Der Kriminalist - Tim Sullivan - E-Book
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Der Kriminalist E-Book

Tim Sullivan

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Beschreibung

Wer ist der erdrosselte Obdachlose, dessen Leiche in den Clifton Downs bei Bristol gefunden wird, und warum musste er sterben?

DS George Cross kann mit sozialen Konventionen nichts anfangen, für seine Kollegen ist er oft schwierig im Umgang. Doch dank seiner Besessenheit für Logik, Muster und jedes noch so kleine Detail, ist seine Aufklärungsrate die beste der ganzen Einheit. Und so hegt er sofort Zweifel, als seine Kollegen nach einem Leichenfund in einem Bristoler Park zu dem Schluss kommen, dass der Tod des Mannes die Folge eines Streits unter Obdachlosen sein muss. Cross beginnt, in der Vergangenheit des Opfers zu graben, und merkt schnell, dass es Verbindungen zu einem alten Fall gibt. Einem Mord, der fünfzehn Jahre nicht aufgeklärt wurde. Und der Täter hat nicht vor, sich nach so vielen Jahren von diesem exzentrischen Kommissar das Handwerk legen zu lassen …
Intelligent, feinfühlig und unglaublich fesselnd: der grandiose Auftakt einer Krimireihe mit einem einzigartigen Ermittler!

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DS George Cross kann mit sozialen Konventionen nichts anfangen, für seine Kollegen ist er oft schwierig im Umgang. Doch dank seiner Besessenheit für Logik, Muster und jedes noch so kleine Detail ist seine Aufklärungsrate die beste der ganzen Einheit. Und so hegt er sofort Zweifel, als seine Kollegen nach einem Leichenfund in einem Bristoler Park zu dem Schluss kommen, dass der Tod des Mannes die Folge eines Streits unter Obdachlosen sein muss. Cross beginnt, in der Vergangenheit des Opfers zu graben, und merkt schnell, dass es Verbindungen zu einem alten Fall gibt. Einem Mord, der fünfzehn Jahre nicht aufgeklärt wurde. Und der Täter hat nicht vor, sich nach so vielen Jahren von diesem exzentrischen Kommissar das Handwerk legen zu lassen …

Intelligent, feinfühlig und unglaublich fesselnd: der grandiose Auftakt einer Krimiserie mit einem einzigartigen Ermittler!

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Tim Sullivan

Der Kriminalist

Roman

Ins Deutsche übertragen von Frauke Meier

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel »The Dentist« bei Pacific Press, London, 2020.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Copyright der Originalausgabe © 2020 by Tim Sullivan

Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2023 by Blanvalet in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion: Ulrike Gerstner

Umschlaggestaltung:© Johannes Wiebel | punchdesign, unter Verwendung von Motiven von stock.adobe.com (Pete, matousekfoto, mangpor2004)

LO · Herstellung: sam

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN 978-3-641-29093-1V002

www.blanvalet.de

Für Rachel

Die junge Frau, die vor ihm stand, lächelte. Dessen war Cross gewiss, da sich ihre beiden Mundwinkel aufwärts krümmten, was ein unfehlbares Zeichen war. Allerdings wusste er nicht, was es zu bedeuten hatte, denn er kannte sie nicht. Bei Leuten, die er kannte, verknüpfte er die nach oben gezogenen Mundwinkel mit dem, was gesagt worden war, kombinierte es mit dem Ton, in dem es gesagt worden war, und leitete daraus seine Schlussfolgerung ab. Kontext war alles für Cross. Er war sein Interpretator. Nur durch ihn war er imstande, einen Gesichtsausdruck zu entschlüsseln: fröhlich, vielleicht ironisch, manchmal entnervt. Über das Lächeln, das Stirnrunzeln und die fragende Mimik einiger Kollegen hatte er eine mentale Bibliothek angelegt, die in seinem Kopf katalogisiert zur Verfügung stand, damit er immer darauf zurückgreifen konnte; Standbilder aus früheren Gesprächen, die er wiedererkannte und dazu nutzte, seine eigene Reaktion festzulegen. Für Cross war das unverzichtbar, denn aus sich selbst heraus war Lächeln für ihn ohne jede Bedeutung. Ein Lächeln stimulierte keine emotionale Reaktion bei ihm. Er konnte es schlichtweg nicht nachempfinden.

Folglich war ein Lächeln für ihn nur ein weiteres Ding im Leben, das der Interpretation bedurfte. Er hatte gehört, manche Leute würden tatsächlich mit ihren Augen lächeln. Als würde das ihrem Lächeln mehr Gewicht verleihen. Als öffnete es ein Einfallstor in ihre tiefste Seele. Für Cross war das absoluter Unsinn; es war weiter nichts als ein physiognomischer Unfall.

Alles, was dieses Mädchen gesagt hatte, war »Hi«, und nun wartete sie in der nachfolgenden und unangenehmen Stille auf die übliche Grußerwiderung. Aber die kam nicht. Was sie nicht wusste, war, dass Cross so nicht funktionierte. Sein Gehirn war nicht auf diese Art verdrahtet. Die meisten Leute würden das Schweigen mit einem »Hallo« brechen. Und dann würden sie, wenn sie nicht wüssten, was die junge Frau wollte, die Frage »Was kann ich für Sie tun?« hinterherschieben. Aber Cross war anders. Ihr Lächeln, so schloss er, war nervös. Sie wartete auf etwas, doch er wusste nicht recht, was das war und warum sie überhaupt zu ihm gekommen war. So etwas schienen die Leute ständig zu tun. Es war so verwirrend.

»Ich bin Mackenzie«, sagte sie.

Nun ja, das war ein Anfang. Eine Vorstellung.

»Sie sind DS Cross.«

Warum bestanden die Leute so darauf, ihm zu sagen, wer er war?

»Ja, äh, nett, Sie kennenzulernen.« Sie zögerte noch einen Moment, nur um sich zu vergewissern, ob Cross reagieren würde. Was er nicht tat. Also ging sie. Er sah ihr nach, ehe er seine Aufmerksamkeit wieder der Leiche widmete, die zu seinen Füßen lag.

Es war der Leichnam eines älteren Mannes, auf den ersten Blick Ende siebzig, Anfang achtzig. Bei Obdachlosen war Alter jedoch ein amorphes Konzept. Cross waren einige begegnet, bei denen er geschworen hätte, sie wären im Rentenalter, nur um dann festzustellen, dass sie gerade Anfang vierzig waren. Prüfend betrachtete er den Mann. Schmutzig, der Mantel mit Dreck verkrustet und in der Körpermitte mit einem Stück Schnur zugebunden. Er war unrasiert und hatte lange Fingernägel, unter denen halbmondförmig schwarzer Dreck klebte. Eine Wolke abgestandenen Alkohols stieg von seinem Körper auf und überdeckte den frühmorgendlichen Geruch des Moders und des herbstlichen Verfalls in der Luft. Ein Geruch, den Cross stets geschätzt hatte, wenn er eine Leiche zu untersuchen hatte. Er half ihm, sein Gleichgewicht zu wahren. Das war das olfaktorische Äquivalent dazu, in einem schwankenden Boot zum Horizont zu blicken, um Seekrankheit vorzubeugen.

Zu Cross’ Verdruss hatten die Uniformierten den Fall bereits als Verbrechen »unter Obdachlosen« abgetan und, kaum dass sie zu diesem Schluss gekommen waren, das Interesse verloren. Cross war jetzt schon ziemlich sicher, dass sie falschlagen. Das sagte ihm die Tragetasche, die der alte Mann immer noch festhielt. Darin befanden sich ein paar Happen Essen und sechs Dosen starken Ciders. Cider war das Lebenselixier auf der Straße, und wenn man zufällig nichts für Alkohol übrighatte, dann war es trotzdem noch eine Währung, deren Straßenverkaufswert mit Gold nicht aufzuwiegen war.

Cross studierte das Gesicht des Toten. Wer war dieser Mann? Wie hatte er hier enden können? Auf diese Weise? Welche Ereignisse in seinem Leben hatten zu diesem Moment geführt? Was hatte er für eine Geschichte?

Fälle wie dieser reizten ihn stets. Fälle, in denen es um Besitzlose ging. Um Außenseiter. Er fühlte sich ihnen verbunden, weil er in vielerlei Hinsicht selbst einer war. Ein Ausgestoßener, ein Sonderling am Rande der Gesellschaft, eine Kuriosität – jemand, mit dem man sich besser gar nicht abgab, an dem man vorüberging, den man mied. Was ihn in erster Linie an Morden interessierte, war die Chance, einem Opfer eine Stimme zu geben, wenn es selbst keine mehr hatte. Was umso faszinierender war, wenn das Opfer schon zu Lebzeiten keine Stimme gehabt hatte. Einzelgänger, die niemanden hatten, der für sie sprechen würde, wenn sie einmal nicht mehr waren. Keine Freunde, keine Angehörigen, die der Polizei Fragen stellten und wissen wollten, was passiert war.

Der Anruf hatte Cross an diesem Morgen erreicht, als er gerade bei Tony’s gefrühstückt hatte. Er aß jeden Morgen in diesem speziellen Café in Redland, und er aß jeden Morgen das Gleiche. An Wochentagen jedenfalls, es sei denn, er war verreist, was selten geschah. Für Cross war das praktisch, denn er wohnte direkt über dem Café in einer kleinen Wohnung. Er war eingetreten und hatte sich an seinen üblichen Tisch gesetzt, auf dem ein deplatziert wirkendes, beschädigtes Plastikschild mit der Aufschrift »Reserviert« stand.

Eine Gruppe Stammgäste bevölkerte das Café und genehmigte sich ein englisches Frühstück. Bauarbeiter, Taxifahrer, die ihre Geldbeutel mitten auf den Tisch legten, Pensionäre, die aus Gewohnheit früh aufstanden und hofften, jemand würde »Hallo« zu ihnen sagen und ihnen das Gefühl geben, sie würden doch wieder der menschlichen Gattung angehören. Männer, die sich hinter ihren Boulevardzeitungen versteckten. Alle Gäste waren Männer.

Trotz der komfortablen Nähe zu seiner Wohnung kam Cross an Wochenenden nicht her. Das lag daran, dass Tony an Samstagen und Sonntagen ein junges Pärchen einlud, Brunch zu machen. Pochierte Eier, Avocados, Huevos Rancheros, Milchkaffee, Maispuffer, geräucherter Lachs und Crème fraîche. Das hatte viele junge Leute angelockt, und es bescherte Tony zwei freie Tage, aber für Cross war das nichts. Nicht, weil er sich unter all den jungen bärtigen Hipstern fehl am Platze fühlte – damit musste er sich so oder so jeden Tag herumschlagen.

Es lag an der Länge der scheinbar permanenten Schlange, für die er einfach keine Geduld hatte. Dogger und Whiff – so hieß das junge Paar – hatten ihm angeboten, er könne die Schlange überspringen. Eine entsetzliche Vorstellung. Auf keinen Fall konnte er eine bevorzugte Behandlung akzeptieren; immerhin war er Polizist. Vor dem Pärchen hatte ein Thai-Paar das Café drei Abende pro Woche mit Beschlag belegt, um thailändische Speisen zu kochen. Das war so erfolgreich gelaufen, dass sie – mit Tonys Segen und einer nicht unerheblichen finanziellen Investition – ganz in der Nähe ihr eigenes Restaurant in St. Pauls hatten eröffnen können.

»Morgen, George.«

»Morgen, Anthony.«

Cross war der einzige Gast, der ihn so nannte. Als er zum ersten Mal hergekommen war, hatte er die Schanklizenz über der Tür gesehen, die auf den Namen »Anthony Korsan« ausgestellt war, und seither hatte er diesen Namen benutzt. Niemand korrigierte ihn, also sah er keinen Grund, etwas zu ändern. Tony kam mit einer Tasse Tee samt Untertasse zu ihm. Alle anderen tranken aus Bechern. Er stellte den Tee vor Cross auf den Tisch und nahm das Reserviert-Schild weg. Dann holte Cross Messer und Gabel aus seiner Tasche und legte die Papierserviette in den Schoß.

Er musste nicht bestellen. Tony wusste, was er wollte. Wenig später kamen er und der Kellner mit Cross’ Frühstück an seinen Tisch. Daran war im Grunde nichts Besonderes, nur dass alle Bestandteile einzeln auf verschiedene Teller verteilt worden waren.

Ein Spiegelei.

Bacon.

Pilze.

Toast.

Baked Beans.

»Bon appétit«, sagte Tony und stellte einen weiteren, leeren Teller vor Cross auf den Tisch.

»Merci«, antwortete Cross.

Cross platzierte das Spiegelei auf seinem Teller, schnitt sorgsam das Weiße rund um das Eigelb weg und aß es. Anschließend legte er drei Scheiben Bacon in gleichen Abständen vom Rand auf den Teller. Auf der mittleren Scheibe arrangierte er das Eigelb. (Tony hatte dafür gesorgt, dass die Küche Baconscheiben für ihn zubereitete, die alle exakt gleich lang waren.) Cross’ Telefon klingelte. Er sah nach, wer anrief, ehe er abnahm.

»Cross … ich bin gleich dort.«

Aber erst widmete er sich wieder seinem Frühstück, stach das Eigelb mit der linken Baconscheibe auf. Beim Essen schaute er durch die beschlagene Fensterscheibe hinaus, beobachtete das Leben draußen auf der Straße. Die Gegend hatte sich in den fünfundzwanzig Jahren, die er hier lebte, verändert. Im Lauf der Zeit war sie ziemlich gentrifiziert worden, und das spiegelte sich in der im Wandel befindlichen Art der Geschäfte rund um ihn herum wider. Da gab es inzwischen viel Maßgeschneidertes, anspruchsvolle Handwerkskunst. Eine Bäckerei, ein Sterne-Restaurant namens Wilks. Es war, als wäre dem wohlhabenderen Clifton der Platz ausgegangen, sodass es sich nun unausweichlich gen Westen über die Whiteladies Road bis nach Redland hinein ausbreitete. Er erkannte einige Einheimische, die ihren üblichen Verrichtungen um diese Tageszeit nachgingen, und vergnügte sich damit, ein imaginäres Bild von ihrem Leben zu entwerfen, ihren Jobs, ihrem Familienstand, ihrer Sexualität. In seinem Kopf hatte er ein alternatives Redland geschaffen, dessen soziale Infrastruktur samt der zugehörigen Persönlichkeiten alle nach seinen Vorstellungen entstanden waren.

Als er am Tatort eintraf, der am Rande der Downs lag, ganz in der Nähe der Schlucht, wurde Cross von uniformierten Polizisten aufgehalten. Das war für Cross nichts Ungewöhnliches und auch durchaus verständlich. Er war auf einem Fahrrad gekommen, voll ausgerüstet mit neongrünem Helm, auf dem ein Blinklicht und eine Digitalkamera befestigt waren, einer neonfarbenen Fahrradwindjacke, neonfarbenen Fahrradklammern an den Waden und einem kleinen Rucksack auf dem Rücken. Er sah aus wie ein exzentrischer, zerfahrener, fünfzig Jahre alter Geografielehrer, der sich auf dem Weg zu einer Orientierungsexkursion verirrt hatte, nicht wie ein Detective Sergeant der Major Crime Unit der Avon and Somerset Police im Dienst.

»Tut mir leid, aber Sie müssen hinter der Absperrung bleiben«, sagte der Polizist.

»Natürlich. Ich habe … irgendwo habe ich …«, gab Cross zurück und wühlte in seinen Taschen. Er war keineswegs verärgert, ganz im Gegenteil – er war erfreut, dass dieser junge Mann seine Arbeit tat. Wenn der Polizist nicht wusste, wer Cross war, dann sollte er natürlich nach seinem Ausweis fragen. Cross würde sogar so weit gehen zu sagen, dass der Police Constable ihn selbst dann nach seinem Ausweis fragen sollte, wenn er ihn kannte. Cross glaubte an Regeln, an angemessene Verfahrensweisen, denen zu folgen war. Das Leben wäre so viel einfacher, wenn jeder das täte. Endlich nahm er den Rucksack ab, als DS Ottey sich näherte, eine schwarze Frau Ende dreißig, alleinerziehende Mutter mit zwei Kindern. Sie war Cross’ derzeitige Partnerin.

»Schon in Ordnung, er gehört zu uns«, verkündete sie.

Da fand Cross endlich seinen Dienstausweis.

»DS Cross«, informierte er den Polizisten, der prompt das Absperrband für ihn anhob, damit er darunter hindurchgehen konnte.

»Tut mir leid, Sir.«

»Kein Grund, sich zu entschuldigen; Sie haben nur ihre Arbeit gemacht«, entgegnete Cross.

Doch dann blieb er an Ort und Stelle stehen und sah erwartungsvoll den Polizisten an, der daraufhin fragte: »Gibt es sonst noch etwas, Sir?«

»DS Cross zwei-eins-eins-sieben, und es ist …« Er sah auf seine Armbanduhr. »Neun Uhr und vier Minuten.«

Der Polizist war verwirrt.

»Für das Protokoll«, erklärte Cross.

»Er hat recht«, sagte Ottey. »Sie sollten ein Protokoll führen und alle verzeichnen, die den Tatort betreten oder verlassen.«

»Oh, natürlich. Klar«, erwiderte der PC, zog sein Notizbuch hervor und trug Cross’ Angaben ein, während Cross ihm zusah.

»Zwei-eins-eins-sieben … richtig.« Cross wandte sich ab und war ein wenig überrascht, als er sah, dass Ottey bereits losgegangen war.

»Josie?« Abrupt blieb sie stehen und drehte sich um.

»DS Ottey, drei-vier-sieben-zwo. Ich bin vor ungefähr fünfzehn Minuten eingetroffen«, sagte sie, während Cross darauf achtete, dass der Constable alles notierte. Als er zufrieden war, schob er sein Fahrrad hinter ihr her. Sie wusste, was nun bevorstand, der unausweichliche Vortrag. Cross konnte einfach nicht davon ablassen. Schlimmer, es regte ihn wahrhaftig auf. Er kam schlicht nicht zurecht, wenn die Verfahrensweise nicht minutiös eingehalten wurde.

»Es ist wirklich wichtig«, informierte er sie ernst.

»Ich weiß, aber außer mir ist niemand hier«, entgegnete sie.

Er bedachte sie mit dem Blick, den sie schon zur Genüge kannte. Dem Blick, der besagte, er warte darauf, dass sie ihm mitteilte, was er bereits wusste. Der besagte, dass sie nicht die ganze Wahrheit sprach. Was sein Vater eine fromme Lüge nennen würde, ein weiterer Ausdruck, den er nie verstanden hatte. Warum sollte eine Lüge frommer sein als eine andere? Gab es auch ungläubige Lügen, atheistische, aufsässige, beispielsweise? Aber er hatte, abseits jeder Logik, gelernt, dass dieser Ausdruck darauf hinwies, dass es sich um keine gewichtige, furchtbare, folgenreiche Lüge handelte.

»Abgesehen vom örtlichen CID. Nicht der Rede wert«, fuhr sie rasch fort.

Er blieb stehen und sah sie an.

»Okay, okay. Ich sorge dafür, dass sie sich alle eintragen.« Sie gab sich geschlagen.

Cross’ Regelversessenheit war genau das, was ihn zu einem der erfolgreichsten Detectives der Major Crime Unit der Polizei von Somerset und Avon machte, soweit es um seine Verurteilungsrate ging. Siebenundneunzig Prozent seiner Fälle führten zu einer Verurteilung. Er hatte enorme deduktive Fähigkeiten und war so etwas wie eine Legende im Verhörraum. Aber das wirklich Bemerkenswerte an ihm war seine sorgfältig geordnete Beweismittelsammlung und die detailgenaue Art, wie er seine Fälle dem CPS, dem Crown Prosecution Service, präsentierte. Seine verbissen sklavische Einhaltung sämtlicher Verfahrensweisen war außergewöhnlich, bisweilen aber auch ziemlich frustrierend für diejenigen, die mit ihm arbeiten mussten.

Ankläger strahlten vor Freude, wenn sie seinen Namen bei einem Fall sahen, denn sie wussten, alles, was er vorlegte, wäre akribisch durchdacht und säuberlich geordnet. Rechtsbelehrung, Beweiskette, richterliche Anordnungen würden alle ordnungsgemäß beachtet worden sein. Es gäbe keine der »Abkürzungen«, die manche Polizisten nutzten, was zwar oft zu einer Verhaftung führte, aber auch unausweichlich zu einer Katastrophe vor Gericht. Doch sie schätzten nicht nur seine Effizienz. Das, was seine Fälle so sicher machte, war die Art, wie er sie im Verhörraum aufbaute. Niemand sonst in der ganzen Truppe wusste die »Kein Kommentar«-Antwort mit so einer tödlichen Treffsicherheit zu nutzen wie Cross. Wenn Verdächtige eine Reihe sorgsam konstruierter Fragen mit »Kein Kommentar« beantworteten, wie es ihr Anwalt ihnen aufgetragen hatte, war Cross mehr als zufrieden und baute im Geiste ein Bild auf – darüber, was er über das Geschehene dachte oder manchmal auch wusste, während er ihnen zugleich einige wertvolle Brocken an Beweisen vorenthielt. Wenn er zu dem Schluss kam, dass das Timing passte und die Verdächtigen sich eine ausreichend tiefe Grube gegraben hatten, konfrontierte er sie mit den Beweisen. Dann mussten sie von dem »Kein Kommentar« zu irgendeiner Äußerung wechseln, die letztlich ein Bild ihrer Schuld zeichnete. Es war ein Schachspiel, und Cross war der Großmeister.

Sie wussten es nur nicht.

»Sind Sie sicher, dass es Mord war?«

Cross und Ottey standen vor DCI Carsons Schreibtisch. Mit seinen fünfunddreißig Jahren hatte Carson die Ausstrahlung eines Mannes, der es bei der Polizei noch weit bringen würde. Nicht, weil er so ein herausragender Ermittler oder ein besonders cleverer Polizist gewesen wäre, sondern weil er das unverkennbare Gebaren eines Menschen mit politischer Ader an den Tag legte. Nicht übermäßig politisch, nicht auf machiavellistische Art, aber er wusste, welche Schlachten er schlagen und von welchen er sich abwenden sollte. Wen er zu welchem Zeitpunkt unterstützen sollte und wen im Gegenzug nicht. Er hatte einen herausragenden Instinkt, wenn es um lohnenswerte Kontakte ging. Er würde die Karriereleiter schnell und scheinbar mühelos weiter hinaufsteigen. Nicht umsonst lautete sein Spitzname »KCC« – Künftiger Chief Constable. Zudem besaß er die Fähigkeit, nicht nur auf das zu achten, was vor ihm lag, sondern auch den breiteren Kontext einzubeziehen. Eine Fähigkeit, das muss gesagt werden, die Cross lästig und bezogen auf die unmittelbar anstehende Arbeit oft hinderlich fand.

»Würden Sie diese Frage auch stellen, wenn es nicht um eine obdachlose Person ginge?«

»Das ist nicht fair, DS Ottey, und das wissen Sie auch«, sagte Carson.

»Es war Mord«, fuhr Cross dazwischen, weil er wusste, dass die Diskussion schon jetzt Gefahr lief, unnötig konfrontativ zu werden, und damit wertvolle Zeit vergeuden würde.

»Tja, wenn es um Obdachlose gegen Obdachlose geht, wird die Sache erheblich komplizierter«, entgegnete Carson.

»Tut es nicht«, meinte Cross.

Carson sah ihn an, als wüsste er nicht recht, was Cross sagen wollte.

»Obdachlose gegen Obdachlose«, führte Cross seine Worte weiter aus.

»Die Ciderdosen«, erklärte Ottey.

»Was, wenn der Täter in Panik geraten ist und sie deswegen zurückgelassen hat?«, fragte Carson.

»Es ist trotzdem Mord, egal, wer ihn begangen hat«, bemerkte Cross.

Carson stutzte kurz. Dann sah er auf seinen Computer und scrollte einige Seiten hinunter.

»Fünf Uniformierte und zwei DCs«, sagte er gereizt.

»Ernsthaft? Wir brauchen mehr. Das ist doch ein Witz«, erwiderte Ottey.

»Nicht von meiner Warte aus, Ottey«, gab er zurück.

Cross hasste diesen Teil des Ablaufs. Das war eine neue Entwicklung innerhalb ihrer Arbeit, die sich schnell zur Norm entwickelt hatte dank der Kürzungen, die der Polizei auferlegt worden waren. Dieses Feilschen um Ressourcen – grundlegende, unverzichtbare Ressourcen. Verschiedene Teams, die alle um die gleichen, endlichen Mittel kämpften. Allzu oft fühlte sich das an, als ginge es um einen Wettstreit aller DIs und DSs, die samt und sonders ihre Fälle über Gebühr aufbliesen, um sich mehr Ressourcen als die anderen zu sichern. Der Atmosphäre im Dezernat war das alles andere als zuträglich. Er hasste es, wenn ein Detective durch das Lagezimmer stolzierte und eine blasierte Miene zur Schau trug, die besagte, dass er gerade das große Los gezogen hatte, was umso mehr Freude bereitete, wenn es zu Lasten eines anderen Kollegen ging. Wie so viele Polizisten war Cross zur Truppe gestoßen, weil er Verbrechen aufklären wollte – im Unterschied allerdings zu denjenigen seiner Kollegen, die eher dem Männlichkeitswahn zugeneigt waren und beharrlich davon sprachen, sie würden »Verbrechen bekämpfen«, als wären sie Figuren aus einem Marvel-Comicbuch. Er war sicher nicht hier, weil er um Ressourcen wetteifern und sich für die Nutzung der elementarsten Werkzeuge rechtfertigen wollte, mit denen sie ihre Arbeit ausführen mussten. Oder weil er um Festnahmen – »Köpfe«, noch so ein Begriff, der ihm verhasst war, so wie jeglicher andere Polizeislang; denn in seinen Augen waren diese Ausdrücke ein Anzeichen einer nachlässigen und zugleich aggressiven Arbeitseinstellung – konkurrieren wollte, um die Zahlen des Dezernats aufzuhübschen. Das System, das sie eigentlich unterstützen sollte, hatte sich im Lauf der Zeit irgendwie unmerklich zum Feind entwickelt.

»Wir brauchen mehr, Sir. Wir haben nichts, womit wir arbeiten können. Dass er obdachlos war, macht es notwendig, mehr Leute einzusetzen. Er hatte keine Strukturen, kein Leben –«, protestierte Ottey.

»Von dem wir wissen«, unterbrach Cross. »Dieser Mann hatte ein Leben, und es ist mehr als wahrscheinlich, dass dieses Leben, wie es auch ausgesehen haben mag, auf irgendeine Weise zu jenem unglücklichen Ende geführt hat.«

»Ich kann Ihnen mit ein paar Leuten den Rücken stärken«, bot Carson an, als wäre das ein gewaltiges Zugeständnis.

»Wenigstens etwas«, sagte Ottey seufzend.

»Eine davon ist neu. Es ist ihr erster Vormittag«, fuhr Carson fort.

»Toll, jetzt dürfen wir auch noch babysitten«, nörgelte sie.

»Was ist eigentlich heute Morgen mit Ihnen los, Ottey?«

»Nichts, Sir.«

»Ich habe die Kollegin heute früh zum Tatort geschickt. Sind Sie ihr nicht begegnet?«, fragte Carson.

»Nein.«

»Ich schon, möglicherweise«, sagte Cross.

»Möglicherweise?«

»Ich wusste nicht, wer sie war.«

»Also nehme ich an, sie hat die ganze schonungslose ›Willkommen bei der Major Crime Unit‹-Ansprache im Cross-Stil über sich ergehen lassen müssen, zusammen mit der vorschriftsgemäßen beruhigenden Umarmung«, kommentierte Carson sarkastisch.

»Nein, ich habe sie nicht umarmt«, protestierte Cross.

Nun war es keineswegs so, als würde Carson je vergessen, dass Humor und Ironie bei Cross ins Leere liefen, es war nur, dass er sich manchmal einfach nicht beherrschen konnte.

»Ich meine, ich kenne sie nicht«, fuhr Cross auch prompt voller Ernst fort. »Und selbst wenn ich Leute umarmen würde, was ich im Großen und Ganzen vermeide, wie Sie ganz genau wissen, wäre das grob unangemessen gewesen.«

»Er macht Witze, Cross«, klärte Ottey ihn auf.

Cross sah sie einen Moment lang an – und ging. Ottey war in jüngster Zeit zur Schnittstelle zwischen Cross und dem Rest des Dezernats geworden. Tatsächlich war sie, seit sie Partner geworden waren, zu seiner Verteidigerin und Übersetzerin gegenüber dem Rest der Welt mutiert. So richtig glücklich war sie damit nicht. Sie hatte während ihrer ganzen Laufbahn hart gearbeitet, um dorthin zu kommen, wo sie jetzt war, und sie war noch nicht fertig. Früher hätte die Tatsache, dass sie eine alleinstehende schwarze Mutter war, ihrem Vorankommen im Wege gestanden. Aber die Vorurteile gegenüber ihrer Hautfarbe und ihrem Geschlecht hatten in jüngster Zeit deutlich abgenommen, ebenso wie die Idee, sie könnte als Mutter unmöglich zugleich eine tüchtige Polizistin abgeben. Das lag natürlich an dem gerade aktuellen Schlagwort: Diversity. Und sie hatte vor, diese Karte bei jeder sich bietenden Gelegenheit zu ziehen.

»Wir hatten eine Vereinbarung. Sie haben mir versprochen, Sie würden ihm beim nächsten Fall einen anderen Partner zuweisen«, sagte sie zu Carson, nun, da sie unter sich waren.

»Nicht möglich, fürchte ich.«

»Warum nicht?«

Er musterte sie eine Sekunde lang, während er seine Antwort erwog. Wie es schien, war ihr Schwachsinnsdetektor an diesem Vormittag besonders empfindlich eingestellt.

»Niemand sonst will mit ihm arbeiten«, konstatierte er.

»Und warum zur Hölle soll ich das dann tun?«, erwiderte sie in scharfem Ton.

»Weil Sie das so gut machen. Sie sind ein Opfer Ihres eigenen Erfolgs.«

»Lassen Sie mich mit diesem Managersprech in Ruhe.«

»Bringen wir doch einfach diesen Fall hinter uns, und dann überdenke ich die Angelegenheit noch einmal.«

»Das haben Sie beim letzten Mal schon gesagt«, konterte sie.

So frustrierend sie Cross und die Tatsache auch fand, dass er ihr Partner war, die Zusammenarbeit mit ihm hatte ihre Vorzüge. Zwar würde sie nicht einmal im Traum irgendjemandem davon erzählen, aber sie hatte eine Menge von diesem Mann gelernt. Mehr, als sie zugeben wollte. Trotzdem würde sie es Carson nicht leicht machen, wenn sie irgendeine Chance hatte, das zu verhindern.

»Und ich bin ziemlich sicher, wir waren übereinstimmend der Meinung, dass es nicht gut wäre, George einen neuen Mitarbeiter zuzuweisen.«

»Der DCI meint, die Leute könnten etwas lernen, wenn sie mit demjenigen arbeiten, der die höchste Verurteilungsrate der ganzen Truppe hat, trotz seiner … andersartigen Herangehensweise.«

Nach wie vor nicht überzeugt, starrte Ottey ihn an.

»Stellen Sie sich vor, Sie haben einen bemerkenswerten Chirurgen in einem Krankenhaus, der schwierig ist und andere Leute unbeabsichtigt verärgert. Trotzdem würden Sie doch nicht dafür sorgen, dass ihm im OP keine Assistenzärzte mehr zur Seite stehen, oder?«

Sie antwortete nicht, einerseits, weil das, was er sagte, zumindest teilweise Sinn ergab, aber auch, weil sie wusste, dies war eine Auseinandersetzung, die sie nicht für sich würde entscheiden können.

»Sie müssen eben mit ihm fertigwerden.«

»Mit dem wird niemand fertig.«

»Aber Sie kommen mit ihm zurecht.«

»Zeitweise, bis er wieder etwas tut, das dazu führt, dass ich ihn umbringen möchte.«

Cross betrat die Leichenhalle, deren Innenausstattung einen harten Kontrast zu dem viktorianischen Gebäude bildete, in dem sie untergebracht war. Makellos sauber, modern und klinisch zweckmäßig. Er hielt seine Dienstmarke hoch, um sie der Pathologin zu zeigen, einer Frau in den Dreißigern. Die ganz unverhohlen seufzte. Das Reizmittel auf Beinen war wieder da.

»Sie müssen mir Ihre Dienstmarke nicht jedes Mal zeigen, wenn Sie herkommen, wissen Sie?«

Was für ein Unsinn; von ihm war gefordert, sich in allen Stadien der Ermittlungsarbeit ordnungsgemäß auszuweisen. Die Tatsache, dass alle anderen ganz selbstverständlich darauf verzichteten, änderte daran gar nichts. Er ignorierte sie und ging zu der Leiche auf dem Metalltisch. Cross mochte die Leichenhalle – nicht, weil er ein makabres oder morbides Interesse am Tod hegte, sondern weil sie eine Oase der Ruhe darstellte. Hier gab es kein Übermaß an Stimmen, und der Brennpunkt ihrer Ermittlungen lag direkt vor ihnen. Das schärfte den Geist. Hier konnte er denken. Er betrachtete die Verfärbung am Kinn des Mannes und seine auffällige Form.

»Gebrochen?«

»Ja. Sauber. Könnte eine Faust oder ein Gegenstand gewesen sein. Das kann ich Ihnen jetzt noch nicht genau sagen. Aber die Todesursache war Strangulation. Seine Luftröhre ist gerissen. Das war gnadenlos.«

Cross’ Telefon vibrierte in seiner Tasche. Es war immer stumm geschaltet; auf diese Weise schien es seine Gedankengänge nicht ganz so sehr zu stören wie mit einem lauten Klingeln, das ihn manchmal regelrecht aufschreckte. Er starrte es an. Es war Ottey. Zweifellos fragte sie sich, wo er war. War wütend, dass er das Büro verlassen hatte, ohne ihr Bescheid zu geben. Er wies den Anruf ab, steckte das Telefon zurück in die Tasche und konzentrierte sich wieder auf die Leiche. Die Pathologin fuhr mit der Aufzählung ihrer Befunde fort.

»An der Einkaufstüte ist etwas Blut – so wie es aussieht, hat er vielleicht mit den Dosen zugeschlagen und irgendjemanden mit einer Kante erwischt – und da scheinen Hautspuren unter seinen Fingernägeln zu sein; schwer, das genau zu sagen, denn da war auch eine Menge Schmutz.«

»Aber er wurde definitiv ermordet.«

»Zweifellos. Er wurde stranguliert.«

»Sonst noch etwas?«

Bei jedem anderen wäre das eine ganz einfache Frage gewesen. Aber aus seinem Munde und in diesem Ton würde sie der Pathologin verraten, dass er etwas entdeckt hatte, was sie übersehen hatte. Sie musste jetzt die stillschweigende Schlussfolgerung erdulden, dass er ihren Job besser erledigen konnte als sie selbst.

»Im Moment nicht.« Tatsächlich schien sie nichts weiter zu bieten zu haben.

Er ging zu einem Karton mit Latexhandschuhen und wollte gerade welche anziehen, als ihm einfiel, dass Ottey ihm beim letzten Mal gesagt hatte, solch eine Vorgehensweise könnte Anstoß erregen. Zwar verstand er immer noch nicht, warum das so sein sollte, aber er drehte sich zu der Pathologin um und fragte in dem Bemühen, höflich zu sein: »Darf ich?«

»Was?«

»Ihn mir genauer ansehen.«

»Ist das wirklich notwendig?«

»Nun ja, das werde ich erst wissen, wenn ich ihn mir genauer angesehen habe.«

»Wollen Sie andeuten, ich würde meinen Job nicht beherrschen?«

Genau deshalb vergeudete er seine Zeit nicht mit Nettigkeiten. Es funktionierte offenbar sowieso nicht. Auf dem direkten Weg ging alles viel schneller, und die Leute wussten sofort, woran sie waren.

»Für so etwas habe ich wirklich keine Zeit. Darf ich mir die Leiche jetzt ansehen oder nicht?«

»Sicher, warum nicht?«

Sorgsam streifte er die Latexhandschuhe über und fing an, den alten Mann zu untersuchen. Er reagierte nicht im Mindesten zimperlich auf Tote und verstand auch nicht, weshalb es manchen Leuten anders erging. Es sei denn, natürlich, die Leiche wies eine besonders scheußliche Verletzung auf, das würde Sinn ergeben. Aber dieser Mann war stranguliert worden, und nun atmete er einfach nicht mehr. Und war kalt. Zeigte eine sonderbare Farbe. All die vom Alkoholkonsum aufgeplatzten Äderchen an der Nase waren verschwunden, von der Schwerkraft entleert, die das Blut hinunter zur Schädelbasis gezogen hatte. Aber das war alles. Da gab es nichts, wovor man sich hätte fürchten müssen. Er hob die linke Hand des Mannes an und betrachtete sie eingehend.

»Hat er einen Ehering getragen? Da ist ein leichter Abdruck an seinem Ringfinger.«

»Der liegt da drüben, zusammen mit dem anderen.«

»Dem ›anderen‹?«

Sie trat an einen an der Seite stehenden Aluminiumtisch, auf dem einige durchsichtige Beweismittelbeutel lagen. Einen nahm sie in die Hand und hielt ihn hoch. Darin befanden sich zwei Eheringe, von denen einer an einem Stück Kette hing.

»Den anderen hat er an der Kette um den Hals getragen.«

»Das haben Sie nicht für signifikant gehalten?«

»Ich bin forensische Pathologin, keine Ermittlerin.«

Ihren Worten haftete ein Sarkasmus an, der Cross normalerweise entgangen wäre. Aber er wurde besser darin, den Ton zu erkennen, und er war ziemlich sicher, dass sie verärgert war. Sie hatte, wie er dachte, auch nicht unrecht. Es war sein Job zu ermitteln, ihrer war es, ihre forensischen Ergebnisse zu präsentieren. Er nahm den Beutel und beäugte die Ringe eingehend. Als er sich dann suchend umblickte, reichte sie ihm, ohne zu fragen, eine Lupe, wofür sie keinen Dank erhielt. Er war viel zu tief in seiner Betrachtung versunken, um daran zu denken, dass er in solchen Situationen seine Anerkennung zum Ausdruck bringen sollte. Die Ringe waren identisch. Einer hatte einen geringfügig kleineren Umfang als der andere und sah weniger abgetragen aus. Auf der Innenseite waren sie mit einem Datum und den miteinander verschlungenen Initialen H, L und C graviert.

»Dieser Mann war verwitwet. Er hat den Ring seiner verstorbenen Frau am Hals getragen. Sie ist schon vor einer Weile gestorben, nach dem unterschiedlichen Grad der Abnutzung beider Ringe zu schließen. Er hatte in der Vergangenheit einige Zahnbehandlungen. Ziemlich umfangreich und ziemlich kostspielig, wie es aussieht. Können Sie den zahnmedizinischen Status fotografieren und röntgen und mir die Bilder schicken?«

»Kann ich.«

Cross musterte die Augen des Mannes und beugte sich dann hinunter, um eines von ihnen von der Seite zu betrachten.

»Die Augen haben Sie nicht untersucht.«

»Natürlich habe ich das.«

»Er trägt Kontaktlinsen.«

Auf der Miene der Pathologin zeichnete sich deutlich ein schärferer Zug ab.

»Das ist mir durchaus bewusst.«

»Dann ist es normal, dass Sie sie in situ belassen?«

Sie erwiderte nichts. Er hatte sie ertappt. Wie hatte sie das übersehen können? Bei anderen Leuten hätte sich bei diesem Tanz vielleicht ein Hauch von Triumph gezeigt, aber nicht bei Cross. Er war nur der Ansicht, dass es ein wenig Zeit sparen würde, würden die Leute ihre Arbeit ordentlich erledigen.

»Können Sie sie bitte entfernen?«

»Natürlich.«

Ihm fiel auf, dass sie sehr vorsichtig zu Werke ging, als sie mit einer Pinzette seiner Bitte nachkam. So vorsichtig, als würde sie die Kontaktlinsen eines lebenden Menschen herausnehmen. Ein Detail, das er zu schätzen wusste. Sie hatte eine teilnahmsvolle Haltung gegenüber den Toten, und er hatte festgestellt, dass Pathologen mit dieser Einstellung tendenziell mehr über ihre Untersuchungsobjekte herausfanden als andere. Einer seiner bevorzugten Pathologen bezeichnete die Leichen, die vor ihm lagen, als »Klienten« – was für Cross’ Geschmack ein bisschen zu weit ging, aber er verstand die Logik dahinter. Wie dem auch sei, sie schien an diesem Morgen nicht bei der Sache gewesen zu sein. Sie legte die Linsen in eine Schale und reichte sie ihm.

»Sehen die für Sie normal aus?«, fragte er.

»Ein bisschen groß vielleicht«, entgegnete sie knapp.

»Das sind Sklerallinsen. Sie finden bei Keratokonus Verwendung, das ist eine krankhafte Vorwölbung der Hornhaut, die dazu führt, dass normale Linsen nicht passen. Die Sklera ist das Weiße im Auge, was diese Linsen, wie Sie hier sehen können, abdecken.«

Sie schnaubte verärgert. Cross ging davon aus, dass die Frau wusste, was die Sklera war. Und sie hätte die Linsen bemerken müssen, aber Sklerallinsen bedecken beinahe das ganze Auge, weshalb sie leicht zu übersehen waren. Vermutlich gehörten sie nicht zu den Dingen, nach denen sie bei einem Obdachlosen gesucht hatte.

»Ich hatte angenommen, Sie wüssten das alles. Andererseits könnten Sie einwenden, dass Sie Pathologin sind, keine Augenärztin.«

Er ging, und sie starrte ihm hinterher – fassungslos angesichts seiner scheinbaren Rüpelhaftigkeit.

Ottey hatte es aufgegeben, andere Leute in der Dienststelle zu fragen, wo Cross sich aufhielt, wenn er mal wieder abhandengekommen war. Nicht einmal deshalb, weil sie es so oder so nie wussten. Es lag vielmehr daran, dass sie selbst oft keine Ahnung hatte, wo er abgeblieben war. Dieser Umstand war zu einer Art Bürowitz geworden, der im Zusammenhang mit ihrer widerwilligen Partnerschaft mit diesem Mann ganz besonders enervierend auf sie wirkte. Also wartete sie geduldig auf seine Rückkehr und tat gegenüber allen anderen, als wäre alles in bester Ordnung und verliefe plangemäß.

Bald darauf kehrte Cross zurück in sein Büro und fertigte eine Liste an. Es gefiel ihm, Dinge, die getan werden mussten, in der Reihenfolge ihrer Priorität in Listen zusammenzufassen. Noch besser gefiel ihm, jede Aufgabe abzuhaken, sobald sie erledigt war. Und ganz besonders gefiel ihm die Tatsache, dass die Haken, wenn er die Liste in der korrekten, logischen Reihenfolge zusammengestellt hatte, in der gleichen Abfolge auf der Seite erschienen. Das mochte vielleicht ein wenig kindisch sein, aber es gab ihm einen Extrakick.

Er war der einzige Detective in der ganzen Einheit, der ein eigenes Büro hatte, von Carson einmal abgesehen. Alle anderen hatten Schreibtische im Großraumbüro. Das verdankte er dem Umstand, dass er mit den Geräuschen nicht zurechtkam. Nicht, weil er Telefonate und Gespräche anderer Polizisten als ablenkend empfunden hätte. Es lag schlicht an den Geräuschen selbst. Für ihn waren sie buchstäblich intolerabel. Über viele Jahre, bis seine Vorgesetzten begriffen hatten, dass dies kein Ausdruck einfacher exzentrischer Affektiertheit war, hatte man ihn auf den Stufen der Hintertreppe des Gebäudes finden können, wo er vor sich hinarbeitete, dankbar für die Stille, die ihn dort umgab.

Es klopfte an seiner Tür. Ohne von seiner Liste aufzublicken, rief er: »Herein.«

»Können Sie bitte aufhören, einfach zu verschwinden, ohne mir Bescheid zu geben?«, sagte Ottey.

Er arbeitete weiter an seiner Liste, ohne ihr die Höflichkeit zu erweisen, sie wenigstens für einen Moment anzuschauen, als sie sein Büro betrat.

»Sie waren bei DI Carson«, erklärte er.

»Sie hätten auf mich warten sollen.«

»Das wäre eine Verschwendung meiner Zeit gewesen.«

»Mag sein, aber es hätte mich davor bewahrt, eine gute halbe Stunde meiner Zeit damit zu vergeuden, eine wütende Pathologin zu besänftigen, die Sie, wie es aussieht, der Unfähigkeit beschuldigt haben.«

Nun schaute er auf. Er hatte gelernt, dass Blickkontakt die wirksamste Methode war, wann immer es darum ging, der Aussage eines anderen zu widersprechen und um einen Standpunkt deutlich zu machen.

»Das ist nicht korrekt. Sie hat mehrere entscheidende Punkte übersehen, was nicht passiert wäre, hätte sie unser Opfer ordnungsgemäß und gründlich untersucht.«

»Und das haben Sie ihr gesagt.«

»Das war nicht nötig.«

»Wir sollen ein Team bilden, und wir würden sehr viel effektiver arbeiten, wenn ich nicht immer wieder hinter Ihnen aufräumen müsste. Sie haben es doch selbst gesagt: Sie haben Schwierigkeiten bei der Kommunikation mit anderen Leuten.«

»Das habe ich nie gesagt. Ich bin ein sehr guter Kommunikator«, protestierte Cross.

»Die Leute haben ein Problem mit Ihrem Auftreten. Sie machen alle wütend.«

Das war natürlich richtig, und er wusste es, also war sein einziger Ausweg ein Themenwechsel.

»Ich habe die Briefing-Unterlage für Sie«, sagte er und hielt ihr das Dokument hin.

»Wenn Sie so ein großartiger Kommunikator sind, dann können Sie das Briefing selbst machen.«

Reichlich schockiert angesichts dieses Vorschlags, starrte er sie einen Moment lang an.

»Sie wissen, dass ich das nicht tun kann.«

Aber statt ihm zu antworten, knallte sie das Dokument wieder auf seinen Schreibtisch, worauf er erwartungsgemäß zusammenzuckte. Anschließend stapfte sie hinaus ins Großraumbüro, wo Carson bereits auf das Briefing wartete.

Carson sah sich im Raum um – fünf uniformierte Polizisten, ein paar Sachbearbeiter und ein weiterer Detective waren vor Ort.

»Gut, wir sind alle hier.«

»Das ist alles?« Ottey wusste, wie viele Leute für diesen Fall eingeteilt worden waren, aber sie nun physisch vor sich zu sehen, versetzte ihr dennoch einen Schock. Sie beschloss, ihr Entsetzen noch einmal zum Ausdruck zu bringen. »Das ist alles?«, wiederholte sie nachdrücklich.

»Josie, das hatten wir doch schon«, antwortete Carson matt.

»Ernsthaft?« Wie so viele andere hatte sie es satt, die Kritik der Medien und der Öffentlichkeit an der Polizeiarbeit über sich ergehen zu lassen, wenn die Bodentruppen schlicht nichts dafür konnten. Mit den zur Verfügung stehenden Mitteln waren ihre Möglichkeiten begrenzt – ein Mantra, das sie an so vielen Küchentischen von Freunden wiederholt hatte, dass es sich schon reichlich abgenutzt anfühlte. Carson fiel auf, dass Cross nicht da war.

»Wo ist George?«

»Sie ist wütend auf mich, weil ich ohne sie zur Pathologin gegangen bin.« Cross starrte seinen Schreibtisch an und vermied es, Blickkontakt zu Ottey oder Carson aufzunehmen. Im Befragungsraum konnte er während eines Verhörs die härtesten Kerle niederstarren, aber wenn es um ganz normale soziale Interaktion ging, scheute er stets vor einer verbalen Konfrontation zurück.

»Ist das wahr?«

»Sie weiß genau, dass ich ein Briefing nicht leiten kann.«

»Josie?«

Im Grunde hatte sie keine Lust, ihre Zeit mit diesem Gespräch zu vergeuden. Carson stand bei jeder Auseinandersetzung und jeder Meinungsverschiedenheit während der Ermittlungen in einem Fall hinter Cross, was umso ärgerlicher war, weil er fast immer recht hatte. Deshalb schnappte sie sich jetzt einfach das Briefing-Dokument, das sie auf seinem Schreibtisch gelassen hatte, und marschierte hinaus ins Großraumbüro. Carson verließ ebenfalls den Raum, und dann stand auch Cross auf und folgte ihnen. Doch statt sich zu den versammelten Kollegen zu setzen, nahm er sich einen Stuhl und stellte ihn neben die Tür auf der Rückseite des Raums. Es sah aus, als täte er das für den Fall, dass er rasch würde flüchten müssen, was der Wahrheit mehr als nahekam. Bei solchen Gelegenheiten benötigte er stets einen Platz nahe einem Ausgang, falls ihn die Situation überfordern sollte. Auf diese Weise konnte er still hinausschleichen, ohne dass es irgendjemandem auffiel. So eine Überforderung konnte durch zu viel Lärm eintreten, durch eine Auseinandersetzung oder sogar durch etwas so Unbedeutendes wie einen Stift, der auf der Weißwandtafel quietschte – was regelmäßig passiert war, bis jemand erkannt hatte, dass man die Marker einfach ausprobieren sollte, ehe sie benutzt wurden. Der Unterschied zwischen Cross und den anderen bestand darin, dass er nicht hier war, um sich das Briefing anzuhören – schließlich entstammte es zum Großteil seinen Notizen. Er war hier, um sich anzuhören, welche Fragen gestellt wurden. Um der Wahrheit Genüge zu tun, die meisten würden irrelevant und banal sein, aber manchmal erkundigte sich jemand nach etwas, das einen unerwarteten Gedankengang in ihm auslöste. Ottey fing an, aus der Unterlage vorzulesen.

»Kerakotonus ist ziemlich selten …«

Cross zuckte regelrecht zusammen. »Keratokonus, es heißt KeRATOkonus«, warf er ein.

»Vielleicht möchten Sie übernehmen«, schlug Ottey vor.

»Nein, nein, das mag eine geschickte Erwiderung sein, aber das ändert nichts an der Tatsache, dass es Keratokonus heißt. Es wäre für jeden im Raum nützlich, die korrekte Aussprache zu kennen, ehe sie anfangen, die örtlichen Optiker anzurufen, um nach Verordnungen für Skleralkontaktlinsen zu fragen, wozu Sie die Kollegen gleich anweisen werden.«

Ottey sah sich zu Carson um. Das war genau das, womit sie es während der Arbeit den ganzen Tag zu tun hatte, er jedoch erlebte das nur gelegentlich. Er erwiderte ihren Blick mit diesem Teflonlächeln, das rein gar nichts verriet. Sie fuhr fort.

»Keratokonus ist ziemlich selten; die Inzidenz schwankt zwischen ein- und sechshundert Fällen je hunderttausend Einwohner«, erklärte sie. »Das Opfer hat Sklerallinsen getragen. Die sind speziell für diese Krankheit gedacht und decken einen großen Teil des Augapfels ab. Die Tatsache, dass er solche Linsen hatte, ein anscheinend obdachloser Mann, ist ganz offensichtlich aus sich heraus von Interesse. Wir müssen herausfinden, wo sie hergekommen sind. Dazu wird ein sachkundiger Optiker benötigt, also können Sie die großen Ketten außer Acht lassen. Sehen Sie sich die alteingeführten Optiker an und lassen Sie sich die Namen aller Personen geben, denen diese Linsen während der letzten zehn Jahre verordnet worden sind.«

Ein Uniformierter meldete sich zu Wort. »Gehen wir davon aus, dass er von hier ist?«

»Ich denke, wir können mit Sicherheit annehmen …«, sagte Ottey.

»Mit Sicherheit kann man gar nichts annehmen«, platzte Cross heraus. Er war überzeugt, dass Annahmen die Ermittlungen in fehl- oder sogar uninformierte Bahnen lenkten und viele Stunden wertvoller Zeit vergeudeten, an der es der Polizei dieser Tage sowieso mangelte.

»Eine Annahme erfordert eine Reihe von Sachverhalten – Faktoren, wenn Ihnen das lieber ist –, die richtig kombiniert zu einer möglichen Schlussfolgerung führen. Wir haben keine derartigen Faktoren oder Sachverhalte und können folglich zum gegenwärtigen Zeitpunkt keine wie auch immer geartete Art der Annahme, sicher oder nicht, treffen«, führte er aus.

Alle sahen nun Cross an. Ein Umstand, mit dem umzugehen ihm schwerfiel, also tat er, was er in so einer Lage immer tat, und verließ den Raum durch die Tür, die so leicht erreichbar links von ihm war. Ottey wartete gerade lange genug, um ihren Ärger zu bezwingen, ehe sie weitermachte.

»Okay, also, wir werden eine lokale Optikersuche vornehmen und fangen an mit … Steve, Monty.«

Einer der angesprochenen Detectives erhob Einwände: »Wäre das nicht eine Aufgabe für die Sachbearbeiter?«

»Warum?«

»Damit die Detectives sich der echten Polizeiarbeit widmen können, statt zwei Tage lang auf den Monitor zu starren und am Telefon zu hängen.«

»Gut, das sehe ich ein. Dave und Brian – Optiker. Das war alles. Sir?«

Carson stand auf. »Unser Opfer war obdachlos und aller Wahrscheinlichkeit nach alkoholabhängig. Dennoch ist der Tote ein Opfer, und darum werden wir ihm all den Respekt und die Aufmerksamkeit widmen, die wir auch allen anderen Opfern entgegenbringen. Verstanden?« Er gab sich so vollmundig, als würde er das selbstverständlich und ohne nachzudenken tun, könnte sich aber nicht darauf verlassen, dass seine Mitarbeiter es ebenfalls taten, ohne zuvor daran erinnert zu werden.

Die Versammlung löste sich auf.

Alice Mackenzie war vierundzwanzig Jahre alt. Achtzehn Monate zuvor hatte sie ihren Hochschulabschluss gemacht, ohne so recht zu wissen, was sie mit ihrem Leben anfangen wollte, beruflich oder im Allgemeinen. Es war wirklich deprimierend. So viele ihrer Altersgenossen – wenn sie darüber nachdachte, sogar eigentlich so gut wie all ihre Kommilitonen – hatten bei ihrem Abschluss eine klare Vorstellung davon, wie es weitergehen würde. Aber nicht Alice. Daher war sie von einem unbezahlten Praktikum zum nächsten gestolpert, bis in ihrem Leben etwas passiert war, das zu einem fundamentalen Kurswechsel geführt und sie erstmals auf die Idee gebracht hatte, zur Polizei zu gehen. Doch sie hatte immer noch mit einem Rest einer beinahe angeborenen Abneigung zu kämpfen. Die verdankte sie der Art, wie ihre sozialistischen, The Red Flag singenden Eltern sie erzogen hatten. Von der Schließung hiesiger Bibliotheken und Notaufnahmen bis zu Immigrantenfamilien, die Probleme mit dem Home-office hatten – in ihrem ganzen Leben hatte es nicht einen örtlichen Anlass gegeben, bei dem ihre Eltern nicht aufmarschiert waren oder Komitees gegründet hatten.

Beide waren Akademiker und arbeiteten an der sozialwissenschaftlichen Fakultät. Als Kind hatte Alice sämtliche Ferien in England verbracht, in Brighton, Bournemouth, Blackpool oder Scarborough, nicht, weil ihre Eltern nicht ins Ausland wollten, sondern weil sie ihren Urlaub um die jährliche Labour Conference herum planten. Insofern war ihr Entschluss, etwas zu tun, das in irgendeiner Weise mit der Polizei zu tun hatte – in den Augen ihrer Eltern der rechte Arm einer faschistischen Regierung – ein Schlag ins Gesicht. Ein profunder Akt der Rebellion. Zunächst waren sie sprachlos. Was hatten sie nur falsch gemacht? Um Himmels willen, sie hatten während ihrer Teenagerzeit sogar drei Jahre lang vegetarisch gelebt, um ihr die »Mittel zu einer fundierten Entscheidung in die Hand zu geben«. Und jetzt die Polizei? Das war ihnen unbegreiflich. Bis sie schließlich eine Reihe mildernder Umstände ersannen, die zwar im Grunde für niemanden außer ihnen selbst irgendeinen Sinn ergaben, aber tröstlich für sie waren. Im Licht jener Faktoren erschien die Entscheidung ihres einzigen Kinds, sich der Truppe anzuschließen, absolut logisch, ja sogar unausweichlich und verdiente ihre ganze Unterstützung.

Und da war sie nun an ihrem ersten Tag, voller Feuereifer und fest entschlossen, von Beginn an einen guten Eindruck zu machen, und hatte nichts zu tun. Der viel beschworene Einarbeitungsprozess hatte sich bisher beschränkt auf: »Hier ist Ihr Schreibtisch, und das ist Ihr Computer. Sie können das Passwort ändern, wenn Sie wollen, und es durch etwas ersetzen, das Sie sich leichter merken können.«

Wenn sie ehrlich war, musste sie zugeben, dass der Mord an einem obdachlosen Mann in ihren Augen nicht besonders »sexy« zum Einstieg war. Ein Gedanke, für den sie sich im Stillen umgehend selbst tadelte. Aber sie hatte etwas Interessanteres erhofft, etwas Faszinierenderes. Dagegen war schließlich nichts einzuwenden. Es war absolut verständlich. Immerhin lag doch auf der Hand, dass dies nur ein Fall von sinnloser Gewalt im zwielichtigen Milieu der Obdachlosen war. Ihre Eltern wären über diese Geisteshaltung natürlich entsetzt gewesen. Wo um alles in der Welt konnte das nur hergekommen sein? Vielleicht davon, dass ihr Vater stur darauf beharrte, immer das Beste in anderen zu suchen. Nach den vielen Malen, zu denen er von Leuten, die er aufgenommen oder denen er anderweitig geholfen hatte, enttäuscht worden war, war sie fest entschlossen, sich niemals reinlegen zu lassen. Ihre Einstellung war das diametrale Gegenteil von der ihres Vaters. Eine zynische Grundhaltung, gepaart mit ständigem Argwohn: Wer sind diese Leute? Was wollen sie wirklich? Welche heimlichen Absichten hegen sie? Das war eine Haltung, die ihr, so sollte man annehmen, bei der Polizei enorm zugutekommen dürfte.

Aber gerade jetzt sprach niemand mit ihr. Mittlerweile kam ihr die Befürchtung beinahe wünschenswert vor, dass ihre ersten Tage nur daraus bestehen würden, Kaffee und Tee für die Detectives zu kochen und Akten zu kopieren. Zumindest müssten die Leute mit ihr reden, wenn sie das täte. Während des Briefings hätte sie ebenso gut unsichtbar sein können. Als es zu Ende war, stand sie mit genauso leeren Händen da wie zu Anfang schon – sie hatte schlichtweg nichts zu tun. Verdammte Scheiße. Sie ging zu den Tafeln, die man an das Ende des Raums gerollt hatte. Zuvor hatte sie zugesehen, wie Cross Bilder, Tatortfotos, Aufnahmen des Leichnams, seiner Kleidung und anderer Beweismittel, darunter die Sklerallinsen, an die Tafeln geheftet hatte. Ihr war dabei aufgefallen, dass er mithilfe einer App auf seinem Smartphone alles auf exakt der gleichen Höhe angebracht und ein Lineal benutzt hatte, um dafür zu sorgen, dass die Abstände stets gleich groß waren. Danach war er einen Schritt zurückgetreten und hatte seine Arbeit begutachtet, ein paar kleine Korrekturen vorgenommen und einige Fotos dichter zusammengerückt, als hätte sich bei ihrem Anblick auf der Tafel in seinem Kopf eine Verbindung oder ein logischer Hintergrund herausgebildet. Dann sah sie sie. Die Ringe. Es gab mehrere Fotografien von ihnen: Großaufnahmen von den Abnutzungsspuren und den identischen Gravuren auf der Innenseite. Sie notierte sich die Buchstaben HLC und fertigte eine Zeichnung an, auf der zu sehen war, wie die Lettern ineinander verschlungen waren, ehe sie zu ihrem Schreibtisch zurückkehrte. Vielleicht war das ein Anhaltspunkt. Egal. Hauptsache, sie hatte etwas zu tun.

Cross’ Ordnungsbedürfnis war zugleich eines seiner wichtigsten Arbeitswerkzeuge. Er hatte einen feinen Sinn für Dinge entwickelt, die sich nicht an ihrem Platz befanden. Die nicht so waren, wie sie sein sollten. Während der Ermittlungsarbeit hatte er die Erfahrung gemacht, dass Abweichungen von der Norm, wie klein sie auch sein mochten, oftmals der Schlüssel waren, um die scheinbar unlösbaren Elemente eines Falles zu enträtseln. Die Tagesabläufe der Beteiligten, ihr Verhalten, ihr Charakter, das alles unterlag einer gewissen Ordnung. Wenn irgendetwas dort nicht hineinpasste, ergab sich daraus oft eine erfolgreiche neue Ermittlungsrichtung.

»Achten Sie auf die ganzen ›Un-s‹. In der Mehrzahl der Fälle werden Sie feststellen, dass die Ihnen die richtige Richtung weisen«, sagte er häufig und überließ es Ottey, seine Worte für die verwirrten Zuhörer zu übersetzen.

»Das Uncharakteristische, das Ungewöhnliche oder das Unwahrscheinliche«, pflegte sie dann zu erklären.

Im Fall des Obdachlosen erwiesen sich die Sklerallinsen definitiv als ungewöhnlich. Im Besitz eines Obdachlosen waren Kontaktlinsen im Allgemeinen schon eigentümlich. Wenn es sich um Tageslinsen handelte, würde das auf eine Einkommensquelle hindeuten oder auf jemanden, der erst seit kurzer Zeit auf der Straße lebte und seinen Vorrat noch nicht aufgebraucht hatte. Aber Sklerallinsen waren gleich doppelt interessant: Nicht nur, dass sie selten waren, sie wurden auch verordnet. Deshalb erhöhte der Umstand, dass der Tote sie getragen hatte, ihre Chancen, das Opfer zu identifizieren, um das Hundertfache.

Als Cross am folgenden Tag im Dezernat eintraf, wartete Mackenzie schon auf ihn – aufgeregt wie ein Kind, das sich bei einer Hausarbeit besonders viel Mühe gegeben hatte und sie nun seinem Lehrer zeigen wollte, weil es das Lob kaum erwarten konnte. Sie wollte nicht übereifrig erscheinen, also ließ sie ihm, als er eintraf, genug Zeit, sich einzurichten, sich einen Kaffee zu kochen und den Laptop aufzuklappen. Als sie dann beschloss, zu ihm zu gehen und ihm ihre Erkenntnisse vorzulegen, kam Ottey ihr zuvor und trat in Cross’ Büro. Also wartete sie noch etwas länger.

»Zahnschema und Fotografien von seinem Gebiss sind da. Ich schicke sie weiter zu einem forensischen Zahnarzt«, sagte Ottey.

»Nein, schicken Sie sie zu Henry vom British Dental Journal«, widersprach Cross.

»Zu wem?«, fragte sie.

»Er ist nicht nur ein Ausnahmetalent, wenn es um Identifikationen geht, er kann sie auch an alle Angehörigen der British Dental Association weiterleiten. Auf die Art geht es schneller«, erklärte Cross.

»Okay«, stimmte Ottey zu.

Es klopfte an der Tür. Einer der Uniformierten, PC Steve Clark, ging an Mackenzie vorbei und trat ein. Es dauerte einen Moment, bis Cross ihn ansah. Clark sagte nichts. Er war klug genug, um den Mund zu halten, bis Cross bereit war.

»Wir wissen, wo das Opfer kurz vor seinem Tod war. Shaftesbury House«, informierte er, als es soweit war.

»Noch ein Obdachlosenheim?«, fragte Ottey. Der PC nickte.

»Ich hatte keine Ahnung, dass es in Bristol so viele Obdachlosenheime gibt. Das ist schon ziemlich deprimierend«, bemerkte sie.

»Ich habe mit dem Mitarbeiter gesprochen, der in der Nacht Dienst hatte. Der Name des Opfers ist Lenny.«

»Haben wir auch einen Nachnamen?«, fragte Ottey.

»Nein, nur Lenny«, antwortete der PC.

Aber Cross hörte gar nicht zu. Er hatte sich seinen Mantel geschnappt und verließ wortlos den Raum.

»George?«

Weg war er. Sie sah wieder Clark an.

»Tut mir leid, Steve. Danke.«

Dann folgte sie Cross, und Mackenzie blieb im Großraumbüro zurück und bedauerte, dass sie die Gelegenheit, etwas zu sagen, verpasst hatte.

Nachdem sie Cross erfolgreich an der Fahrradgarage abgefangen hatte, chauffierte Ottey ihn nun zum Shaftesbury House. Noch vor ein paar Monaten hätte sie ihn gefragt, warum sie dorthin fahren mussten, wenn sie doch einfach hätten abwarten können, was Steve sonst noch zu erzählen hatte. Aber inzwischen wusste sie, dass es nicht daran lag, dass Cross den Berichten, die er erhielt, nicht traute. Es war auch nicht vorrangig dem Bedürfnis geschuldet, alles aus erster Hand zu hören; tatsächlich war der Kontext, in dem die Information zutage kam, entscheidend für ihn. Wie beim Dolmetschen war Kontext einfach alles; er hob manche Punkte für ihn hervor und kennzeichnete andere als irrelevant.

Shaftesbury House war ein altes Bürogebäude aus den Sechzigern, gleich neben einem kleinen, inzwischen stillgelegten Industriepark. Es handelte sich um einen reinen Zweckbau ohne architektonische Besonderheiten. Im Empfangsbereich herrschte die deprimierende Atmosphäre einer abgewirtschafteten Institution, die kaum noch über die Runden kam. An Pinnwänden hingen Flugblätter, die für Selbsthilfegruppen oder telefonische Anlaufstellen warben, aber so alt waren, dass die Ortsvorwahlen schon seit Jahren nicht mehr gültig waren. Niemand hatte sie erneuert, denn im Grunde hatte niemand Bedarf daran. Ironischerweise kamen die Leute nur hierher, um den Hilfsangeboten zu entrinnen, obwohl ihre bloße Anwesenheit an diesem Ort einem Hilferuf gleichkam.

Den Empfangsschalter besetzte einer der wenigen bezahlten Mitarbeiter, die während des Tages Dienst hatten. Sein Mindestlohn wurde nur noch von seinem Arbeitseifer unterboten.

Er blickte nicht auf, als sie näher kamen. Er war viel zu sehr damit beschäftigt, ein Spiel auf seinem Handy zu zocken. Ottey stellte sich und Cross vor und zeigte ihm ihren Dienstausweis, ohne irgendeine Wirkung zu erzielen. Er blickte immer noch nicht auf. Sie fuhr einfach fort. »Sind Sie der Gentleman, der vergangene Nacht mit unserem Kollegen gesprochen hat?«

»Nein«, murmelte er kaum hörbar.

»Wissen Sie, ob Lenny in der vorletzten Nacht hier war?«, setzte sie nach.

»Keine Ahnung.«

»Sie haben ihn gar nicht gesehen?«, fragte Cross.

»Nein. Hab ich doch gesagt.«

»Sind Sie sicher?«, hakte Cross nach.

»Ach, lassen Sie mich rasch im Gästebuch nachsehen«, sagte er spöttisch, ohne zu ahnen, dass seine Ironie an dem Detective, der vor ihm stand, wirkungslos abprallte.

»Sie haben ein Gästebuch?«, erkundigte sich Cross erstaunt.

»Natürlich nicht.«

»War er in letzter Zeit hier?«, wollte Ottey wissen.

»Möglich.« Ottey fragte sich, ob der Bursche zu viele amerikanische Krimiserien im Fernsehen geguckt hatte und annahm, dass sie ihn bezahlen würden.

»Was wissen Sie über ihn?«, hakte Ottey nun in nachdrücklicherem Ton ein und dachte wie so oft, dass sie vermutlich mehr Informationen herauslocken würde, als Cross es in so einer Situation könnte.

»Nichts.«

»Nichts?«, wiederholte sie. Der Mann widmete sich wieder seinem Telefon. Cross starrte ihn an.

»Der arme Kerl ist tot. Warum wollen Sie uns nicht helfen?«, fragte Ottey.

»Will ich doch.«

»Wie wäre es mit einem Nachnamen?«, schlug sie vor.

»Machen Sie Witze? Wir wissen nicht, ob irgendeiner von den Namen, die die uns nennen, stimmt. Wie sollten wir das auch überprüfen? Die sind wie Gespenster.«

»Sie haben ihn also Dienstagnacht nicht gesehen?«, fragte Cross. Der Mann sah erst ihn und dann Ottey an.

»Hat der eigentlich was an den Ohren?«, fragte er.

Cross ging nicht darauf ein. »Wann haben Sie ihn das letzte Mal gesehen?«

»Keine Ahnung«, wiederholte er.

Cross musterte den Mann, taxierte ihn. »Offenbar hassen Sie Ihre Arbeit sehr.«

»Nein, ich liebe sie. Das ist meine Berufung. Meine Lebensaufgabe. Sie haben keine Ahnung, wie schwer es ist, einen Job wie diesen zu bekommen.«

»Und darum sind Sie nicht besonders betroffen über den Tod dieses Mannes. Sie sind zu sehr damit beschäftigt, sich zu überlegen, wie Sie in einem Job enden konnten, den Sie verabscheuen, ohne irgendeine Aussicht, da wieder rauszukommen.«

Der Empfangsmitarbeiter starrte Cross an, der den Blick ungerührt erwiderte. Er würde nicht zurückweichen. In Situationen wie diesen, wenn Cross in so einer Gemütsverfassung war, kamen die Leute häufig zu dem Schluss, dass sie es schneller hinter sich hätten, wenn sie einfach seine Fragen beantworteten.

»Okay, er war hier«, räumte der Mitarbeiter endlich ein.

»Sind Sie sicher?« Cross’ Beharrlichkeit machte dem Mann zu schaffen. Seine verbissene Jagd nach Informationen erweckte bei den Leuten, die er befragte, oft den Eindruck, er wäre dumm, sogar langsam. Das war ihm durchaus bewusst, und er nutzte es zu seinem Vorteil. Das gehörte zu den Dingen, die ihm leichtfielen. Es war etwas, was er mit seinem bevorzugten fiktiven Ermittler Maigret gemeinsam hatte, der die gleiche Methode erfolgreich zu nutzen wusste.

»Ernsthaft?«, fragte der Mann ungläubig.

»Um welche Zeit ist er gegangen?«, fuhr Cross unbekümmert fort.

»Gegen acht.«

»War er allein?«

Der Empfangsmitarbeiter dachte einen Moment nach.

»Nein, er war mit Badger zusammen.«

»Badger? Waren sie befreundet?«, fragte Ottey, während Cross fix den Namen notierte.

»Ja, wie ein altes Ehepaar, die zwei. Immer angepisst. Immer streitlustig. Wobei mir einfällt, sie haben sich gezofft, als sie gegangen sind«, sagte er.

»Wann ist Lenny erstmals hier aufgetaucht?«, fragte Ottey.

»Vor ungefähr sechs Wochen.«

»Wissen Sie, woher er gekommen ist?«

»Nein.«

»Irgendein Akzent?«

»Nein.«

»Wissen Sie, wo Badger sich augenblicklich aufhalten könnte?«, meldete Cross sich wieder zu Wort.

»Nein.«

»Was können Sie uns über ihn erzählen?«

»Eigentlich nichts. Ex-Soldat. Redet ständig über den Irak.«

»Irgendwelche psychischen Probleme?« Ottey mochte gar nicht darüber nachdenken, wie viele Männer und Frauen sie auf der Straße angetroffen hatte, die ihren Dienst quittiert hatten. Und fast alle litten an irgendeiner Form konfliktbedingter psychischer Erkrankung.

»Die haben die meisten hier«, sagte er.

»Wie alt ist er?«, wollte Ottey wissen.

»Ende vierzig vielleicht? Bart. Trägt immer eine Wollmütze. Das da drüben ist er.«

Er zeigte auf eine der Pinnwände, in deren Mitte ein Zeitungsausschnitt aus einem Lokalblatt hing. »Obdachlosem Orden gestohlen«, lautete die Schlagzeile. Ottey machte ein Foto mit ihrem Telefon und las den Namen vor. »Corporal Terence Whitby.«

»Seine Orden wurden ein paar Wochen später abgegeben«, berichtete der Empfangsmitarbeiter.

»Sie haben eine Kamera über dem Eingang. Funktioniert die?«, fragte Cross.

Der Mann lachte. »Machen Sie Witze?«

»Nein, ich meine das absolut ernst«, antwortete Cross.

»Natürlich funktioniert die nicht.«

In gewohntem Schweigen fuhren sie zurück zur Dienststelle. Schließlich machte Ottey einen Versuch, die Stille zu durchbrechen, in erster Linie, weil sie sich langweilte. »Wie geht es Ihrem Vater?«

»Gut«, antwortete Cross nur.

»Smalltalk ist nicht Ihr Ding, was?«

»Ich kann Ihnen nicht folgen.«

»Um eine Unterhaltung zu führen.«

»Worüber?«

»Über irgendwas.«

Er überlegte einen Moment lang. »Zu welchem Zweck?«

»Ich weiß nicht … zum Zeitvertreib.«

Cross dachte darüber nach. »Nein, es ist nicht mein Ding«, beantwortete er dann ihre Frage. Er hatte eine unheimliche Art, Gespräche zu beenden, sodass auch nicht die kleinste Spur einer Einladung blieb, die Unterhaltung fortzusetzen. Was, wie sie dachte, eigentlich eine ganz nützliche Fähigkeit war, eine, die sie sich vielleicht ebenfalls aneignen sollte.

Als Ottey und Cross die MCU durch das Großraumbüro betraten, bemerkte Ottey, wie Mackenzie von ihrem Platz aufstand. Kaum hatte sich Cross an seinem Schreibtisch niedergelassen, klopfte sie bereits an seine Bürotür und trat ein.

»Hi.«

Nicht das schon wieder. Cross wartete mit Sicherheit darauf, dass sie ihm direkt mitteilte, was sie von ihm wollte. Sie schien nicht zu begreifen, wie wirkungsvoll es wäre, einfach zu sagen, was immer sie zu sagen hatte.

»Ich bin Alice, die neue PSI-Auszubildende.« Das wusste er längst, also sah er sie nur weiter an und wartete. Sie schaute sich zu Ottey um, die nicht in der Stimmung war, entweder ihr oder Cross in dieser Situation behilflich zu sein. Was immer Ottey auch sagte, es würde nichts an seinem Benehmen ändern, also gewöhnte das Mädchen sich besser gleich daran. Außerdem hatte sie keine Lust, sich Cross gegenüber für irgendeinen unterstützenden Zwischenruf zu rechtfertigen, sobald Alice das Büro wieder verlassen hatte. 

»Police Staff Investigator.«

»Ich weiß, was PSI heißt«, sagte Cross endlich.

»Natürlich.« Sie schwieg, wartete darauf, dass er sie fragte, was sie wollte. Aber das tat er nicht. Er sah sie nur stirnrunzelnd an.