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Achtung Suchtgefahr! Der neue Fantasyschmöker von Bestsellerautorin Lynn Raven.
Mit einem Trick bringt Mordan, der erste Heerführer der kriegerischen Kjer, die junge Heilerin Lijanas vom Volk der Nivard in seine Gewalt. Im Auftrag seines Königs Haffren will er die Heilerin und ein zauberkräftiges Elixier, die »Tränen der weißen Schlange«, an den Hof bringen.
Lijanas aber hat nur einen Gedanken: Flucht! Doch je näher sie den als »Blutwolf« verschrienen Mordan kennenlernt, desto stärker fühlt sie sich zu ihm hingezogen. Und er sich ebenso zu ihr. Er setzt alles dran, sie sicher an den Hof seines Königs zu bringen. Dort erwartet sie jedoch eine tödliche Überraschung …
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Lynn Raven lebte in Neuengland, USA, ehe es sie trotz ihrer Liebe zur wildromantischen Felsenküste Maines nach Deutschland verschlug. Nachdem sie zwischenzeitlich in die USA zurückgekehrt war, springt sie derzeit nicht nur zwischen der High und der Dark Fantasy hin und her, sondern auch zwischen den Kontinenten und ist unter den Namen Lynn Raven und Alex Morrin erfolgreich.
Im Internet ist die Autorin unter www.lynn-raven.com zu finden.
cbt – C. Bertelsmann Taschenbuch Der Taschenbuchverlag für Jugendliche Verlagsgruppe Random House
Der Sturm riss heulend an ihrem blutbesudelten Gewand und peitschte ihr Schnee und Hagel entgegen. Im Licht der drei Monde glitzerte Eis auf den Mauern. Sie grub die Finger in die Kälte, zog sich mühsam weiter an den Steinen entlang. Doch schon nach wenigen Schritten brach sie in die Knie – und kroch mit letzter Kraft zu den Zinnen. Ihr Schrei gellte von den hohen Mauern wider: »Gib mir mein Kind zurück!«
Der Diener verneigte sich tief, als er den Helm mit dem mächtigen Rosshaarschweif entgegennahm, während zwei andere die Türen zur Halle des Herrschers öffneten. Ohne die Männer weiter zu beachten, trat König Haffrens erster Heerführer zwischen ihnen hindurch. Das Leder von Hose und Stiefeln war mit Straßenschlamm bespritzt, der lange, um die Schultern mit Nachtfeh verbrämte Mantel im Saum eingerissen und beschmutzt. Vom Kriegslager an der südlichen Grenze umgehend vor den König befohlen, hatte er weder sich noch seine Begleiter auf dem Ritt geschont. Fünf Tage und Nächte hatten sie im Sattel verbracht, wobei sie ihren mächtigen Kriegsrössern nur gerade so viel Ruhe gegönnt hatten wie unbedingt nötig. Und obwohl er in diesen Tagen nicht geschlafen hatte, schritt er, ohne auch nur die Spur von Müdigkeit zu zeigen, an den Feuergruben entlang, die in den Boden der Halle eingelassen waren. Er war sich der Krieger bewusst, die an den Wänden postiert waren, in den flackernden Schatten halb verborgen. Sie verfolgten jede seiner Bewegungen, tödliche Hellebarden mit armlangen Klingen an den Enden neben sich. Es war sein Privileg als erster Heerführer, das Schwert auch in Gegenwart des Königs zu tragen, doch sollte er versuchen, es gegen den König zu führen, würden diese Männer keine Gnade kennen.
Als er die wenigen Stufen am Ende der Halle hinaufstieg, schlug er den schwarzen Mantel zurück. Ein leises Klirren verriet das Kettenhemd, das er unter dem dunklen Lederwams trug. Vor dem Thron sank er auf ein Knie und wartete, dass König Haffren zuerst das Wort an ihn richtete. Doch der Herr der Kjer, der seit jener Nacht vor dreiundzwanzig Wintern, als Herrscherin Naísee dem Wahnsinn verfallen war, an ihrer Stelle Telmáhr regierte, schwieg. Mit rotunterlaufenen Augen musterte er den Mann, den viele nur ›Blutwolf‹ nannten – und seit zwei Wintern hinter vorgehaltener Hand auch die ›Bestie von Sajidarrah‹. Seit dieser Krieger einer seiner Heerführer war, hatte er jeden seiner Befehle unbarmherzig bis zur allerletzten Konsequenz ausgeführt und noch nie versagt.
»Du hast mich warten lassen, Heerführer.« Anstatt dem Mann zu gestatten, sich von den Knien zu erheben, wie er es bei jedem anderen getan hätte, zog Haffren seinen pelzgefütterten Mantel enger um sich. Wie stets in den letzten Wochen fror er trotz der brennenden Feuerbecken. Schon seit mehr als zwanzig Wintern wühlte die Krankheit in seinem Körper, doch inzwischen brachten auch Mohn und Wein nur noch wenig Linderung.
»Vergebt mir, mein Gebieter, ich kam, so schnell ich konnte.«
Unwillig runzelte der König die Stirn. Hatte er da eben Aufsässigkeit im Ton des Kriegers gehört? Er beschloss, es für den Augenblick auf sich beruhen zu lassen, und hob in einer nachlässigen Bewegung die Hand. Von einem mit Fellen reich belegten Stuhl nahe der Wand stemmte sich ein schlanker, dunkelhaariger Mann in die Höhe und kam langsam herüber, die Hände in den weiten Ärmeln seiner kostbaren Robe verborgen. Blauviolette Augen glitzerten unter dünnen Brauen in einem seltsam alterslosen Gesicht, in dem Lippen und Nase beinah ein wenig zu schmal wirkten.
»Dein Herr hat eine Aufgabe für dich, Heerführer.«
Abrupt sah der auf. Seine Haltung drückte plötzlich Widerwillen aus. Trotzdem schwieg er.
Ladakh, Astrologicus und Heiler des Königs, lächelte. Er konnte den Zorn des Kriegers geradezu körperlich spüren. Zorn darüber, dass er noch immer auf den Knien liegen musste wie ein Unfreier und dass er, Ladakh, auf diese herablassende Weise mit ihm sprach.
»Du wirst nach Anschara gehen. Dort lebt eine Heilerin mit Namen Lijanas. Bring sie hierher.« Als wolle er einen Einspruch des Mannes verhindern, nickte Ladakh knapp. »Ich weiß, Heerführer, Anschara ist die Hauptstadt Astrachars, und zwischen den Kjer und den Nivard herrscht Krieg. Wahrscheinlich wird die Frau dich also nicht freiwillig begleiten. Aber es sollte für jemanden wie dich kein Problem sein, mit einem Weib fertigzuwerden. – Was auch immer nötig sein wird, um sie hierher zu bringen: Du wirst es tun. Allerdings … Eine Bedingung muss unbedingt erfüllt werden: Die Frau muss unberührt sein. Dafür stehst du mit deinem Leben ein!«
»Auch eine Heilerin kann einen –«
»Dir wurde nicht erlaubt zu sprechen, Heerführer«, fiel Ladakh ihm scharf ins Wort.
Einen Augenblick herrschte Stille, in den Flammen der Feuergruben knackten Holzscheite, dann: »Vergebt mir, Herr.« Der Krieger schien an den Worten zu ersticken. Mit unverhohlener Befriedigung nahm Ladakh es wahr.
»Die Heilerin lebt unter den Gesegneten der Ketzer-Göttin der Nivard. Bis sie sich selbst einen Gatten erwählen, bleiben diese Frauen unberührt. Damit sollten deine Bedenken ausgeräumt sein, Heerführer. – Doch weiter: Hast du die Frau, wirst du mit ihr in den Nordwesten gehen. In dem Felsmassiv jenseits von Kassens Klamm entspringt hoch oben in den Bergen in einem Rund aus Felsen eine Quelle. Das Wasser, das sie hervorbringt, ist ein Elixier, das man Die Tränen der weißen Schlange nennt.« Er nahm ein geschnitztes Holzkästchen von einem Tischchen, öffnete es und zeigte dem Mann seinen Inhalt. Auf tiefblauem Stoff glitzerten die Facetten geschliffenen Glases im Feuerschein. »Du wirst das Elixier in dieser Phiole hierher zurückbringen, zusammen mit der Frau!« Ladakh schloss das Kästchen mit einem deutlichen Schnappen, trat dicht vor den Krieger und beugte sich zu ihm hinunter. »Und nun hör genau zu, Heerführer: Niemand außer dir und der Frau soll den Brückenbogen überqueren, der sich über Kassens Klamm spannt! Und nur die Heilerin darf die Phiole mit dem Elixier berühren! Nur sie! Ansonsten verliert es seine Kräfte und ist nutzlos. Hast du das verstanden?«
»Ja, Herr!« Die Antwort kam durch zusammengebissene Zähne. Der Heerführer verneigte sich steif, als er das Kästchen entgegennahm.
»Sehr gut.« Ladakh richtete sich wieder auf und trat neben den Thron des Königs der Kjer. »Bis spätestens drei Tage nach dem Ährenfest wirst du zurück sein!« Er nahm von dem Tischchen einen Lederbeutel und warf ihn vor dem Krieger auf den Boden. Münzen klirrten. »Das sollte genügen, um jede notwendige Ausgabe zu decken. Den Rest darfst du behalten und mit deinen Männern teilen. – Du kannst gehen.«
Ganz langsam wanderte der Blick des Heerführers von Ladakhs lächelndem Gesicht zum Herrn der Kjer.
»Sind das Eure Befehle, mein Gebieter?«
Die eisige Miene Haffrens war Antwort genug. Der Krieger schlug die Faust gegen die Brust und verneigte sich. »Hören ist gehorchen!« Er nahm den Beutel auf, erhob sich und entfernte sich rückwärts vom Thron, ehe er sich bei der ersten Feuergrube umwandte und mit schnellen Schritten den Saal verließ.
»Hast du seinen aufrührerischen Ton bemerkt, Ladakh? Die Macht als mein erster Heerführer steigt ihm zu Kopf. Er vergisst, wo sein Platz ist.« Haffrens Faust ballte sich in den Pelz seines Mantels.
An seiner Seite beugte Ladakh sich vor. »Diese letzte Aufgabe, mein Herr, dann ist er Euch nicht mehr länger von Nutzen und Ihr könnt Euch seiner entledigen – endgültig.«
Der Wind trug den Geruch von Salz vom Meer herauf in die Straßen von Anschara, während die untergehende Sonne die vom Regen nassen Straßensteine mit einem Spiel aus Feuer und Gold überzog und sich in den Pfützen als flammendes Juwel spiegelte. Kinder sprangen durch die Lachen und haschten nach den aufspritzenden Tropfenfunken.
Ein letztes Mal ließ Lijanas den Blick durch die Kräuterkammer schweifen, ehe sie ihren Arzneikasten schloss und sich den Riemen um die Schulter schlang. Sie war müde nach einem langen Tag, an dem sie noch nicht einmal Zeit gefunden hatte, den Jelil-Kuchen zu kosten, mit dem die alte Idlis für die Behandlung der Gicht in ihren steifen Händen bezahlt hatte. Dabei mochte sie keine Frucht lieber als die süßen, gelben Jelil-Pflaumen, bei denen einem der Saft schon über die Finger rann, wenn man nur hineinbiss. Als wären heute böse Geister am Werk gewesen, war einer nach dem anderen zu ihr gekommen, als gäbe es keine anderen Heiler in der Stadt: Kinder mit verdorbenen Bäuchen; eine junge Frau in Lijanas Alter, die von ihrem Geliebten verlassen worden war, kaum dass er erfahren hatte, dass sie sein Kind trug, und die jemanden brauchte, an dessen Schulter sie sich ausweinen konnte; ein Knecht, der sich mit einer Axt drei Zehen abgetrennt hatte – und die zerstörten Glieder mitgebracht hatte, in der festen Annahme, sie könne sie ihm wieder annähen; zwei Krieger aus Fürst Rusans persönlicher Garde, die ihren Händel um eine Frau mit dem Schwert ausgetragen hatten und sich nun mit ihren Wunden nicht zum Kriegsheiler ihrer Truppe wagten, weil der es ihrem vorgesetzten Offizier gemeldet hätte.
Sie zog den Riemen des Arzneikastens höher auf die Schulter, öffnete die Tür, nahm den Korb mit dem Kuchen und trat hinaus ins goldene Abendlicht. Als sie sah, wie Malk, der jüngste Sohn eines Krämers aus der Nachbarschaft, der für sie zuweilen Botengänge erledigte, aufsprang, musste sie unwillkürlich lächeln.
»Habe ich dich nicht schon vor über einer Stunde nach Hause geschickt, junger Herr?«, rügte sie belustigt, während sie die Tür hinter sich schloss und verriegelte. Das Donnern der Wellen, die sich an den Steilklippen von Anschara brachen, vermischte sich mit dem Gesang der Vögel, die sich nach dem Regen wieder aus ihren Nestern wagten. Zärtlich streiften ihre Finger das gerade handgroße Symbol der Gnädigen Göttin, das in den Türpfosten eingehauen war – zwei kunstvoll aus dem Stein gearbeitete Federn, die sich um das vom häufigen Darüberstreichen polierte Oval eines stilisierten Auges in ihrer Mitte bogen. Ihre Gedanken schweiften zu Ahmeer, wie oft in den letzten Wochen. Er war zu Beginn des Sommers an die südliche Küste geschickt worden war, um den Edari-Piraten Einhalt zu gebieten, die dort immer wieder Fischerdörfer überfielen. – Und er hatte sie tatsächlich an seinem letzten Abend in Anschara gefragt, ob sie seine Frau werden wollte.
Sie hatte sich Bedenkzeit bis nach seiner Rückkehr ausgebeten, obwohl ihre Entscheidung eigentlich schon feststand. Das versonnene Lächeln auf ihren Lippen erstarb. Plötzlich war ihr kalt. Die Edari machten gewöhnlich keine Gefangenen und ließen niemals jemanden am Leben – sie hatten auch damals alle getötet, als sie das Dorf überfallen hatten, in dem Lijanas aufgewachsen war. Ein Schaudern rann ihre Glieder hinab. All das war so lange vergangen … Sie war ein kleines Mädchen gewesen, das gerade fünf Winter gesehen hatte. – Entschieden straffte sie die Schultern. Ahmeer würde zurückkommen! Er hatte es versprochen. Und dann würde sie ihm sagen, dass sie seine Frau werden wollte!
Als sie sich zu Malk umwandte, grinste der ihr zahnlückig entgegen. »Kann schon sein, dass Ihr mich nach Hause geschickt habt, Heilerin, aber ich fand den Sonnenuntergang so schön …«
»Schwindler!« Lijanas lächelte. »Du hast gehofft, wenn du hier auf mich wartest, bekommst du noch ein Stück Jelil-Kuchen.« Sie streckte ihm den Korb entgegen. »Da! Nimm!«
So etwas ließ Malk sich nie zweimal sagen. Er brauchte nur einen Bissen, um fast die Hälfte des Kuchenstücks in seinem Mund verschwinden zu lassen. Lijanas strich ihm durch das wirre Haar, als sie die zwei Stufen auf die Straße hinuntertrat. »Du hättest nur fragen brauchen, weißt du.«
Einen Kuchenkrümelkranz um beide Mundwinkel nickte der Junge, dann trollte er sich. Lijanas rückte den Riemen auf ihrer Schulter zurecht und wollte sich auf den Heimweg machen.
»Lijanas! Heilerin! Wartet!«
Erstaunt wandte sie sich zu der Stimme um. Aus einer Seitengasse strebte Udelar, ein Heiler aus der Nordstadt, hastig auf sie zu, gefolgt von einem dunkel gekleideten Fremden.
»Wie gut, dass ich Euch noch antreffe, Heilerin.« Udelar schnaufte wie ein schwindsüchtiger Karrengaul. »Der Begleiter dieses Mannes ist schwer krank. Ich kann mir nicht erklären, was ihm fehlt. Er hat offensichtlich grässliche Schmerzen. Als ich seinen Leib abgetastet habe, brüllte er, als würde ich ihn abstechen. Aber ich konnte weder Knoten noch Schwellungen spüren. Ihr müsst kommen und nach ihm sehen, ich bitte Euch, Heilerin. Es scheint sehr ernst zu stehen, und ich weiß nicht, wie ich ihm helfen könnte.«
Nur ganz kurz dachte Lijanas an das warme Mahl, das in der Halle der Gesegneten der Gnädigen Göttin auf sie wartete, dann nickte sie.
»Führt mich zu ihm!«
Die hellblauen Augen des Fremden betrachteten sie aufmerksam unter einem blonden Schopf heraus, dann verneigte er sich leicht und deutete auf die Gasse, aus der er und der Heiler gerade gekommen waren.
»Hier entlang.« Seine Stimme klang weich, mit einem seltsamen Akzent. Er wandte sich um und ging ihr voraus. Udelar blieb zurück. Erstaunt sah Lijanas ihn an. Der Heiler hob leicht die Schultern.
»Ich wurde zu einem anderen Patienten gerufen. In der Oberstadt – Ihr versteht …«
O ja, sie verstand. Ein Patient in der Oberstadt bedeutete ein Honorar, das in Gold, mindestens aber in Silber bezahlt wurde. Wer konnte es Udelar verdenken, dass er einen solchen Patienten einem Fremden vorzog, dem er offenbar doch nicht helfen konnte – immerhin hatte er eine anspruchsvolle Frau und drei Kinder zu ernähren. Sie nickte dem Heiler zu und folgte dem Fremden, der am Eingang der Gasse auf sie gewartet hatte.
»Darf ich?« Er wies auf ihren Arzneikasten und nahm ihn, ohne auf eine Antwort zu warten, von ihrer Schulter. Dann ging er weiter. Im ersten Moment musste Lijanas fast rennen, um mitzuhalten, doch dann verkürzte er seine Schritte und wurde langsamer. Neugierig musterte sie ihn von der Seite. Er mochte achtzehn oder neunzehn Winter zählen. Im Nacken und unterhalb der Ohren schimmerte seine Haut golden wie sein Haar, das lang herabhing und nur von einem Lederriemen gebändigt wurde. Um seinen Mund schien ein ständiges, leises Lächeln zu spielen, das sich in den kleinen Fältchen um die hellen blauen Augen wiederfand. Wenn er sprach, schien er darauf bedacht, sie seine Zähne nicht sehen zu lassen. Vielleicht sind sie faul oder stehen so schief, dass es einen graust, wenn man sie sieht. Ein schwerer Tuchmantel lag um seine breiten Schultern und verbarg die Gestalt darunter fast vollständig, doch nach dem, was sie erkennen konnte, wenn der Stoff sich für einen Moment öffnete, war er nicht nur groß, sondern auch muskulös. Mühelos trug er ihren Arzneikasten mit der Linken, seine Rechte blieb in den Falten des Mantels verborgen. Obwohl es warm war, trug er lederne Handschuhe.
»Seit wann geht es Eurem Begleiter so schlecht?«
Kurz nur sah er sie an, dann wandte er den Blick wieder ab. »Seit dem späten Mittag.«
»Heiler Udelar sagte, Euer Begleiter habe entsetzliche Schmerzen. Wie äußern sie sich?«
Einen winzigen Augenblick war so etwas wie Verwirrung in seinem Gesicht, dann hob er die Schultern. »Schmerzen eben!«
Äußerst hilfreich. Lijanas presste die Lippen zusammen. »Hatte er so etwas schon einmal?«
»Nein.«
Und nicht sehr gesprächig.
»Hat er irgendetwas Besonderes gegessen?«
»Nichts anderes als wir anderen auch.«
Ha! Beinah ein ganzer Satz!
»Wo ist Euer Begleiter jetzt?«
»Im Schwarzen Lamm.«
Das ›Schwarze Lamm‹ war ein sauberer kleiner Gasthof, der an einer nahen Seitenstraße ein wenig abseits vom Markt lag. Sie hatte gehört, dass Kaufleute, die bei ihren Geschäften nicht gestört werden wollten, gerne dort abstiegen.
»Wer ist bei ihm?«
Er zögerte, räusperte sich. »Herr Ecren.«
»Und der Name des Kranken?«
»Corfar.«
Diese Unterhaltung ist äußerst mühsam. Unmerklich seufzte Lijanas.
»Und Euer Name?«
»Levan. – Wir sind da.« Er stieß eine kleine Pforte auf.
Erstaunt blickte Lijanas auf eine schmale Stiege, die steil nach oben führte.
»Was ist das?«
Verwirrt blinzelte er sie an. »Eine Treppe.«
Das sehe ich auch.
»Ich meinte: Wo sind wir hier?«
»Das ist die Hintertreppe vom Schwarzen Lamm.«
Hintertreppe?
»Und warum nehmen wir nicht wie jeder normale Gast den vorderen Eingang?«
»Weil mein Herr es nicht wünscht, dass man sieht, wie ich Euch zu ihm bringe.«
Unwillkürlich machte Lijanas einen Schritt zurück. Wenn Udelar nicht schon bei dem Kranken gewesen wäre …
Levan bemerkte ihr Zögern. »Es wird Euch nichts geschehen, Heilerin. Es ist nur so, dass mein Herr fürchtet …« Er stockte, machte eine vage Geste. »Bitte versteht! Er fürchtet, dass es seinen Geschäften abträglich ist, wenn seine Krankheit bei den falschen Leuten bekannt wird.«
Es war der Umstand, dass er ihr bei diesen Worten direkt in die Augen blickte, der sie von seiner Aufrichtigkeit überzeugte. Lijanas raffte ihr Gewand und stieg die Stufen hinauf, Levan dicht hinter sich.
Die Treppe endete im zweiten Stockwerk des Gasthauses. Dicke Wachsstöcke erhellten einen weiß getünchten Flur, an dessen anderem Ende eine sehr viel breitere Stiege in den Schankraum führte. Von unten drangen Stimmengewirr und vereinzeltes Gelächter herauf. Levan war an einer der Türen auf der rechten Seite stehen geblieben und hatte sich zu ihr umgedreht. Als Lijanas neben ihn trat, klopfte er kurz an, öffnete und ließ sie vorangehen.
Ein groß gewachsener, breitschultriger Mann mit dunkelbraunem, von ersten grauen Fäden durchzogenem Haar erhob sich von einem Stuhl beim Kamin und wandte sich ihr zu, als sie eintrat. Ein paar Kerzen auf dem Tisch neben ihm tauchten den Raum in schwaches Dämmern. Ein zweiter Mann, etwa ebenso alt wie der erste, lag in einem breiten Bett an der Schmalseite des Raumes und stöhnte leise. Sofort war alles Misstrauen vergessen. Lijanas eilte an die Seite des Kranken und berührte mit der Hand seine Stirn. Sie war zwar feucht, aber weder besonders heiß noch besonders kalt. Sie zog die Decke von der Brust des Mannes. Die Tunika, die er trug, war nass. Am Ausschnitt kräuselte sich dunkles Haar.
»Holt mir heißes Wasser und sorgt dafür, dass die Wirtin trockenes Bettzeug heraufbringt. Und zündet mehr Kerzen an! Hier sieht man ja kaum die Hand vor Augen!« Lijanas wandte sich halb um. Levan, der gerade ihren Arzneikasten auf den Tisch gestellt hatte, warf dem anderen Mann einen fragenden Blick zu. Der nickte leicht und der Jüngere verließ den Raum.
Es war, wie Heiler Udelar es beschrieben hatte. Kaum dass sie die Hand auf den Körper des Mannes legte, begann der zu brüllen, als versenge sie ihn mit glühenden Kohlen – aber da war nichts Krankes in ihm zu fühlen. Lijanas runzelte die Stirn und beugte sich über ihn.
»Könnt Ihr mich verstehen, Herr?«
Haselnussbraune Augen öffneten sich langsam und sahen sie an – erstaunlich klar.
»Könnt Ihr mir sagen, wo genau –« Hinter ihr klackte die Tür. War Levan so schnell zurück? Überrascht richtete sie sich auf.
Er stand tatsächlich in der Tür, jedoch von heißem Wasser keine Spur. Stattdessen waren zwei Männer bei ihm, beide ebenso hochgewachsen wie er selbst. Das Haar des vorderen musste früher einmal blond gewesen sein, doch nun hatte es die graue Farbe von Asche. Helle braune Augen, die sie an einen Raubvogel erinnerten, musterten sie aufmerksam. Doch es war der Anblick des zweiten Neuankömmlings, der Lijanas zurückprallen ließ. Er mochte vier oder fünf Winter älter sein als Levan und trug das tiefschwarze Haar auf die gleiche Art wie der Jüngere. Um seinen Mund lag ein erschreckend harter Zug, ein Auge von der blaugrauen Farbe eines Sturmhimmels starrte sie kalt an – über dem anderen lag eine schwarze Lederklappe.
»Ist sie das?«
Lijanas schrak zusammen und schaute zu dem Mann mit den Raubvogelaugen hin, der seinen dunklen Reitmantel eben Levan übergab. Auch er trug Handschuhe.
»Ja.« Die Antwort kam vom Bett, wo ihr ›Patient‹ gerade die Beine über den Rand schwang und mit einer nachlässigen Bewegung die Hosen auffing, die der Mann am Tisch ihm zuwarf.
Atemzüge lang starrte sie ihn an, dann begriff sie. Entsetzt ging ihr Blick von einem zum anderen – und blieb an Levan hängen. Er lächelte Verzeihung heischend. Für einen winzigen Moment glaubte sie, es zwischen seinen Lippen blitzen zu sehen. Wie hatte sie sich nur von seinen unschuldigen blauen Augen täuschen lassen können.
»War es schwer, sie hierher zu locken?«
Nein, weil sie eine einfältige Gans ist.
»Nein, Herr«, Levan schüttelte den Kopf. »Sie schöpfte keinen Verdacht, so wie Ihr es vorausgesagt hattet.« Auf einen Wink des Grauhaarigen entzündete er mehrere Kerzen, bis der Raum in goldenes Licht getaucht war.
Neben Lijanas stieg der ›Kranke‹ in bis über die Knie reichende Stiefel und zog am Fußende des Bettes einen Waffengurt unter der Decke hervor. Sie brachte rasch einen Schritt Abstand zwischen sich und ihn.
»Weiß außer diesem Heiler jemand, dass sie hier ist?« Langsam kam der Grauhaarige auf sie zu. Lijanas wich zurück, bis sie den Bettpfosten im Rücken spürte.
»Nein, Herr!«
»Corfar wird sich um ihn kümmern!« Die Arme unter dem Mantel verschränkt, stand der Schwarzhaarige noch immer bei der Tür. Die Kälte in seiner Stimme jagte Lijanas einen Schauer über den Rücken. Als ihr die Bedeutung seiner Worte klar wurde, schnappte sie nach Luft.
»Ihr könnt Udelar doch nicht töten wollen?!«
Ein sturmgraues Auge blickte sie in einer Mischung aus Ärger und Verblüffung an. Erstaunte es ihn, dass sie gewagt hatte, ihm zu widersprechen, oder war es der Umstand, dass sie überhaupt reden konnte? Sein Blick kehrte zu dem ›Kranken‹ zurück.
»Corfar! Bis zum Morgengrauen!«
Der nickte. »Ja, Herr.«
»Nein!« Sie wurde nicht beachtet.
Als sich die Hand des Grauhaarigen unter ihr Kinn schob, zuckte sie zusammen. Aus der Nähe wirkten seine Augen noch stärker wie die eines Raubvogels – gelbbraun, kühl und tödlich. Einen Moment betrachtete er ihr Gesicht. »Sie ist schön.«
Lijanas stieß seine Hand weg. »Sie ist anwesend!«
Vom Tisch erscholl ein leises Lachen. »Sie hat Krallen.«
Der Schwarzhaarige überließ Levan seinen Platz an der Tür und kam ebenfalls auf Lijanas zu. Bereitwillig machte ihm der Mann mit den Raubvogelaugen Platz. Seine behandschuhten Finger gingen zu ihrem Gesicht, wobei er ihr unwilliges Zurückweichen gar nicht beachtete. Die Ärmel seines Wamses waren mit Lederriemen eng um seine Unterarme geschnürt und verdeckten noch die Handgelenke. Versonnen strich er mit dem Daumen über ihre Wange, »Augen, blitzend grün wie Emeralde –«, seine Finger glitten durch den Rossschweif, zu dem sie das Haar stets zusammengebunden trug, » – und Haar wie gesponnenes Mitternachtsfeuer. – Sie ist tatsächlich schön.« Er sah Lijanas direkt an. »Seid Ihr noch unberührt?«
Klatsch!
Seine Lippen verzogen sich zu etwas, das man nur mit viel gutem Willen als zynisches Lächeln bezeichnen konnte, während er die Hand auf die Wange legte, auf der sich ihre Finger flammend abzuzeichnen begannen. Übertrieben vorsichtig bewegte er den Kiefer, als wolle er prüfen, ob alles noch heil war.
Heuchler!
»Ich werte das als ein ›Ja!‹.«
»Wertet es als ein ›Das-geht-Euch-überhaupt-nichts-an!‹, unverschämter Mistkerl! – Und wagt es nicht noch einmal, mich anzufassen!« Lijanas machte einen Schritt zur Seite, um sich aus seiner Reichweite zu bringen, und ballte die Fäuste, während sie sich zu dem Grauhaarigen umwandte, der offenbar der Anführer der fünf war.
»Was wollt Ihr von mir? Was soll das?«
Seine Raubvogelaugen wurden schmal, während er den Schwarzhaarigen beiseiteschob und erneut dicht vor sie trat. Über dem Kragen seines Wamses war die Haut des Nackens so grau wie sein Haar.
»Ihr seid Lijanas, die Heilerin.« Keine Frage – eine Feststellung.
»Das wisst Ihr doch schon.« Lijanas wollte ihm ausweichen – und fand sich erneut zwischen ihm und dem Bettpfosten wieder.
»Ihr werdet uns zu einem Kranken begleiten!« Keine Bitte – ein Befehl.
»Zu einem Kranken? Und deshalb all das hier? Hättet Ihr nicht einfach fragen können?« Verblüfft blickte sie von einem zum anderen. Ihr Herz wollte einfach nicht aufhören, wie verrückt zu pochen. Schweigen antwortete ihr. Plötzlich war ein Klumpen in ihrem Magen. »Wo ist dieser Kranke? Wer ist er?«
»Wo: in Turas. Wer: Das werdet Ihr zu gegebener Zeit erfahren.« Es war der Schwarzhaarige, der gesprochen hatte.
Turas? Lijanas schnappte geräuschvoll nach Luft. Das konnte nur bedeuten …
»Ihr – Ihr seid – !« Das Wort wollte nicht über ihre Lippen.
»Kjer?« Unter der Augenklappe zuckte ein Mundwinkel in einem Anflug von Spott. »Ja!« Er streifte die Handschuhe ab, während er sich rücklings an die Tischkante lehnte, dann verschränkte er die Arme wieder vor der Brust und kreuzte lässig die Fußknöchel. Seine Handrücken schimmerten schwarz, die Enden seiner Fingernägel waren spitz und leicht nach unten gebogen. Jetzt bedachte er sie mit einem Lächeln, das ihr seine Reißzähne zeigte.
Der Klumpen saß unvermittelt in ihrer Kehle. Sie würgte ihn hinunter und krallte ihre plötzlich schweißnassen Hände in ihr Gewand, um sie am Zittern zu hindern. Ihr Blick huschte von einem zum anderen. Sie sind Tiere! Man sagt, sie sind am ganzen Körper gräßlich behaart und essen rohes Fleisch!
»Nein!« Was entschieden klingen sollte, war nur ein hilfloses Flüstern. »Nein!« Sie schüttelte den Kopf. »Ich werde nicht mit Euch gehen!«
»So viel zu: ›Hättet Ihr nicht einfach fragen können‹, nicht wahr?«
Warum machte ihr die plötzliche Freundlichkeit in der Stimme des Schwarzhaarigen mehr Angst als die Kälte zuvor?
»Ihr könnt mich nicht zwingen …« Lijanas hob das Kinn und hoffte, entschlossen zu wirken.
»Ach? Tatsächlich?« Der Ausdruck von Spott war wieder um seinen Mund.
»Das reicht!« Die Stimme des Grauhaarigen ließ Lijanas zusammenfahren. Sie sah auch in seinem Mund Reißzähne blitzen. Eine schwarze Braue ging zwar unwillig nach oben, aber der Mann mit dem Sturmauge schwieg.
»Wir wollen Euch nichts Böses, Heilerin. Wir bitten Euch nur, uns nach Turas zu begleiten und Euch eines Kranken anzunehmen. Ein zehrendes Leiden frisst seit vielen Wintern an ihm und nun hat er uns geschickt, Euch zu ihm zu bringen …«
»So sehr ich die Krankheit dieses Mannes bedaure – ich werde Euch nicht begleiten!« In ihrem Magen saß ein Zittern, das ihr Übelkeit verursachte.
»Nun: Eigentlich habt Ihr keine Wahl.« Die Hände des Schwarzhaarigen strichen über den Deckel ihres Arzneikastens, als bewundere er die feinen Schnitzereien, mit denen er verziert war. Dann öffnete er ihn bedächtig.
»Wenn Ihr mich zwingt, werde ich das ganze Gasthaus zusammenschreien.«
Er sah auf, wieder zuckte Spott um seine Lippen. »Meint Ihr, man wird Euch hören? Zwei Stockwerke tiefer?« Scheinbar nachdenklich untersuchte er die sauber beschrifteten Tiegel und Fläschchen.
»Spätestens am Stadttor … – Was tut Ihr da?« Gerade hob er eine Phiole mit einer gelben Flüssigkeit in die Höhe, betrachtete ihren Inhalt. Lijanas holte scharf Luft. Woher weiß er …? »Nein!«
»Nein?« Sein Lächeln war pure Gefahr, als er ein kleines Stückchen Leinen aus ihrem Vorrat nahm und etwas von der gelben Flüssigkeit darauf träufelte.
Erneut schüttelte sie den Kopf. »Ich werde nicht mit Euch kommen!«
»Diese Entscheidung liegt nicht mehr bei Euch, Heilerin!«, erklärte er ihr sanft und kam auf sie zu. Ein scharfer Geruch wehte ihr entgegen.
Lijanas warf sich herum und floh – keine zwei Schritt weit, dann legte sein Arm sich um ihre Mitte und seine Hand presste ihr das Tuch auf Mund und Nase. Sie kämpfte zwei verzweifelte Atemzüge, ehe sich zähe Dunkelheit über ihre Sinne legte.
Sie musste vergessen haben, das Fenster ihrer Kammer zu schließen – oder die Vögel sangen heute besonders laut. Ausgerechnet jetzt, da ein dumpfer Schmerz hinter ihrer Stirn saß. Sie schmiegte die Wange tiefer in den weichen Pelz – könnte bitte jemand diese Vögel zum Schweigen bringen! – und zerrte die Decke über den Kopf. Eigentlich sollte der Duft von Jaloe-Kraut und Fingerraute sie umgeben, doch sie roch Leder, Pferd, Stahl und … noch etwas anderes. Mit einem Keuchen fuhr sie empor und stieß das Tuch von sich. Sie bereute die heftige Bewegung sofort, denn in ihrem Kopf wirbelte es und ein bitterer Geschmack war unvermittelt auf ihrer Zunge – die ganz normalen Nachwirkungen von Gurin-Destillat. Die Handballen gegen die Schläfen gepresst, schloss sie fest die Augen und lehnte den Kopf gegen die angezogenen Knie. Jetzt erinnerte sie sich auch wieder an alles. Die Kjer und … Verdammter schwarzhaariger Mistkerl ! In den endlosen Labyrinthen soll er verfaulen.
»Ich entbiete Euch einen guten Morgen, Heilerin.«
Wenn sie sich recht erinnerte, gehörte diese Stimme dem Grauhaarigen mit den Raubvogelaugen. Lijanas ließ ihren Kopf, wo er war. Würde sie ihn auch nur eine Fingerbreite bewegen, gäbe es ein Unglück.
»Ich befürchtete schon, Mordan hätte es mit dem Gurin übertrieben und Ihr würdet ewig schlafen.«
Mordan?! Endlich ein Name, damit ich ihn richtig verfluchen kann! Eine Bewegung zu ihrer Rechten.
»Hier ist etwas zu essen, Heilerin. – Ich hoffe, Ihr mögt …«
Gebratener Speck! – Der Geruch gab ihrem Magen den Rest. Sie schlug die Hand vor den Mund, sprang auf, verfing sich in den Bettfellen, stürzte, raffte sich auf und floh. Als ihr Denken schließlich wieder einsetzte, kniete sie im Schatten mächtiger Bäume vor einem Busch und würgte nur noch trocken.
»Dafür bist du verantwortlich.« Die Stimme des Grauhaarigen wieder, ein kleines Stück hinter ihr. »Also kümmere dich auch darum!« Ein Knurren antwortete, dann näherten sich Schritte.
Lijanas wischte sich mit dem Handrücken den Mund ab, hörte, wie sich jemand hinter sie kauerte. Das leise Gluckern von Wasser, das ausgegossen wurde, erklang.
»Hier! Säubert Euch damit!«
Er!
Das feuchte Tuch, das er ihr hinhielt, riss sie ihm geradezu aus den Fingern.
»Verschwindet!« Sie drückte ihr schweißbedecktes Gesicht gegen den kühlen Stoff.
»Diesen Wunsch werde ich Euch nicht erfüllen, Heilerin.«
War da Belustigung in seiner Stimme? Verdammt sollte er sein.
»Spült Euch den Mund aus.« Über ihrer Schulter erschien ein Wasserschlauch.
Sie griff danach und tat, wie er gesagt hatte. Nachdem der widerliche Geschmack von ihrer Zunge verschwunden war, hörte endlich auch ihr Magen auf, zu rebellieren. Trotzdem blieb sie auf den Knien liegen, die Finger um den Lederbalg geschlossen. Er nahm ihn ihr weg und erhob sich.
»Steht auf!«
Als Lijanas nicht reagierte, fasste er sie am Oberarm und zog sie auf die Füße.
»Da entlang!«
Sie presste die Lippen zusammen und ging, ohne ihn anzusehen, in die Richtung, in die seine Hand wies. Ein Knacken zu ihrer Linken ließ sie überrascht innehalten. Zwei massige Schatten bewegten sich zwischen den Lichtflecken, die durch die Zweige fielen. Ein Schnauben erklang. Waren das Pferde?
»Weiter!« Seine Hand legte sich auf ihre Schulter. Unwillig schüttelte Lijanas sie ab.
Schon nach wenigen Schritten öffneten sich die Bäume zu einer Lichtung, an deren Rand der Grauhaarige gerade dabei war, ein kleines Feuer zu löschen. Eine dünne Rauchsäule stieg auf – er erstickte sie unter Erde. Von den anderen drei Kerlen war nichts zu entdecken. Als er sie herankommen hörte, richtete er sich auf. Seine Raubvogelaugen gingen kurz zu dem Mann hinter ihr, dann sah er Lijanas an.
»Ich hoffe, es geht Euch besser, Heilerin.«
Sie verschränkte die Arme vor der Brust und schaute demonstrativ zur Seite. Er ließ ein bedauerndes Seufzen hören.
»Ich sagte Euch schon im ›Schwarzen Lamm‹, dass wir Euch nichts Böses wollen, Heilerin. Aber …«
»Ihr habt mich betäubt und entführt!«
»Das ist wahr.« Er nickte ruhig.
»Man wird nach mir suchen.«
»Damit rechnen wir.«
Sie runzelte die Stirn. Warum schien ihm das so gar nichts auszumachen? »Prinz Ahmeer wird nach mir suchen«, versuchte sie es noch einmal.
»Was habt Ihr mit Rusans Neffen zu schaffen?« Der Schwarzhaarige packte sie und zerrte sie grob zu sich herum. Das böse Funkeln in seinem Blick erschreckte sie. Mühsam würgte sie ihre Angst hinunter.
»Als Gesegnete der Gnädigen Göttin stehe ich unter dem persönlichen Schutz des Fürsten, deshalb wird er Prinz Ahmeer …«
Unvermittelt war seine Hand in ihrem Haar, hart riss er ihren Kopf in den Nacken. Keuchend vor Schmerz klammerte Lijanas sich an sein Handgelenk, unter ihren Fingern spürte sie Fell. In ihren Augen brannten plötzlich Tränen, ein hilfloses Wimmern drang aus ihrer Kehle.
»Es gibt eine Regel, die man beachten sollte, wenn man versucht, jemanden anzulügen, Weib.« Es klang, als spräche er mit einem begriffsstutzigen Kind. »Man sollte immer wissen, wie viel der andere weiß, ehe man den Mund aufmacht.« Er beugte sich näher zu Lijanas. »Ihr lebt nur unter den Gesegneten Eurer Ketzer-Göttin. Aber Ihr seid keine von ihnen.«
»Mordan!«, mahnte die Stimme des Grauhaarigen neben ihnen.
Scheinbar gehorsam richtete der sich ein wenig auf und lockerte seinen Griff. »Noch einmal, Heilerin: Was habt Ihr mit Rusan und seinem Neffen zu schaffen? – Und diesmal überlegt gut, was Ihr sagt!«
Lijanas presste die Lippen zusammen, zerrte an seinem Handgelenk. Wie zur Antwort schlossen seine Finger sich wieder fester in ihrem Haar.
Schluchzend holte sie Atem. »Ich habe Fürst Rusan schon ein paar Mal behandelt. Ihm einmal auch das Leben gerettet, nachdem er bei einem Kampf mit einem … einem …«
»Kjer?«, schlug er mit einem bösen Lächeln vor, als das Wort auch jetzt nicht über ihre Lippen wollte.
Lijanas schluckte hart. »… mit einem Kjer schwer verletzt wurde«, brachte sie den Satz mit zitternder Stimme zu Ende.
Nur aus dem Augenwinkel nahm sie wahr, wie der Grauhaarige sich plötzlich wachsam umwandte. Gedämpfter Hufschlag erklang, kam rasch näher. Vielleicht waren das schon Rusans Männer. Er sagte etwas in der Sprache der Kjer, die Lijanas nicht verstand. Seine Worte wurden mit einem knappen Nicken quittiert, dann hatte sie wieder die ungeteilte Aufmerksamkeit ihres Peinigers.
»Sprecht nur weiter, Heilerin! Ich höre Euch zu.«
»Er glaubt, in meiner Schuld zu stehen – deshalb –, und hat mich unter seinen persönlichen Schutz gestellt. Ganz gleich, ob ich eine der Gesegneten bin oder nicht – er wird es erfahren, wenn ich einfach verschwinde. Und da er nicht selbst nach mir suchen kann, wird er den Prinzen schicken.«
»Und das soll ich Euch glauben?« Seine Hand löste sich so plötzlich aus ihrem Haar, dass sie das Gleichgewicht verlor und rücklings auf dem Boden landete. »Wir werden sehen!« Er wandte sich um und ging, ohne sie weiter zu beachten, zusammen mit dem Grauhaarigen zu den drei Reitern hinüber, die ihre mächtigen Pferde gerade in der Mitte der Lichtung zum Halten gebracht hatten.
Lijanas Hoffnung zerstob, als sie die Männer erkannte. Langsam stand sie auf. Keiner der fünf Kjer gönnte ihr auch nur den Hauch seiner Aufmerksamkeit. Hastig ging ihr Blick zu den nahen Bäumen. Dort drüben standen Pferde! Noch einmal sah sie zu den Kriegern hin, dann setzte sie sich langsam rückwärts in Bewegung. Keiner schaute zu ihr her. Sie warf sich herum und rannte.
»Ihr kommt spät!« Brachan sah den Reitern ärgerlich entgegen.
»Wir mussten einen Umweg machen.« Ecren, der vordere der Männer, saß ab. Die anderen beiden folgten seinem Beispiel.
Alle drei wichen sie Mordans Blick aus, als der hinzutrat. Seine Miene wurde kalt. »Ist etwas schiefgegangen? – Redet!«
»Ich habe versagt, Herr, der Heiler ist noch am Leben.« Corfar schob sich zwischen seinen Kameraden hindurch.
»Wie das?«
»Ich konnte ihn nicht aufspüren. Bei jenem Patienten in der Oberstadt war er nicht mehr, aber nach Hause war er auch noch nicht zurückgekehrt. Seine Frau nannte mir zwar einige Namen –«
»Sie hat dich gesehen?«
»Nur einen Mann in einem langen Umhang mit tief ins Gesicht gezogener Kapuze.«
Mordan schien nicht wirklich zufrieden, als er Corfar bedeutete, weiterzusprechen.
»Ecren und Levan halfen mir, ihn zu suchen – erfolglos. Wir kehrten kurz vor dem Morgengrauen zum ›Schwarzen Lamm‹ zurück.« Der Krieger zögerte, warf den anderen einen raschen Blick zu. »Soldaten des Fürsten suchten bereits nach der Heilerin, Herr.«
Mit einem scharfen Zischen holte der Atem. »Ihr wurdet entdeckt?«
»Nein, Herr!« Ecren trat ruhig neben Corfar. »Wir hörten sie im Schankraum, als wir die Reste unserer Ausrüstung aus dem Zimmer holten. Natürlich hatten wir die Hintertreppe benutzt. – Abgesehen von dem Heiler haben wir keine Spuren hinterlassen.«
»Wir sollten dennoch …«, setzte Brachan an, doch Levan fiel ihm ins Wort. »Herr, wo ist die Heilerin?« Er reckte den Hals.
Mordan fuhr herum. Die Lichtung lag verlassen da. Sein lästerlicher Fluch wurde von einem gellenden Kreischen unterbrochen, in das sich ein schriller Schrei mischte.
»Ired!« Wie von Rachegeistern gehetzt, rannte er los.
»Die Heilerin ist tot!« Hastig folgte Brachan ihm, die anderen dicht hinter sich.
Als sie die Bäume erreichte, blickte Lijanas noch einmal rasch auf die Lichtung zurück. Sehr gut, die Krieger hatten ihr Verschwinden noch nicht bemerkt. Arrogante Kerle! Sie duckte sich zwischen tief hängenden Ästen hindurch, umrundete einen Busch und sah sie. Zwei Pferde; größer und massiger als die Schlachtrösser, die Ahmeer ihr in Fürst Rusans Ställen gezeigt hatte. Mehrere Schritt lange Führstricke schleiften durch das Gras, das mit kurzen, harten Rucken abgeweidet wurde. Behutsam ging sie näher heran, erzählte den Tieren mit schmeichelnder Stimme Belanglosigkeiten – und kam keine zwei Schritt weit, ehe das vordere der Pferde plötzlich den Kopf hob. Gelbe Augen starrten sie an, Ohren legten sich flach nach hinten, dann stürzte es mit einem gellenden Kreischen vorwärts. Eisenbeschlagene Hufe wirbelten vor ihrem Gesicht. Erschrocken stolperte sie rückwärts, wie aus weiter Ferne hörte sie ihren eigenen Schrei. Scharfe Zähne schnappten nach ihr, sie taumelte weiter zurück, entsetzt die Hände erhoben, in dem sinnlosen Versuch, sich vor dem tobenden Tier zu schützen. Sie duckte sich ungeschickt, schrie erneut, ein Laut, der neben dem wütenden Gellen des Pferdes beinah unterging. Der Stoß kam so unvermittelt, dass sie auf Händen und Knien landete. Die Hufe peitschten dort die Luft, wo gerade eben noch ihr Kopf gewesen war. Eine Hand packte sie, zog sie in den Schutz eines Baumes – der grauhaarige Krieger. Gegen ihren Willen klammerten ihre Hände sich an ihn. Jetzt erst wagte sie einen Blick über die Schulter. Ihr stockte der Atem.
Mordan stand vor dem wütenden Pferd, den Führstrick um die Faust geschlungen, und versuchte es von den Hinterbeinen herunterzuzerren. Nur knapp konnte er einem Huf ausweichen. Kaum stand das Tier mit allen vier Beinen auf dem Boden, fuhr es auch schon mit gefletschten Zähnen auf den Krieger los – und warf wiehernd den Kopf zurück, als der ihm die Faust mit voller Wucht auf die empfindlichen Nüstern drosch. Einen Moment stand es still, die Flanken bebend, ohne den Mann vor sich aus den Augen zu lassen. Der ruckte hart an dem Führstrick, knurrte einen Befehl – und das Pferd wich Schritt für Schritt zurück, die Ohren noch immer gefährlich angelegt, die gelben Augen jedoch unverwandt auf die drohend erhobene Faust gerichtet. Schließlich senkte es den Kopf und der schwarzhaarige Krieger winkte Levan heran, warf ihm den Strick zu.
Dann wandte er sich um. Lijanas schluckte unbehaglich. Seine Miene war eine Maske nur mühsam beherrschten Zorns.
»Seid Ihr wahnsinnig, Weib, oder wolltet Ihr Euch nur selbst umbringen?« Er packte sie am Arm und zerrte sie vorwärts, in Richtung des Pferdes, das bei ihrem Anblick schnaubend den Kopf aufwarf. »Das ist ein Ashentai, ein Schlangenpferd! Sie sind darauf abgerichtet, jeden Fremden zu töten, der sich ihnen nähert. Ein Tritt von ihm hätte genügt, um Euch den Schädel zu zerschmettern.« Er zog sie zu sich herum, damit sie ihn ansah. »Ihr werdet Euch nie wieder einem dieser Tiere nähern, es sei denn, einer von uns ist dabei! – Habt Ihr das verstanden, Weib?« Er schüttelte sie so heftig, dass ihre Zähne aufeinanderschlugen und sie das »Ja!« nur hervorkeuchen konnte.
»Gut!« Unvermittelt ließ er sie los – um ein Haar wäre sie gestürzt, hätte er nicht schnell wieder zugefasst. »Und nun reden wir davon, was Ihr hier zu suchen hattet.« Unsanft schleppte er sie unter den Bäumen heraus auf die Lichtung zurück. Lijanas musste rennen, um mit seinen langen Schritten mitzuhalten. Neben dem gelöschten Lagerfeuer stieß er sie ins Gras. Sein Ärger war noch immer nicht verraucht.
»Ich gestehe jedem einen Versuch zu, davonzulaufen. – Auch wenn das hier eben unüberlegt und dumm von Euch war, Heilerin.«
»Ach, Ihr hättet es natürlich viel geschickter angestellt, was?«, schnappte Lijanas dagegen und verfluchte im gleichen Herzschlag ihre vorlaute Zunge, da er sich bedrohlich über sie beugte.
»Zumindest hätte ich gewartet, bis es dunkel gewesen wäre.«
Danke für den Rat! Sie blickte zur Seite – und schreckte zurück, als er sich unvermittelt neben ihr auf die Fersen niederkauerte, sie am Kinn packte und grob zwang, ihn anzusehen.
»Ich will Euer Wort, dass das eben Euer erster und letzter Fluchtversuch war, Heilerin!«, verlangte er in erschreckend ruhigem Ton.
Mit einem Ruck befreite Lijanas sich aus seinem Griff und rutschte ein Stückchen von ihm weg.
»Wenn Ihr eine fügsame Gefangene wollt, die allein bei Eurem Anblick auf die Knie fällt und um Erbarmen … – He! Was macht …« Einen fassungslosen Moment beobachtete sie, wie er ein Stück ihres Gewandsaumes abriss, doch als sie ihn daran hindern wollte, noch mehr Schaden anzurichten, hatte er den Streifen blitzschnell um ihre Handgelenke geschlungen und festgezogen. Mit einem empörten Schrei versuchte sie loszukommen, biss, kratzte und trat nach ihm – kaum mehr als zwei oder drei Herzschläge später lag sie dennoch hilflos am Boden, die Hände an ihre Knöchel gefesselt. Wütend funkelte sie ihn von unten herauf an.
»Macht mich los! Sofort!«
Ungerührt richtete er sich auf. Mit einer gewissen Genugtuung stellte Lijanas fest, dass er einen blutenden Kratzer auf der Wange hatte.
»Ihr könnt mich hier nicht liegen lassen wie irgendein – Bündel.« Gnädige, hab Erbarmen. Ich keife wie ein Waschweib. – Warum schaut er mich so seltsam an?
Als sie den Kopf hob und seinem Auge folgte, schoss ihr die Röte ins Gesicht. Bei all ihrem Gezappel war ihr Gewand bis über die Knie emporgerutscht. Sie sah zu ihm hoch – unter einer gehobenen schwarzen Braue erwiderte er ihren Blick. Dann kauerte er sich erneut langsam neben ihr nieder und streckte die Hand nach ihren Beinen aus.
Plötzlich war ihre Kehle eng.
Nein, Gnädige, bitte! Nicht so! Nicht er!
Ängstlich folgte sie seiner Bewegung – seine Finger streiften sie nur kurz, als er ihr Gewand wieder sittsam bis zu ihren Knöcheln hinabzog. Noch immer in der Hocke, sah er sie an. Lijanas schluckte trocken.
Die Ewigkeit endete, als er abrupt aufstand. »Bis ich Euch holen komme, will ich keinen Laut von Euch hören, Heilerin!« Damit wandte er sich ab und ging zu den Pferden hinüber.
Lijanas legte den Kopf in den Nacken und schrie.
Grobian! Mistkerl! Bastard! Ekel! Rohling! Flegel! Hurensohn!
Er hatte es tatsächlich getan. Er war zurückgekommen, hatte einen weiteren Fetzen Stoff aus ihrem Gewand gerissen und ihr in den Mund gestopft. Dann war er wieder gegangen. Einige Zeit hatte sie noch gegen ihren Knebel angebrüllt, mit dem Erfolg, dass ihr nun der Hals schmerzte. Irgendwann hatte sie sich darauf verlegt, ihn stumm mit allen Schimpfnamen zu bedenken, die sie kannte. Sie hatte feststellen müssen, dass es nicht allzu viele waren.
Mit einem leisen Stöhnen bewegte sie die Handgelenke in ihren Fesseln. Ihr Rücken tat weh.
Widerling!
Sie ballte die Fäuste, als das leise Klirren von Sattelzeug und gedämpfter Hufschlag seine Rückkehr ankündigten. Sollte er nur nicht glauben, dass sie von jetzt an fügsam seinen Befehlen gehorchte.
Wie lange es her war, dass er mit Brachan gestritten hatte, wusste er nicht mehr. Wie lange es her war, dass er mit Brachan gestritten und den Kürzeren gezogen hatte – daran konnte er sich noch weniger erinnern.
Warum kann dieses Weib sich nicht wie jedes andere benehmen und tun, was man ihm sagt? Eine schöne Frau soll man sehen und nicht hören! Zankhexe, verdammte!
›Es wäre nicht nötig gewesen, die Heilerin zu fesseln und zu knebeln‹, war der Empfang des grauhaarigen Kriegers gewesen, als er die Bäume erreicht hatte. ›Du hättest sie ebenso gut von Levan oder einem der anderen bewachen lassen können.‹ Die Gesichter von Corfar und Ecren hatten ihm gesagt, dass sie Brachans Meinung teilten. Er hatte sich einen Vortag über das Verhalten gegenüber Frauen anhören müssen. – Er! – Und dann war er auch noch von Levan belehrt worden, dass man eine Frau wie die Heilerin nicht wie eine Trosshure behandeln konnte. Bei allen Rachegeistern, hätte er das getan, hätte er ihr Gewand bestimmt nicht wieder bis zu ihren Knöcheln heruntergezogen. – Doch der Ausdruck in ihren Augen wollte ihm nicht aus dem Sinn. Für ein paar Atemzüge hatte er in ihnen blanke Angst gesehen.
Unbewusst hob er die Hand zum Gesicht. Er hatte vieles getan, weshalb man ihn fürchtete und verfluchte. Aber einer Frau hatte er sich nie gegen ihren Willen genähert. Er ballte die Faust. Wenn er eine Frau wollte, bezahlte er für ihre Dienste, so einfach war das. Mit einem Knurren bleckte er die Zähne. Sie ist eine Nivard – und für sie sind wir reißende Tiere …
Mit einem Ruck an den Zügeln brachte er Ired zum Stehen. Da lag sie, sein flammenhaariger Fluch, noch immer wohlverschnürt. Es hätte ihn auch sehr erstaunt, wenn sie sich hätte befreien können.
Ihre angespannten Schultern verrieten ihm, dass sie ihn herankommen gehört hatte. Sie trotzt also noch immer.
Er unterdrückte ein Seufzen, ließ Ired stehen, trat vor die Heilerin und ging in die Hocke. Ihre emeraldfarbenen Augen blitzten ihn böse an.
»Werdet Ihr schreien, wenn ich Euch den Knebel abnehme?« Brachan hatte ihm geraten, höflich zu sein. Er konnte es ja versuchen.
Ihr Blick sagte ihm, wohin er sich scheren konnte, dann wandte sie den Kopf ab.
Er fasste sie unterm Kinn und drehte ihren Kopf zurück.
Sanft, Mordan, sanft! Du sollst sie behandeln wie eine empfindliche Blume, sagt Levan. – Empfindliche Blume? Pah! Sie ist eine verfluchte Distel!
»Wir werden jetzt weiterreiten, Heilerin.« Er sprach, ohne dass sie seine Reißzähne sah, und versuchte, möglichst freundlich zu klingen. »Es gibt zwei Möglichkeiten, wie Ihr das tun könnt. – Aufrecht, vor mir im Sattel – oder auf dem Bauch, vor mir über dem Sattel. Ersteres werde ich Euch erlauben, wenn Ihr versprecht, nicht zu schreien oder Euch auch sonst nicht wie eine Furie aufzuführen. Solltet Ihr dies nicht tun, bleibt Euch nur die zweite Art – und glaubt mir, auf Dauer ist das äußerst unbequem. Also? Was soll es sein?«
Ihre Augen wurden schmal, hinter dem Knebel kamen unverständliche Laute hervor. Als er sie einfach nur weiter anblickte, stieß sie mit dem Kinn nach ihm. Offenbar wollte sie ihm klarmachen, dass er sie von dem Stoff befreien sollte.
Mordan bemühte sich um ein freundliches Lächeln mit geschlossenen Lippen, während er das Tuch aus ihrem Mund zupfte.
»Ich höre.«
»Glaubt nur nicht, dass Ihr gewonnen habt, Kjer.«
Er betrachtete den Knebel.
Elender Rohling! »Schon gut. Ich werde nicht schreien.«
Eine schwarze Braue hob sich fragend.
»Und ich werde mich auch nicht wie eine Furie aufführen.«
Die zweite Braue hob sich.
Lijanas verdrehte die Augen. »Ich verspreche es.«
In seinem Sturmauge blitzte es für einen winzigen Moment zufrieden, dann beugte er sich vor, löste ihre Fesseln und zog sie vom Boden empor. Sie machte sich mit einem Ruck aus seinem Griff frei.
Auf seiner Stirn erschien eine scharfe Falte. »Steigt auf!«
Lijanas starrte das mächtige Kriegsross an, dessen gelbe Augen jetzt unter einem Band aus dünnen, ledernen Fransen verborgen waren.
Ihr erster Gedanke war: Wie wollte ich eigentlich da hinaufkommen? Der Rücken ist mindestens zwei Schritt über dem Boden.
Und der zweite: Die Bestie, die mir schier den Schädel eingetreten hätte! Das ist sein Pferd? Oh Gnädige!
»Ich will nicht mit Euch reiten!«
»Steigt auf!«
»Seid Ihr taub? Ich sagte …«
»Ich sagte: Steigt auf!« Seine Stimme war mit einem Mal ein gefährliches Schnurren. »Und nein, ich bin nicht taub.«
»Aber Ihr hört nur das, was Ihr hören wollt«, brummte sie leise und gönnte ihm einen kurzen Blick über die Schulter. Den Daumen unter den silberbeschlagenen Gürtel gehakt, stand er keine Armlänge hinter ihr und sah sie eisig an. Mistkerl! Sie blickte wieder zu dem Pferdeungeheuer hin.
Es hatte ein seltsam ölig glänzendes Fell, das aus der Nähe aussah, als hätte jemand – ja, was? Asche? – hineingerieben. Sie runzelte die Stirn. Ein breiter, mit eingebrannten Verzierungen geschmückter Ledergurt reichte über seine Brust, während ganz ähnliche, mindestens handbreite Riemen Kruppe und Hinterhand zierten. Auf seinem Rücken lag ein Sattel aus dunklem Leder mit halbhohem Hinterzwiesel und einem nur wenig höheren Sattelhorn, das nach oben hin schmaler wurde und dessen Ende kunstvoll vornübergebogen war. ›Kriegssattel‹ hatte Ahmeer diese Art Sattel genannt, als er ihr einmal ein ganz ähnliches Exemplar in den Stallungen seines Onkels gezeigt hatte. Nur war über diesen hier ein dichtes schwarzes Schaffell geworfen. Lijanas lächelte süßlich und blickte erneut über die Schulter, ehe sie ihre Musterung fortsetzte. Hinter dem Sattel war über wohlverschnürten Satteltaschen eine Deckenrolle festgezurrt und dahinter – sie schluckte unwillkürlich – war ein runder, schwarzer Schild von ungefähr einem Schritt Durchmesser festgemacht, in dessen Mitte ein fingerlanger Dorn gefährlich im Sonnenlicht glänzte. Unter dem Rand des Schildes ragte der doppelte Bogen einer Armbrust zusammen mit einem ledernen Köcher heraus, der wohl die dazugehörigen Bolzen enthielt.
»Auf der anderen Seite findet Ihr eine Garichan-Kriegsaxt und ein Kereshtai-Schwert.« Sie konnte den Spott in seiner Stimme hören.
Trägt der Kerl denn immer eine ganze Waffenkammer mit sich herum?
»Und jetzt steigt auf!« Der Spott war aus seinem Ton verschwunden.
Noch einmal ließ Lijanas den Blick über das riesige Pferd gleiten, über die Waffen, die Satteltaschen und mehrere Beutel, die dazwischen befestigt waren.
»Und wo soll ich sitzen?«
»Hier!« Er tätschelte eine Decke, die vor dem Sattel über Hals und Schulter des Tieres geworfen worden war.
Sie schloss die Augen und seufzte leise. Es hilft alles nichts.
Vorsichtig näherte sie sich dem Pferd, packte das Sattelhorn so gut sie konnte und angelte mit dem Fuß nach dem Steigbügel – ohne ihn erreichen zu können. Sie trat noch näher an das Tier heran – ein mächtiger Huf stampfte gefährlich dicht neben ihr den Boden. Hinter ihr zischte der Krieger der schwarzen Bestie einen Befehl in der Sprache der Kjer zu, packte Lijanas zu ihrem Erschrecken ohne Vorwarnung um die Mitte und hob sie auf den Pferderücken, als hätte sie nicht mehr Gewicht als ein Kätzchen. Da ihr Gewand zu eng war, um sich rittlings vor dem Sattel niederzulassen – sie hatte nicht vor, ihm noch mehr von ihren Beinen zu zeigen, als er ohnehin schon gesehen hatte –, blieb ihr nur, sich seitlich zu setzen. Er wartete, bis sie sich zurechtgerückt hatte, dann schwang er sich hinter ihr auf das Pferd, zog sie näher zu sich heran, stopfte einen Teil seines Mantels zwischen das Sattelhorn und sie, legte einen Arm um ihre Taille und fasste mit der anderen Hand die Zügel.
Lijanas Versuch, sich aus seinem Griff zu befreien, misslang. Im Gegenteil hielt er sie jetzt noch enger gegen seine Brust gelehnt. Ebenso gut hätte sie sich gegen eine Eisenfessel wehren können. Ein kurzes Schnalzen, eine Gewichtsverlagerung und das mächtige Kriegsross setzte sich gemessenen Schrittes in Bewegung.
Kaum mehr als eine Handbreit bedeckte das Wasser den Boden und verwandelte ihn dennoch in diamantenes Glitzern und funkelndes Licht, das in hellen Schatten über die schlanken Säulen huschte, die die filigrane Decke trugen. Dort, wo Mauern hätten sein sollen, blickte man auf drei Seiten über die Unendlichkeit des Meeres, das sich donnernd an den steilen Klippen brach, auf denen die Silberne Halle von Anschara erbaut war. In der Ferne ließ ein Flimmern über der See die Hitze erahnen, die von den Gipfeln der Brennenden Inseln aufstieg und die dafür sorgte, dass die Hauptstadt Astrachars keinen Winter kannte. Auf der vierten Seite erfreute das Gold reifer Felder und das Grün wildreicher Wälder das Auge des Betrachters. Doch für all diese Schönheit hatte er heute keinen Blick. Den Ellbogen gegen eine der Säulen gestützt, die den äußeren Umgang der Halle trugen, die Knöchel der zur Faust geballten Hand an die Lippen gepresst, starrte er über das Meer hinaus und wartete. Der Seewind spielte mit der Fehan-Seide seiner weit fallenden Beinkleider und der ärmellosen, mit winzigen Silberperlen bestickten Weste, strich kühl über seine Stirn und kräuselte die glatte Wasseroberfläche des von weißem Stein eingefassten Beckens hinter ihm, in dessen Mitte sich der Thron des Fürsten von Astrachar auf einem Rund aus silbergeädertem Marmor erhob.
In ein paar Schritt Entfernung saß eine zierliche Frau auf einem Schemel aus Elfenbein zwischen den Säulen, gekleidet in das Blau, Schwarz und Silber ihres Standes, stumm das Gesicht in seine Richtung gewandt. Und obwohl Niégra, die Erste Gesegnete der Rabin, schon seit vielen Wintern blind war, schien ihr Blick ihn zu verbrennen. Mit einem Knurren stieß er sich von der Säule ab und nahm seine ungeduldige Wanderung von zuvor wieder auf.
Es war falsch, sich solche Sorgen zu machen. Sie sollte ohne Bedeutung für ihn sein, immerhin war sie kein Mitglied des Hofes, sondern nur eine junge Heilerin, die unter den Gesegneten der Rabin lebte; die noch nicht einmal zur Schwesternschaft der Gesegneten gehörte. Aber verdammt, der Gabe dieses Mädchens hatte er es zu verdanken, dass er noch am Leben war, nachdem man ihn vor drei Wintern mehr tot als lebend nach Anschara gebracht hatte.
Unwillkürlich ballte Rusan, Fürst der Nivard, die Fäuste, als er sich an den Augenblick im eisigen Wind bei Iserochs Pass erinnerte. Mit einer kleinen Truppe seiner besten Männer hatte er hinter einer Felskehre plötzlich zwei Dutzend Kjer-Kriegern gegenübergestanden, die das Banner des zweiköpfigen Wolfes führten. Im ersten Moment waren die Kjer scheinbar nicht weniger überrascht gewesen wie die Nivard selbst, jemanden in diesen verschneiten Höhen anzutreffen. Doch ihr Anführer hatte sich schnell von seiner Verblüffung erholt und dann war es zu spät gewesen – sie waren über Rusans Männer hergefallen – und er hatte sich dem Blutwolf persönlich gegenübergesehen.
Unbewusst tastete er nach seiner linken Schulter. Das Schwert des Kriegers war ein beißender Blitz in der frostklirrenden Luft gewesen, als es immer wieder auf ihn niedergefahren war und sich ihm schließlich mit mörderischer Wucht knapp neben dem Hals in die Schulter gebohrt und dort die Knochen zertrümmert hatte. Die Welt um Rusan war in Rot ertrunken. Das Letzte, was er für lange Zeit gehört hatte, war das wutentbrannte Heulen des Blutwolfs gewesen, als es seiner Leibwache endlich gelang, ihn von ihrem gestürzten Fürsten zurückzudrängen, denn dieser eine Hieb hatte ihn an den Rand des Grabes gebracht. Seit jenem Tag war sein Arm ohne Kraft.
Er rieb über die wulstige Narbe, den Mund zu einem bitteren Strich verzogen. Es ging das Gerücht, dass Haffrens erster Heerführer ein Kessanan war. Eine jener Bestien, die in blindem Gehorsam jeden Befehl ihres Herrn ausführten – wie auch immer er lauten mochte.
Der bittere Zug machte Spott Platz. Es gab aber auch Stimmen, die behaupteten, der Blutwolf sei kein Mann, sondern ein fleischgewordener Rachegeist.
Der Seewind wehte ihm schwarze, schon mit dem ersten Silber des Alters durchzogene Haarsträhnen ins Gesicht. Unbewusst strich er sie zurück. Was auch immer dieser Kjer-Krieger war – Mann oder Rachegeist –, wer Rusan seinen Kopf brachte, wurde mit Gold belohnt.
Er blieb zwischen zwei Säulen stehen und blickte aufs Meer hinaus, während er versuchte, die Kjer aus seinen Gedanken zu vertreiben und den Hass in seinem Herzen zum Schweigen zu bringen. Im Augenblick war das Mädchen wichtig und kein weit entfernter Feind.
Als ein Hauptmann seiner Garde sich mit schnellen Schritten näherte, wandte Rusan sich um.
»Und?« Seine Stimme war scharf. Geduld hatte noch nie zu seinen Tugenden gehört.
Der Mann verneigte sich. »Nichts, mein Fürst!«
»Wart Ihr auch in der Unterstadt?« Die junge Närrin war arglos genug, allein in die engen Gassen nördlich des Hafens zu gehen, wenn ein Kranker dort ihre Hilfe brauchte.
»Ja, mein Fürst. Dort war sie nicht! – Heiler Udelar war der Letzte, der sie sah. Er sagt, sie habe einen Fremden zum ›Schwarzen Lamm‹ begleitet, um sich dort um einen Gefährten des Mannes zu kümmern, dem Heiler Udelar selbst nicht helfen konnte. – Niemand im ›Schwarzen Lamm‹ hat sie gesehen. Wie es scheint, ist sie nie dort angekommen.«
»Wurden diese Fremden befragt?«
»Sie haben noch vor dem Morgengrauen das ›Lamm‹ verlassen, mein Fürst.«
»Wie sahen sie aus?«
»Der Wirt beschrieb sie als groß und beeindruckend. Sie behaupteten zwar, Händler zu sein, aber er hielt sie eher für Krieger, mein Fürst.«
»Hat er Waffen gesehen?«
»Nein, mein Fürst. Einer der drei schien vor Schmerz kaum stehen zu können, als sie ankamen. Die anderen beiden waren offenbar sehr besorgt. Sie bezahlten mit Gold, damit der Wirt ihnen überhaupt ein Zimmer gab.«
»Und dennoch waren sie noch vor dem Morgengrauen wieder fort.« Auf Rusans Stirn erschien eine Unheil verkündende Falte. »Findet diese Männer und bringt sie zu mir, gleichgültig, wo sie sich aufhalten und ob sie Euch begleiten wollen oder nicht. Eilt Euch!«
Der Krieger verneigte sich und hastete davon.
Rusan presste die Faust gegen den kühlen Stein einer Säule. Bei den Augen der Rabin, das Mädchen war noch nicht einmal eine Anverwandte – es sollte ihm gleichgültig sein. Warum nur zog sich dann bei dem Gedanken, dass ihr jemand ein Leid angetan haben könnte, sein Herz zusammen? Er schüttelte leicht den Kopf. Es gab noch jemanden, der von ihrem Verschwinden erfahren musste.
»Schickt nach Prinz Ahmeer!«
Obwohl sie noch gefährlich nahe an Anschara waren, hatten sie beschlossen, die Pferde vorerst nur im Schritt gehen zu lassen. So würden sie bei Reisenden, die ihnen selbst hier auf den Nebenstraßen begegnen mochten, keine Aufmerksamkeit erregen und zugleich den Tieren ein wenig Ruhe gönnen. In den letzten Tagen hatten sie die mächtigen Kriegsrösser erbarmungslos vorangetrieben, um möglichst viel Zeit für den Rückweg zu gewinnen. Ein Tag in einer ruhigen Gangart würde den Pferden die Möglichkeit geben, sich etwas von den vorangegangenen Strapazen zu erholen.
ENDE DER LESEPROBE
I. Auflage
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