Der Krieg - Andreas Herberg-Rothe - E-Book

Der Krieg E-Book

Andreas Herberg-Rothe

4,9

Beschreibung

Der Krieg hat sich mit dem Golfkrieg 1991, den afrikanischen Bürgerkriegen und den Terroranschlägen der jüngsten Zeit grundlegend gewandelt. Andreas Herberg-Rothe schildert, wie sich der Krieg aber bereits im Laufe der Jahrhunderte immer wieder verändert hat und lässt ein umfassendes Bild des Krieges entstehen: von den Waffenträgern bis zu den Kriegsursachen, vom Aspekt des Tötens im Krieg bis zur Unterscheidung zwischen Staaten- und Bürgerkrieg. Immer wieder nimmt er dabei Bezug auf die neuen Kriege, die uns im 21. Jahrhundert drohen.

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Herberg-Rothe, Andreas

Der Krieg

Geschichte und Gegenwart

www.campus.de

Impressum

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Copyright © 2003. Campus Verlag GmbH

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E-Book ISBN: 978-3-593-40056-3

|7|Einleitung: Chamäleon Krieg

»Der Krieg ist also nicht nur ein wahres Chamäleon, weil er in jedem konkreten Fall seine Natur etwas ändert, sondern er ist auch seinen Gesamterscheinungen nach, in Bezug auf die in ihm herrschenden Tendenzen, eine wunderliche Dreifaltigkeit«.

Mit diesen Worten leitet Carl von Clausewitz, der bis heute bedeutendste Theoretiker des Krieges und der Kriegführung, seine abschließenden Überlegungen zur Theorie des Krieges ein. Diese drei Tendenzen der »wunderlichen Dreifaltigkeit« sind die ursprüngliche Gewaltsamkeit des Krieges, der Kampf zwischen zwei oder mehreren Gegnern sowie die untergeordnete Natur des Krieges als eines politischen Werkzeuges. Im Gegensatz zu gängigen Interpretationen erschöpft sich Clausewitz’ politische Theorie des Krieges keineswegs in seiner berühmten Formel vom Krieg als Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln. Vielmehr betont er mit seiner dialektischen Konzeption der wunderlichen Dreifaltigkeit1 die Wandelbarkeit |8|des Krieges, seinen chamäleonhaften Charakter (Clausewitz 1990, 212–213).

»Dies ist kein Krieg mehr.« Diese von Lord Kitchener, Oberbefehlshaber der englischen Streitkräfte, während des Ersten Weltkriegs getroffene Aussage verdeutlicht grundlegende Probleme mit dem leidvollen Phänomen Krieg (zit. Stephan 1998, 133). In der historischen Entwicklung hat es immer wieder Zäsuren in der Kriegführung gegeben, die den Zeitgenossen als umwälzend und revolutionär galten, während sie den Nachkommen als bloße Fortentwicklungen des Krieges erschienen. Nach dem Interventionskrieg gegen den Irak von 1991 plädierte man sogar für die »Abschaffung des Krieges«. Gemeint war jedoch, dass solche »Polizeiaktionen« nicht mehr mit dem Begriff des Krieges belastet werden sollten (Osiander 1995). Auch heute geht man von einem grundlegenden Bruch in der Kriegsgeschichte aus, dem zwischen alten und neuen Kriegen nach den Epochenjahren um 1989 und dem Ende des Wettrüstens zwischen Ost und West.

Die neuen Kriege sind gekennzeichnet durch den Verfall von Staatlichkeit und das Überhandnehmen privatisierter Gewalt, das Auftreten scheinbar längst der Vergangenheit angehörender Waffenträger wie Söldner, Kindersoldaten und Warlords sowie durch Kämpfe um Identität, Bodenschätze und grundlegende existentielle Ressourcen wie etwa Wasser. Ihr äußeres Kennzeichen ist das vermehrte Auftreten irrational scheinender und exzessiver Gewalt (Selbstmordanschläge, Formen von Mega-Terror wie bei den Anschlägen vom 11. September), Massakern linker wie rechter, islamistischer oder sonstiger religiöser Bewegungen oder das Umschlagen von nachbarschaftlichen Beziehungen in den »Kampf aller gegen alle« in ethnisch überformten Konflikten.

Die neuen Kriege und das Auftreten massenhafter Gewalt sind jedoch nur die eine Seite. Die andere ist charakterisiert durch eine technologische Revolution, die nur mit der Einführung |9|der Motorkraft in die Kriegführung vergleichbar ist, vor allem von Panzern und Flugzeugen Anfang des 20. Jahrhunderts. Symbol dieser megatechnologischen Kriegführung sind die Cruisemissiles, die »an der Ampel rechts abbiegen«, um zielgenau den Lüftungsschacht eines gegnerischen Bunkers anzufliegen, sowie die militärische Nutzung des Weltraums. In Verbindung mit der Computertechnologie ermöglicht sie die nahezu zeitverlustfreie Vernetzung der sich unmittelbar im Kampf befindenden Soldaten mit ihrer militärischen Führung. Die über die Einpflanzung von Chips noch zu steigernde direkte Vernetzung von Mensch und Maschine führt vom Soldaten der industrialisierten Massenheere des 20. Jahrhunderts über Berufsarmeen zum technologischen Krieger des 21. Jahrhunderts.

Ursprünglich als Reaktion auf die Weigerung der westlichen Gesellschaften gedacht, Opfer auf der eigenen Seite oder der gegnerischen Zivilbevölkerung zuzulassen, verändert diese »Revolution in Military Affairs« die bisherige Kriegführung fundamental. Besonders die neueste Entwicklung miniaturisierter Atombomben, die gegen gegnerische Bunkersysteme eingesetzt werden sollen, kann die bisherige Grenze zwischen konventioneller und atomarer Kriegführung durchlässig machen. Verstärkt wird diese Problematik durch die Versuche einer Reihe von Staaten, in den Besitz von atomaren, chemischen und biologischen Massenvernichtungswaffen zu gelangen.

Der gegenwärtige waffentechnologische Wandel begründet zum Teil den Übergang von Wehrpflicht- zu Berufsarmeen, weil in einer relativ kurzen Ausbildungszeit nicht mehr die notwendigen Kenntnisse und Fähigkeiten vermittelt werden können. Umgekehrt sind die neuen Formen von Massakern und Verwüstungskriegen wesentlich mit bedingt durch die vereinfachte Bedienung von automatisierten Handfeuerwaffen und deren massenhafte Verbreitung.

|10|Die momentane Entwicklung in Kriegführung und gewaltsamen Konflikten ist durch wesentliche Gegensätze gekennzeichnet: Auf der einen Seite gibt es Kriege mit »Messern und Macheten«, auf der anderen futuristisch anmutende Hightech-Kriege. Zwischen diesen Kriegsformen existieren zahlreiche Übergänge und Mischformen, in denen etwa ethnisch überformte oder »vormoderne« Konflikte mit modernsten Waffensystemen ausgetragen werden. Zudem ist es zwar richtig, dass viele gewaltsame Konflikte nach dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr zwischen Staaten ausgetragen wurden, sondern im wesentlichen bürgerkriegsähnliche Kämpfe waren, bei denen sich auf mindestens einer Seite nicht-staatliche Organisationen beteiligten. Dies bedeutet jedoch keineswegs, dass die Tendenz zur Entstaatlichung des Krieges unumkehrbar ist.

Ganz im Gegenteil können Konflikte zwischen etablierten und aufstrebenden Staaten völlig neue Dimensionen annehmen, wenn beide Seiten über Atomwaffen oder andere Massenvernichtungswaffen verfügen. Schon vor Jahren formulierte ein pakistanischer Generalstabschef: »Never fight the US without having atomic-bombs.« Die Verfügung über Massenvernichtungswaffen, insbesondere über Atombomben, scheint für eine Reihe von Staaten das geeignete Mittel zu sein, der Übermacht der USA etwas entgegensetzen zu können. Inwieweit dieses Ziel jedoch der Abschreckung sowie der Aufhebung der konventionellen Überlegenheit der USA dient oder lediglich der Verfolgung eigener Interessen und der Bekämpfung der jeweiligen regionalen Gegner, ist gegenwärtig schwer absehbar. Die Entwicklung von Massenvernichtungswaffen und entsprechenden Trägerraketen durch eine Vielzahl von Staaten, die hierüber bisher nicht verfügten, stellt aber in jedem Fall eine ebenso große Gefahr dar wie der diagnostizierte Niedergang des Staates (van Creveld 1999).

Seit den Anschlägen auf das World Trade Center ist allerdings eine Renaissance des Staates zu beobachten. Schienen |11|diese Anschläge zunächst die Überlegenheit von Konzepten gemeinschaftlicher Organisation in Form von »Netzwerken« zu belegen, so feiern Staatskonzepte seitdem eine überraschende Wiederauferstehung. »Kurz zuvor noch als obsoletes, Ressourcen verschlingendes (...) Relikt auf dem Altar der Globalisierung geopfert« oder in den Bürgerkriegen und Gewaltmärkten der Dritten Welt beerdigt, setzt sich die Einsicht durch, dass »Sicherheit nicht allein nach marktwirtschaftlichen Kostenkalkülen zu organisieren ist« (Spanger 2002, 1) und privatisierte Gewalt kein anzustrebendes Ziel sein kann. Der drohende und scheinbar unaufhaltsame Niedergang des Staates scheint bis auf weiteres vertagt.

Im Gegensatz zu den skizzierten antagonistischen Tendenzen des historisch vergangenen wie gegenwärtigen Kriegsgeschehens geht meine Darstellung von einem einheitlichen Kriegsbegriff aus, der im Anschluss an die von Clausewitz so genannte »wunderliche Dreifaltigkeit des Krieges« aus drei Teilen besteht – Gewalt, Kampf und die Zugehörigkeit der Kämpfenden zu einer umfassenderen Gemeinschaft.2 Den Zusammenhang zwischen Krieg und der sozialen Ordnung der Gemeinschaft machte Hans Delbrück zum Dreh- und Angelpunkt seiner monumentalen Geschichte der Kriegskunst im Rahmen der politischen Geschichte (Neuauflage Delbrück 2000).

|12|Krieg ist auf den ersten Blick durch die massenhafte Anwendung von Gewalt gekennzeichnet. Gewalt ist ein asymmetrisches Verhältnis von Handlungsmacht und Erleiden. Bei der Anwendung von Gewalt besteht grundsätzlich die Problematik ihrer Verselbständigung, worauf Wolfgang Sofsky besonders eindringlich hingewiesen hat. Seinen Ausführungen ist wenig hinzuzufügen, wenn er schreibt, Gewalt steigert sich selbst (Sofsky 1996, 62). Immanuel Kant hatte einen ähnlichen Gedanken in der Formulierung ausgedrückt, dass der Krieg mehr schlechte Menschen mache als er deren wegnehme (zit. Münkler 1992, 56–57). Clausewitz beschreibt diese Verselbständigung der Gewalt so: Krieg sei ein Akt der Gewalt, und es gebe in der Anwendung derselben keine Grenzen (Clausewitz 1990, 194).

Ohne die Problematik der Verselbständigung der Gewalt zu relativieren, ist Gewalt im Krieg jedoch kein Selbstzweck, sondern Mittel. Eine verselbständigte, entfesselte Gewalt, ein Primat der Gewalt über die Politik, ist für Clausewitz grundsätzlich dysfunktional, wie ihn seine Analyse des Scheiterns Napoleons bei Waterloo gelehrt hat (Herberg-Rothe 2001, 44ff.). Wesentlich für die Gewalt im Krieg ist vor allem der Charakter der angewandten Mittel. Ein unmittelbarer Nahkampf mit Fäusten, Schwertern und Schilden verlangt andere kämpferische Eigenschaften als einer mit Pfeil und Bogen, Präzisionswaffen oder mit computergestützter Technologie. Während im einen Fall körperliche Stärke, Aggressivität und sogar Hass vonnöten sind, können sie im zweiten kontraproduktiv sein. Hier werden geistige Fähigkeiten, Selbstbeherrschung und eine relative Gleichgültigkeit gegenüber dem Gegner benötigt.

Wie unterscheidet sich aber Krieg von anderen Formen massenhaft angewandter Gewalt? Zwar sind Völkermorde sehr häufig mit Krieg einhergegangen – etwa der Genozid an den Armeniern im Ersten, der Mord an den Juden im Zweiten Weltkrieg –, aber selbst in diesen Fällen werden sie als das bezeichnet|13|, was sie sind: Völkermord und nicht Völkerkrieg. Neben dem Aspekt massenhafter Gewalt gehört zum Krieg somit ein Minimum an realem Kampf – ansonsten handelt es sich um Massaker, Massenvernichtung oder Massenmord (Waldmann 1998a, 16f.). Die Besetzung der Tschechoslowakei durch die deutsche Wehrmacht war kein Krieg, sondern ein Überfall, eine Okkupation. Carl von Clausewitz hat diese Problematik in der Formulierung auf den Punkt gebracht, dass Krieg eigentlich erst mit der Verteidigung anfange. Erst wenn sich jemand gegen eine massive Gewaltanwendung wehrt, entsteht ein realer Kampf und damit ein Krieg. Wie unterscheiden sich Gewalt und Kampf? Gewalt ist gebunden an das erwähnte asymmetrische Verhältnis von Handeln und Erleiden, Kampf dagegen an ein Minimum von Symmetrie der Kämpfenden – Clausewitz’ Begriff hierfür ist der Zweikampf (Clausewitz 1990, 644 und 191).

Symmetrie und Asymmetrie von Kampf und Gewalt können im Krieg paradoxe Formen annehmen. Im Kosovokrieg bekämpfte die NATO die militärische und zivile Infrastruktur der Serben mit modernster Waffentechnologie, der die serbische Armee machtlos gegenüberstand, da sie kein Potential hatte, sich gegen die hoch fliegenden Flugzeuge zu wehren. Kriegsziel der serbischen Armee wurde aber die albanische Zivilbevölkerung des Kosovo und deren Vertreibung sowie die Beeinflussung der westlichen Öffentlichkeit. Und doch war es trotz dieser Asymmetrie der Kriegführung ein Kampf zweier Gegner – wer von beiden würde zuerst die Gewaltanwendung aufgeben?

Bereits im Ersten Weltkrieg handelte es sich für die unmittelbar an der Front Kämpfenden nicht mehr um einen Kampf zweier Gegner – was auf die Soldaten in den Schützengräben zukam, war kein Gegner mit menschlichem Gesicht, sondern das Trommelfeuer von Maschinengewehren und Artilleriegeschossen. Genau deshalb konstatierte Lord Kitchener, dies sei kein Krieg mehr. Dennoch gab es auch hier einen Kampf, allerdings |14|oft nicht mehr auf der Ebene individueller Kämpfer, sondern ganzer Armeen und Nationen.

Aufgrund dieses Minimums an Symmetrie zwischen den Kämpfenden etablierten sich in der historischen Entwicklung Kriegskonventionen. Krieg ist gebunden an Regeln, wer wen zu welchem Zweck und auf welche Art und Weise bekämpfen und letztlich töten darf. Ohne solche wie auch immer begrenzten Konventionen würde jede kriegführende Gemeinschaft oder Gesellschaft innerlich zerfallen und sich selbst auflösen. Die nach außen ausgeübte Gewalt hätte keine Grenze mehr, die vor dem Innern der Gemeinschaft halt machen würde. Thomas Hobbes’ berühmte Konstruktion eines »Krieges aller gegen alle« ist im eigentlichen Sinne kein Krieg mehr, sondern die Herrschaft nackter, reiner Gewalt.

Die Bestimmung dessen, was Krieg ist, hat unmittelbar Auswirkungen auf die Frage, ob und wie, mit welchen Zielen und Zwecken er geführt werden kann, soll, darf oder muss – und wie er begrenzt, wenn nicht verhindert werden kann. Aus dem Satz Kurt Tucholskys, alle Soldaten seien Mörder, folgen andere politische Handlungen als aus der Vorstellung, dass sich Soldaten für ihre jeweilige Gemeinschaft oder für ideelle Ziele opfern. In der Epoche des atomaren Wettrüstens zwischen den damaligen Supermächten war das Denken über den Krieg bestimmt durch das Ziel seiner unbedingten Vermeidung, weil im Kriegsfall die Selbstvernichtung bis hin zur Zerstörung des gesamten Planeten drohte. Hingegen reflektiert die öffentliche Wahrnehmung seitdem eher das Auftreten massenhafter und besonders exzessiver Gewalt, denen gegenüber sie bereit ist, Kriege aus berechtigten Gründen nicht nur zu akzeptieren, sondern auch zu fordern. Hieraus erwächst eine Wiederbelebung des alten Theorems vom gerechten Krieg.

Kriegskonventionen können aus der wechselseitigen Anerkennung der Kämpfenden als Gleiche oder Gleichrangige entspringen, aus dem Bemühen um eine kriegerische Ehre. Der |15|mittelalterliche Ehrenkodex der Ritter ist ein Beispiel für solche Kriegskonventionen, indem nur der als Ritter anerkannt wurde, der sich an diesen Kodex hielt. Analoges findet sich vor allem im höfisch geprägten 18. Jahrhundert. Nach verlorener Schlacht wurde den Unterlegenen freier Abzug gewährt, manchmal mit dem Ehrenwort verbunden, nicht mehr gegen den Sieger zu kämpfen (Stephan 1998). Kriegskonventionen können jedoch auch von der internationalen Gemeinschaft durchgesetzt werden, wie die Haager Landkriegsordnung von 1907, welche die Grundsätze der Kriegführung festlegt, die sich »aus den unter gesitteten Staaten geltenden Gebräuchen, aus den Gesetzen der Menschlichkeit und aus den Forderungen des öffentlichen Gewissens herausgebildet haben« (Präambel der Haager Landkriegsordnung).

Kriegskonventionen wurden und werden immer wieder gebrochen; deshalb sind sie jedoch nicht nutzlos, und es besteht kein Grund, die bestehenden Bestimmungen aufzukündigen (wie dies van Creveld 1998, 328–329, postuliert). Erst wenn sich ein Soldat darauf verlassen kann, im Falle einer Gefangennahme nicht Schlimmeres als den Tod zu erleiden, kann es sinnvoll sein, den Kampf aufzugeben. Gleiches gilt für den Schutz der Zivilbevölkerung. Ist dieser nicht gewährleistet, ist es für die potentiellen Opfer sinnvoll, bis zum Äußersten zu kämpfen. Kriegskonventionen erscheinen oft paradox. Den Soldaten der westlichen Streitkräfte im Zweiten Weltkrieg waren Plünderungen und die Vergewaltigung von Frauen streng verboten, Übertretungen wurden geahndet; zugleich machte man keinerlei Unterschied zwischen Zivilbevölkerung und kämpfender Truppe bei der Flächenbombardierung oder den Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki. Um jedoch überhaupt Verletzungen von Kriegskonventionen feststellen und ahnden zu können, müssen sie aufgestellt und kodifiziert werden.

Ein prominentes Beispiel für die Aufkündigung von Kriegskonventionen ist der Sieg von David über Goliath. Denn der |16|letztere war nicht nur ein wahrer Goliath von Gestalt, sondern vor allem ausgerüstet mit der modernsten Waffentechnologie seiner Zeit: Schild, Schwert und Rüstung. Davids Kampfweise, die Verwendung der Schleuder, war in höchstem Maße unfair, nicht-konventionell, was gerade ihren Erfolg ausmachte. Goliath unterschätzte den Hirtenjungen und seine neue Kampfweise nicht nur, sondern konnte ihn auch als Gegner nicht wahrnehmen – er hatte keine Chance gegen diese neue Form des Kampfes. Ähnlich erging es den mittelalterlichen Rittern im Kampf gegen die eidgenössischen (schweizerischen) Bauernaufgebote und den an feste Regeln gebundenen europäischen Söldnerheeren gegen die französischen Revolutionsarmeen oder die Heere Napoleons. In all diesen Fällen gewannen diejenigen den Krieg und erzielten einen unerwarteten Erfolg, die als erste die bisher festgelegten Kampfregeln gebrochen hatten.

Andererseits blieben diejenigen, die als erste die Kriegskonventionen verletzten, keineswegs immer die Sieger. Ganz im Gegenteil gab es eine Reihe von Fällen, in denen zum Schluss die als absolute Verlierer dastanden, die als erste die Kriegskonventionen verletzt oder eine ganz neue Kampfweise eingeführt hatten – weil der Gegner nachrüsten und in der neuen Form der Kriegführung nachziehen konnte. So erging es dem von seinen Zeitgenossen als »Kriegsgott« wahrgenommenen Napoleon, der mit Massenheeren und der Konzentration auf die Entscheidungsschlacht in kürzester Zeit alle Heere und Staaten Europas besiegen konnte. Am Ende wurde er jedoch bei Waterloo vernichtend geschlagen, weil seine Gegner, vor allem Preußen, die Grundlagen seiner Erfolge kopiert hatten. Auch die revolutionäre »Blitzkriegsstrategie« Hitlers und der deutschen Wehrmacht begründete mit schnellen Panzervorstößen ihren anfänglichen Erfolg, bis die Sowjetunion im Laufe des Krieges mehr Panzer als das Deutsche Reich aufbieten konnte.

Im Kampf zweier oder mehrerer Gegner gibt es zwei gegensätzliche Pole. Geht es den Parteien um die Erlangung von |17|Gütern und Machtvorteilen oder aber um die Erhaltung der eigenen Existenz und Identität? Sicherlich gibt es Mischformen dieser Gegensätze und Fälle, in denen nicht eindeutig zwischen beiden unterschieden werden kann. Das Ziel der Erhaltung der eigenen Identität und Existenz von ethnischen Gruppen, Nationen oder Stämmen kann gerade zur Eroberung von gegnerischen Gebieten und zur Vernichtung des jeweiligen Gegners führen. Der gewaltsame Ausschluss von Minderheiten, ein wesentliches Kennzeichen des 20. Jahrhunderts, beruhte auf dieser Perspektive der Verteidigung und Wahrung einer eigenen ethnischen oder nationalen Identität. Zum Teil sollte auch eine als in sich zerrissen wahrgenommene Gemeinschaft durch den gewaltsamen Kampf gezwungen werden, sich zu einer politischen Einheit zu entwickeln.

Hans Freyer, einer der Nationalrevolutionäre des Ersten Weltkriegs, betonte, dass »die Einheit des politischen Volks aus Gewalt und Krieg geboren wurde und nicht billiger zu haben ist« (Freyer 1925, 20 und 140–143). Diese »Einheit des politischen Volkes« kann beliebig ersetzt werden durch die des palästinensischen, irakischen, kurdischen oder tschetschenischen Volkes. Die Annahme der Verteidigung einer eigenen Identität sowie einer politischen, kulturellen oder ethnischen Existenz begründet auch, warum diese Konflikte so erbarmungslos und unlösbar erscheinen. Auf die gewaltsame Durchsetzung von Interessen und die Gewinnung von Machtvorteilen kann notfalls verzichtet werden, nicht aber auf Identität und die eigene Existenz, wenn diese im Kampf aufs Spiel gesetzt werden.3

Im Krieg stehen sich Gemeinschaften gegenüber, es handelt sich keineswegs um einen Kampf von Individuen, wie groß deren Zahl auch sein mag. Diese kämpfende Gemeinschaft kann |18|in vielfältiger Form existieren – als religiöse, ethnische oder kulturelle Einheit, sie kann ein Stamm, eine heterogene Gemeinschaft unter einem Warlord oder ein Staat sein. Die Zugehörigkeit zu einer dieser Gemeinschaften entscheidet sowohl über Ziel und Zweck des Kampfes als auch über die Art und Weise der Kriegführung.

In vielen Fällen soll einem Gegner der eigene Wille mit Gewalt aufgezwungen werden. Dies kann jedoch auf zweierlei Art und Weise erfolgen. Einerseits kann dem Gegner größtmöglicher Schaden zugefügt werden. So haben in den vormodernen Formen der Kriegführung oft keineswegs Schlachten zwischen sich gegenüberstehenden Armeen stattgefunden; vielmehr wurde der Krieg häufig in Gestalt einer Verwüstung des gegnerischen Territoriums geführt. Beispiele für diese Art der Kriegführung sind die Indianer-, Kosaken- und Völkerwanderungskriege. Über die längste Zeit der Geschichte wurden Kriege an den Rändern der großen Zivilisationen in dieser Form geführt. Die Einfälle plündernder Völkerschaften waren Verheerungskriege, deren die großen Reiche nur dadurch Herr wurden, dass sie den »barbarischen Völkern« Subsidien zahlten, mit denen diese sich von solchen Verwüstungen abhalten ließen.

Demgegenüber war die Kriegführung in Europa vom Ende des Dreißigjährigen Krieges bis zum Ersten Weltkrieg weitgehend durch die Vermeidung von flächendeckenden Verwüstungen gekennzeichnet. Die leidvollen Erfahrungen des Dreißigjährigen Krieges, in dem etwa ein Drittel der gesamten europäischen Bevölkerung direkt oder mittelbar durch den Krieg zu Grunde ging, führte zu einer historisch einmaligen Einhegung des Krieges. Anders als im Fall der großen Reiche (Rom, Byzanz, China) konnten die Verwüstungen im Dreißigjährigen Krieg nicht mehr auf die Ränder und »Hilfsvölker« begrenzt werden; die grauenhaftesten Verwüstungen tobten im Herzen Europas selbst.

|19|Die entscheidende Neuerung nach dem Ende des Dreißigjährigen Krieges bestand darin, dass mit einer militärischen Niederlage nicht mehr die eigene Existenz auf dem Spiel stand und großflächige Verheerungen von Territorien und die Drangsalierung der Bevölkerung nicht automatische Folge waren. Selbst Napoleon, dessen Armeen fast ganz Europa eroberten, setzte zwar nach Gutdünken politische Herrscher ein und wieder ab, führte jedoch keine Kriege gegen die jeweilige Bevölkerung, sondern suchte die Entscheidung in der Schlacht herbeizuführen. Der »europäische Sonderweg« in der Kriegführung ist eine unmittelbare Reaktion auf die Verwüstungen des Dreißigjährigen Krieges im Herzen Europas.

Die Geschichte des Krieges ist durch Paradoxien gekennzeichnet. Denn die Suche nach der Entscheidung in der Schlacht zwischen regulären Armeen ermöglichte zwar lange Zeit die weitgehende Schonung der europäischen Zivilbevölkerung. In Zeiten industrialisierter Kriegführung mit Maschinengewehren, gepanzerten Fahrzeugen, Flugzeugen, der scheinbar unbegrenzten Produktion von Kanonen und der Verkürzung der Nachschubwege durch ein ausgebautes Eisenbahnsystem führte das Festhalten an der Suche nach der Entscheidung in einer Schlacht jedoch zu katastrophalen Menschenverlusten im Ersten Weltkrieg. Um die Entscheidung zu erzwingen, wurden ganze Armeen und Nationen ausgeblutet, im Zweiten Weltkrieg wurde die Zivilbevölkerung selbst wieder zum militärischen Ziel. Die Begrenzung der Kriegführung in Europa seit dem Dreißigjährigen Krieg ist nicht von ihrem Ausgang zu trennen, den Katastrophen des Ersten und Zweiten Weltkrieges.

Auch nicht davon, dass die gleichen Armeen, die gegen europäische Gegner ein Höchstmaß an Zurückhaltung gezeigt hatten, in den Kolonialgebieten nicht selten Vernichtungsfeldzüge gegen die einheimische Bevölkerung führten. 1898 mähten britische Truppen in Ägypten die Krieger des aufständischen Mahdi mit nur sechs Maxim-Maschinengewehren zu Tausenden |20|nieder – das war keine Schlacht zwischen Armeen, sondern ein Massaker. Die Krieger des Mahdi konnten die Feuerkraft dieser neuen Waffen einfach nicht begreifen und berannten immer und immer wieder die britischen Stellungen (Diner 2000). Aber auch die europäischen Armeen selbst hatten aus diesen Erfahrungen wenig dazugelernt, denn im Ersten Weltkrieg liefen ihre eigenen Infanteristen und Kavalleristen ohne jede Deckung, anfangs mit heldenhaften Liedern auf den Lippen, ins Feuer der Maschinengewehre.

Umstritten ist und bleibt damit, wodurch der »europäische Sonderweg« der Kriegführung gekennzeichnet ist: durch die Einhegung des Krieges bis zum Ersten Weltkrieg oder durch die Brutalität der Kolonialkriege sowie die beiden Weltkriege des 20. Jahrhunderts. Jahrhundertelang hat es eine Zweiteilung gegeben: Begrenzung des Krieges und Einhaltung von Kriegskonventionen innerhalb Europas einerseits, Vernichtungs- und Verwüstungskriege durch die europäischen Armeen in Afrika und Indien und durch amerikanische Siedlergemeinschaften in Nord- (Massaker von Wounded Knee) und Südamerika (Pampa-Indianer) und die Buren in Südafrika (Herero) andererseits.4

Die Kriegführung der deutschen Armeen unter Hitler in Russland brachte den Vernichtungs- und Verwüstungskrieg wieder nach Europa zurück. Der aktuelle Gegensatz der Kriegführung mit »Messern und Macheten« einerseits und Hightech-Waffen andererseits setzt die historische Zweiteilung fort, die letztlich auch im Zeitalter des atomaren Wettrüstens galt. Aufgrund der Gefahr der wechselseitigen atomaren Vernichtung |21|der beiden Supermächte konnte die Kriegsgefahr innerhalb ihrer Einflusssphäre gebannt werden, während ihre Konflikte zum Teil in den weltpolitischen Randgebieten ausgetragen wurden.