Der Kriminalist - Die Logik des Todes - Tim Sullivan - E-Book

Der Kriminalist - Die Logik des Todes E-Book

Tim Sullivan

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Beschreibung

Wer ist die Leiche, die auf einer Baustelle mitten in Bristol ausgegraben wird? – Der Einzige, der Antworten findet: DS Cross!

Detective Sergeant George Cross hat unvergleichliche Talente. Indem er mit Logik, Entschlossenheit und oft auch Pedanterie brillant kombiniert, ist er für Angehörige meist die letzte Hoffnung, um endlich Antworten in verzwickten Fällen zu finden. Als eine Leiche auf einem Abrissgelände von einem Bagger aus der Erde geschaufelt wird, liegt es daher an Cross, die Wahrheit aus allen Fragmenten zusammenzusetzen, die er finden kann. Bräunungsstreifen auf dem Körper der Leiche und seltsame Narben an den Unterarmen enthüllen die Identität des Verstorbenen: ein männlicher Amateur-Rennradfahrer, der mit Drogen seine Leistung steigerte. Nun ist Cross gefragt, die Hintergründe der Tat zu entschlüsseln – und gerät dabei mitten in eine dunkle Familiengeschichte …

Einzigartig authentisch, intelligent und unglaublich fesselnd: der 2. Band der Krimireihe mit dem beliebten Detective Cross!

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Seitenzahl: 371

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Buch

Detective Sergeant George Cross hat unvergleichliche Talente. Indem er mit Logik, Entschlossenheit und oft auch Pedanterie brillant kombiniert, ist er für Angehörige die letzte Hoffnung, um endlich Antworten in verzwickten Fällen zu finden.

Als eine Leiche auf einem Abrissgelände von einem Bagger aus der Erde geschaufelt wird, liegt es daher an Cross, die Wahrheit aus allen Fragmenten zusammenzusetzen, die er finden kann. Bräunungsstreifen auf dem Körper der Leiche und seltsame Narben an den Unterarmen enthüllen die Identität des Verstorbenen: ein männlicher Amateur-Rennradfahrer, der mit Drogen seine Leistung steigerte. Nun ist Cross gefragt, die Hintergründe der Tat zu entschlüsseln – und gerät dabei mitten in eine dunkle Familiengeschichte …

Autor

Tim Sullivan ist ein erfolgreicher Drehbuchautor, Regisseur und TV-Produzent, der unter anderem an den Filmen Jack & Sarah und Briefe an Julia mitwirkte. Seine Reihe um den sozial unbeholfenen, aber brillanten und äußerst beharrlichen DS George Cross erfreut sich großer Beliebtheit bei den Leser*innen. Tim Sullivan wurde in Deutschland geboren, wo sein Vater für die Royal Air Force stationiert war. Heute lebt er mit seiner Frau Rachel im Norden Londons.

Von Tim Sullivan bereits erschienen

Der Kriminalist. Der erste Fall für Detective Cross

Tim Sullivan

Der Kriminalist

Die Logik des Todes

Ein Fall für Detective Cross

Roman

Deutsch von Frauke Meier

Die Originalausgabe erschien 2020 unter dem Titel The Cyclist bei Pacific Press, London.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag behält sich die Verwertung des urheberrechtlich geschützten Inhalts dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Copyright der Originalausgabe © Tim Sullivan, 2020 

This translation of THECYCLIST is published by arrangement with Tim Sullivan

Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2024 by Blanvalet in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion: Ulrike Gerstner

Covergestaltung und -motiv: © Johannes Wiebel | punchdesign, unter Verwendung von Motiven von stock.adobe.com (jaceksphotos, Pete, mangpor2004)

StH · Herstellung: sam

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN 978-3-641-29114-3V002

www.blanvalet.de

Für Bella und Sophia

1

»Entschuldigung, wie lange dauert es noch, bis meine Männer wieder an die Arbeit gehen können?«

Cross antwortete nicht. Stattdessen wandte er den Blick ab und betrachtete das grünliche, aufgequollene Gesicht des jungen Mannes in der Schaufel des JCB-Baggers. Eingewickelt in Baufolie hatte man ihn in einer Garagenreihe verstaut, die abgerissen werden sollte. Blut und Körperflüssigkeiten, die post mortem freigesetzt worden waren, sammelten sich in den Falten der Polyethylenfolie. Der Anblick erinnerte vage an vakuumverpacktes Fleisch im Kühlregal eines Supermarkts. Die Augen des Mannes starrten stumpf und blicklos wie die eines Fisches, der zu lange beim Händler auf Eis gelegen hatte. Die Garagen befanden sich hinter einer Gruppe von Hochhäusern mit Sozialwohnungen, die in den Fünfzigern in Barton Hill errichtet worden waren. Doch was damals ein besseres Leben versprochen hatte, war nun nur noch ein deprimierender Schandfleck in der Landschaft.

Cross drehte sich wieder zu dem Bauunternehmer um und studierte ihn einige Sekunden lang. Der rotgesichtige Mann in der Barbour-Wachsjacke sah aus, als würde er viel Zeit unter freiem Himmel verbringen, wenn er sich nicht gerade den Hosenboden im örtlichen Pub glänzend rieb. Cross ging durch den Kopf, dass die Wortwahl »meine Männer« dazu angetan war, dem Unternehmer einen erhabenen Status zu verleihen.

»Da drüben liegt ein Toter. Ein junger Mann. Die Schlussfolgerung, dass er ermordet wurde, wäre selbst in diesem frühen Stadium nicht zu weit hergeholt«, sagte Cross.

»Das weiß ich und es tut mir leid, aber ich muss vorwärtskommen«, entgegnete der Mann.

»Wir brauchen eine Aussage von Ihnen und allen Arbeitern, die heute Morgen vor Ort waren. Danach können sie nach Hause gehen«, konstatierte Cross.

»Nach Hause gehen? Was soll das heißen?«, stotterte der Mann.

»Es ist ein Mord geschehen. Das, was Ihre Baustelle war, ist durch die Gegenwart einer in Polyethylenfolie gewickelten Leiche zu einem Tatort geworden. Sofern Ihre Arbeiter also kein besonderes Interesse an polizeilichen Ermittlungsmethoden und Forensik hegen, wäre ich dankbar, wenn sie den Tatort verlassen würden, sobald sie ihre Aussage gemacht haben. Sollten sie interessiert sein, können sie hinter dem Absperrband bleiben und zusehen«, klärte Cross ihn auf.

George Cross – Detective Sergeant Cross von der Avon and Somerset Police, um den vollständigen Titel zu nennen – war nicht im Mindesten überrascht über die offenkundige Gefühllosigkeit des Unternehmers hinsichtlich des Ablebens dieses jungen Mannes. Seine bizarre Idee, die Arbeit könne weitergehen wie immer, ganz so, als sei nichts Außergewöhnliches vorgefallen, war für Leute in solchen Situationen nicht überraschend.

Für den Unternehmer musste es verwirrend sein, dass das Angebot des Polizisten, die Leute könnten hinter dem Absperrband bleiben und zusehen, nicht ansatzweise ironisch geklungen hatte. Das war, als würde er tatsächlich glauben, einige seiner Arbeiter wären insgeheim fasziniert von der Ermittlungsarbeit in einem Mordfall. Was er nicht wissen konnte, war, dass Cross das in der Tat glaubte. Cross bemühte sich einfach, sich diesem Mann gegenüber höflich und normal zu geben, sich an die Regeln zu halten, die seine Partnerin DS Ottey ihm beizubringen versucht hatte. Zu Ironie oder Sarkasmus war Cross gar nicht imstande. Der Unternehmer drehte sich hilfesuchend zu DS Ottey um, die gleich neben ihnen stand.

»Fangen wir doch einfach mit Ihrer Aussage an«, sagte die zu ihm und kam damit allem, was der Mann selbst noch hätte äußern können, zuvor.

Cross kehrte zu der Leiche zurück. Allerdings war er mehr an der direkten Umgebung des Toten interessiert als an ihm selbst. Den Verstorbenen würde er sich später in der Leichenhalle genauer ansehen.

»Mr …«, Ottey überprüfte ihre Notizen. »… Morgan, richtig? Wie lange stehen diese Garagen schon leer?«

»Offiziell etwas mehr als ein Jahr. Aber die Leute haben sie widerrechtlich weiter genutzt; einige als Lagerraum, einige als Müllabladeplatz. In einer hat sogar ein Junkiepärchen gewohnt. Verdammte Nervensägen. Kein Respekt vor Privateigentum«, jammerte Morgan.

»Sie haben das Abrissdatum vorverlegt«, bemerkte Cross.

»Ja, die Genehmigung ist fünf Tage früher als erwartet erteilt worden. Woher wissen Sie das?«, fragte Morgan.

»Ich habe mir die öffentlichen Bekanntmachungen des Planungsbüros angesehen, ehe ich hergekommen bin. Gibt es irgendeinen speziellen Grund für die Terminänderung?«

»Ich wollte einfach nur weiterkommen, das ist alles«, entgegnete Morgan.

DCI Carson, der direkte Vorgesetzte von Cross und Ottey, hatte die inzwischen schon gewohnt minimierten Ressourcen für die Ermittlungen bereitgestellt. Der Mangel beruhte nicht so sehr darauf, dass Mord nicht mehr als ernstes Verbrechen galt. Der Grund war vielmehr, dass dank ständiger Kürzungen nicht mehr genug Leute verfügbar waren, um ein angemessen großes Team für eine Morduntersuchung zusammenzustellen. Cross konnte nicht verstehen, warum Ottey Carson deswegen jedes Mal aufs Neue Vorhaltungen machte. Ihm kam das sinnlos vor. Insgeheim hätte er es sowieso vorgezogen, die Ermittlungen allein durchzuführen, auch wenn ihm klar war, dass das absolut nicht machbar war. Es war nützlich, Leute zu haben, die sämtlichen Fragen nachgehen konnten, die ihm in den Sinn kamen. Aber im Grunde arbeitete er lieber allein. Wenn er niemanden um sich hatte, musste er nicht ständig sein Verhalten anderen Menschen gegenüber unter Kontrolle haben.

Was man ihm jedoch auf keinen Fall anvertrauen konnte, das war die Leitung eines Teams. Einmal hatte man es versucht – mit katastrophalem Ergebnis. Es hätte beinahe zu seiner Kündigung geführt, so schlimm hatte er auf den Druck reagiert, mit Leuten umgehen zu müssen, die sich ihm gegenüber zu verantworten hatten. Seine Spezialität war es, Pläne zu entwickeln, denen alle anderen folgen konnten. Seine Partnerin Josie Ottey, eine alleinstehende Schwarze, Mutter zweier Kinder, kümmerte sich um die Leitung des Teams und die Umsetzung des jeweiligen Plans. Exakt und buchstabengetreu war die einzige Art, auf die es funktionieren konnte. Das hatte sie schon früh erkannt. Sie war ihm trotz ihrer umfangreichen Proteste als Partnerin zugeteilt worden und hatte sich bald in der Rolle der Person wiedergefunden, die sich ständig in seinem Namen entschuldigen musste und als Schnittstelle zwischen ihm und dem Rest des Departments fungierte. Übersetzerin für Cross zu sein, war nicht der Grund, warum sie zur Polizei gegangen war. Cross war im besten Fall unbeholfen im Umgang mit anderen Menschen, im schlimmsten verdammt unhöflich. Aber der springende Punkt war, dass er auch ein außerordentlich guter Ermittler war. So besessen von jedem einzelnen Detail jedes einzelnen Falles, von Dingen, die andere – sie selbst eingeschlossen – häufig ignorierten. Seine Präzision und seine manische Hingabe an Logik, Routine und Verhaltensmuster und die Aufmerksamkeit, die er jeglichen Anomalien innerhalb selbiger entgegenbrachte, war enorm. Das alles war der Grund dafür, dass er die beste Verurteilungsrate in der ganzen Umgebung hatte. Seine Unbeholfenheit im Umgang mit Menschen und sein Mangel an Empathie hatten sich im Verhörraum sogar als besonders nützliche Werkzeuge erwiesen. Dazu kam die Tatsache, dass dies eine Umgebung war, in der er sich absolut wohlzufühlen schien. Verdächtige hingegen reagierten verunsichert auf sein Verhalten und ließen sich häufig verleiten, ihn zu unterschätzen. Ein Fehler, den sie später ausnahmslos bereuten.

Im Großraumbüro wandte sich Carson an das, wie er es nannte, »Garagenmord«-Team. Er hatte eine Vorliebe dafür, den aktuellen Fällen einen umgangssprachlichen Namen zu verpassen, als würde ihnen das mehr Gewicht geben, ihnen gewissermaßen einen Hauch von Ruhm verleihen.

»Also, als Erstes müssen wir das Opfer identifizieren«, sagte er – unnötigerweise, wie Ottey dachte. »Er hatte keine Papiere bei sich, keine Brieftasche, kein Telefon, keinen Führerschein, keine Uhr mit Namensgravur. Absolut nada. Natürlich werden wir Fingerabdrücke und DNA überprüfen, aber wenn er nicht im System ist oder beim Militär war, wird uns das vermutlich nirgendwohin führen.«

Ottey empfand diese Besprechungen als ärgerliche Gängelei. Abgesehen davon, dass er mit Binsenweisheiten um sich warf, als müsste er nicht nur seine Mitarbeiter, sondern auch sich selbst überzeugen, dass er federführend und von Nutzen für die Ermittlungen war. Aber er wiederholte nur Informationen gegenüber genau den Leuten, die ihm die Informationen zuvor geliefert hatten. Cross kümmerte das weniger. Er hielt es für sinnvoll, das Team an seine Aufgaben und die Grundlagen zu erinnern, die notwendig waren, um einen Mord aufzuklären. Ihn störte nicht, wie banal das alles war. Außerdem bekam er, wenn die Fakten verbal vor ihm ausgebreitet wurden, Zeit, um nachzudenken.

»Josie, was denkt George?«

Carson fragte, als wäre Cross gar nicht anwesend. Auf Alice Mac­kenzie, eine junge Frau, die eine Ausbildung zum Police Staff Investigator absolvierte, hatte dergleichen äußerst sonderbar gewirkt, als sie sich der Einheit vor sechs Monaten angeschlossen hatte. Aber sie hatte auch gesehen, dass alle anderen völlig locker damit umgingen, und bald gelernt, dass Cross nicht gern vor mehreren Leuten sprach, wenn er nicht unbedingt musste. Das war auch einer der Gründe, warum Ottey seine Gedanken allen anderen übermitteln musste; dazu brauchte sie keine telepathischen Fähigkeiten, er informierte sie stets vor den Besprechungen.

Während der Zusammenarbeit mit Cross hatte Mac­kenzie allerdings rasch erkennen müssen, dass sie bei ihm noch mit weitaus sonderbareren Eigenheiten zu rechnen hatte. Sie suchte immer noch nach der besten Methode, um mit ihm zurechtzukommen. Bemühte sich, seine Wünsche zu interpretieren – andererseits waren seine Anweisungen präzise und nüchtern formuliert, weshalb es vielleicht ein wenig übertrieben war, von Interpretation zu sprechen. Aber wichtiger noch war, keinen Anstoß zu nehmen an seinem Verhalten und seinem Ton.

»Ich habe noch keine Gedanken zu bieten«, antwortete Cross ausnahmsweise selbst.

»Sollten wir uns den Bauunternehmer genauer ansehen?«, fragte Carson.

»Es kommt mir höchst unwahrscheinlich vor, dass er eine Leiche an einem Ort versteckt, den er abreißen will. Dadurch muss das Versteck ja auffliegen«, sagte Ottey.

»Es sei denn, er hat gedacht, so könnte er sie loswerden«, wandte Carson ein.

»So dumm erschien er mir nicht«, sagte Cross.

»Er war auch derjenige, der den Mord gemeldet hat«, fügte Ottey hinzu.

»Doppelte Irreführung? Vielleicht hat er sich gedacht, dass wir das denken würden.«

Cross reagierte nicht. Das lag nicht daran, dass er wie alle anderen im Raum davon ausgegangen war, die Bemerkung sei keine Antwort wert. Sondern Carson hatte im engeren Sinne keine Frage gestellt, womit eine Antwort logischerweise nicht erforderlich war.

»Also gut, gehen wir es an!«, rief Carson in die Runde.

Was Ottey aus gleich zwei Gründen aufregte. Erstens waren sie es bereits »angegangen«, ehe Carson sie gestört und auf diese nutzlose Besprechung bestanden hatte. Zweitens verkündete er genau das unausweichlich zu Beginn jeder Ermittlung. Als würde er sich für Sergeant Esterhaus aus dem Polizeirevier Hill Street halten, der jeden Tag nach dem Morgenappell sagte »und seid vorsichtig da draußen«, als wäre ihm das gerade noch eingefallen. Carson versuchte offensichtlich, sich selbst auch irgendeinen bizarren Slogan anzueignen. Sie hätte schwören können, dass er diesen Spruch sogar bei mehr als nur einer Gelegenheit mit einem amerikanischen Akzent vorgetragen hatte. Jedenfalls neigte sie dazu, dem etwas entgegenzusetzen, und sei es nur, um sich besser zu fühlen. Eigentlich war es albern und das wusste sie, dennoch störte sie seinen gebieterischen Abgang mit den Worten: »Eines noch, Sir.«

»Was?«

»Wie ist er da hingekommen? Der Leichnam? Wer hat ihn dort hingebracht? Wann und von wo?«

»Natürlich. Wir sollten uns die früheren Eigentümer dieser Garagen ansehen.«

»Wir werden Alice daransetzen«, sagte sie.

Cross war mehrfach zum Tatort zurückgekehrt. Einmal am Nachmittag und dann noch einmal später, nach Sonnenuntergang. Er war nicht auf Spurensuche, er wollte nur alles auf sich wirken lassen. Beobachten. Er verbrachte häufig Zeit damit, Leute zu beobachten. Manchmal von Tony’s Café aus, wo er jeden Morgen frühstückte. In gewisser Weise studierte er menschliches Verhalten. Nicht wegen seiner Arbeit, sondern weil er dadurch lernen konnte. Er versuchte, Erkenntnisse zu gewinnen, zu verstehen, wie Menschen funktionierten, alles in dem Bemühen, selbst ein bisschen besser dazuzupassen. Mit gemischten Ergebnissen, aber da ihm voll und ganz bewusst war, dass ihm das angeborene, natürliche Verständnis für Menschen und ihr Verhalten fehlte, hielt er das für die vielleicht beste Methode, um etwas darüber zu lernen.

Besonders interessierte ihn derzeit der Häuserblock mit den Sozialwohnungen, der die teilweise schon abgerissenen Garagen überragte. Lange Balkone führten zu den Wohnungstüren. Manche waren stolz auf ihr Zuhause und hatten die Standardtür gegen etwas Eigenes ausgetauscht – etwas, das sie von ihren Nachbarn abhob. Einige nutzten den Abschnitt des Balkons direkt vor ihrer Wohnung, um Pflanztöpfe, Blumenampeln und die Art länglicher Blumenkästen unterzubringen, die gewöhnlich an Fensterbänken befestigt wurden. Diese hier standen aber in Ermangelung von Fenstern auf dem Boden, weshalb sie seiner Ansicht nach eher als Pflanztröge bezeichnet werden sollten. Menschen kamen und gingen. Kinder spielten Fußball oder stritten sich darüber, wer den Ball zurückholen sollte, wenn er, was unausweichlich schien, wieder einmal auf einem Balkon gelandet war. Etliche Lieferungen trafen ein. Das war etwas, das sich im Lauf der Jahre deutlich verändert hatte. Internetshopping brachte einen steten Strom an Kleinlastern von Paketdiensten mit sich. Fahrer von Deliveroo lieferten Pizza, Betreuer und Gemeindeschwestern sahen nach ihren Klienten.

Eine Frau trat in regelmäßigen Intervallen vor ihre Tür, um zu rauchen, und unterhielt sich dann und wann mit den Nachbarn über und unter ihr. Sie rauchte, guckte und überlegte. Cross fragte sich, ob sie sich wohl selbst ein Rauchverbot innerhalb der Wohnung auferlegt hatte. Ihr Teil des Balkons zeichnete sich durch ein beachtliches Aufgebot an gesunden Pflanzen aus, was, wie er dachte, auf einen gewissen Stolz hinwies und auf den Vorsatz, das Beste aus dem zu machen, was sie hatte. Aber vielleicht waren die Pflanzen auch eine Errungenschaft ihres Partners oder Ehemanns, und der war eigentlich für das Rauchverbot innerhalb der Wohnung verantwortlich. Sein Vater Raymond hatte einige Zimmerpflanzen gehabt, als Cross jünger gewesen war. Er war ziemlich sicher, dass sie immer noch da waren, begraben unter einer Lawine gehorteter Besitztümer, die Raymond über die Jahre angesammelt hatte. Er erinnerte sich noch deutlich, wie sein Vater die Blätter eines Gummibaums mit Nagellack bearbeitet hatte, um sie zum Glänzen zu bringen. Als kleiner Junge war Cross furchtbar enttäuscht gewesen, denn wie lange er auch wartete, wie sorgfältig er die Pflanze wässerte und pflegte, sie wollte partout kein Gummi produzieren. Erst Jahre später lernte er, dass ein Kautschukbaum etwas ganz anderes war.

Er kam zu dem Schluss, dass diese Frau einfach gern in regelmäßigen Abständen auf den Balkon ging – vielleicht um sich eine Pause von ihrer häuslichen Situation drinnen zu gönnen. Aber etwas an der Art, wie sie sich umschaute, brachte ihn auf den Gedanken, dass es ihr Freude machte, sich anzusehen, was in ihrem Blickfeld los war. Einen Schwatz zu halten. Auf dem Laufenden zu bleiben. Das war eine Routine, die sie in Gang hielt, sie geistig gesund hielt. Er war ziemlich sicher, dass sie mental alles festhielt, was sie sah, ganz gleich, wie trivial es auch sein mochte. In diesem Wohnkomplex geschah nichts, ohne dass sie es wusste.

»Wie lange leben Sie schon hier?«, fragte Cross vom Ende des Balkons aus, als er sich ihr näherte.

»Pst …«, machte sie. »Ich habe ein paar wirklich nervige Nachbarn. Denen ist jede Ausrede recht, um Rabatz zu machen.«

»Verzeihung«, sagte Cross. Aus der Nähe sah sie ein wenig älter aus, vielleicht Ende vierzig. Jahre des Rauchens gruben nun erste dünne, vertikale Fältchen in die Haut über ihrer Oberlippe.

»Entschuldigung, was sagten Sie?«, fragte sie.

»Ich habe gefragt, wie lange Sie schon hier leben.«

»Sie sind der Detective«, stellte sie fest. Also hatte sie ihn bereits früher bemerkt.

»Der bin ich.«

»Ich habe mein ganzes Leben lang in dieser Gegend gelebt und wohne seit zwanzig Jahren in diesem Gebäude.«

»Waren diese Garagen während der ganzen Zeit in Gebrauch?«

»Kaum.«

»Erinnern Sie sich auch noch, wie es war, als Sie ein Kind waren?«

»Klar, damals wurden sie viel genutzt. Größtenteils als Lagerräume, aber ein paar haben sie auch miteinander verbunden. Da drin haben dann Automechaniker gearbeitet«, berichtete sie.

»Tatsächlich?«

»Ja, die waren voll ausgerüstet und haben Hauptuntersuchungen und so was gemacht.«

»Die Garagen sehen ein bisschen zu klein dafür aus«, kommentierte Cross.

»Möglich, aber die hatten immer zu tun. Vor der Werkstatt haben massenweise Autos gestanden. Die hatten eine Grube und eine Hebebühne, ist das zu glauben? Am Ende wollten sie in einer anderen Garage eine Lackiererei einrichten, aber die Stadt hat es nicht erlaubt. Also sind sie weggezogen. Eine Schande ist das, wirklich. Die haben der Gegend ein bisschen Charakter gegeben.«

2

»Sie müssen mir das Ding nicht jedes Mal zeigen, wenn Sie herkommen«, sagte die Pathologin, als Cross ungefähr zum hundertsten Mal mit seinem Dienstausweis vor ihrer Nase wedelte. Er betrachtete die Plastikfolie, die von der Leiche abgenommen und zur Seite gelegt worden war.

»Abdeckfolie, wie sie häufig von Bauunternehmen, Raumausstattern und so weiter benutzt wird«, sagte die Pathologin. »Aber das wissen Sie bestimmt schon.«

Cross widersprach nicht, sondern drehte sich zu dem Leichnam auf dem Metalltisch um und musterte eingehend sein Gesicht. Auf der linken Seite des Kiefers waren ein großer Bluterguss und eine Platzwunde.

»Gebrochen?«

»Ja. Könnte eine Faust von einem großen Mann gewesen sein oder ein Gegenstand. Das kann ich Ihnen jetzt noch nicht genau sagen.«

Das gefiel Cross an Clare. Sie verließ sich nicht auf Vermutungen, sondern brauchte harte Beweise, ehe sie ihr Urteil fällte. Einige Pathologen waren viel zu gern bereit, mit ungeprüften Theorien aufzuwarten, die die Ermittler tagelang in die Irre führen konnten.

»Aber getötet hat ihn die Verletzung am Hinterkopf«, fuhr sie fort.

»Irgendeine Idee, was die verursacht hat?«

»Vermutlich etwas, worauf er gefallen ist. Etwas ziemlich Hartes. Mit einer Kante.«

»Also wurde er getroffen … von einer Faust – oder einem Gegenstand –, ist gefallen und hat sich den Schädel gebrochen.«

»Aller Wahrscheinlichkeit nach ja, aber ich muss das erst noch genauer untersuchen, um es zu bestätigen.«

»Ein Unfall?«

Sie antwortete nicht, sondern bedachte ihn lediglich mit einem Blick, den er bereits von ihr kannte. Er besagte: »Sie sollten es besser wissen und mir keine hypothetischen Fragen stellen. Ich befasse mich mit harten, medizinischen Beweisen, nicht mit hypothetischen Fantasiegebilden.«

»Gibt es sonst noch etwas?«, fragte er.

»Nichts Auffälliges, abgesehen von einigen Narben an den Unterarmen.«

Cross betrachtete die Narben einen Moment lang.

»Brandwunden?«, fragte er.

»Möglich.«

»Darf ich?«

Sie seufzte. Das tat er unweigerlich jedes einzelne Mal. Sie wusste nicht, warum er überhaupt fragte. Zugleich blickte er in die Richtung, in der ihr Karton mit Latexhandschuhen stand, was verdeutlichte, dass er sich die Leiche näher ansehen wollte. Für sie kam das stets einer impliziten Kritik an ihrer Arbeit gleich.

»Natürlich.«

Cross untersuchte die Leiche sorgfältig, das Gesicht nahe an dem Toten, und nahm, alles andere als zart besaitet, jedes Detail in sich auf. Dann richtete er sich wieder auf, zog sein Notizbuch aus der Tasche und fing an zu schreiben.

»Habe ich etwas übersehen?«, fragte die Pathologin matt.

»In der Tat, das haben Sie«, antwortete er. Das war keinesfalls als Kritik gedacht, dennoch konnte man genau diesen Eindruck gewinnen. »Er hat sehr wenig Körperfett, unverhältnismäßig muskulöse Oberschenkel, deutliche Bräunungsstreifen an den Oberarmen und den Beinen knapp über dem Knie. Aber keine Schwielen an den Händen. Und er trägt regelmäßig eine Sonnenbrille.«

Die Pathologin starrte ihn nur ausdruckslos an. Cross war ein wenig verwundert, dass er das näher ausführen musste. »Unser John Doe ist Fahrradfahrer. Möglicherweise ein Profi.«

Sie lachte unwillkürlich, denn sie war wider Willen ziemlich beeindruckt. »Brauchen Sie mich überhaupt?«

»Ja, natürlich«, antwortete er ohne eine Spur Ironie. »Ich bin nicht qualifiziert, eine Autopsie vorzunehmen, und selbst wenn ich es wäre, hätte ich nicht die Zeit dazu.«

Und damit ging er von dannen.

Bei der Arbeit war Cross immer beschäftigt. Er war besessen davon, seine Zeit ideal zu nutzen, weil ihm nur allzu bewusst war, wie begrenzt ihre Ressourcen waren. Seinem Empfinden nach war es seine Pflicht, zu jeder Zeit so produktiv wie nur möglich zu sein. Den Nachmittag hatte er damit verbracht, einem Stapel Papierkram zu einem Fall, der nun vor Gericht gehen sollte, den letzten Schliff zu verpassen. Für viele seiner Kollegen war das eine lästige Pflicht – etwas, das getan werden musste, ihnen aber keine Freude machte. Für Cross hingegen war das beinahe der beste Teil der Arbeit. Zunächst einmal war das etwas, was er allein machen konnte, ohne dass sich irgendjemand einmischte. Aber es kam noch etwas anderes hinzu, nämlich die Tatsache, dass dies der Teil war, in dem man den Fall zusammenschnürte. In dem man aus Beweisen und gewissenhaft durchgeführten Verhören ein Narrativ aufbaute und weitergab. Cross war Meister in der Nutzung der Kein-Kommentar-Antworten in Verhören. Er konnte stundenlang Fragen stellen, von denen Verdächtige annahmen, sie würden ihnen auf den Rat ihrer Anwälte geschickt ausweichen, indem sie einfach »Kein Kommentar« antworteten. Dann legte er einen Beweis vor, der sie aus dem Konzept brachte und nach einer Antwort verlangte. Im Kontext einer vollständigen Befragung zeichneten die Kein-Kommentar-Antworten oft ein verheerendes Bild von den Beschuldigten, ihrer Glaubwürdigkeit und ihren Aussagen. Aber Cross besaß auch ein Gespür dafür, die begrenzte Zeit, die für Verhöre zur Verfügung stand, am besten zu nutzen. Er konnte stundenlang scheinbar ziellos Fragen stellen und dann plötzlich den vernichtenden Schlag austeilen und binnen Minuten den ganzen Fall unter Dach und Fach bringen. Cross genoss es, irgendein winziges, banales Detail aufzuspüren, mit dem er die Aussagen der Verdächtigen vollständig unterhöhlen konnte. Manchmal baten ihn andere Detectives um Hilfe, wenn sie einen Fall für das Gericht vorbereiteten. Wenn er die Zeit hatte, war er mehr als bereit, sie zu unterstützen. Ottey kam er oft wie der Schulstreber vor, zu dem all die anderen Kinder gingen, damit er ihnen bei den Hausaufgaben half.

Er tauchte auch regelmäßig im CCTV-Department auf, der Abteilung für Videoüberwachung. Was, wie er fand, eine Fehlbezeichnung erster Güte war. Im Grunde handelte es sich um einen Büroraum, der nicht anderweitig gebraucht wurde, ausgestattet mit einigen Monitoren auf Schreibtischen. Das Licht war gedämpft, und die Nutzer des Raums waren blass und sahen aus, als könnten sie dringend frische Luft oder ein bisschen Sonnenschein brauchen. Aber das lag vielleicht nur an dem silbrigen Licht der Monitore, vor denen sie saßen. Die zuständige Polizistin hieß Catherine, eine stille Frau Ende dreißig mit grauen Strähnen im Haar, die sie gar nicht zu verstecken versuchte. Sie sah eher wie ein akademisch gebildeter Blaustrumpf oder eine Bibliothekarin aus, weniger wie eine altgediente Polizistin. Vielleicht war das der Grund, warum sie in dieser Abteilung gelandet war.

Dieser Raum hatte wenig Ähnlichkeit mit den CCTV-Departments aus dem Fernsehen. Dort dominierten stets Dutzende von Monitoren die Seite eines Raums, der an ein Raumschiff erinnerte, während die Polizisten nur auf eine Taste drücken mussten, und was immer sie sehen wollten, wurde binnen Sekunden angezeigt. Tatsächlich war tagelange mühselige Sichtung diverser Aufnahmen notwendig, um auch nur ein unscharfes Bild von einem verdächtigen Fahrzeug zu finden. Aber der Raum vermittelte ein Gefühl der Ruhe, das Cross zu schätzen wusste. Theoretisch würde er nur zu gern in dieser Abteilung arbeiten, doch die Analyse von Überwachungsaufnahmen bot nicht genug Rätsel, um ihn zu befriedigen. Was ihn anzog, war die ständige Wiederholung immer gleicher Abläufe. Und der Raum war, wie ihm aufgefallen war, eine papierfreie Zone. Auf den Schreibtischen fanden sich keinerlei Papierstapel. Über die ärgerte er sich regelmäßig im Lagezimmer. Überall Papier. Stapel um Stapel. Wie konnten die Leute so überhaupt erfolgreich arbeiten? Wie konnten sie in solch einer Umgebung klar denken?

Derzeit sichteten die Polizisten Überwachungsaufnahmen aus den Straßen, die zu dem Wohnkomplex führten. Die Kameras innerhalb des Blocks waren schon vor Jahren mutwillig zerstört worden. Bisher hatten sie nichts entdeckt, und der Umstand, dass sie keinen besonders genauen zeitlichen Rahmen hatten, an dem sie sich orientieren konnten, machte ihnen die Arbeit nicht leichter.

Jemand klopfte an seine Tür. Von Carson abgesehen war Cross der Einzige im ganzen Department, der ein eigenes Büro hatte, was weniger ein Privileg als eine Notwendigkeit war. Er konnte nicht im Großraumbüro arbeiten. Dort gab es zu viele Dinge, die ihn nervös machten. Derzeit wartete Mac­kenzie darauf, dass er sie hereinrief. Im Lauf der Zeit hatte sie begriffen, dass er die Leute nicht unnötig warten ließ, schon gar nicht, um sich wichtig zu machen. Stattdessen brauchte er schlicht Zeit, um das, woran er arbeitete, zu beenden oder einen wie auch immer gearteten Gedankengang ohne Unterbrechung abzuschließen. Nachdem er sie dazu aufgefordert hatte, trat sie ein und wartete, bis er mit dem Tippen am Computer fertig war und aufblicke. Das war ihr Fingerzeig.

»Ich habe bei British Cycling angerufen. Sie sagen, der Verbleib aller professionellen Fahrer im Vereinigten Königreich sei bekannt«, berichtete sie.

»Und woher, genau, wissen die das?«, hakte er nach.

»Na ja, eigentlich haben sie gesagt, keiner sei vermisst gemeldet worden«, antwortete sie.

»Was eine gänzlich andere Aussage ist, meinen Sie nicht?«

»Ich denke schon.«

»Europa.«

»Entschuldigen Sie?«

»Natürlich, aber …« Er brach ab, als ihm klar wurde, dass sie ihn nicht um die Erlaubnis zu gehen bat. Sie sagte das oft, wenn sie ihn bitten wollte, etwas zu wiederholen, oder um gegen etwas aufzubegehren, wie es jetzt der Fall zu sein schien. »Gibt es ein Problem?«, fragte er.

»Europa?«, wiederholte sie.

In dem Moment kam Ottey herein und unterbrach sie.

»Ich glaube, ich habe unseren Mann gefunden. Avon Cycling Club«, verkündete sie.

»Ein Amateur?«, dachte Cross laut. Offenbar ein sehr zielstrebiger und engagierter Amateur, überlegte er.

»Scheint so«, antwortete sie.

»Dann muss ich nicht in Europa nachforschen?«, fragte Mac­kenzie hoffnungsvoll.

»Wie kommen Sie darauf?«, gab Cross zurück.

Mac­kenzie sah sich zu Ottey um und sagte: »Weil …«

Doch da fiel Cross ihr schon ins Wort. »DS Ottey glaubt nur, sie könnte den Leichnam identifiziert haben, aber solange sie es nicht genau weiß, sollten wir jeder möglichen Ermittlungsrichtung nachgehen.«

»Okay …«, sagte sie.

»Was würde wohl passieren, wenn wir alle jedes Mal, wenn jemand glaubt, er hätte eine Spur, unsere Arbeit liegen lassen würden?«, fuhr er fort, voll und ganz überzeugt, er würde damit Otteys Aufforderung nachkommen, Mac­kenzie zu helfen und sie zu unterrichten. Er merkte gar nicht, dass er tatsächlich herablassend und kritisierend wirkte.

»Wir würden so schnell nirgends hinkommen«, warf Ottey ein. Cross seufzte, er konnte einfach nicht anders.

»Nein, DS Ottey, wir würden überhaupt nirgends hinkommen«, korrigierte er sie und demonstrierte so erneut seine Probleme mit der Umgangssprache und seine geradezu zwanghafte Art, jede Äußerung wortwörtlich aufzufassen. »Sobald wir eine Bestätigung haben, dass unser Toter zum Avon Cycling Club gehört hat, werden wir Sie informieren und Ihnen eine neue Aufgabe zuweisen.«

Die beiden Frauen verließen das Büro. Ottey wusste, dass ihr Partner Mac­kenzie immer noch aus dem Gleichgewicht brachte, obwohl sie schon seit Monaten mit ihm arbeitete.

»Wie ich immer sage, Alice. Machen Sie sich seinetwegen keine Gedanken. Tun Sie einfach, worum er Sie bittet, und zwar exakt so, wie er es haben will, und genau dann, wann er es will, und alles wird gut. Nehme ich an.«

Mac­kenzie kehrte an ihren Schreibtisch zurück und Ottey fragte sich, ob sie selbst jemals wirklich damit zurechtkommen würde. Ihr war klar, dass er autistisch war – sie hatte sogar einen jüngeren Bruder, der ebenfalls Autist war –, aber manchmal, wenn er auftrat wie ein willentlich grober alter, weißer Mann, geriet das leicht in Vergessenheit. Dann musste sie sich ins Gedächtnis rufen, dass das nichts Persönliches war. Dass er nicht die Absicht hatte, schwierig oder unangenehm zu sein; er wirkte nur bisweilen so.

3

Der Mann, mit dem Ottey gesprochen hatte, war der Geschäftsführer des Avon Cycling Clubs, folglich war er auch ihre erste Anlaufstelle. Er war Apotheker und arbeitete in Clifton, einem der vornehmsten Viertel von Bristol, in dem eines der architektonischen Meisterstücke stand, die Cross besonders gefielen: Royal York Crescent. Vor über zweihundert Jahren erbaut, war dies einst die längste Reihenhauskette Europas gewesen. Errichtet über Gewölbekellern, zeigte sie sich noch immer in der ganzen Pracht, nach der ihr Architekt gestrebt hatte. Cross konnte sich vorstellen, wie Brunel anerkennend die Straße hinuntergegangen war, während er die nahe Suspension Bridge ersonnen hatte. Einmal hatte er gehört, wie jemand Clifton als »gentrifiziert« bezeichnet hatte. Er hatte die Person korrigiert und erklärt, dies sei immer eine wohlhabende Gegend gewesen, die eine Gentrifizierung nie nötig gehabt habe.

Sie parkten vor dem Gebäude und Cross sah zum Wagenfenster hinaus. »Das ist ärgerlich. Ich habe ein Rezept, das hätte ich mitnehmen sollen«, bemerkte er.

Er erinnerte sich aus der Kindheit an eine Apotheke in dieser Gegend. Infolge seines Asthmas war er ein schwächlicher Junge gewesen, daher konnte er sich auf eine ganze Menge Apotheker oder Pharmazeuten in Bristol besinnen. Er verabscheute den Begriff »Pharmazeut«. Was war falsch an »Apotheker«? Wann hatten die Menschen in England angefangen, sie als Pharmazeuten zu bezeichnen? War das aus den Staaten herübergeschwappt oder war es eine europäische Modeerscheinung? Er beschloss, dem nachzugehen. Wie eine Melodie, die man einfach nicht mehr aus dem Kopf bekam, reizten ihn derartige Dinge so lange, bis er die Antwort gefunden hatte. Diese spezielle Apotheke war ihm im Gedächtnis geblieben, weil sie in den 1970ern noch durch und durch viktorianisch ausgesehen hatte. Sie hatte kunstvolle Holzrahmenfenster und einen prachtvollen Schubladenschrank, aber das Einprägsamste für ihn war die Sammlung riesiger, bunter Glasdispenser am Fenster, die in den lebhaftesten Farben erstrahlten: Rot, Blau und Grün. Er hatte sich vor sie gestellt und seine verzerrte Reflexion betrachtet, war um sie herumgegangen, und sein Abbild hatte sich mit jeder Bewegung verändert. Wie in einem Spiegelkabinett auf dem Jahrmarkt.

Mr Ajjay Patel war ein sportlich aussehender Mann in den Vierzigern mit muskulösen Unterarmen und kräftigen Waden unter den Shorts. Zunächst drehte sich ihr Gespräch um den Club im Allgemeinen, ehe sie schließlich zu dem vermissten Radfahrer kamen.

»Alex Paphides. Er trainiert für die diesjährige L’Étape«, sagte Patel.

»L’Étape?«, fragte Ottey.

»Das ist ein Radrennen über eine der Etappen der Tour de France. Es findet statt, wenn die beendet ist. Schwere Etappe dieses Jahr«, sagte Cross.

»Ja, allerdings«, stimmte der Apotheker zu.

»Von Megève nach Morzine, 146 Kilometer, vier Steigungen, darunter der Col de Joux Plane – 11,6 Kilometer mit einem Anstieg von 1691 Metern und einer durchschnittlichen Steigung von achteinhalb bis zwölf Prozent«, dozierte Cross weiter.

»Wow, Sie kennen sich mit Radfahren aus«, sagte Patel, beeindruckt von Cross’ Kenntnissen.

»Nicht besonders«, entgegnete Cross.

»Also weiter«, sagte Ottey, um zum Thema zurückzukommen.

»Sie hätten zu sechst zu einem zweiwöchigen Training nach Teneriffa reisen sollen. Alex hat Matthew eine Textnachricht geschickt und ihm mitgeteilt, er sei verletzt.«

»Wann?«, fragte Cross.

»Am Morgen der Abreise, glaube ich«, antwortete Patel.

»Wer ist Matthew?«, erkundigte sich Ottey.

»Er ist der Kapitän des Teams.«

»Was ist mit Alex’ Familie?«

»Er leitet zusammen mit seinem Bruder ein Restaurant in Redland. Griechisch. Hat früher seinem Vater gehört. Ein Familienbetrieb.«

»Name?«, hakte Ottey nach.

»Das Adelphi«, sagte der Apotheker. »Glauben Sie, ihm ist etwas zugestoßen?«

»Wir wissen es nicht genau. Danke, dass Sie uns Ihre Zeit gewidmet haben«, antwortete sie.

Als sie wieder im Wagen saßen, drehte Cross sich zu ihr um. »Dieser Alex – er hatte kein Telefon bei sich.«

»Richtig«, stimmte sie zu.

»Wir müssen dieses Telefon finden.«

»Als Nächstes zum Restaurant?«

»Ja.«

Sie fuhren nach Redland, was gerade zehn Minuten entfernt war. Cross war nun ziemlich sicher, dass Alexander Paphides ihr Opfer war. Er war Radfahrer, und Cross war einigermaßen überzeugt, dass sie im Adelphi Speisen finden würden, die auf einem Holzkohlegrill zubereitet wurden. Narben an den Unterarmen waren häufig die Folge von Verbrennungen, wie Köche sie sich oft zuzogen. Und ein offener Holzkohlegrill machte diese Art von Verletzung nur umso wahrscheinlicher. Er sah Ottey beim Fahren zu. Sie saß immer am Steuer. Cross hatte keinen Wagen, auch wenn er durchaus fahren konnte. Aber er zog es vor, die Zeit dazu zu nutzen, über den gerade aktuellen Fall nachzudenken. Das hatte Ottey einmal zu der Bemerkung verleitet, sie fühle sich oft wie sein Chauffeur, weil sie so viel Zeit schweigend zubrachten angesichts seiner unkommunikativen Art. Sie hatte sogar gescherzt, er sollte eigentlich auf der Rückbank Platz nehmen, woraufhin er sie belehrt hatte, dass das nicht funktionieren würde, weil er dort nicht in der Lage wäre zu hören, was sie sagte.

In letzter Zeit war er sich seiner ärgerlichen Gewohnheiten bewusst geworden – ärgerlich für andere, um genau zu sein –, und er hatte sich bemüht, ein angenehmerer Mensch am Arbeitsplatz zu sein und ein besserer Partner für Ottey. Das ging natürlich alles auf ihr Betreiben zurück. Auf sein Beharren hin hatte sie ihm sogar eine Art Spickzettel angefertigt, den er nutzen konnte, um an sich zu arbeiten. Einige Dinge bedurften der Verbesserung und der Veränderung. Kommunikation war eines dieser Dinge.

»Ist das eine dieser Gelegenheiten, zu denen Sie gern ein Gespräch führen würden?«, erkundigte er sich höflich.

»Nein, alles gut, danke«, sagte sie, und er strich diesen Punkt, insgeheim zufrieden mit sich, von der heutigen Liste. Er hatte erkannt, dass es reichte, diese Frage einmal am Tag zu stellen. Und ja, er hatte tatsächlich eine Liste auf seinem Rechner. Dinge, die täglich oder wöchentlich zu tun waren, und solche von allgemeinerer Natur, die er tun oder sagen sollte, um besser mit den Leuten im Department zurechtzukommen.

Das Adelphi Palace war ein lang gestrecktes, schmales Restaurant, das sich tief in das Gebäude, in dem es untergebracht war, hineinstreckte. Es lag am Ende einer mittelmäßigen Ladenzeile. Offensichtlich war das Restaurant recht beliebt, denn für die Mittagszeit an einem Wochentag war es sehr gut gefüllt. Cross nahm an, dass sie das Mittagsmenü zu einem besonders attraktiven Preis und zugleich eine gute Küche zu bieten hatten. Er wartete mit Ottey am Empfang, der in diesem Fall aus einem Pult mit einem viel genutzten Reservierungsbuch bestand. Die Seiten rollten sich an den Ecken auf, und wenn darin geblättert wurde, entstand das raschelnde Geräusch von Papier, das im Lauf der Zeit mit etlichen Kugelschreibern und Bleistiften attackiert worden war. Pult schien das falsche Wort für diese Art von Möbelstück in einem Restaurant zu sein, aber Cross fiel auch kein besserer Begriff dafür ein. Oberkellnerposten vielleicht?

Eine junge Kellnerin kam auf sie zu.

»Ein Tisch für zwei?«

»Nein, danke«, sagte Ottey und zeigte der jungen Frau ihren Dienstausweis. »Wir würden gern mit dem Besitzer sprechen.«

»Hier entlang«, erwiderte die Kellnerin und verschwand im Restaurant. Sie bahnten sich in dem beengten Raum zwischen den Tischen einen Weg an anderen Bedienungen vorbei und fanden sich schließlich vor einem großen Holzkohlegrill wieder, an dem zwei Männer eine Auswahl an Fleischgerichten und Gemüsespießen zubereiteten. Neben dem Holzkohlegrill befand sich ein hoher Vertikalgrill und daneben eine große Kühlvitrine voller marinierter Fleischstücke und Salate. Die Kellnerin stellte sie einem der Männer vor.

»Danke, Debbie«, sagte der, als er hinter dem Grill hervorkam. Er riss ein Papiertuch von der Rolle und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Sofort fielen Cross die Narben an seinen Unterarmen auf und er warf Ottey einen Blick zu. Sie hatte sie auch gesehen. Alex musste ihr Opfer sein. »Mein Name ist Kostas. Wie kann ich Ihnen helfen?«, fragte der Koch.

»Ihre Arme«, bemerkte Cross.

»Oh, ja. Berufsrisiko. Und dabei bin ich inzwischen schon viel vorsichtiger. Als wir angefangen haben, waren wir schon ein bisschen irre, was, Chris?« Sie sahen sich zu dem anderen, jüngeren Mann am Grill um. Der hielt einen Arm mit einem frischen Verband hoch. »Er lernt noch.«

»Ihr Bruder. Wissen Sie, wo er ist?«, erkundigte sich Cross.

»Radreise. Teneriffa. Ist gestern Abend zurückgekommen«, antwortete Kostas.

»Haben Sie seither von ihm gehört?«, fragte Cross.

»Nein, aber ich rechne jede Minute mit ihm«, sagte Kostas.

Ein unrasierter Mann in den Siebzigern, der eine Weste trug, tauchte aus dem Hinterzimmer auf. Eine absurde Menge Brusthaar, das in einer geraden Linie gestutzt war, beinahe wie eine Hecke, quoll unterhalb seines Kinns hervor. Und er hatte einen Gips an einem seiner Arme. Er sprach auf Griechisch mit Kostas. Etwas an ihrem Austausch verriet Cross, dass die beiden Vater und Sohn waren. Er beschloss dazwischenzugehen.

»Mr Paphides … Alex ist nicht zum Radtraining gereist.«

»Wie meinen Sie das?«, wollte Kostas wissen.

»Er hat dem Team mitgeteilt, er sei verwundet. Eine Oberschenkelverletzung.«

»Was? Und wo ist er dann?«, fragte Kostas.

»Das versuchen wir gerade zu ermitteln. Wann haben Sie ihn das letzte Mal gesehen?«, erkundigte sich Ottey.

»Am Abend vor seiner Abreise.«

»War er mit dem Auto unterwegs?«, wollte Cross wissen.

»Nein, mit seinem Fahrrad.«

»Wo wohnt er?«, fragte Ottey.

»Mangotsfield.«

»Würde es Ihnen etwas ausmachen, uns hinzubringen?«

»Kann das warten, bis der Mittagstisch vorbei ist?« Doch er bedauerte seine Worte, kaum dass er sie ausgesprochen hatte. »Nein, natürlich bringe ich Sie hin.« Dann sprach er wieder auf Griechisch mit seinem Vater, vermutlich, um ihn zu bitten, für ihn zu übernehmen. Aber sein Dad war schneller und bereits auf dem Weg zum Holzkohlegrill. Als sie zusammen mit Kostas gehen wollten, fragte Debbie ihn, ob alles in Ordnung sei. Cross fiel auf, dass er zu einer Antwort ansetzte, es sich dann aber anscheinend anders überlegte und lediglich sagte: »Ja, alles bestens. Ich bin bald zurück.«

Kostas fuhr mit seinem Wagen voran, einem schnittigen schwarzen BMW M5 mit Niederquerschnittsreifen und mattschwarzer Folierung. Ganz offensichtlich hatte er etwas übrig für Autos. Sie kamen zu einem Haus in Mangotsfield, das in zwei Wohnungen aufgeteilt war. Alex lebte im Obergeschoss. Sie folgten Kostas, als der die Tür seines Bruders mit seinem eigenen Schlüssel öffnete. Instinktiv rief er: »Alex?« Er konnte nicht wissen, wovon Cross inzwischen überzeugt war – dass dies eine nutzlose Übung war. Im Korridor stand der Fahrradkoffer für Alex’ Rad. Er erinnerte an einen Instrumentenkoffer, abgesehen von der runden, an die Laufräder angepassten Ausbuchtung. Cross öffnete ihn. Im Inneren befand sich ein Fahrrad. Es sah nagelneu aus.

»Das Rad sieht kostspielig aus«, bemerkte er.

»Er gibt ein Vermögen für das Radfahren aus. Mir kommt es vor, als würde er das Rad alle paar Monate wechseln, spätestens dann, wenn ein neues Modell herauskommt«, berichtete Kostas.

»Können wir sein Schlafzimmer sehen?«, bat Ottey.

Auf dem Bett lag ein offener Trolley mit Alex’ Kleidung und seiner Fahrradausrüstung, alles fertig gepackt für die Reise. Kostas fixierte den Koffer einen Moment lang und sagte dann voller Hoffnung: »Vielleicht hat er das Zeug da liegen lassen, nachdem er zurückgekommen ist.« Aber Otteys Miene verriet ihm alles, was er wissen musste. Und ihre nächste Frage bestätigte diesen Eindruck.

»Würde es Ihnen etwas ausmachen, wenn ich mich nach einer Zahnbürste oder einer Haarbürste umsehe?«

»Kein Problem«, sagte er, ohne großartig darüber nachzudenken. Doch dann dämmerte ihm, was ihre Bitte zu bedeuten hatte, und er sank auf das Bett und barg den Kopf in den Händen. »Oh nein, oh Scheiße …«

Sie suchten eine DNA-Probe. Cross hatte als Teil seiner üblichen Methodik Kostas’ Reaktion beobachtet, und er war überzeugt, der Mann hatte nichts mit dem Tod seines Bruders zu tun. Er setzte seine Untersuchung fort. Alles war ordentlich aufgeräumt. In einem Schrank fanden sie, was aussah wie Alex’ »Technikkram, von dem ich nicht weiß, was ich damit anfangen soll« – ein ganzer Vorrat alter Kabel und Telefone, umwickelt mit den zugehörigen Ladekabeln. Die Menschen waren, wie Cross aufgefallen war, abgeneigt, alte Laptops oder Telefone wegzuwerfen. Technische Geräte, für die sie ein Vermögen bezahlt hatten, als sie neu gewesen waren, und die nun zu entsorgen ihnen widerstrebte. Auch wenn es keinen Sinn hatte, sie noch weiter aufzubewahren. Sogar die Kabel in der Schublade waren veraltet. Die Vorstellung, etwas zu kaufen und längere Zeit zu gebrauchen, war jedoch kaum noch umsetzbar, so schnell, wie sich die Technik weiterentwickelte. Die Menschen waren längst auf die Verkaufsmasche der Überalterung hereingefallen, die moderne Geräte mit dem Versprechen ständiger Weiterentwicklung und Verbesserung unters Volk bringen sollte.

Später am selben Tag identifizierte Kostas den Leichnam seines Bruders, was natürlich eine schreckliche Pflicht für Angehörige war. Manche hatten bis dahin noch nie einen Toten gesehen, und die subtilen Veränderungen, die der Tod in einem vertrauten Gesicht hinterließ, konnten schockierend wirken. Außerdem lag vor ihnen der unbestreitbare Beweis für etwas, von dem sie insgeheim verzweifelt gehofft hatten, es würde sich als Irrtum erweisen.

Nun hatten sie also ihr Opfer identifiziert, waren aber keinen Schritt näher daran, den Grund für seine Ermordung zu verstehen. Dass es sich um Mord handelte, davon gingen sie schon wegen der Art aus, wie der Leichnam abgelegt worden war. Außerdem hatte man in der Wunde an Alex’ Kinn ein Stück Glas gefunden.

Im Team wurden erste Theorien aufgestellt, was zu den Dingen gehörte, die Cross niemals tat, da er das in erster Linie für Zeitverschwendung hielt. Für ihn war das kaum mehr als Bürogeschwätz, wenn auch morbider Art. Ottey hingegen stürzte sich geradezu darauf, vorwiegend weil das für sie eine willkommene Abwechslung davon darstellte, ihrem schweigsamen Partner in seinem Büro gegenüberzusitzen. Er kam im Zuge der Ermittlungen häufig an einen Punkt, an dem er nichts anderes wollte, als nachzudenken. Deswegen hatte sie sich sogar schon mit ihm angelegt, ihm erklärt, er theoretisiere nur vor sich hin. Was letztlich das Gleiche war, was auch alle anderen taten – nur dass er es allein tat. Das wies er natürlich kategorisch zurück, obwohl er wusste, dass da durchaus etwas Wahres dran war. Dennoch, was er tat, war, endlos sämtliche Fakten in gleich welchem Stadium der Ermittlungen in Gedanken durchzugehen, überzeugt, dass irgendwann aus der Masse des Alltäglichen etwas Außergewöhnliches emporsteigen würde, das sich als nützlich erweisen mochte.

Während Ottey mit einigen anderen aus dem Team im Großraumbüro Kaffee trank, dachte Cross über Alex nach und versuchte, sich ein Bild von ihm zu machen. Jedes Lehrbuch für Kriminologie würde das, was er tat, unter Viktimologie einordnen, ein Punkt, an dem Cross häufig ansetzte. In der Mehrzahl der Fälle wiesen Charakter des Opfers, seine Gewohnheiten, Freunde und Angehörigen in eine Richtung, die potenziell hilfreich war. Alex war offensichtlich ein begeisterter Radsportler gewesen. Radsport auf diesem Niveau kostete viel Zeit. Folglich nahm Cross an, dass sein privates Umfeld nicht sonderlich groß und überwiegend auf den Fahrradclub beschränkt sein dürfte. Seine Überlegung besagte also, dass er sich auf den Club und die Familie konzentrieren musste. Sollten sich die Antworten doch anderswo verbergen, dann würden sie das schon bald herausfinden.

Aber Alex musste jeden Tag und jede Woche viele Meilen Rad gefahren sein. Rechnete man die Arbeit in der Gastronomie hinzu, hatte er sicherlich nicht viel Zeit für irgendetwas anderes gehabt.

4

Mac­kenzie klopfte an Cross’ Bürotür und wartete geduldig, doch er bat sie nicht herein. Eine Ermittlerin kam vorbei und lächelte. Unsicher blickte sie sie an.

»Oh, er hat Sie gehört«, sagte sie.

»Natürlich. Ich komme später noch mal her«, antwortete Mac­kenzie.

»Ich würde meine Zeit nicht vergeuden. Er wird Sie schon finden, wenn er bereit ist.«

»Er hat nicht aufgeblickt; woher weiß er, dass ich es war?«

»Weil er George Cross ist!«, erscholl die Antwort über die Schulter des weiblichen Detectives hinweg.