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Berlin, Herbst 2029. Das Kottbusser Tor ist tot – gestorben an Kunst, Bohème und Kinderwagen! Auf der Folie von Thomas Pynchons legendärem Roman "Die Versteigerung von No. 49" wirft Jörg Albrechts Theaterstück "Der Kotti – Die Versteigerung von No. 36" die Frage auf, ob es eine Zukunft jenseits von Altbau-Fetisch und neu hingeklotzten Betonmonstern geben kann. Sicher ist nur eins: Hausbesetzer und Bodenspekulanten treffen sich am Ende dort, wo sie sicher nicht hinwollten – in der Hall of Shame.
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Seitenzahl: 58
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Jörg Albrecht
Der Kotti –Die Versteigerungvon No. 36
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
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ebook im be.bra verlag, 2016
© der Originalausgabe:
be.bra verlag GmbH
Berlin-Brandenburg, 2015
KulturBrauerei Haus 2
Schönhauser Allee 37, 10435 Berlin
Lektorat: Marijke Topp, Berlin
Fotografien: Robert Zagolla, Berlin
Umschlag und Titelfoto: Manja Hellpap, Berlin
ISBN 978-3-8393-0129-6 (epub)
ISBN 978-3-89809-129-9 (print)
www.bebraverlag.de
Einleitung
Die Schönheit des Unübersichtlichen, die notorischen Geräusche und der Triumph der Geschichten über die Ausstattung
Der Kotti – Versteigerung von No. 36
Ich brauch auch ein Stück Einsamkeit
Verwechslungs-Go-In
Eigentlich ist mir alles zu sick hier
drama queen
Schmalspur/Schmalfilm
Coming-Soon-Stadt
Panorama King
Verschwörung gegen dich, den ich liebe
Der Autor
Es gibt Theatervorstellungen, während derer im Zuschauerraum eine solche Stille herrscht, dass man meint, niemand wäre erschienen, obwohl jeder Platz besetzt ist. So ein Gefühl kann einen manchmal auch in der sogenannten historischen Mitte Berlins überfallen, oder in Braunschweig an der Shopping Mall, die vor der Alibikulisse des Schlosses erbaut wurde, oder in München auf der Maximilianstraße. Diese Orte sind leer, auch wenn sie voller Menschen sind. Es sind Bühnen, auf denen nicht mehr stattfindet als die Zirkulation von Waren – mal sind es Images, mal Kleidung, mal elektronische Luxusartikel –, Bühnen, auf denen die Stille alles beherrscht.
Und es gibt Orte, an denen es wimmelt, selbst wenn nachts um vier nur ein Dutzend Menschen anwesend sind. So ein Gewimmelort ist das Kottbusser Tor. Oben hört man die U1 als Hochbahn einfahren, während die U8 unterirdisch gerade Alarm schlägt und dann ihre Türen schließt. Dazwischen rollen Rolltreppen, um die Menschen hin- und herzubringen. Über die Ampeln sollte man nur bei Grün gehen, weil die Autos sehr schnell aus dem Kreisverkehr herausschießen und weil garantiert eine Baustelle die Sicht verdeckt. Die Hipster aus den USA, Südeuropa und Skandinavien, die oft kein Wort Deutsch können, treffen sich am Kaiser’s zum Trinken vor der Party, während ein paar Meter weiter, über die Adalbertstraße, die Junkies sich versammeln. Daneben tanzt ein Hochzeitspaar zu Türkischpop mit seinen Freunden, alle in schicken Klamotten, neben ihnen eine weiße Mietlimousine, in ihren Händen Sekt in Plastikbechern, Leute kommen vorbei, tanzen mit, klatschen den Takt, gehen weiter und rauf in eines der Casinos oder zum Asia-Imbiss oder ins Möbel Olfe, um zu trinken, zu knutschen oder einen zu Korb kriegen.
Das Kottbusser Tor ist unübersichtlich und deshalb unendlich schön.
Im Text, der hier zu lesen ist, ist das Kotti tot, zu Ende gentrifiziert. Im Jahr 2029. Entstanden ist der Text zwanzig Jahre davor für eine Theatershow des Kollektivs copy & waste. Auf der Basis von Thomas Pynchons Die Versteigerung von No. 49 ging es bei uns um die Versteigerung von SO 36, die jetzt, nur sechs Jahre nach der Premiere, weiter in Gange ist. Entwickelt und gespielt wurde das Stück im WestGermany, einem Art Space. Angesiedelt in einer ehemaligen Zahnarztpraxis im Neuen Kreuzberger Zentrum, war dieser Raum für uns das Kottbusser Tor in Miniaturform: Die Betreiber haben die Wände eingeschlagen, aber Überreste stehen gelassen. Es gibt hier Partys, aber nur, um damit anstehende Ausstellungen zu finanzieren. Dreck und Schmierereien sind hier gern gesehen, und mit einem Lichtschalter kann man den Kapitalismus ausschalten – oder zumindest wieder davon träumen.
Wenn man sich mit dem Kottbusser Tor beschäftigt – und das heißt natürlich nicht nur mit seiner Gegenwart, sondern auch mit seiner Geschichte –, landet man unweigerlich bei der Instandbesetzungsbewegung der 1970er, der es darum ging, die Bausubstanz, die da war, zu bewahren und damit auch soziale Modelle neu zu entwickeln, Hausgemeinschaften zu schaffen, die sich mit dem Haus, der Nachbarschaft, dem Viertel identifizieren. Dieser Wohnpraxis, dieser Stadtentwicklung von unten standen am Kottbusser Tor aber auch in früheren historischen Zeiten das Bedürfnis nach Planung von oben entgegen, u.a. mit Lenné und seiner Luisenstadt im 19. Jahrhundert.
In dem Text, der 2009 im WestGermany als Die Versteigerung von No. 36 aufgeführt wurde, ist der Abriss von Häusern zugleich auch der Abriss der Geschichte dieser Häuser. Es geht um die Storys von Aufbau, Zerstörung und Wiederaufbau am Kotti, darum, dass immer wieder der je aktuelle Masterplan von subversiven, manchmal halbkriminellen Mikropraktiken konterkariert wurde, und darum, wer die Macht hat, die Geschichte des Kotti zu erzählen.
Der Text entstand also auf dreifache Weise nicht im luftleeren Raum: Erstens wuchs er in der konkreten, alltäglichen Erfahrung in Kreuzberg 2007 bis 2009; zweitens versuchte er, diese Realität mit dem Rückgriff auf die Geschichte Kreuzbergs zu erklären; drittens wurde er zusammen geplant, bearbeitet und auf die Bühne gebracht. »Zusammen« ist so ein einfaches Wort für einen komplexen Prozess – und doch wäre jedes andere Wort, um es einfacher zu sagen, wiederum zu komplex.
Nicht zuletzt darum, um das, was eigentlich dieses »Zusammen« ist, geht es im Text wie auch am Kottbusser Tor nach wie vor. Was heißt dort Zusammenleben? Was heißt Nebeneinander-Wohnen, manchmal dicht an dicht, in den Hochhausblöcken? Und wieso ist die soziale Mischung, für die am Kotti seit 2012 Menschen Tag und Nacht zusammen demonstrieren – einfach, indem sie anwesend sind und einer Mahnwache gleich immer wieder sagen: »Wir bleiben alle!« –, wieso ist dieser Gedanke, der jedem sofort einleuchtend und so vernünftig ist, offenbar nicht stark genug, um gegen die Richie-Rich-Mentalität von Investoren anzukommen? Die Mieterinitiative Kotti&Co. hält trotz allem durch und feierte jüngst den dritten Geburtstag ihres eigentlich provisorisch errichteten Protesthäuschens.
Es stimmt hoffnungsvoll, dass die Menschen sich in ein »Zusammen« begeben, und es verwundert nicht, dass das ausgerechnet am Kottbusser Tor geschieht. Der Kotti hat nicht vor, Persönlichkeit durch Unpersönlichkeit zu gewinnen, wie eine Menge anderer Orte, die derzeit neu gestaltet oder auch erst geschaffen werden und die, weil sie Publicity bitter nötig haben, ihre Rolle in der neoliberalen Stadt so ergeben spielen.
Am Kottbusser Tor stapeln die Menschen lieber ihre Geschichten aufeinander, um zum Beispiel ein kleines Protesthaus zu bauen – und sei es nur provisorisch. Und in dieser unüberschaubaren Menge, gemeinsam, können die Geschichten auch wieder über die Ausstattung triumphieren. Oder sich mit ihr verbünden.
Jörg Albrecht
Wie geschildert, ist der Text nicht im Gespräch unter zwei Augen entstanden. Vielen Dank vor allem an die copy & waste-Crew von Die Versteigerung von No. 36 [in alphabetical order]: Matthias Grübel, Janna Horstmann, Steffen Klewar, Wilma Renfordt [auch für die akribische Recherche!], Sebastian Straub, Anna Maria Strauß, Sebastian Thiers, Jakob Walser, Joachim Weber, außerdem an das Team vom WestGermany: an Stephan Kallage und Ingo Gerken, sowie an den Förderer des Projekts: das Kulturamt Friedrichshain-Kreuzberg von Berlin.