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Einige Monate nach dem Unfalltod seiner Frau wagt Moritz Brinker den Neustart: Der Kommissar wechselt von Hameln nach Wuppertal. Doch statt eines ruhigen Jobs im Innendienst wartet harte Ermittlungsarbeit auf ihn. Und von Tag zu Tag bleibt weniger Zeit für seinen kleinen Sohn Nils. Als eine junge Frau und Mutter entführt wird, spitzt sich die Situation für Moritz Brinker zu: Er kennt den Ehemann und freundet sich mit ihm an. Denn auch er hat einen kleinen Sohn. Besessen davon, die Frau zu finden, merkt Moritz Brinker nicht, wie die Grenzen zwischen Beruf und Familie auf fatale Weise verwischen und dass die Spuren des Falles bis in seine niedersächsische Heimat zurückreichen. Mit Der Kommissar und sein Kind erzählt Daniel Juhr weit mehr als eine spannende Kriminalgeschichte. Die innere Zerrissenheit eines jungen verwitweten Vaters, der Beruf und Familie gerecht werden will, gibt diesem Roman eine zusätzliche Tiefe. Und die zahlreichen Wendungen führen den Leser immer wieder auf eine neue Fährte.
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Seitenzahl: 433
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Titelseite
Impressum
Widmung
Über den Autor
Inschrift
Prolog
Erster Teil: Ein neuer Anfang
1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
11
12
13
Zweiter Teil: Ein neuer Fall
Montagnachmittag
Montagabend
Dienstagmittag
Dienstagnachmittag
Dienstagabend
Mittwochmorgen
Mittwochmittag
Mittwochabend
Mittwochnacht
Donnerstagmorgen
Dritter Teil: Eine neue Spur
Donnerstagmorgen
Donnerstagabend
Freitagmorgen
Freitagmorgen
Freitagnachmittag
Freitagnachmittag
Samstagnachmittag
Samstagabend
Samstagabend
Samstagabend
Samstagabend
Samstagnacht
Sonntagmorgen
Sonntagmittag
Sonntagabend
Montagmorgen
Montagmorgen
Vierter Teil: Eine neue Wahrheit
Montagnachmittag
Epilog
Danke an
Daniel Juhr
Der Roman spielt hauptsächlich in allseits bekannten Stätten des Bergischen Landes sowie in Hameln, doch bleiben die Geschehnisse reine Fiktion. Sämtliche Handlungen und Charaktere sind frei erfunden.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet abrufbar über http://dnb.ddb.de
© 2013 CW Niemeyer Buchverlage GmbH, Hameln
www.niemeyer-buch.de
Alle Rechte vorbehalten
Der Umschlag verwendet ein Motiv von shutterstock.com
Sad child . . . Zurijeta 2013
eISBN: 978-3-8271-9848-8
EPub Produktion durch ANSENSO Publishing www.ansensopublishing.de
Für Bastian
Über den Autor:
Daniel Juhr, Jahrgang 1978, lebt und arbeitet mit seiner Text- und Verlagsagentur im oberbergischen Wipperfürth und produziert unter anderem Standort- und Kundenmagazine sowie Imageauftritte für Unternehmen. Als Schriftsteller hat er bereits zahlreiche Kurzkrimis in verschiedenen Anthologien veröffentlicht. Im Herbst 2011 erschien sein Romandebüt „Exit“ über eine alte Rockdisco im Bergischen Land. „Der Kommissar und sein Kind“ ist sein erster Kriminalroman.
„We know who you are
We know where you live
And we know there’s no need to forgive“
Nick Cave, WE NO WHO U R
„Hier ist die Geschichte von Willo und mir zu Ende. Ich muss los. Brandolf und ich wollen Drachen steigen lassen. Der Wind weht genau richtig, und der Himmel ist monsterblau.“
Henning klappt das Buch zu und lächelt. „So, und jetzt wird geschlafen, okay?“
Sam macht ein langes Gesicht, so wie jeden Abend, wenn sein Vater das dritte Buch zugeschlagen hat. „Papa, darf ich mir noch ein paar Bücher anschauen? Bitteee . . .“
„Nein, Sam, es ist nach acht. Morgen ist Kindergarten, und . . .“
„Nur zwei Stück.“
„Ich weiß. Und dann noch zwei und dann noch zwei.“
„Bitte, bitte! Dafür musst du heute auch nicht mehr singen.“
Henning überlegt kurz. „Okay, das ist eine Abmachung.“
„Ich liebe dich, Papa!“
Er lässt sich in Hennings Arme fallen, purzelt dabei wie jeden Abend fast aus seinem Hochbett heraus, und Henning drückt ihn ganz fest an sich und streicht dem Jungen durchs Haar. Er schließt für einen Moment die Augen und denkt an nichts. Nicht einmal an sie.
Sam lässt ihn los und schaut ihn aus großen Augen an: „So, und jetzt her mit den Büchern.“
„Werd nicht frech.“
Henning dreht sich um und geht zum Regal.
„Na schön. Einmal Drache Kokosnuss und dazu das Waldbuch, ja?“
„Das Waldbuch hatten wir doch gestern schon. Lieber zwei Kokosnussbücher.“
Henning zieht die Bücher hervor. „Piraten und Indianer. Gut?“
„Okay.“
Er tritt zurück ans Bett, über dem ein Kokosnussposter hängt, so riesig, dass es Lebensgröße sein muss, da ist Henning sicher.
„Schlaf schön, Sam.“
Doch Sam hat bereits das erste Buch aufgeschlagen und blättert gedankenversunken darin herum.
„Flurlicht bitte anlassen, ja?“, ruft er wie automatisiert, als Henning schon im Treppenhaus steht.
„Mach ich.“
„Papa?“
„Ja?“
„Wo ist Mama jetzt gerade?“
„Sie wird sicher noch am Flughafen sein. Dann nimmt sie den Abendzug, steigt am Bahnhof in ihr Auto und dann . . .“
„Dann kommt sie nach Hause. Juhuuu!“
„Ja, Sam.“ Er schließt die Augen. „Ja, dann kommt sie nach Hause.“
„,Sie ist hier‘“, sagt Wilhamina. „,Dort, an den Nachthimmel gemalt, ist etwas, das aussieht wie ein Eichhörnchen mit buschigem Schwanz, pulvrig und weiß. Wie Zucker.‘“ Er hebt den Blick vom Buch.
„Was steht da rechts noch, Papa?“
„Da steht: Ende vom Anfang.“
„Was heißt das?“
„Was glaubst du denn, was es heißen könnte?“
Nils zögert und zieht die Stirn in Falten wie ein nachdenklicher Professor. „Weiß nicht. Vielleicht geht danach eine neue Geschichte los? Zeig doch mal.“ Er blättert um. Leere Seiten. „Ach, schade, das Buch ist zu Ende. Aber vielleicht gibt es ja einen zweiten Teil? Wie bei Shrek oder Ice Age. Da gibt es vier Filme von!“
Moritz setzt einen ernsten Blick auf. „Hat Oma dich heute auch wieder Filme schauen lassen?“
Nils senkt den Blick. „Nur einen. Und einen halben.“
Sein Vater atmet tief aus. „Wir hatten eigentlich vereinbart, dass du heute keinen Film schauen darfst. Oma weiß das auch.“
„Ja, aber, es hat den ganzen Tag geregnet, und ich konnte nicht mal draußen mit dem Bagger buddeln und . . .“
„Ach, egal, Nils. Es ist schon spät.“
Moritz macht das große Licht aus, steckt das Nachtlicht in die Steckdose, spürt dabei ein Stechen in seinen Knien. Für einen kurzen Moment wird ihm schwindelig. „Alles klar, Papa?“
„Ja, alles klar.“ Er hievt sich mühsam hoch. „War ein langer Tag heute.“
„Aber du hast es geschafft, mich noch ins Bett zu bringen. Das ist doch gut!“
Nils lächelt ihn auf eine Weise an, die ihn für einen Augenblick alles vergessen lässt. Vor allem den Job.
Er hält den Jungen fest und singt ihm „Kein schöner Land in unserer Zeit“ vor. Wie jedes Mal, wenn er es schafft, noch vor halb acht zu Hause zu sein.
Es war ihr Lied.
„Gute Nacht, mein kleiner Schatz.“
„Gute Nacht, mein großer Schatz.“
Er deckt den Jungen zu und tritt durch die Tür in den Flur. Er wartet. Jetzt wird Nils die Frage stellen.
„Papa?“
„Ja?“
„Was macht Mama jetzt gerade?“
„Hm. Mal überlegen. Ich glaube, heute schiebt sie die Wolken weg. Damit morgen wieder die Sonne scheint.“
„Au ja! Dann kann ich morgen Bagger buddeln spielen. Juhuuu!“
Über dem Treppenhaus, eingebaut in der Schräge des Daches, öffnet ein großes Fenster den Blick nach draußen. Aber dort ist kein Licht zu sehen.
Nur Tropfen.
Er schwitzt schon wieder. Diese verdammte Schwitzerei, dabei ist es doch erst Januar. Aber der Weg hier hoch war lang. Und die Höhensonne fühlt sich nach Sommer an. Die Jacke hat er sich schon um den Bauch gebunden, jetzt krempelt er die Ärmel des Fleecepullis hoch. Wer wollte noch mal auf diesen Berg?
„Sag mal“, ruft er ihr zu, „wer hatte eigentlich diese Scheißidee?“
Sie dreht sich um und wirft ihm genau das Lächeln zu, in das er sich vor ziemlich genau sieben Jahren verliebt hat. Ihr kurzes schwarzes Haar steht wild von ihrem Kopf ab, die helle Haut schimmert in der Wintersonne. Auf ihrer makellosen Stirn: nicht ein Schweißtropfen. Ihr Fleecezeugs hat sie längst ausgezogen.
„Du hattest diese Idee“, sagt sie sanft, streicht sich durchs Haar, und er möchte es mit ihr tun, jetzt und hier. Und genau so sieht er sie auch an.
„Weißt du, wie du gerade guckst?“
„Wie denn?“
„Du weißt schon wie.“
„Nein, eigentlich nicht.“
„Oh doch. Dafür reicht’s also noch, aber nicht mal für so nen blöden kleinen Berg, wie? Was machst du denn, wenn du hier mal im Sommer hochmusst?“
„Ich werde hier nie wieder hochmüssen. Und warte, bis wir wieder unten sind.“
„Sieh lieber erstmal zu, dass du ankommst!“
Sie dreht sich wieder um und schaut, wie der Weg verläuft. Ganz am Ende, vielleicht noch 500 Meter entfernt, endet er an einem großen kupfernen Kreuz.
„Komm, du Schwächling!“, ruft sie ihm zu und marschiert mit festem Schritt voran. Er pustet durch, zieht die Wasserflasche aus dem Seitenfach des Rucksacks, nimmt einen Schluck, es ist viel zu viel, gleich wird er sicher Seitenstechen kriegen, aber jetzt ist ihm das ziemlich egal.
Er hat vergessen, wie der Berg heißt, ist auch nicht wichtig, hier oben sieht sowieso alles gleich aus. Ja, es war seine Idee. Aber anders: Hochfahren, oben ein bisschen wandern, lecker essen, wieder runterfahren. Und davon, dass die Sonne hier oben so warm ist, war auch nicht die Rede. Wahrscheinlich bringt der Mai dann Schneeregen. „Ich komme mit“, hat sie geantwortet, „aber wenn, dann richtig. Dann wandern wir die ganzen 800 Höhenmeter, oder wie viele das sind, da rauf und auch wieder runter.“ Er hat nicht lang gezögert: „Na und? Kein Thema.“ Und dann sind sie losgestiefelt.
Wie heißt es doch gleich? Fit in die Berge, nicht fit durch die Berge. Auf ihn trifft gerade beides nicht zu. Er wird diesen Trip hier nicht überleben, da ist er sich sicher. Inzwischen ist sie locker dreißig Meter weit weg, er muss sich ranhalten.
Je näher er ihr kommt, desto stärker wird ihm bewusst, wie einsam sie hier oben sind. „Komisch, oder?“, ruft er ihr zu.
„Ach, da bist du ja. Was ist komisch?“, fragt sie.
„Wie wenig Leute hier sind. Den Letzten hab ich vor ner Ewigkeit wieder runterkommen sehen“, keucht er.
„Vielleicht sind das alles so Konditionswunder wie du und die haben auch vorher aufgegeben.“ Sie knufft ihn in die Seite. Er zieht sie zu sich, hält sie fest, gibt ihr einen langen Kuss. Ihre Hand wandert an seinem Bauch herunter bis zu seinem Schritt.
„Na, wenigstens einer, der hier aufrecht stehen kann“, flüstert sie ihm ins Ohr. „Du hast recht. Wir könnten es hier tun, einfach so.“ Ihre Zunge massiert sanft sein Ohr, und ihm wird immer heißer.
„Aber wir laufen jetzt seit viereinhalb Stunden“, beginnt sie, und ihre Stimme klingt plötzlich so schrecklich nüchtern, „und erst mal will ich zu diesem Scheißkreuz. Dann sehen wir weiter.“
Sie küsst ihn auf die Wange, so, wie man einem Freund ein Abschiedsküsschen gibt, macht einen Satz und ist schon wieder auf dem Weg. Aber er schließt schnell zu ihr auf. Jetzt marschieren sie gemeinsam, und er wundert sich, wie gut er plötzlich mithalten kann. Sie wundert sich auch: „Guck an“, ruft sie, „da steckt man dir mal für ne Sekunde die Zunge ins Ohr, und schon wirfst du den Turbo an.“
„Na ja, ich habe ja jetzt auch ein Ziel.“
Plötzlich prustet sie los. Einfach so, und sie lacht laut und wild in die Einsamkeit hinein. Er lacht mit.
„Was meinst du, was Nils jetzt gerade macht?“, beginnt sie nach ein paar Augenblicken, während das Kreuz vor ihnen langsam größer wird. Keine 200 Meter mehr. Er macht gedanklich schon mal drei Kreuze. „Hm, mal überlegen. Vielleicht den Opa herumkommandieren? Oder auch: den Opa herumkommandieren.“
„Könnte sein. Vielleicht kommandiert er ja auch den Opa herum.“
„Möglich, durchaus möglich. Mit der Oma macht er das jedenfalls nicht.“ Wieder ihr lautes Lachen, sie hat sich eingelacht, das kann jetzt noch eine halbe Stunde so weitergehen. Er bleibt stehen und schaut sie an. Lässt den Blick von ihrem Gesicht herabsinken zu ihrem Hals, blickt auf ihr beigefarbenes Longsleeve, streift mit den Augen ihre Brüste. Schaut wieder auf. „Ich liebe dich.“
„Und ich dich erst. Komm, da vorne ist es schon!“
Und dann rennt sie los.
Und er bleibt stehen.
Und sie schaut nicht zurück.
Und er bleibt stehen.
Und das Kreuz steht auf einer Kuppe, zu der nur ein
ganz schmaler Pfad führt.
Und er bleibt stehen.
Und sie läuft auf den Pfad zu.
Und er bleibt stehen.
Und vor dem Pfad steht ein Warnhinweis.
Und sie sieht ihn nicht.
Und er ruft nicht.
Und sie läuft immer noch weiter.
Und er wacht auf.
Die Schwärze der Nacht erfasste ihn mit aller Macht. Er lag falsch herum im Bett, aber das begriff er nicht. Er tastete nach der Nachttischlampe, die er nicht finden konnte, weil sie am anderen Ende stand, er bekam Panik, fuchtelte wild in der Finsternis herum, zog seine Decke weg und warf sie irgendwohin, drehte sich in eine Richtung, fand nichts Greifbares, dann endlich ertastete er den Rand des Bettes, er griff ihn und ließ sich hinabgleiten auf den kalten, harten Boden. Auf allen Vieren bewegte er sich ins Nichts hinein, es machte Klong, als er mit dem Kopf die Heizung traf, es schmerzte, und er grunzte blechern auf. Wenigstens wusste er jetzt, wo er war. Heizung bedeutete Wand, und Wand hieß Orientierung. Langsam dämmerte ihm, dass er am falschen Ende des Bettes zu sich gekommen war. Er tastete sich an der Wand entlang zurück, fand schnell den Nachttisch, drückte den Schalter.
Licht.
Nackt lag sie da, im fahlen Schein der kleinen blauen Lampe. Ihre weit aufgerissenen Augen, wie zwei riesenhafte schwarz leuchtende Kugeln, durchbohrten ihn. Sie schwieg. Auch, als das Blut begann, aus ihrem Hinterkopf herauszusickern. Ganz langsam öffnete sich ihr Mund, doch es traten keine Worte heraus.
Nur noch mehr Blut.
Blut. Nur noch Blut.
Er erwachte von seinem eigenen Schrei, der eher einem gepressten Wimmern glich, das sich erst mühsam seinen Weg durch die Lunge nach draußen bahnen musste. Als Nächstes spürte er seinen Atem, schnell, intensiv. Instinktiv tastete er nach der Lampe und fand sie sofort. Schaltete sie an, schaute nach rechts. Niemand lag dort neben ihm. Keine nackte Julie. Kein Blut. Er rieb sich das Gesicht, strich sich durch die Haare. Sie klebten nass an seinen Schläfen.
„Paaapaaaa!“ Nils war auch aufgewacht.
Er atmete ein paar Mal tief ein und aus.
„Paaaaapaaaa!“
„Ich komme“, rief er heiser.
Er stand auf, lief barfuß durchs Zimmer auf den Flur und trat durch die Tür mit dem rotgelben Schild, auf das Nils seinen Namen geschrieben hatte.
Nils saß verschlafen in seinem Bett, mit der linken Hand umklammerte er seinen großen grünen Stoffdrachen, und schaute ihn aus kleinen Augen an. „Ich hab Durst.“
„Ich hol dir was.“
„Zwei Becher.“
Moritz kehrte mit einem zurück.
„Hier.“
Nils kippte das fade Leitungswasser runter, als sei es das Letzte, was er jemals zu trinken bekäme, und hielt ihm, vor Müdigkeit leicht schwankend und die Augen halb geschlossen, den Becher hin.
„Noch einen“, sagte er mit monotoner Stimme, während ihm die Augen zufielen. Moritz ging zurück ins Bad.
Das war mittlerweile ein Ritual zwischen ihnen beiden, ein paar Mal in der Woche wachte Nils auf, jedes Mal leerte er zwei Becher, sein Vater ließ es zu. Er wusste, morgen würde ihm Magdalene dafür wieder einen blöden Spruch drücken, dass der Kleine so ja nie wieder nachts trocken werde, wenn er ihn immer so abfülle, und dass es ein Unding sei, dass er mit fünf immer noch jede Nacht diese Panties trage. Er würde dann wieder entgegnen, dass das überhaupt nichts Ungewöhnliches sei, und überhaupt, dass er seinem Sohn nicht das Trinken verweigere. Und wenn Magdalene ganz besonders gut drauf war, würde sie das einfach ignorieren und antworten: „Julie wäre das nicht passiert.“ Und er würde schweigen. Denn die Wahrheit war: Nils war längst trocken gewesen, auch nachts, schon seit er drei Jahre alt war. Es hatte nach Julies Tod wieder angefangen. Seitdem trug er die Panties jede Nacht. Und jeden Morgen waren sie voll.
„Papa?“
Er wusste nicht, wie lange Nils ihm jetzt schon den Becher hinhielt, den er gerade zum zweiten Mal leer gemacht hatte. Moritz nahm ihn. „Kann ich mit zu dir rüber, Papa?“
Auch so ein Ritual. Auch das konnte sie nicht haben. Er schiss drauf.
„Klar.“
Er nahm den Kleinen auf den Arm, drückte ihn fest an sich.
„Papa, du bist ja nassgeschwitzt.“
„Ich weiß“, seufzte er.
„Du musst dich umziehen, Papa, sonst wirst du noch krank.“
„Mach ich.“
Er legte Nils auf die leere Seite seines Bettes, zog sich um, legte sich daneben und löschte das Licht. „Nein, bitte anlassen, Papa.“
„Ich mach das Flurlicht an, okay?“
Also stand er wieder auf.
„Singst du mir noch ,Kein schöner Land‘?“, rief Nils ihm vom Bett aus zu.
„Mach ich auch“, antwortete er matt und legte sich neben seinen Sohn.
„Was macht Mama jetzt, Papa?“
Er hielt kurz inne. Langsam gingen ihm die Antworten aus. Nils fragte das ein paar Mal am Tag und jeden Abend beim Schlafengehen, und er merkte sich jede einzelne Antwort. Moritz fand eine, von der er sicher war, sie noch nicht gegeben zu haben.
„Sie hört zu, wie ich dir was vorsinge.“
„Prima, vielleicht singt sie ja mit. Können wir sie dann eigentlich hören?“
„Hm. Wenn du jetzt die Augen schließt und dich ganz doll konzentrierst . . . vielleicht kannst du sie dann hören.“
Er spürte, wie sein Hals enger wurde. Tränen sammelten sich in seinen Augen, und er konnte verdammt noch mal nichts dagegen tun.
Nils lag vor ihm, eingekuschelt in die Decke, die Augen fest geschlossen. Und Moritz begann: „Kein schöner Land in dieser Zeit . . .“
Es dauerte nicht lange, bis zur dritten Strophe nur, und Nils atmete so friedlich und gleichmäßig, wie es nur kleine schlafende Kinder können. Er nahm die Hand seines Sohnes, legte sie in seine und schaute ihm beim Schlafen zu. Jetzt konnte er loslassen, und die Tränen rannen an seinen Wangen hinab. Er spürte, wie auch ihn die Müdigkeit befiel. Es war kurz nach zwei, noch hatte er vier Stunden. Aber er hatte Angst zu schlafen. Er wünschte sich, nie mehr schlafen zu müssen, so bescheuert ihm das jetzt auch vorkam. Er wollte nie mehr träumen. Nie mehr zurückreisen in der Zeit. Nie mehr auf diesen Berg. Das war sein Nachtwunsch. Und er wusste, dass er unerfüllt bleiben würde.
Nach einigen Minuten lag Nils in einem tiefen Schlaf. Er konnte ihn allein lassen.
Er stand auf, holte das Babyfon, schaltete es ein und ging in den kleinen Raum nebenan, der irgendwann einmal sein Zimmer werden sollte. Das Papazimmer. Ein Papazimmer für Papamusik und Papagedanken. Er stellte den Empfänger hin und drehte das Display so, dass er es immer sehen konnte. Sollte Nils sich melden, würde die rote Leuchte schon blinken. Aber Nils meldete sich nicht.
Es stand nicht viel in diesem Raum, ein Sessel, ein alter Tisch, ein paar Spielsachen seines Sohnes, ein Regal mit zig Macken, dazu einige Kisten, die er noch nicht ausgepackt hatte. Es lagen vor allem Dinge von ihr darin. Er hatte keine Ahnung, wann er in der Lage sein würde, sie überhaupt herauszuholen. Sie anzusehen. Sie zu berühren.
Auf dem Schreibtisch lag sein iPod, das Kabel führte zu wirklich teuren Sennheiser-Kopfhörern. Er setzte sie auf, schaltete den Player ein, drehte den Sessel so, dass er durch die Dunkelheit des Zimmers hinaus auf die Schwärze des Waldes schauen konnte, und ließ sich einfach fallen.
Er schaute aufs Verse.
Interpret: Nightwish.
Album: Once.
Song: Ghost Love Score.
Play.
We used to swim the same
moonlight waters
Oceans away from the
wakeful day
My fall will be for you
My love will be in you
If you be the one to cut me
I’ll bleed forever
Irgendwann fing ihn der Schlaf. Er hielt ihn fest, aber er quälte ihn nicht weiter. Er sandte ihm keine Träume und keine Dämonen. Er drückte ihn nur tief in einen alten muffigen Sessel, bis der nächste Morgen sein trübes Grau durch das Fenster schickte.
Moritz schlug die Augen auf. Der Kopfhörer lag auf seinem Schoß, er musste ihn im Schlaf heruntergerissen haben. Sein Kopf schmerzte, noch mehr aber der Rücken. Er hievte sich ächzend aus dem Sessel. Sein Blick fiel aufs Babyfon, dann lauschte er in die Stille. Kein Laut war zu hören. Er schlich ins Schlafzimmer, wo sich Nils leise brabbelnd umdrehte und dann tief seufzte.
Er ging zurück ins Papazimmer, öffnete das Fenster und spähte hinaus. Von hier oben konnte er das Tal überblicken. Es war schön hier. Mal ganz objektiv gesehen. Sie wohnte in einer netten Ecke, die alte Magdalene, das musste man ihr lassen.
Er war schon ein paar Mal durch Beyenburg gewandert. War vom Ortsrand aus, wo seine Schwiegereltern ein altes Bauernhaus mit Blick über das Tal bewohnten, hinunter nach Alt-Beyenburg gelaufen, vorbei am Kloster und zum Stausee. Nils liebte es, den Kanufahrern zuzuschauen, die unten in Beyenburg trainierten. Und am Ende aßen sie immer gemeinsam ein Eis an der Ecke, gleich gegenüber dem wunderschönen alten blauen Haus. Nils bestellte Apfelkucheneis, er selbst war inzwischen süchtig nach Limette.
Doch sooft er, auch mal alleine, durch die verwunschenen schmalen Gässchen wanderte, die zum Kloster in der Beyenburger Freiheit führten, wirklich angekommen war er nicht. Es sind auch die Menschen, die Heimat ausmachen, nicht nur die Straßen, die Häuser, die Gärten. Und Moritz kannte hier auch nach zweieinhalb Monaten noch kaum jemanden.
Er hörte das Schreien eines Milans, dann entdeckte er ihn schemenhaft am Himmel, wie er einsam seine Kreise drehte. Der Milan war ihm schon ganz am Anfang aufgefallen, als er mit einer Kiste auf dem Arm vor dem Haus gestanden hatte, und irgendein Nachbar, dessen Namen er sich bis heute nicht merken konnte, der ihm aber stets mit einem freundlichen Blick begegnete, hatte den Milan damals auch entdeckt und gesagt: „Schön, oder? Es sind mehr geworden in den letzten Jahren. Sie sind die größten Greifvögel hier. Manchmal, wenn sie eine tote Maus entdecken, landen sie sogar in den Gärten. Warten Sie nur ab.“
Er hatte nur schweigend genickt. Der Mann hatte dann den Blick vom Himmel abgewendet, ihn angeschaut und leise gesagt: „Sie sind also der Schwiegersohn?“
Er hatte den Blick des Mannes erwidert, der immer noch freundlich war. „Ja, ich bin der Schwiegersohn.“
„Na dann: Viel Glück.“ Es hatte aufrichtig geklungen.
„Viel Glück“, sagte er nun zu sich selbst und in die Stille hinein. Vielleicht sagte er es auch zu dem Milan, der nun tiefer am Himmel seine Kreise zog, schließlich im Dickicht eines Waldes verschwand und bisher kein einziges Mal im Garten gelandet war.
Wuppertal-Beyenburg. Die Berge drum herum erinnerten ihn an das Weserbergland. Nur dass es hier im Tal der Wupper enger zuging, die Steigungen kamen ihm noch steiler, die Wege noch schmaler, die Kurven der Straßen noch spitzer vor. Er hatte vorher so manches über das Bergische Land gehört und noch nicht herausgefunden, was davon alles stimmte und was in die Welt der Legenden gehörte. Natürlich, der viele Regen. Die Unbeständigkeit. Wenn er mit Nils unterwegs war, hatten sie inzwischen immer ihre Schirme dabei.
Hier sollte die Geschichte also weitergehen. Er hatte keine Ahnung, wie. Er hatte die letzte Zeit mehr oder weniger überlebt, mehr nicht. Seit zweieinhalb Monaten wohnten sie jetzt hier, und ihm kam es vor, als wären sie gestern erst eingezogen. Er schaute auf die vielen noch immer nicht ausgepackten Kisten. Das Papazimmer war ein Abstellraum, aber irgendwie passte das, denn er kam sich selbst vor wie abgestellt. Jener Frühlingstag auf dem Berg, dessen Namen er immer noch nicht wusste, weil er ihn auch nicht wissen wollte, hatte ihn aus den Gleisen katapultiert.
Das Schlimme war, dass er trotzdem nicht einfach anhalten konnte. Er musste weiterfahren, ein Stückweit neben der Spur, aber er erreichte irgendwie trotzdem Station um Station, und dort passierte auch immer etwas, aber er nahm das oft nur wie durch einen Schleier wahr.
Aber nicht jetzt. Dies war ein relativ klarer Moment, hier, im Baustellen-Papazimmer um kurz nach halb sechs an diesem kühlen ersten Septembertag im Bergischen Land, das ihm immer noch so fremd erschien. Die Luft war frisch, kalt, gut. Er sog sie in sich auf.
In zwei Stunden würde er wieder an solch einer Station haltmachen. Er würde aussteigen und so etwas wie Arbeitsalltag versuchen. In seinem alten Job. Er hatte lange überlegt, ob er sich das je wieder antun wollte. Es würde nicht leicht werden, Nils nun jeden Tag in ihre Obhut geben zu müssen. Er vertraute Magdalene, das war es nicht. Aber in all dieser Zeit des Schmerzes waren sie zusammengewachsen, er und sein Sohn. Er hatte oft das Gefühl, den Kleinen jetzt überhaupt erst wirklich kennenzulernen. Er war tief beeindruckt davon, wie er mit dem Tod seiner Mutter umging. Auch Nils hatte schlimme Tage, schlimme Augenblicke. Aber er wirkte wesentlich stärker, als sein Vater es erwartet hatte.
Die gemeinsamen Tage waren nun erst einmal vorbei, zumindest in der Woche. Und auch an manchen Wochenenden, das wusste er.
Er hatte versucht, Nils auf diese neue alte Zeit vorzubereiten. Es wird wieder ein bisschen so wie vor Mamas Tod, hatte er ihm erklärt, ich werde wieder arbeiten müssen, damit es uns immer gutgeht.
„Aber es geht uns doch gut“, hatte Nils geantwortet, und Moritz hatte geschwiegen, bis Nils, wie um seinen Vater zu beruhigen, schließlich gesagt hatte: „Zum Glück gibt es ja Oma.“
Aber vielleicht käme es hier ja auch anders als damals. Er hatte sich ins Diebstahldezernat versetzen lassen. Abteilung Toter Vogel, so nannten sie das. Für den Rundordner arbeiten. Am Schreibtisch hocken. Sich zu Tode langweilen. Aber das war seine Bedingung gewesen, und sie hatten sie ihm erfüllt. Er wollte geregelte Tage haben. Er wollte eine Aussicht auf freie Abende. Sie hatten sie ihm gegeben. Hier, im Bergischen Land.
Plötzlich fielen ihm die Worte seines alten Chefs ein, des dicken Marquardt, und er musste unwillkürlich lächeln. „Wenn du jetzt gehen musst, dann geh, Moritz. Ich hätte dich gern wieder im Team gehabt, das weißt du. Aber ich verstehe es. Auch wenn ich nie kapieren werde, was du in diesem Regenloch willst. Wuppertal. Weißt du eigentlich, dass es da an drei von vier Tagen im Jahr schüttet? Na, herzlichen Glückwunsch. Aber eins sage ich dir, Moritz: Glaub bloß nicht, dass du da lange am Schreibtisch hocken wirst, so wie die es dir jetzt noch versprechen. Mach dir da mal bloß nichts vor. Seien wir ehrlich: Es ist völlig egal, ob du hier im Weserbergland auf Mörderjagd gehst oder im Bergischen: Die Bösen und die Irren laufen überall rum. Und es sind überall die gleichen Arschlöcher. Und du bist gut darin, diese Arschlöcher zu finden.“
Moritz ließ den Blick noch einmal über das Tal schweifen. Darin ähnelten sich die alte und die neue Heimat: Die Hügel und die Wälder. Nur waren sie hier nasser.
Er zwang sich, ehrlich zu sich selbst zu sein: Er wollte an keinen Schreibtisch. Er wollte Mörder jagen. Aber er wollte auch ein Vater sein. Ein guter Vater. Einer, der da ist.
Er hatte diese Auszeit gebraucht. Nils hatte sie gebraucht. Aber Moritz Brinker wusste auch, wie schnell der Alltag ihn wieder einholen würde. Vieles würde sich ändern.
„Wie geht das nur alles?“, fragte er niemanden.
Er schloss das Fenster, aber die Frage stand offen in der Stille.
Hauptkommissar Paul Bettermann war ein großer, hagerer Mann mit hoher Stirn und grauen Haaren, die so wild über den Schläfen abstanden, wie man es vielleicht von einem Professor an der Wuppertaler Uni erwarten würde, aber nicht vom Leiter einer Kriminalinspektion. Er war Mitte fünfzig, aber seine Augen leugneten das. Sie wirkten jung, wach, hungrig.
Moritz kannte ihn nur von Fotos, sie hatten ein paarmal telefoniert. Jetzt reichte er Moritz eine schlanke Hand mit langen dürren Fingern. Am linken Ringfinger erkannte er eine helle Hautstelle. Und Bettermann merkte, dass Moritz sie erkannte.
„Ja, ich habe auch jemanden verloren. Aber anders als Sie. Irgendwann wacht man auf und findet den Zettel, auf den man im Grunde schon Jahre gewartet hat. Der Rest ist Abwicklung.“ Moritz nickte schweigend.
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