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Ein tödlicher Erreger aus längst vergangener Zeit - der finsteren Ära des Dritten Reichs - kehrt zurück und entfacht eine verheerende Epidemie. Millionen Menschen fallen ihr zum Opfer. Ein anonymes Krisenzentrum in Zürich übernimmt die Kontrolle und lässt den Süden Deutschlands hermetisch abriegeln. Inmitten des Chaos kämpft eine kleine Gruppe um ihr Leben. Ihr letzter Zufluchtsort: ein geheimnisvoller Gebäudekomplex, der zur einzigen Hoffnung wird. Die scheinbare Rettung verwandelt sich jedoch in einen Albtraum, als ein skrupelloser Ex-General Rebecca entführen lässt. Sie ist der Schlüssel zur Heilung – in ihrem Blut sind die Antikörper, die die Menschheit retten könnten. Doch Benny, ihr Mann, will sie zurück. Und er ist bereit, alles zu tun, um Rebecca aus den Fängen des Entführers zu befreien. In einer Welt, die am Abgrund steht, zählt nur eins: Überleben um jeden Preis. - Wie weit würdest du gehen, um die zu retten, die du liebst? -
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Seitenzahl: 568
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Rolf Peter Sloet ist in Dinslaken am Niederrhein geboren. Seit 1972 lebt er mit seiner Familie in der Oberpfalz. In Eichstätt und Regensburg studierte er Sozialwesen und Lehramt an Grund- und Hauptschulen. Sloet schreibt Krimis und Thriller.
1. Auflage 2024
Prolog
Erstes Buch
Der Komplex
Die Stadt (Jahr 1)
In der Stille der Nacht
Zürich, ZEKZ-Hauptquartier, 09. Januar
Das Gartencenter
Sicherer Unterschlupf
Zürich, ZEKZ-Hauptquartier, Dienstag 16:45 Uhr
»Ich kenne Sie!«
Der Grillmeister
Neue Mitbewohner
Der Überfall
Die Gefangenen
Das DEZ
Charlie-Romeo
Der Panzer
Die Augen des Tigers
Zürich, ZEKZ-Hauptquartier, Mittwoch 08:30 Uhr
Golf, Golf
Gefangen
Flughafen Zürich
Nachteinsatz
Unternehmen Donnerschlag
Der Morgen danach
Die Sniperin
Millisievert
Die Konferenz
Zürich, ZEKZ-Hauptquartier, fünf Tage später
Erste Kontakte
Zürich, L‘Oie d‘Or
Kanal 7
Zweites Buch
Eskalation
BAR - Probleme ohne Ende und keine Lösungen in Sicht
Dokumentation des Niedergangs
Zürich, ZEKZ-Hauptquartier, Dienstagmorgen 09:00 Uhr
Erste Anzeichen
Beunruhigende Entdeckungen
Country Roads
Nathan
Amberg
Die Nibelungenbrücke
Angriffsvorbereitungen
Der Angriff
Landsberg am Lech
Drittes Buch
Rebecca
Natzwiller
Dr. Kieffer
Zürich, ZEKZ-Hauptquartier, Mittwoch, 03:45 Uhr
Vaduz, Park Hotel Sonnenhof
Umfang der Abgrenzungen durch das ZEKZ
Der Niedergang eines Kontinents
Der Mord
Die Blutproben
Liechtenstein, JUFA Hotel Malbun Alpin Resort
Weihnachtsvorbereitungen
BAR
Trainingscenter Balatina, 24. Dezember, 10:00 Uhr
Der erste Heiligabend
Nördlich von České Budějovice
Das Leichtflugzeug
Zweiter Weihnachtstag
Das Neue Jahr
Bennys Geschichte
Epilog
Jahr neunundvierzig
Anmerkung zur Geschichte
Vollstandige e-Book-Auflage 2024
Originalausgabe: DER KOMPLEX
© 2024 Wolfstein Verlag
ein Imprint der Spielberg Verlagsgruppe, Neumarkt
Lektorat: Kati Auerswald
Umschlaggestaltung: © Ria Raven, www.riaraven.de
Bildmaterial: © shutterstock.com
Alle Rechte vorbehalten.
Vervielfaltigung, Speicherung oder Úbertragung konnen zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.
ISBN: 978-3-95452-132-6
www.spielberg-verlag.de
Das Buch ist eine Fiktion.
Alle Personen, die Handlung und die hier geschilderten historischen und politischen Vorgänge sind frei erfunden.
Militärische Informationen stammen aus frei zugänglichen Internetseiten. Das Handbuch für das Überleben gibt es nicht.
»3. September 1786. … Regensburg liegt gar schön. Die Gegend mußte eine Stadt herlocken; auch haben sich die geistlichen Herren wohl bedacht. Alles Feld um die Stadt gehört ihnen, in der Stadt steht Kirche gegen Kirche und Stift gegen Stift. Die Donau erinnert mich an den alten Main …«
Johann Wolfgang von Goethe,
Italienische Reise - Kapitel 2
Sein Name war Walther Grottling und er wusste, dass er bald sterben würde. Sehr bald. So wie die anderen auch. Er war der Letzte und der Tod stand dicht hinter ihm, streckte seine Arme nach ihm aus und grinste. Noch ein oder zwei Tage blieben ihm. Vielleicht auch weniger. Das Fieber stieg und er wurde von Stunde zu Stunde matter und kraftloser. Ekeliges Gelb lief aus seiner Nase und beim Atmen gurgelte und pfiff es tief unten in seiner Lunge. Jeder Atemzug fühlte sich so an, als würde jemand kleine Stückchen von ihr abschnippeln. Grottling wünschte sich nichts mehr, als nicht mehr Luft holen zu müssen. Doch sein Gehirn befahl: »Atme weiter!« und so musste er den Schmerz ertragen, bis der Zeitpunkt kam, an dem der Tod ihn erlöste.
Es war ein schöner Spätmorgen und die Frühlingssonne schien ihm warm auf den Rücken. Eigentlich war es zu warm für Anfang April. Aber auch das Wetter war aus den Fugen geraten, so wie alles um ihn herum. Grottling trug einen frischgewaschenen grünen Dienstoverall und grüne Gummistiefel und schob mit letzter Kraft einen der typischen, zweirädrigen Futterkarren vor sich her. In diesem lagen ein Jagdgewehr mit einem kurzen Zielfernrohr, eine Kettensäge und mehrere große Metallringe, an denen jeweils fünfzehn bis zwanzig Schlüsselgruppen hingen, die auf kleinere Ringe aufgezogen waren. Normalerweise wurden die meisten Türen und Tore im Zoo Nürnberg mithilfe von Chipkarten geöffnet, die durch Lesegeräte gezogen wurden, aber seitdem die Elektrizitätsversorgung zusammengebrochen war, funktionierten dies nicht mehr. Jetzt kamen die guten alten Schlüssel wieder zum Einsatz.
Plötzlich musste Grottling daran denken, dass er sich seit zwei Tagen offiziell im Ruhestand befand. Vor drei Tagen wäre sein letzter Arbeitstag gewesen und er hatte bereits vor Monaten mit seiner Frau eine Reise nach Griechenland geplant. In ihre alte Heimat, dort wo sie aufgewachsen war, nach Thessaloniki.
Die Kolleginnen und Kollegen hatten schon vor einem halben Jahr begonnen, die Abschiedsparty zu organisieren. Sie hatten den Direktor und die Tierärzte eingeladen und auch den Bürgermeister der Stadt Nürnberg.
Nun gab es keine Party für ihn. Nur Tod, Gestank und Leere.
Grottling hatte am längsten von allen gearbeitet und würde als Letzter sterben. Das war ein gerechter Ausgleich, fand er.
Die überwiegende Mehrheit der Tiere war tot. Alle Fische und Reptilien, die Vögel, die Affen und jedes andere Lebewesen, das auf Wärme angewiesen war. In den Käfigen lagen die Kadaver und stanken vor sich hin. Am besten erging es den Ratten, die durch die Kanalisation aus der Stadt in den Zoo kamen. Sie waren dick und träge geworden und liefen tagsüber über die Wege, ohne sich dabei an dem übrig gebliebenen Menschen zu stören. Sie konnten gar nicht alles fressen, was da vor ihren Barthaaren ausgebreitet lag. Auch die Füchse, die sich auf dem Gelände des Zoos versammelten, waren fett geworden und verschliefen die warmen Tage unter den Bäumen.
Als Erste waren die Wölfe entkommen. Das Gehege der Eurasischen Wölfe, der Unterart, die in Deutschland in freier Wildbahn lebt, und das der mächtigen Polarwölfe lagen nebeneinander, nur durch eine Mauer getrennt. Irgendwie hatten es die beiden Rudel fertiggebracht, ihre Aktionen zu koordinieren. Am Abend waren die zwanzig Tiere noch in ihren Gehegen gewesen und am nächsten Morgen waren sie verschwunden. Die Grauen hatten sich unter dem Zaun durchgegraben und, als sie in der Dunkelheit der Nacht verschwunden waren, buddelten sich die Weißen unter dem Mauerfundament durch ins Nachbargehege und nutzten dann den gleichen Fluchtweg wie ihre Verwandten.
Wölfe waren schlau – sehr schlau sogar.
Heute lebten nur noch wenige Tiere. Die Elefanten wurden schon vor einer Woche in die Freiheit entlassen. Gemeinsam mit seinem Freund Fred, dem Oberpfleger der Dickhäuter, hatte Grottling die Mauer ihres Geheges mit einem Bagger eingerissen und den Wassergraben zugeschüttet. Sehr zögerlich waren die grauen Riesen, angeführt von ihrer Leitkuh, in die Freiheit geschritten. Ganz zum Schluss sah sie sich noch einmal um, so als wolle sie Fred auffordern, doch mitzukommen.
Schließlich waren sie verschwunden und Grottling war beeindruckt, wie geräuschlos sich diese riesigen Tiere zu bewegen vermochten. Als er Fred anschaute, bemerkte er, dass sein Freund weinte. Lautlos und verzweifelt. In der Nacht darauf war Fred gestorben.
Vor dem Löwengehege hielt Grottling an und blickte zu den Tieren hinüber. Über dreißig Jahre war er für die großen Katzen verantwortlich gewesen. Jetzt lebten noch drei von ihnen. Das riesige Männchen mit der mächtigen, braunen Mähne lag auf der Seite unter einem Baum und atmete schnell und flach. Es war schwach – sehr schwach. Die beiden ältesten und kräftigsten Löwinnen kauten an den Resten eines Junglöwen, den sie vor drei Tagen getötet hatten. Sie schauten auf und Grottling konnte ihr tiefes, warnendes Knurren deutlich hören. »Komm bloß nicht näher!«, bedeutete das.
Die Löwen waren weniger flexibel als ihre Verwandten, die Tiger. Sie benötigten Wärme und wurden bei kaltem, feuchtem Wetter schnell krank. Es hatte keinen Zweck, sie freizulassen.
Das Jagdgewehr, eine Mauser M98, war geladen: ein Schuss im Patronenlager, fünf Patronen im Magazin. Sie war das Eigentum des Direktors gewesen und stand, bereit für Notfälle, immer geladen in dessen Tresor. Der Schlüssel befand sich in der Schublade seines Schreibtisches und Grottling, der als Leitender Pfleger den Aufbewahrungsort kannte, hatte sich die Jagdwaffe und den Revolver aus dem Tresor geholt.
Vorsichtig legte er den Lauf der Waffe auf die Mauer, die das Löwengehege umgab. Grottling kniete sich stöhnend nieder, stellte das Zielfernrohr scharf und visierte sorgfältig die erste Löwin an. Der Schuss brach, das Tier mit den bernsteinfarbenen Augen sprang kurz hoch und war schon tot, als es auf den Boden aufschlug. Die zweite Löwin lief rückwärts, hielt dann inne und näherte sich vorsichtig ihrer Schwester. Als Grottling durchrepetierte, fuhr ihr Kopf herum und sie starrte ihn an. Der zweite Schuss brach und auch sie fiel um. Die mächtigen Tatzen schlugen durch die Luft, der Schwanz zuckte, dann bebte der Körper und die Löwin lag still. Das Löwenmännchen hatte gerade noch die Kraft, seinen Kopf zu heben, bevor es durch das schwere Projektil von seinen Qualen erlöst wurde.
Keuchend und mühsam nach Luft schnappend erhob sich der Schütze, sicherte die Waffe und legte sie sorgfältig zurück in den Karren. Dann wischte er sich die Tränen aus dem Gesicht und schlug ein Kreuz.
»Vergebt mir!«, flüsterte er.
Die beiden Sibirischen Tiger, sie waren von ihm mit toten Gazellen gefüttert worden, lagen auf ihren Lieblingsplätzen im Gehege. Sie sprangen auf, als sie den Mann näherkommen hörten.
»Euch geht es gut!«, sagte er. »Und ihr werdet alleine zurechtkommen.«
Es war alles vorbereitet. Die Kettensäge war aufgetankt, die Kette frisch geschärft. Grottling hob sie aus dem Futterkarren, zog am Starter und knatternd sprang der Motor an. Er schnitt zuerst einen Keil aus dem Stamm der Linde, dann sägte er ihn von der anderen Seite her durch. Eine Minute später knirschte das Holz und mit einem reißenden Geräusch neigte sich der Baum genau in die Richtung, in die er fallen sollte. Der Stamm federte auf der Mauerkrone zweimal hoch, dann blieb er dort liegen, während die Spitze des Baums im Gehege auf dem Boden auflag. Tiger können nicht gut klettern, aber ihr Gleichgewichtssinn ist sehr ausgeprägt.
Grottling schob den Karren zum Raubtierhaus hinüber, schloss die Tür auf und wieder hinter sich zu. Durch die Glasscheibe beobachtete er, was die gestreiften Katzen taten. Es dauerte nicht lange und das Weibchen lief zu dem Baum hinüber. Sie beäugte ihn, sprang auf den Stamm und nur Sekunden später erreichte sie die Mauer. Mit einem dumpfen Grollen forderte sie das Männchen auf, ihr zu folgen. Es gehorchte.
Neben dem Baum, mitten auf dem Weg, blieben beide Tiger für einen Moment stehen. Sie sahen zum Fenster hinüber, hinter dem Grottling stand. Sie hatten genau mitbekommen, was er für sie getan hatte. Dann verschwanden sie mit mächtigen Sprüngen im Gebüsch.
Als die beiden verschwunden waren, setzte sich Grottling auf eine der Bänke und sah sich ein letztes Mal um. Nach einer Weile zog er wie beiläufig den Revolver aus einer der vielen Taschen seines Overalls, steckte ihn in den Mund und drückte ab.
Aus dem Handbuch für das Überleben
Als wichtigste Überlebensregeln für Notsituationen gelten:
- Suche oder baue dir einen sicheren Unterschlupf.
- Du benötigst Schutz gegen Umwelteinflüsse, insbesondere Wärme, Kälte, Nässe und Kontaminierungen.
- Besorge dir trinkbares Wasser und ausreichend Nahrung.
- Beschaffe dir schon vor dem Notfall Vorräte und lagere sie sicher, kühl und trocken.
- Verwende Schutzkleidung, stelle sie gegebenenfalls selbst her.
- Waffen schützen dein Leben. Stich-, Hieb- und Schlagwaffen können im Nahkampf wirkungsvoller sein als Schusswaffen. Fertige dir Waffen an.
- Wichtig ist die Bereitschaft, Waffen mit tödlicher Wirkung zur Selbstverteidigung und zur Sicherung des Überlebens einzusetzen.
- Sichere Unterschlupfe müssen getarnt und die Zugänge versteckt angelegt werden. Wichtig ist es, einen Ausweichunterschlupf zu finden, der …«
(In: Bekker, Forster und Zehmann, Handbuch für das Überleben, Seite 7 – 8. Schriftenreihe: PRAXIS des Überlebenstrainings, Kampftruppenschule I, Hammelburg; Ausgabe 2014)
Die Stadt war nicht wiederzuerkennen.
Wie oft hatten Autofahrer die A3 verflucht, wenn in den Baustellen zwischen Barbing und dem Autobahnkreuz Regensburg der Verkehr wieder einmal völlig zum Erliegen kam. Auf der rechten Fahrbahnseite stand an der Steigung ein LKW hinter dem anderen, während die PKW-Fahrer hektisch die Geschwindigkeit verringerten und sich von links nach rechts zwischen die LKWs quetschten, weil sie die Autobahn verlassen wollten. Gleichzeitig suchten andere Fahrer beim Auffahren auf die A3 Lücken zwischen den LKWs und vergrößerten das Chaos noch weiter. Lange brauchten die LKW-Fahrer, bis sie, einer nach dem anderen, wieder mühsam am Berg beschleunigen konnten.
Jetzt gab es keinen Verkehr mehr. Autos und Lastwagen standen verlassen kreuz und quer auf den Fahrbahnen, einige waren aufgebrochen worden, andere zeigten schwarze Brandspuren oder wiesen Einschüsse unterschiedlicher Kaliber auf.
In und zwischen den Fahrzeugen lagen Tote. Aufgequollene Körper, teilweise skelettiert, Groß und Klein waren oft nur anhand der Kleidung als männlich oder weiblich zu identifizieren. Nun dienten sie denen, die Hunger hatten, als Nahrung.
Ratten, große, hässliche Biester mit langen, kahlen Schwänzen, fanden die leeren Autos interessant und ruhten sich darin aus, wenn sie sich an dem, was sie vorfanden, vollgefressen hatten. Auf den Bäumen am Rande der A3 saßen Schwärme von trägen, satten Krähen, die am frühen Abend krächzend aufbrachen und schwerfällig in Richtung ihrer Schlafbäume flogen. Bei Anbruch der Dämmerung liefen Füchse zwischen dem Blech umher und jagten die Nager oder taten sich am Aas gütig.
Alle wurden satt.
Auch Hunde, einzeln oder im Rudel, folgten den lockenden Gerüchen. An einem Abend verharrten sie plötzlich, gebannt horchend und die Luft tief in ihre Nasen einsaugend. Dann klemmten sie, wie auf Kommando, die Schwänze zwischen ihre Beine und liefen laut hechelnd davon.
Größere, wildere Räuber hatten sich auf den Weg gemacht.
In der Stadt sah es nicht anders aus: Autowracks auf den Straßen, die teilweise von großen Militärfahrzeugen zur Seite geschoben worden waren, geplünderte Geschäfte, aufgebrochene Türen und zersplitterte Glasfenster, Abfall, Dreck und immer wieder Leichen.
Menschen sah man so gut wie nie. Nur in den Militärfahrzeugen befanden sich Lebende, gekleidet in hermetisch abgedichtete Schutzanzügen, nach Luft keuchend hinter den Schutzmasken mit ihren Filtern, durch die sich nur schwer atmen ließ.
Nachts war die Stadt dunkel und leer. Kein Lichtschein durchbrach die Finsternis. Kein menschlicher Laut war zu hören. Nur hier und dort raschelten die Jäger, die Heimlichtuer und die, die das Tageslicht scheuten.
Die wenigen Überlebenden bemühten sich, keinen Laut zu verursachen, sich im tiefen Dunkel zu verbergen und gingen den anderen, vor denen sie sich fürchteten, aus dem Weg.
Sie versteckten sich vor denjenigen, die Jagd auf ihre Mitmenschen machten. Diese überfielen sie aus dem Hinterhalt, brachen in ihre Verstecke ein und nahmen ihnen alles, was wertvoll und brauchbar erschien: Getränke, Lebensmittel, Kleidung, Werkzeuge und Waffen. Wenn sie es für notwendig befanden, nahmen sie auch Leben.
Das Recht des Stärkeren verdrängte Menschlichkeit, Hilfsbereitschaft und alle anderen Tugenden, die einst in dieser Stadt gegolten hatten.
Tagsüber erschienen die Soldaten in ihren Panzern und Fahrzeugen und suchten nach Überlebenden. Die nahmen sie anfangs mit, doch dann änderte sich ihr Verhalten. Jetzt töteten sie und das Peitschen der Schüsse klang wie Donnerhall in den schweigenden Straßen.
Das Leben war aus der Stadt gewichen. Die Türme des Doms blickten verwundert auf die Stille dort unten, während die Donau sich murmelnd und plätschernd zwischen ihren Ufern nach Osten wandte.
Das Einzige, was noch existierte, war der Name der Stadt. Und der stand nun für das Unfassbare, das Grauen und den Gestank: Regensburg.
Es war schwarz um mich herum. Absolut schwarz. Und es war still, absolut still. Ich war alleine, ganz alleine. Genauso musste es sein, wenn man in einem Sarg lag. Schwarz und still – so stellte ich es mir vor.
Ich lag auf dem Rücken, starrte in die Dunkelheit und lauschte. Nichts! Nur das regelmäßige Pumpen meines Herzes konnte ich vernehmen.
Wie immer in diesen langen, schlaflosen Nächten schlichen sich die Gedanken in meinen Kopf. Sie kamen ungewollt, fraßen sich in meinem Gehirn fest und kreisten immer um das Gleiche: Wie konnte das passieren?
Ich fand keine Antwort.
Irgendwann schlief ich endlich ein. Und wieder der gleiche Traum – wie ein Film in einer Endlosschleife.
Angefangen hatte alles, nachdem ich als verantwortlicher Bauleiter die Arbeiter meiner Firma beaufsichtigte, die in der Nähe der Donau eine Baugrube ausschachteten. Da in Regensburg immer mit archäologischen Funden zu rechnen war, stand ich in ständigem Kontakt mit dem Amt für Archiv- und Denkmalpflege der Stadt Regensburg.
»Hier ist etwas, Herr Forster«, rief mir einer der Arbeiter zu und schlug mit dem Spaten gegen eine Ziegelwand, die der Bagger freigelegt hatte.
Ich ließ die Arbeiten einstellen und rief den zuständigen Sachbearbeiter an.
»Ich schicke eine Kollegin zu Ihnen«, sagte er. »Stellen Sie bitte sofort alle Arbeiten ein!«
Das war das gängige Standardverfahren.
Noch vor der Mittagspause öffneten Grabungstechniker den Hohlraum, in dem sich mehrere Kisten befanden, die alle mit einem Hakenkreuz und dem Aufdruck
Streng Geheim! Kriegswichtig!
Eigentum der SS
versehen waren.
Als die Kisten von städtischen Arbeitern fortgebracht werden sollten, ließen zwei Männer eine der Kisten fallen. In ihr befanden sich Behälter, von denen zwei zerbrachen. Eine staubartige Substanz wurde freigesetzt, die die Männer gedankenlos in die Donau fegten.
Später wurde dieser Vorfall mit Tag 1, Jahr 1 bezeichnet. Schreibweise: 01/01.
Die beiden Arbeiter litten bereits am Abend unter starken Kopfschmerzen und fieberähnlichen Symptomen und wurden nach einer kurzen ärztlichen Untersuchung krankgeschrieben. Noch ahnte niemand, wie tödlich dieser Staub war. Erst später wurde er BAR genannt, Biological Agent Regensburg, übersetzt Biologischer Kampfstoff Typ Regensburg.
Am folgenden Morgen starb der erste Arbeiter, der zweite nur drei Stunden später. Das Staatliche Gesundheitsamt wurde eingeschaltet und der Leitende Medizinaldirektor informierte das Bundeskrisenzentrum in Ahrweiler.
Niemand begriff in diesem Augenblick so richtig, was in Regensburg passiert war.
Ich auch nicht – obwohl es vor meinen Augen geschah.
Als immer mehr Menschen innerhalb kurzer Zeit krank wurden, ging man von einem terroristischen Anschlag aus und das Bundeskrisenzentrum beschloss, Stadt und Landkreis Regensburg aus »Gründen der Abwehr von terroristischen Angriffen …« zu isolieren.
Spezialeinheiten der Bundeswehr, der Staatlichen Feuerwehrschule und medizinisches Personal einer Sanitätseinheit der Bundeswehr wurden nach Regensburg verlegt.
Die Bundesregierung schaltete das ZEKZ, das Zentrale Europäische Krisenzentrum Zürich, ein, das sofort die Befehlsgewalt übernahm. Die bayerische Landesregierung und die öffentlichen Verwaltungen hatten ab diesem Zeitpunkt im Landkreis Regensburg und in den angrenzenden Gebieten nichts mehr zu sagen.
Drei Tage später wurden meine Frau und unsere Tochter krank und ich brachte sie im Auto zu Christian, einem befreundeten Arzt. Die Straßen waren merkwürdig leer. Wenn man Leute sah, verschwanden sie sofort in Hauseingängen oder hinter Hausecken. Dreimal hielten uns Soldaten an Straßensperren an und fragten uns, wohin wir wollten. Als sie erkannten, wie es um meine Frau und unsere Tochter stand, traten sie zurück und winkten uns durch, während sie mit ihren Gewehren auf uns zielten.
Christians Praxis war voller Leute, die sich fiebernd, hustend und mit laufenden Nasen im Wartezimmer drängten.
»Ich kann nichts für sie tun, Michael«, keuchte Christian. »Ich bin selbst krank. Ich werde sterben und ihr auch. Alle werden sterben.«
Ich sehe ihn vor mir, wie er mich aus blutunterlaufenen Augen anstarrt und gelber Rotz ihm aus den Nasenlöchern tropfte. »Nichts tun …«, wiederholte er. »Nichts tun …« und er streckte seine Hände nach mir aus, so als wollte er mich umarmen. Dann überlegte er es sich, drehte sich um und stolperte aus dem Behandlungszimmer ins benachbarte WC. Ich hörte ihn dort würgen und rotzen, während meine Frau und unsere Tochter bewusstlos zu Boden sanken.
Panisch fuhr ich in der Dunkelheit hoch und stieß mit dem Kopf gegen ein isoliertes Wasserrohr. Das ist mir in den letzten Wochen oft passiert, immer war es dieser Traum und jedes Mal wachte ich an der gleichen Stelle auf.
Mein Herz raste und mir lief der Schweiß aus den Achselhöhlen. Ich stank, aber das war mir egal. Mit zitternden Händen wollte ich eine Kerze anzünden, ließ es dann aber sein. Ich suchte nach dem Wasser, trank ein paar Schlucke und wischte mir mit einem alten Lappen den Schweiß vom Körper.
»Ich muss raus hier!«, murmelte ich. »Endlich raus hier!«
Das hatte ich mir schon oft vorgenommen, aber die Erinnerungen hatten mich daran gehindert, es zu tun. »Morgen. Morgen schaue ich mich nach einem neuen Versteck um«, schwor ich mir. »Gleich morgen. Oder übermorgen. Auf jeden Fall bald.«
Ich blieb auf der Liege sitzen, stützte meinen Kopf in die Hände und dachte daran, was weiter passiert war.
Meine Frau starb an dieser mysteriösen Infektionskrankheit. Dann meine Tochter und auch mein Freund Christian. In einem Camp, in dem wir unterkamen, wurde mein Sohn ermordet, und ich hatte ihm nicht helfen können, durfte ihn noch nicht einmal auf dem Friedhof bestatten. Das war verboten. Streng verboten! Man lud tote Körper auf einen LKW und brachte sie fort.
Soldaten in ABC-Schutzanzügen hoben mit riesigen Baggern Massengräber aus und verscharrten die Leichen, die in den Krankenhäusern, Geschäften und auf den Straßen lagen.
Schnell breitete sich die Krankheit auch in den angrenzenden Landkreisen und Regierungsbezirken aus. Die Leute starben wie die Fliegen und man ging dazu über, die Toten zu verbrennen. Dem Gestank des brennenden Diesels und des schmorenden Fleisches konnte man nirgendwo entkommen und die Überlebenden verkrochen sich in dunkle Ecken und versuchten dort, durch feuchte Tücher zu atmen, um den Gestank wenigstens etwas abzuschwächen. Aber auch das half nicht.
Als die Wasser- und Energieversorgung zusammenbrach, zogen sich die Soldaten in ihre Stützpunkte und Fahrzeuge zurück. Die Radio- und Fernsehsender wurden gestört, das Telefonnetz und die Mobilfunkmasten abgeschaltet; niemand sollte wissen, was hier in der Oberpfalz geschah.
Ich habe nie verstanden, warum man uns so isolierte. Es war auch niemand da, der mir darauf eine plausible Antwort hätte geben können. So oft ich es auch versuchte, weder mein Handy noch mein kleines Funkgerät brachten mehr als ein fernes Rauschen zustande. Ich lud die Geräte regelmäßig an Autobatterien auf, in der Hoffnung, dass mir doch irgendwann eine Stimme antworten würde. Nichts. Alles war tot.
Der Druck in meiner Blase wuchs an und ich tastete in der Dunkelheit nach dem großen Wasserkanister, in den ich immer urinierte. Sorgsam schraubte ich hinterher den Verschluss fest, damit die stinkende Brühe nicht auf den Boden tropfte. Es stank schon genug hier in diesem Raum.
»Morgen musst du den Kanister ausleeren«, dachte ich, als ich ihn wieder in die Ecke schob. Er war schwer und musste ziemlich voll sein.
Die Kerze stand auf ihrem gewohnten Platz und die Streichhölzer lagen direkt daneben. Meine LED-Lampe benutzte ich nur, wenn es unbedingt notwendig war. Von den dicken Kerzen hatte ich einen ganzen Karton voll – Batterien für Lampen waren viel schwieriger zu organisieren.
Das Streichholz flammte auf und der Docht der Kerze fing Feuer. Ihr Licht erhellte den Raum nur schwach, aber es tröstete mich. Ich blickte auf meine Uhr, eine japanische Citizen: Es war 03:15 Uhr. Sie besaß ein zuverlässiges Automatiklaufwerk und ich musste sie nur ausreichend bewegen und sorgsam pflegen. Dann würde sie mir viele Jahre die Zeit anzeigen. Ob sie pro Tag ein paar Sekunden vor oder nachging, war unerheblich.
Ich blies die Kerze aus und legte mich wieder hin. Es dauerte lange, bis der Schlaf kam und dann suchten mich wirre Träume heim. Soldaten schossen auf mich, während sie laut lachten, jemand klopfte an der Haustür und ein Mann schrie, ich solle ihn reinlassen. Er benötige meine Vorräte, nur meine Vorräte. Ich dürfe aber gehen, wohin ich wolle …
Keuchend fuhr ich hoch. Mein Herz raste und ich brauchte lange, bis ich mich wieder beruhigte.
»In den nächsten Tagen kümmere ich mich um einen sicheren Unterschlupf! Vielleicht schon heute«, beschloss ich erneut. Es gab mehrere Optionen und ich nahm mir vor, diese der Reihe nach zu untersuchen.
Der Kommandeur trat vor die Vollversammlung, deutete eine kurze Verbeugung an und begann seine Rede mit: »Meine sehr verehrten Vertreterinnen und Vertreter Ihrer Regierungen. Ich eröffne die turnusgemäße Sitzung der ZEKZ-Vollversammlung, zu der Sie alle form- und fristgerecht geladen wurden. Sie repräsentieren die Mitgliedsländer, die das Zentrale europäische Krisenzentrum Zürich, kurz ZEKZ genannt, gegründet haben. Als Gast darf ich heute General Albert D. Lucas, den stellvertretenden Verteidigungsminister der USA, hier in unserer Mitte begrüßen. Herr General …«
Ein schlanker, dunkelhäutiger Mann erhob sich von seinem Sitz direkt links vom Kommandeur, schaute kurz in die Runde und setzte sich wieder. General Lucas trug Zivil: einen hellgrauen, konservativ geschnittenen Anzug, ein weißes Hemd mit dunkelblauer Krawatte und auf Hochglanz polierte, schwarze Halbschuhe. Wie immer war seine Miene völlig ausdruckslos und ließ keine Emotionen erkennen.
Alle klopften höflich auf die Tische, an denen sie saßen. Die meisten Anwesenden kannten den stellvertretenden Verteidigungsminister nur aus dem Fernsehen.
»Danke, meine Damen und Herren«, sagte Lucas auf Englisch. »Aber ich bin kein aktiver General mehr, sonst dürfte ich diesen Posten nicht innehaben. Mr. Lucas genügt als Anrede.«
Der Kommandeur nahm den Hinweis mit einer entschuldigenden Armbewegung zur Kenntnis.
»Lassen Sie mich fortfahren.« Korpskommandant Beat Sprüngli-Mattern, einer der drei höchsten Generäle der Schweizer Streitkräfte, nickte seinem Adjutanten zu. Dieser startete die Präsentation, die auf eine große Leinwand hinter dem Kommandeur projiziert wurde.
»Nach dem verheerenden Anschlag vor zwei Jahren in Frankfurt, bei dem tschetschenische Terroristen eine schmutzige Bombe zündeten, gründeten mehrere europäische Staaten das ZEKZ und übertrugen mir die Befehlsgewalt.«
Die Präsentation zeigte Bilder von Erkrankten und eine Auflistung der Toten und Verletzten in Deutschland und den angrenzenden Nachbarstaaten.
»Meine beiden Stellvertreter, General Bruno Sarrail aus Frankreich, Admiral Gerald von Bencken aus Deutschland, und ich waren uns schnell darüber einig, dass zukünftig eine schnelle und vollständige Abriegelung verseuchter Gebiete durch uns unterstellte Truppen durchgeführt werden muss. Der zweite Anschlag vor fünfzehn Monaten in Luxemburg zeigte, wie wichtig die Ausbildung der Truppen gewesen war. Hier gelang es uns innerhalb von sechs Stunden, die Stadt Luxemburg sowie östlich gelegenen Bereiche des Landes hermetisch abzuriegeln und die Verbreitung der freigesetzten Mers-Viren auf weitere Teile des Großherzogtums und seine Nachbarländer zu verhindern.«
Die passende Grafik erschien auf der Leinwand.
»Die drei Großübungen Salzburg, Nimwegen und Paris verbesserten die Einsatzfähigkeit der eingesetzten Truppen und bewiesen, dass auch eine Stadt von der Größe von Paris isoliert und abgesperrt werden kann. Den Truppen aus Frankreich, Belgien, Deutschland und den Niederlanden möchte ich meine Hochachtung für ihren Einsatz aussprechen!«
Es folgten kurze Filmaufnahmen, die verschiedene Einheiten bei ihren Einsätzen zeigten. Zusätzlich wurden Aufnahmen der neuen Absperrzäune aus gelochten Edelstahlblechen eingeblendet.
»Die Klagen einiger Regierungen und vor allem die der Pariser Bevölkerung über die wirtschaftlichen Benachteiligungen sind verständlich, aber nicht zu ändern. Bei der Übung Paris im Februar letzten Jahres gab es massive Proteste von Bewohnern gewisser Trabantenstädte aus dem Großraum der französischen Hauptstadt. Daraus entwickelten sich kriegsähnliche Ausschreitungen, die die militärischen Einheiten zum Einsatz von Waffen zwangen. Die Angriffe auf die Soldaten wurden und werden von uns aufs Schärfste verurteilt. Unter der Zivilbevölkerung waren bedauerlicherweise zwölf Tote zu beklagen. Doch haben Untersuchungen unabhängiger Behörden eindeutig erwiesen, dass die Soldaten ausschließlich im Rahmen der Selbstverteidigung scharf geschossen haben, als sie von aufgebrachten Jugendlichen mit Molotow-Cocktails beworfen wurden.«
Auf der Leinwand erschien ein Bild eines Jugendlichen, der eine Flasche mit einem brennenden Stoffstreifen in Richtung der Soldaten schleuderte.
»Dieser Molotow-Cocktail traf zwei Soldaten, die schwerste Brandverletzungen erlitten. Als dieser Jugendliche eine zweite Flasche werfen wollte, wurde er erschossen«, erklärte Sprüngli-Mattern.
Er ließ seine Worte und die Bilder einen Moment wirken.
»Die aus den Anschlägen und den Übungen gewonnenen Erkenntnisse haben die Regierungen Ihrer Länder veranlasst, dem ZEKS in Notfällen die vollständige operative Befehlsgewalt zu übertragen. Hierzu mussten in den meisten Staaten die Verfassungen geändert werden.« Sprüngli-Mattern legte eine Pause ein, ließ seine Worte erneut wirken.
Als das Geflüster im Saal verebbte, fuhr er fort: »Ich danke den verantwortlichen Politikern für das Vertrauen, das sie in die Führung und die Arbeit des Zentralen Europäischen Krisenzentraums hier in Zürich setzen. Auch wurde dem ZEKS das Recht übertragen, bei terroristischen Anschlägen auf die Mitgliedsländer oder deren Bewohner die Todesstrafe zu verhängen.«
»Man sagt, es habe bereits Todesurteile gegeben, Herr General«, unterbrach ihn die Vertreterin Italiens. Sie sprach ein hartes, aber verständliches Englisch.
»Ja, Marchesa Rossano, die hat es gegeben. Diese Informationen sind nicht für die Öffentlichkeit bestimmt. Und ich möchte Sie, meine Damen und Herren, noch einmal an die Pflicht zur Geheimhaltung erinnern.«
Ein Raunen ging durch das Plenum und es dauerte einen Moment, bis wieder Ruhe eingekehrt war.
»Die beiden Attentäter von Luxemburg, ein algerisches Brüderpaar, wurde am ersten Tag des letzten Jahres von einem internationalen Militärgericht, das auf dem Militärflugplatz Meiringen tagte, zum Tod durch Erschießen verurteilt. Die beiden Männer hatten gestanden, von einem Pakistani einhunderttausend Dollar erhalten zu haben, die sie an ihre Familien in Algerien weiterleiteten. Um Mitternacht des folgenden Tages, wurden die Urteile auf einem Schießplatz der Schweizer Armee vollstreckt. Die Leichen wurden verbrannt, die Asche anonym bestattet.«
»Der Zusammenschluss des ZEKZ hat eine enorme Macht unter sich vereinigt. Ist das allen klar?«, warf der Vertreter der Niederlande ein.
»Und eine noch größere Verantwortung«, erwiderte Sprüngli-Mattern. »Möchten die Niederlande diese übernehmen?«
Er erhielt keine Antwort auf seine Frage.
Admiral von Bencken, der Leiter des Bundeskrisenzentrums in Ahrweiler, und General Sarrail, Mitglied des Französischen Generalstabs und Dozent für Taktik undasymmetrische Kriegsführung an der École spéciale militaire de Saint-Cyr, tauschten Blicke aus. Dann blickten sie wieder starr nach vorne.
»Hoffentlich steigt dir die Macht nicht zu Kopf, Kamerad Sprüngli-Mattern«, dachte von Bencken. Mit einem Mal fröstelte ihn.
Noch ahnte niemand der Anwesenden, wie schnell aus den Übungen tödlicher Ernst werden sollte.
Vorsichtshalber drückte ich das Stethoskop eine ganze Minute gegen die Stahltür, die den Heizungsraum von den übrigen Kellerräumen meines Hauses trennte. Es war nichts zu hören auf der anderen Seite. Mit dem Gerät hatte mich Christian beim jährlichen Gesundheitscheck immer abgehört. Nachdem er tot war, hatte ich im Dunklen die Tür zu seiner Praxis aufgebrochen und eine Menge Medikamente, einen kompletten Notfallkoffer und das Stethoskop mitgenommen und alles im Heizungsraum deponiert.
Mir war klar, dass die Sachen dort auf Dauer nicht sicher waren, denn es wurde jede Nacht geplündert. Irgendwann würde jemand auch in mein Haus einbrechen, um nachzuschauen, ob er nicht etwas Brauchbares finden konnte.
Es war gefährlich, das Haus zu verlassen. Immer wieder hörte ich Schüsse, mal weiter weg, mal ganz nah in einer der Nachbarstraßen. Die Soldaten hielten jeden an, den sie sahen, und durchsuchten ihn. Wenn man Sachen fand, die anscheinend aus Plünderungen stammten, stellten sie die Person an die Wand und erschossen sie. Einfach so.
Zur Warnung hingen überall die Plakate:
Wer plündert, wird erschossen!
(ZEKZ, GzSdM § 7a,c,d und § 8a-e)
Was GzSdM bedeutete wusste ich: Gesetz zum Schutz der Menschen. Das war mehr als makaber. Menschen wurden zu ihrem Schutz erschossen, weil sie nicht verhungern wollten.
Wegen dieser Gesetze ließ sich niemand freiwillig von den Soldaten kontrollieren. Ich auch nicht.
Wir Überlebenden mussten uns um Nahrung und andere Dinge des täglichen Bedarfs kümmern. Aus den Leitungen kam kein Wasser mehr, der Strom war abgeschaltet worden und die Behörden versorgten nur die Leute mit dem Notwendigsten, die sich im DEZ registrieren und internieren ließen.
Jeder musste plündern und ich tat das auch. Wenn ich Soldaten sah oder Fahrzeuge hörte, versteckte ich mich sofort im nächsten Haus und blieb in Deckung, bis sie wieder verschwunden waren. Zum Glück waren die Soldaten in ihren grünen, unförmigen Schutzanzügen recht unbeweglich und langsam. Sie wussten, sie waren verwundbar, und verfolgten ungerne die Immunis, so nannte man uns, in Gebäude. Zu leicht konnten sie dort das Ziel eines Angriffs werden.
Alle Immunis waren scharf auf Waffen und es war mehr als einmal vorgekommen, dass Soldaten getötet und ihre Waffen gestohlen wurden. Leider war es mir bisher nicht gelungen, eine funktionsfähige Schusswaffe und Munition zu finden.
Der Albtraum eines jeden Soldaten war ein Riss im Anzug. Das kam einem Todesurteil gleich. Für den Fall hatten seine Kameraden den strikten Befehl, ihn ohne seine Waffen zurückzulassen. Der Unglückliche konnte nur noch auf den Beginn der Infektion warten und hoffen, dass alles schnell ging.
Ich entriegelte die Tür, zog sie lautlos auf und lauschte nach verdächtigen Geräuschen: Nichts war zu hören. Den kleinen Gang vor der Tür zum Heizungsraum hatte ich leergeräumt. In Knöchelhöhe war eine fast unsichtbare Angelschnur gespannt, über die ich vorsichtig hinwegstieg. Sie war an einem Kantholz befestigt, das als viertes Bein unter einer Holzplatte diente. Darauf standen leere Gläser, in der sich einmal eingemachte Gurken und Rotkohl befunden hatten. Wenn jemand gegen oder auf die Angelschnur trat, zog er das Stück Holz unter der Platte weg, die Gläser fielen von der Platte und schepperten auf den gefliesten Boden. Außerdem hatte ich alle Kellerlichtschächte durch Ketten gesichert und die Rollläden der Fenster im kompletten Haus heruntergelassen und verkeilt. Wer sie zu öffnen versuchte, würde dabei eine Menge Lärm verursachen.
Bisher hatte es noch niemand probiert.
Die Scharniere und das Türschloss zum Heizungsraum waren gut geölt und lautlos verschloss ich die Stahltür hinter mir. Im Heizungsraum lagerten meine ganzen Vorräte: Rund eintausend Liter Mineralwasser, Konserven, Kartons mit Reis und Nudeln, Milchpulver, Gewürze, die medizinischen Gerätschaften, die ich aus Christians Praxis mitgenommen hatte, und natürlich die vier Plastiktanks mit den knapp neuntausend Litern Heizöl.
Ich hatte die vergangene Nacht in meinem Feldanzug geschlafen. Aus meiner Zeit bei der Bundeswehr besaß ich noch zwei komplette Feldanzüge im Flecktarnmuster, zwei Paar beige Schnürstiefel und eine Anzahl sehr brauchbarer Ausrüstungsgegenstände.
Das Koppel, an dem mein Kampfmesser hing, kam über die Feldjacke. Damit mir die Hose nicht in die Kniekehlen rutschte, zog ich einen normalen Ledergürtel durch ihre Schlaufen. Anschließend überprüfte ich meine ABC-Schutzmaske und den olivfarbenen Rucksack. Er war leer bis auf ein paar Powerriegel und zwei kleine Flaschen Wasser. Ich wollte mich heute im ehemaligen Kasernenviertel umsehen, denn, wenn man Wohnungen und Keller sorgfältig durchsuchte, fand man immer noch etwas, was andere übersehen hatten.
Ich hatte mich auf Wohnungen und Häuser spezialisiert, in denen es bestialisch stank. Dort verwesten ihre ehemaligen Besitzer und nur die Leute, die eine Schutzmaske besaßen, trauten sich dort hinein.
Zum Schluss steckte ich mein Fernglas in die linke Beintasche und das kleine, scharf geschliffene Beil in die Lederscheide, die auf den Gürtel gezogen war. Das war mein wertvollster Besitz: Werkzeug und Waffe in einem. Schon zweimal hatte Typen, die mir zu nahegekommen waren, einen Rückzieher gemacht, als ich das Beil zückte und sie die glänzende Schneide sahen.
Ich stieg die Treppe zum Erdgeschoss hinauf, auf der wieder eine Menge toter Fliegen lagen. Gott weiß, wo die alle herkamen. Ich nahm mir vor, die Treppenstufen nach meiner Rückkehr zu fegen.
Durch das Glas der Haustür fiel ein wenig Licht in den Flur und ich konnte die drei hellen, rechteckigen Flecken an der Wand erkennen. Dort hatten große Bilder von Blumen gehangen, die meine Frau während unseres letzten Urlaubs in der Toskana fotografiert hatte. Nach dem Tod meiner Lieben konnte ich die Bilder nicht mehr sehen. Sie lagen jetzt in unserem Schlafzimmer unter den Betten. Auch lagerte ich dort alle Fotos unserer Kinder. Die Wände in den Fluren, im Kinderzimmer und im Wohnzimmer waren nun kahl und leer. Das half mir, all das zu ertragen.
Im Schlafzimmer und in den Kinderzimmern blieben die Jalousien unten und die Türen versperrt. Ich ging nicht mehr in die Zimmer hinein. Was sollte ich dort? Meine Frau Nadja war als erste und Magdalena kurz nach ihr an der Seuche gestorben und Alex hatte man erstochen. Ich war bloß froh, dass Nadja den Tod unserer Kinder nicht mehr erleben musste. Ich frage mich selbst, wie ich darüber hinweggekommen bin. Bin ich überhaupt darüber hinweggekommen? Oder verdränge ich alles nur? Vielleicht ist mein Überlebensinstinkt einfach zu stark.
Die ungewohnten Geräusche kamen von draußen, aber nicht aus der Nähe, sondern aus Richtung Stadtrand. Aus Burgweinting oder aus dem Kasernenviertel, also der Gegend, in der ich heute nach Brauchbarem suchen wollte. Im ersten Augenblick konnte ich sie nicht identifizieren, aber dann wurde mir klar, was dort den Krach versursachte: Panzerketten und Lautsprecherdurchsagen. Und auch aus anderen Teilen der Stadt waren nun Lautsprecherdurchsagen zu vernehmen.
Heute passierte etwas völlig Neues: Panzer fuhren durch die Straßen, stoppten alle zwei oder drei Minuten und beschallten die Umgebung mit Durchsagen. Das musste ich mir ansehen.
Ich beschloss, meinen Rucksack vorerst im Hausflur liegen zu lassen. Ich hob die drei Profileisen, die die Tür verstärkten, aus den Halterungen. Diese waren beiderseits in der Mauer neben der Tür mit dicken Ankerdübeln und passenden Schrauben befestigt.
Ich zog vorsichtshalber mein Kampfmesser aus der Scheide, öffnete vorsichtig die Haustür und überprüfte sorgfältig die Straße in alle Richtungen. Das Haus zu verlassen war der gefährlichste Teil meiner Ausflüge. Wer es auf mich abgesehen hatte, brauchte sich nur in einem der Gebäude auf der anderen Straßenseite zu verstecken und schon hatte er mich im Fadenkreuz. Aber es half nichts. Ich musste hinaus und meine Vorräte aufstocken.
Von Vorteil war für mich, dass gegenüber in allen Wohnungen Tote lagen. In den Gebäuden hielt man es ohne Schutzmaske nicht aus. Der Verwesungsgestank war überwältigend und verursachte schon Brechreiz, wenn man bloß nahe an den Häusern vorbeiging.
Geduckt huschte ich hinaus und zog die Haustür hinter mir ins Schloss. Unauffällig schob ich einen kleinen, durchsichtigen Plastikstreifen unter die Tür. Sollte sie jemand öffnen und ins Haus gelangen, würde das Stück Plastik bei meiner Rückkehr dort nicht mehr liegen. In dem Fall blieben mir nur zwei Möglichkeiten: Ein neues Domizil suchen oder den Kampf aufnehmen. Eine Waffe, möglichst eine großkalibrige Pistole, stand auf meinem Wunschzettel ganz oben.
Rechts lag die Bajuwarenstraße, links die Straßen mit den Blumennamen. Es war früh am Morgen. Die Morgendämmerung kroch gerade über die Häuser im Osten und es regnete Bindfäden. Für Ende Mai ein richtiges Scheißwetter. Aber für mich war das Wetter ideal. Die Nachtsichtgeräte der Soldaten funktionierten nur in der Dunkelheit und sie hatten sie bereits ausgeschaltet. Jetzt lief der Regen über die Plexiglasscheiben ihrer Schutzmasken und schränkte ihre Sicht ein.
Vorsichtig arbeitete ich mich entlang des Grünstreifens vor bis zur Bajuwarenstraße. In der Hecke, die die Grundschule am Napoleonstein von der Straße trennte, verschmolz ich mit der Umgebung. Der Gestank, der aus der Schule zu mir hinüberzog, war brutal. Zuerst wollte ich die Schutzmaske aufsetzen, aber den Gedanken verwarf ich sofort wieder. Wenn ich plötzlich verschwinden musste, bekam ich nur schlecht Luft und kam schnell außer Atem. Am besten war es, flach zu atmen und den Gestank einfach zu ignorieren. Vorsichtshalber holte ich die grüne Sturmhaube aus der Tasche, die nur Schlitze für die Augen und den Mund besaß, und zog sie über. Ein weißes Gesicht war im Grün der Pflanzen viel zu auffällig. Die beiden Katzen, die seit ein paar Wochen unter einem Busch in einer umgedrehten Holzkiste hausten, fauchten mich an. Das taten sie immer. Aber wir respektierten uns gegenseitig und hielten Abstand voneinander.
Ich hörte die Panzer bevor ich sie sah. Vorne fuhr ein älterer M113 mit dem taktischen Zeichen der ABC-Abwehrtruppe, auf dem vier große Lautsprecher montiert waren. Hinter ihm, und das erschreckte mich sehr, rollte ein Radpanzer, den ich als Transportpanzer Fuchs der Bundeswehr identifizierte.
Das Rasseln der Panzerketten verstummte, als der M113 stehenblieb. Nach einem Moment lärmte der Lautsprecher los. Zwei Besatzungsmitglieder des M113 schauten oben aus den Luken heraus und schwenkten die MG3 auf den Drehringlafetten drohend in alle Richtungen, während die Durchsage abgespielt wurde.
Ich kam gar nicht dazu, sie mir anzuhören, denn plötzlich gab der Fahrer des Radpanzers Vollgas, beschleunigte quer über die Straße, walzte mit seinen sechs Rädern den schmalen Grünstreifen nieder und raste mit aufheulendem Motor quer über den Parkplatz des gegenüberliegenden Gartencenters. Die knapp zwanzig Tonnen Stahl schoben zwei Kleinwagen wie Spielzeug zur Seite, ließen die Reste der Glasfront des Gartencenters förmlich explodieren und alles, was noch in der Auslage lag oder stand, verteilte sich in sämtliche Richtungen. Der Panzer bremste ab, kam halb drinnen, halb draußen zum Stehen und die Hecktür schwang auf.
Sechs Soldaten sprangen aus dem Transportraum. Sie trugen nicht die üblichen Schutzanzüge, sondern schienen neue, verbesserte Modelle erhalten zu haben. Die Anzüge ähnelten etwas zu groß geratenen Feldanzügen und schienen flexibler zu sein als die Alten.
Zwei Soldaten gingen links und rechts neben dem Panzer in Stellung, hielten ihre Waffen schussbereit und suchten durch die Zielfernrohre die Umgebung ab. Die anderen verschwanden im Gartencenter.
Ich beglückwünschte mich dazu, die Sturmmaske übergezogen zu haben und drückte mich tief unter die Büsche, legte die Füße flach, damit man nicht die verräterischen Rundungen der Fersen sah. Ganz vorsichtig hob ich meinen Kopf nur so weit, dass ich erkennen konnte, was dort drüben vor sich ging.
Die Durchsage schien beendet zu sein. Urplötzlich herrschte eine merkwürdige, drohende Stille, obwohl die Motoren der Panzer im Standgas vor sich hin bollerten. Dann knallte es ein paar Mal im Inneren des Gebäudes. Ich hörte die Soldaten Befehle bellen und Leute panisch aufschreien.
Kurze Zeit später trieben die Soldaten fünf Personen mit vorgehaltenen Waffen aus dem Gartencenter. Die Unglücklichen mussten sich auf dem Parkplatz hinknien und die Hände hinter dem Kopf verschränken. Ein Offizier, erkennbar an den zwei weißen Sternen auf den Ärmeln des Schutzanzugs, kletterte oben aus der Luke des Fuchs. Er sprang gekonnt vom Panzer und trat vor die Knienden.
Ich zog das Fernglas aus der Beintasche und betrachtete den Oberleutnant und seine Ausrüstung genau. Diese Art von Schutzanzug hatte ich noch nie gesehen. Es musste ein sehr weiches, anschmiegsames Material sein, denn es machte die Bewegungen seines Trägers mit. Zwischen den Handschuhen und den Ärmeln befanden sich deutlich erkennbare Kupplungen. Es ließen sich also die Handschuhe vom Anzug trennen und bei Bedarf auswechseln. Wahrscheinlich endeten die Ärmel des Anzugs in Latexmanschetten, die sie abdichteten. Das kannte ich von Trockentauchanzügen. Auch die Schuhe besaßen Kupplungen und ließen sich wechseln, ohne den Anzug ausziehen zu müssen. Aufgesetzte Taschen an den Beinen, Oberarmen und an der Brust boten genügend Platz für Ausrüstungsgegenstände. Die Schutzmaske lag eng am Gesicht an und es gab links und rechts zwei flache, handtellergroße Filter. Sie sah deutlich komfortabler aus als die alten, unförmigen Modelle mit dem großen Schraubfilter, durch den man nur schlecht Luft bekam. Außerdem beschlugen die Plexiglasscheiben der alten Schutzmaske sehr schnell von innen und schränkten die Sicht deutlich ein. Die Scheiben der neuen Masken sahen klar aus uns schienen mit einer entsprechenden Anti-Fog-Beschichtung versehen zu sein.
Der Oberleutnant hielt ein kleines, eingekapseltes Funkgerät in der Hand, in das er sprach. Dann steckte er es zurück in eine Brusttasche und entnahm der anderen etwas, das ich nicht genau erkennen konnte. Es schien ein kleines Buch oder ein Schreibblock zu sein, in dem er blätterte. Schließlich las er den Leuten einen Text vor.
Was er vorlas, konnte ich nicht verstehen, denn die Motoren der Panzer waren zu laut und die Stimme des Offiziers wurde durch seine Schutzmaske gedämpft. Aber ich ahnte, was er ihnen gerade mitteilte: »… verurteile ich Sie hiermit zum Tode. Das Urteil wird sofort vollstreckt.«
Die Leute starrten den Offizier entsetzt an. Mit drei schnellen Schritten trat er zur Seite und zeigte auf zwei Soldaten. Sie nahmen kurz Haltung an, hoben ihre Waffen, zielten und dann krachten Schüsse.
Die Unglücklichen kippten wie Stoffpuppen nach vorne. Nun trat der Offizier neben die Toten und schoss jedem noch einmal in den Kopf. Zur Sicherheit. Obwohl man Tote eigentlich nicht mehr erschießen kann. Man kann nur noch auf sie schießen.
Den Befehl, den er dann brüllte, vernahm ich deutlich: »Aufsitzen!«
Kurze Zeit später rollten die Panzer in Richtung Universität davon. Am Ende der Straße, dort wo sich die Reste der noblen Porsche-Vertretung befanden, erfolgte die nächste Durchsage. Ich lag immer noch unter den Büschen, versuchte mein rasendes Herz unter Kontrolle zu bringen und wusste nicht, was ich tun sollte. Da erschoss vor meinen Augen ein deutscher Offizier seine Landsleute. Einfach so, nur weil sie nicht an der Seuche gestorben waren und unter Hunger litten. Er tat es, weil es ihm jemand befohlen hatte. Dieser Jemand hieß nicht Meier, Büchli, Dupont, Smith oder sonst wie, sondern Zentrales Europäisches Krisenzentrum.
Ich überlegte. Es konnte durchaus sein, dass ich den Oberleutnant in Hammelburg auf der Offiziersschule ausgebildet hatte. Er sollte als Offizier für das Wohl der Bundesrepublik Deutschland eintreten und hatte den Treueschwur auf unser Grundgesetz abgelegt:
Ich schwöre, der Bundesrepublik Deutschland treu zu dienen und das Recht und die Freiheit des deutschen Volkes tapfer zu verteidigen, so wahr mir Gott helfe.
Und auf keinen Fall hieß es: »… dem ZEKZ treu zu dienen …«
So ein Irrsinn! Nur ein oder zwei von tausend Menschen waren gegen das, was in Regensburg freigesetzt worden war, immun. Und die wurden erschossen! Getötet in dem Jahr, in dem im Nahen Osten ein umfassender Frieden in Kraft getreten war. Sogar die Israelis und die Hisbollah hielten sich an die vereinbarten Regelungen. Und in Regensburg regierten improvisierte Standgerichte!
Langsam beruhigte sich mein Puls und ich beschloss, mich drüben im Gartencenter umzusehen. Prüfende Blicke nach links und rechts und dann rannte ich über die Straße. Ich verweilte kurz bei den Toten. Zwei Männer, beide in ihren Dreißigern, eine sehr junge Frau, fast noch ein Mädchen, eine ältere Frau und ein Kind – ein Junge, vielleicht elf oder zwölf Jahre alt. Dem Aussehen nach schienen sie Immigranten zu sein. Vielleicht Türken oder Iraner, vermutete ich.
Nach einem kurzen Gebet verschwand ich im Gartencenter. Hier war schon fleißig geplündert worden, aber die Erschossenen hatten doch noch einiges gefunden, was ihnen brauchbar erschienen war. Ein paar gefüllte Kartons und rund zwanzig große Säcke mit Trockenfutter für Hunde standen hinten in der Zooabteilung. Davor lag ein weiterer Toter, ein älterer Mann, der den anderen Toten ähnlich sah. Die ersten Schüsse vorhin hatten ihm gegolten.
Ich durchwühlte alles und nahm einen Karton mit diversen Batterien mit. Diese wurden immer seltener und damit wertvoller. Das Trockenfutter konnte ich nicht gebrauchen.
Anschließend schlich ich zurück zu meinem Haus und überprüfte die Tür. Der Plastikstreifen steckte dort, wo ich ihn platziert hatte, und der Schlüssel drehte sich leicht im Schloss. Niemand hatte sich an der Tür zu schaffen gemacht.
Aufgewühlt setzte ich mich im Wohnzimmer auf die Couch. Durch kleine Spalten in den Jalousien fiel fahles Licht in den Raum. Ich fühlte mich einsam und vollkommen ausgelaugt.
Auf dem Beistelltisch lag ein kleines Buch im DIN-A5-Format. Der Einband war olivgrün, biegsam und abwaschbar. Das Licht reichte, um den Titel lesen zu können:
Handbuch für das Überleben
Das erste Kapitel des Buchs kannte ich auswendig. Ich selbst hatte es geschrieben. Es schien mir, als sei das vor hundert Jahren gewesen. Als ich das Buch zurück auf den Tisch legte, fiel mir ein, dass ich vom Inhalt der Durchsagen nichts mitbekommen hatte.
Für den Tag war mir der Sinn nach Ausflügen vergangen. Ich holte die halbvolle Flasche Whiskey aus dem Schrank und trank sie langsam leer, während ich gegen die Wand starrte und an meine toten Lieben dachte.
Am nächsten Morgen brummte mein Kopf und ich trank eine Menge Mineralwasser, bis es mir wieder besser ging. Mit einem Mal bekam ich Platzangst in dem dunklen, warmen Heizungsraum, in dem es immer leicht nach Öl roch. Vorsichtig schlich ich mich nach draußen und nahm den vollgepinkelten Kanister mit, dessen Inhalt ich in den Gully rechts vor dem Haus entsorgte. Danach stellte ich den Kanister in den Flur, schloss die Haustür und sicherte sie mit dem Plastikstreifen. Bevor ich loslief, überprüfte ich die Straße in jede Richtung doppelt so lang wie normalerweise und suchte mit dem Fernglas die gegenüberliegenden Hausfronten ab. Nichts deutete auf Leben hin.
Wie gewohnt suchte ich mir eine Deckung in zehn, maximal zwanzig Metern Entfernung, lief gebückt dorthin und beobachtete mindestens zehn Minuten intensiv die Umgebung, bevor ich weiterschlich. So arbeitete ich mich in den nächsten zwei Stunden von Deckung zu Deckung vor, bis ich wieder das Rasseln der Panzerketten vernahm.
An dem Tag begann der Terror der Lautsprecher. Drei Tage und Nächte, jede dreißig bis fünfzig Minuten, erfolgten überall in der Stadt diese Durchsagen. Ich kam einfach nicht zur Ruhe und konnte nur viertelstundenweise schlafen. In meinem Hinterkopf nistete sich die Angst ein. Die Furcht davor, dass Soldaten mein Haus durchsuchen würden. Die ließen sich von einer Stahltür bestimmt nicht aufhalten. Eine Salve aus dem Sturmgewehr gegen das Schloss und der Weg war frei. Zwei Minuten später wäre ich tot. Erschossen, so wie die fünf Leute vor dem Gartencenter.
In den folgenden Tagen beobachtete ich immer wieder die Panzer. Neu war, dass nun dem M113 zwei oder drei Radpanzer folgten und die Soldaten anfingen, systematisch die Gebäude links und rechts der Straße zu durchsuchen. Ich konnte mir ausrechnen, wann sie bei mir in der Straße auftauchen würden.
Der Text der Durchsage war immer gleich und bald kannte ich jedes einzelne Wort auswendig:
Achtung, Überlebende!
Sie sind verpflichtet, sich unverzüglich im Donau-Einkaufszentrum bei den zuständigen Behörden zu melden und sich internieren zu lassen. Im Lager werden Sie verpflegt und medizinisch versorgt. Falls Sie dieser Anweisung nicht nachkommen, werden die bewaffneten Einsatzkräfte ohne Vorwarnung auf Sie schießen.
Kommen Sie zwischen 10:00 Uhr morgens und 14:00 Uhr mittags aus Ihrem Versteck. Halten Sie Ihre Arme hoch und schwenken Sie ein weißes oder helles Tuch.
Wir wissen, dass Sie sich versteckt halten. Nach Ihnen wird gesucht. Wenn Sie von den Einsatzkräften entdeckt werden, wird man Sie erschießen!
Achtung, Überlebende!
Sie sind …
Um eine Stadt von der Größe Regensburgs zu durchsuchen, benötigt man Zeit und Hunderte von Soldaten. Anfangs hatte ich an den Fahrzeugen nur die taktischen Zeichen der ABC-Truppen gesehen. Aber nun waren Kampftruppen in der Stadt. Die Radpanzer kamen von unterschiedlichen Panzergrenadierbataillonen und auch Gebirgsjäger beteiligten sich daran, die Stadt nach Immunis zu durchkämmen. Mit denen war nicht zu spaßen. Die Kampftruppen waren gut ausgebildet, hatten Häuserkampf in Hammelburg oder Munster trainiert und die meisten Soldaten dieser Einheiten hatten an Auslandseinsätzen in Afghanistan und Mali teilgenommen.
Ich wusste das, da ich selbst Offizier und zweimal in Afghanistan gewesen war. Später hatte ich angehende Offiziere unterrichtet. Das Überlebenstraining war mein Fachgebiet. Wie kann ich überleben, wenn ich hinter feindlichen Linien auf mich alleine gestellt bin? Darüber hatte ich zusammen mit zwei Kameraden das Handbuch geschrieben, das heute zu den Standardwerken der Offiziersausbildung in der Bundeswehr gehörte.
Das erste Kapitel »Überlebensregeln für Notsituationen« stammte von mir. Und die erste Regel hieß:
Suche oder baue dir einen sicheren Unterschlupf!
Unser Haus, eigentlich nur noch mein Haus, konnte man nicht als sicheren Unterschlupf bezeichnen. Es ist gar nicht so einfach, sich in einer Großstadt vor einer Gefahr zu verstecken. Das in einem anonymen Hochhaus mit vielen Wohnungen zu versuchen, wäre blanker Unsinn. Der Fahrstuhl funktioniert nicht und das einzige Treppenhaus können zwei Bewaffnete sperren und sichern. Strom und Wasser werden abgestellt und dann entzündet man kombinierte Rauch-Reizgas-Granaten im Treppenhaus. Der beißende Qualm scheucht einen ganz nach oben und man muss im obersten Stockwerk die Fenster öffnen oder irgendwie aufs Dach klettern. Entweder erwischt einen dort ein Scharfschütze oder spätestens nach drei Tagen ist man vor Durst halb wahnsinnig und gibt auf. Kommt man die Treppe hinunter, schießen die Bewaffneten ohne mit der Wimper zu zucken.
Es gibt eine Alternative: Man springt vom Dach des Hochhauses und nach weniger als zwei Sekunden ist alles vorbei.
Einfamilien- oder Reihenhäuser bieten Ihnen ebenfalls keinen dauerhaften Schutz. Die Fenster, Rollläden und Haustüren sind viel zu leicht zu knacken. Und wenn das Militär es darauf anlegt, positioniert es an exponierten Stellen Beobachter, die den Gesuchten sofort entdecken, wenn er seinen Unterschlupf verlässt oder betritt. In der Dunkelheit hat man sowieso keine Chance, weil die Beobachter mit Restlichtverstärkern ausgestattet sind.
Jetzt denkt man an ein Shopping-Center, die Regensburger Arcaden zum Beispiel. Vom Prinzip ist das keine schlechte Idee. Der Gebäudekomplex ist groß, relativ unübersichtlich und besitzt mehrere Ausgänge in verschiedene Richtungen. Das alles ist schwer zu überwachen und zu durchsuchen. Doch man wird nicht der oder die Einzige mit dieser Idee sein und trifft dort eine Menge Leute an. Und mindestens die Hälfte von denen, die man dort trifft, ist einem nicht wohlgesonnen. Die sind nämlich scharf auf alles, was man besitzt. Wer sein Eigentum nicht freiwillig hergibt, mit dem wird kurzer Prozess gemacht. Ein Leben ist heutzutage weniger wert als zwei Gemüsekonserven.
Ich selbst dachte an einen mittelgroßen Gebäudekomplex mit hochstabilen Türen, gesicherten Ein- und Ausgängen, mit vergitterten Fenstern und schusssicheren Scheiben. Das alles lag ganz in der Nähe, am anderen Ende der Bajuwarenstraße. Es war eine ehemalige Kaserne, in der sich bis zum Ausbruch der Seuche das Polizeipräsidium, die Kriminalpolizeiinspektionen (KPI) Regensburg und Oberpfalz, das Staatliche Bauamt und die Autobahndirektion Südbayern befunden hatten.
Die Fenster in den Gebäuden der Autobahndirektion und des Staatlichen Bauamts waren zugemauert und vor die Eingangstüren waren stabile Metallplatten gedübelt worden. Alle bayerischen Polizeigebäude hatte man in den letzten zwei Jahren in kleine Festungen verwandelt.
Nach den Anschlägen des IS auf Polizeipräsidien und Inspektionen in München, Mainz, Essen, Hamburg und Wolfsburg, sowie den verheerenden Anschlag auf die Feuer- und Rettungswache 1 in Bremen Mitte, war den Bundesländern nichts anderes übriggeblieben, als alle Polizei- und Feuerwehrgebäude und andere staatliche Einrichtungen vor möglichen Anschlägen zu sichern.
Am dritten Tag nach Beginn der Durchsagen entschloss ich mich, ganz früh am nächsten Morgen die Umgebung des Polizeipräsidiums gründlich zu observieren, egal ob dort draußen die Soldaten lauerten oder nicht. Es half nichts, ich musste raus aus dem Haus und meine Vorräte, vor allem aber mich selbst, in Sicherheit bringen.
Um 22:00 Uhr erfolgte die letzte Durchsage. Es rollten noch ein letztes Mal Panzer über den Unterislinger Weg und danach war es plötzlich ruhig.
Keine Durchsagen mehr, kein Klirren der Panzerketten, keine Schüsse. Mit einem Mal herrschte Ruhe. Nach dem Lärm der letzten Tage hätte sie mir willkommen sein müssen, doch für mich war es eine bedrohliche Stille, die mich nicht schlafen ließ.
Ich stieg hoch auf den Dachboden, öffnete vorsichtig eine Dachluke und suchte mit dem Fernglas die Dunkelheit ab. Nichts war zu sehen, keine Scheinwerfer, keine Bremslichter. Auch aus den beiden anderen Dachluken konnte ich nichts erkennen. Das Militär schien sich zurückgezogen zu haben.
Plötzlich roch ich etwas, das den allgegenwärtigen Gestank der Verwesung überlagerte. Es roch nach Grill – ganz deutlich nach glühender Holzkohle und Grillfleisch. In der Nachbarschaft musste sich ein Überlebender befinden, der ein Stück Fleisch auf den Grill geworfen hatte. Und der Geruch kam eindeutig aus der Richtung der Kleingartenanlage Mühlweg. Sehen konnte ich nichts, aber riechen. Und das löste bei mir eine Hungerattacke aus. Für einen Moment fantasierte ich von frischen Brezeln, gegrilltem Schweinehals und einem großen, eiskalten Weizenbier. Die Nudeln mit Tomatensauce aus der Tube hingen mir wirklich zum Hals raus. Ich lehnte mich gegen die Wand und rutschte an ihr runter, als die Erinnerungen wie ein Wasserfall auf mich hinabstürzten: Das Grillfest im letzten Jahr an meinem Geburtstag in unserem Garten. Ich sah sie alle vor mir: meine Frau, unsere Kinder, die Behrends mit ihren beiden großen Hunden, unsere Freunde Georg und Sabine …
Es dauerte lange, bis meine Kräfte zurückkehrten und ich wieder aufstehen konnte.
Die Gedanken darüber, was dort gegrillt wurde, kamen mir erst später. Das Fleisch in den Tiefkühltruhen war verdorben und von Maden gefressen worden. Hatte jemand in seinem Gartenhaus ein Schwein gehalten? Wohl kaum. Außerdem waren viele Schweine in Zuchtbetrieben auch an der Seuche gestorben, das war bekannt. Sie waren uns Menschen einfach viel zu ähnlich, um zu überleben. Oder wir ihnen, je nachdem, aus welchem Blickwinkel man es betrachtete.
Was wurde dort gegrillt? Plötzlich wollte ich das gar nicht mehr wissen und mein Heißhunger auf Gegrilltes war wie weggeblasen. Um den Grillmeister, wie ich ihn kurzerhand taufte, konnte ich mich später kümmern.
Ich verschloss die Dachfenster wieder und verließ den Dachboden. Nach der Kontrolle aller Fenster und Türen zog ich mich in den Heizungsraum zurück und schlief unerwartet gut, bis mich um 06:00 Uhr das Rattern des altmodischen Weckers aus dem Schlaf riss. Er benötigte keine Batterien, man musste ihn täglich aufziehen. Ich hatte ihn vor einigen Tagen im Keller eines Hauses gefunden, als ich es durchsuchte.
Eine Viertelstunde später war ich unterwegs.
Nichts, aber auch gar nichts war zu hören, als ich die Straße überquerte und mich auf der gegenüberliegenden Straßenseite zwischen zwei Häusern hindurch vorsichtig in Richtung Kleingartenanlage Mühlweg bewegte.
Rund einhundertneunzig kleine, gepflegte Gärten waren es gewesen, die von ihren Besitzern penibel in Schuss gehalten wurden. Mir blieben sie so in Erinnerung: Die Zäune sahen immer frisch gestrichen aus, die winzigen Rasenstücke waren exakt gemäht und die Kanten sauber abgestochen. Obstbäume, Beerensträucher und verschiedene Gemüsearten versorgten die fleißigen Gärtner und ihre Familien mit allem, was man so in der Küche benötigte. Und Unkraut existierte hier nur als Wort.
Aber davon war nichts geblieben. Jetzt wucherte überall Unkraut, das Gras auf den Rasenstücken stand kniehoch, Zäune waren umgestoßen und fast alle Gartenhäuschen aufgebrochen worden. Und überall lagen Leichen, angenagte Leichenteile und sauber abgenagte Knochen.
Eine Holzhütte von der Art, wie man sie bei der Metro als Bausatz kaufen konnte, gab mir Deckung. Ich nahm mir viel Zeit und betrachtete die vor mir liegenden Gartenhäuser sorgfältig und in aller Ruhe. Weder auf den Grundstücken noch in den Häusern selbst waren Bewegungen oder Anzeichen von Leben zu erkennen. Aus den Schornsteinen entwich kein Rauch und in den Gärten war lange nicht mehr gearbeitet worden. Ich duckte mich und bewegte mich entlang einer Hecke vor bis zu einem stabilen Drahtzaun, der die Kleingartenanlage zu den Grundstücken der dahinterliegenden Straße begrenzte.
Den Zaun überwand ich mit einer schnellen Flanke und dann suchte ich Deckung zwischen einigen Johannisbeersträuchern, an denen die ersten grünen Beeren hingen. Vor mir lag einer der asphaltierten Wege, die die Kleingartenanlage durchzogen.
Aus dem Gartenhaus direkt vor mir kam ein ekelerregender Verwesungsgestank. Es hatte dem Gartenbesitzer nicht geholfen, sich dort vor dem Tod zu verstecken.
Das Gartentor hing schräg in den Angeln. Ich schob es vorsichtig weiter auf, robbte vor, blieb zwischen zwei Beeten auf dem Bauch liegen und suchte mit dem Fernglas die Umgebung ab. Eine Bewegung links von mir jagte mir einen mächtigen Schreck ein. Ich fokussierte das Glas und dann erkannte ich, was meine Aufmerksamkeit erregt hatte: Es waren Hunde. Mindestens vier unterschiedliche Tiere verbargen sich hinter einem Busch und schauten zu mir herüber. Nach einer Weile verließ eines der Tiere, ein großer, dunkler Schäferhund, das grüne Versteck, blieb mitten auf dem Weg stehen und starrte mich an. Ich sah durch das Glas seine gelben Augen und fühlte, wie mich der Hund taxierte. Er zog die Lefzen hoch und ich konnte deutlich erkennen, wie ihm der Seiber aus dem Maul tropfte. Die Nackenhaare waren hochgestellt und ich erwartete jeden Augenblick, dass er losstürmen und mich angreifen würde. Ich zog mein rechtes Bein an und machte mich bereit, aufzuspringen und auf das Dach eines nahegelegenen Holzhauses zu klettern, während ich weiter das Biest durch mein Fernglas beobachtete.
Er bellte zweimal kurz und gab dann ein tiefes, zorniges Knurren von sich, während er mich genau musterte. Endlich drehte sich das Tier um und verschwand mit seinen Kumpeln aus meinem Gesichtsfeld. Was er gemeint hatte, war mir klar: »Ich will dich hier nicht mehr sehen! Das ist mein Revier.« Das war eine Warnung, und zwar eine deutliche.
Ich machte das ich weiterkam, schlich durch die Schrebergärten und versuchte, die Zäune schnell und möglichst lautlos zu überwinden. Vor mir tauchten die ersten Häuser des ehemaligen Kasernenviertels auf und ich blieb im Schutz der Sträucher und Bäume, um wieder die Umgebung nach Anzeichen von Leben abzusuchen. Vielleicht saßen doch irgendwo in den oberen Stockwerken Scharfschützen, die nur darauf warteten, einen Unvorsichtigen in die Mitte des Fadenkreuzes zu bekommen.
Nach jeweils zehn oder fünfzehn Metern, die ich vorrückte, suchte ich Schutz hinter Mauern, Garagen, verlassenen Autos oder Müllcontainern und überprüfte sorgfältig die Umgebung vor mir. Nichts. Absolut keine Bewegung war zu entdecken und es gab auch keine sonstigen Anzeichen, dass sich irgendwo jemand versteckte und auf mich wartete. Besonders die Fenster der oberen Stockwerke und die Dachluken überprüfte ich genauestens. Sie waren alle verschlossen. Ein Scharfschütze würde dort oben bei geöffnetem Fenster auf einem Tisch liegen und er hätte den Hintergrund des Zimmers mit einer Folie oder Plane verdunkelt, um nicht gesehen zu werden.
Das Militär schien sich tatsächlich zurückgezogen zu haben.
Links von mir kläfften zwei Hunde, einer heulte kläglich auf und andere stimmten in das Konzert ein. Da hatte der große Schäferhund wohl einem seiner Rudelmitglieder ins Hinterteil gebissen, um ihm zu zeigen, wer das Alpha-Tier war. Schnell war die Ruhe wieder hergestellt und ich konzentrierte mich auf den Weg, der vor mir lag.