertrand Delcroix war?«
»Nein, keine Ahnung.«
»Das habe ich mir gedacht. Sie sind noch zu jung. Er war, bevor er in Pension ging, der große Chef der GIGN, einer elitären Eingreiftruppe der nationalen Gendarmerie. Diese Elitepolizisten jagen Attentäter, sind für Geiselnahmen und Entführungen zuständig und werden speziell für harte Zugriffe ausgebildet. Gewalttätige Verbrecher werden notfalls mit Gegengewalt ausgeschaltet. Er war ein geachteter, aber auch gefürchteter Mann mit großem Einfluss. Wenn die Medien von dem Verbrechen erfahren, bricht die Hölle los, darauf können Sie sich verlassen.«
Renaud schwieg. Diese Information musste er erst verdauen. Fouché klopfte ihm aufmunternd auf die Schulter. »Sie sind ein fähiger junger Mann, und Sie werden den Fall lösen. Sie dürfen sich nur nicht unter Druck setzen lassen.« Er blickte auf seine Armbanduhr. »Mittagessenszeit, mein Magen knurrt. Gehen wir doch zusammen essen, bevor wir zurückfahren.«
Der Kommissar hatte zum Frühstück nur ein Croissant gegessen und einen Milchkaffee getrunken. »Einverstanden.«
Die Gendarmen wollten sich gerne anschließen. Wenn die Spurensicherung ihre Arbeit beendet hatte, würden sie die Türen verschließen und Siegel an allen Zugängen anbringen. Ein Wagen der Gendarmerie sollte zur Sicherheit Patrouille fahren.
Dupré schlug ein Restaurant in der Fußgängerzone vor, das für seine Meeresfrüchteplatten und Fischgerichte bekannt war. Dort wurden natürlich auch die berühmten Austern von Arcachon serviert.
Die Winterstadt von Arcachon war ab der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts auf einem landeinwärts gelegenen Dünenkamm erbaut worden. Zu dieser Zeit hatte es noch keinen Badebetrieb gegeben. Die würzige Kiefernluft galt als heilsam, und die Prominenz, wie Sartre oder Debussy, war begeistert von der Schönheit des Bassin d’Arcachon.
Obwohl es noch früh am Morgen war, lagen die Temperaturen bereits bei vierundzwanzig Grad im Schatten. Die Markthalle hatte bereits geöffnet, und man traf sich, um bei einem Mokka ein Schwätzchen zu halten oder einen Blick in die Zeitung zu werfen. Vor dem Tourismusbüro startete die erste, grellrot lackierte Bimmelbahn, die mit einigen Touristen an Bord zu einer Besichtigung der Winterstadt aufbrach. Schräg gegenüber, untergebracht in einem schlichten weißen Fachwerkhaus, befand sich das Polizeigebäude.
Hauptkommissar Victor Montparnasse, der Chef der Kriminalpolizei von Arcachon, saß in seinem Büro und starrte düster auf die Schlagzeilen der Tageszeitungen, die er auf seinem Schreibtisch ausgebreitet hatte. Er war zweiundsechzig Jahre alt, mittelgroß, mit schmalen Schultern und einem Bauchansatz. Die kurzgeschnittenen weißen Haare betonten seine hohe Stirn. Im Dienst trug er immer dunkle Stoffhosen und ein dezent farbiges Hemd.
Er nahm seine Brille ab, rieb sich seufzend die Nasenwurzel und trank einen Schluck Kaffee. Schließlich zündete er sich eine Zigarette an und schüttelte den Kopf. Sein Arzt hatte ihm dringend nahegelegt, mit Rücksicht auf sein Herz mit dem Rauchen aufzuhören, doch das war leichter gesagt als getan. Nach vielen Dienstjahren bei der Polizei und einer Karriere, die sich sehen lassen konnte, hatte er mittlerweile das Gefühl, dass er den Herausforderungen seines Jobs nicht mehr gewachsen war. Er war müde und ausgelaugt. Doch es gab einen Lichtstreif am Horizont. In zwei Monaten würde er in Pension gehen. Seine Frau Eveline und er freuten sich schon sehr darauf. Sie planten, für einige Wochen ein kleines Ferienhaus im Finistère zu mieten und sich bei langen Strandspaziergängen und beim Angeln zu erholen. Außerdem hatte er die Idee, ein Buch über seine spektakulärsten Kriminalfälle zu schreiben, und könnte dort in aller Ruhe an einem Konzept feilen.
Und jetzt das! Ein Doppelmord in Biscarrosse, und nicht nur das – Bertrand Delcroix und seine Frau waren tot. Die Medien überschlugen sich und versuchten, sich gegenseitig mit den spektakulärsten, blutrünstigsten Meldungen zu übertreffen. Die schlimmste Schlagzeile prangte in fetten roten Lettern auf der Titelseite von Sud Ouest: »Schwertkiller metzelt Glamourpaar in eigener Villa nieder!« Woher der Autor wusste, dass es sich um eine schwertähnliche Waffe handelte, war Montparnasse schleierhaft. Irgendjemand hatte wieder nicht den Mund halten können. Er massierte sich die Schläfen, Kopfschmerzen kündigten sich an.
Gestern Abend hatte er bei der kurzfristig angesetzten ersten Pressekonferenz keinen guten Eindruck gemacht. Doch was hätte er auch sagen sollen? Die Ermittlungen liefen doch gerade erst an. Dennoch hatten ihn die Journalisten wie tollwütige Hyänen bedrängt. Er hatte versichert, dass die Kripo Arcachon alles in ihrer Macht Stehende tun werde, um den Fall zügig aufzuklären. Das hatte der sensationsgierigen Meute nicht gereicht. Ein junger arroganter Typ hatte sogar daran gezweifelt, dass die Abteilung von Montparnasse in der Lage sei, den Täter zu finden. Man vermutete politische Hintergründe, ein Komplott oder Rache von Schwerstkriminellen, die Delcroix mit seiner Mannschaft für viele Jahre hinter Gitter gebracht hatte. Nach einer halben Stunde hatte er die Pressekonferenz schließlich kurzerhand beendet, es hatte nicht mehr zu sagen gegeben.
Er schenkte sich Kaffee nach, steckte sich eine weitere Zigarette an und warf einen Blick auf seine Armbanduhr. In fünf Minuten, um Punkt neun Uhr, hatte er eine Besprechung mit Renaud, Fouché und dem Leiter der Spurensicherung, Jacques Turquin, angesetzt. Er rief in der Kantine an und bat um belegte Baguettes, Wasser und noch mehr Kaffee. Während er auf das Eintreffen seiner Kollegen wartete, dachte er besorgt an den gewaltsamen Tod des Austernzüchters von Andernos-les-Bains, der auch noch aufgeklärt werden musste. Bisher tappten sie völlig im Dunkeln.