Hexenfluch - Lynn Raven - E-Book

Hexenfluch E-Book

Lynn Raven

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Beschreibung

Im Leben der erfolgreichen Ärztin Ella Thorens gibt es nicht viel außer ihrem Beruf. Seit ihre Mutter sie und ihren Vater verließ, hält sie ihr Herz sorgsam verschlossen. Ella ahnt nicht, dass ihre Mutter ihr ein besonderes Erbe hinterlassen hat, bis sie eines Abends Zeugin wird, wie eine Gruppe vermummter Gestalten einen Mann zusammenschlägt. Ella kann die Angreifer vertreiben, doch als sie den Verletzten berührt, fühlt sie, wie eine neue Macht sie durchströmt. Denn Christian Havreux ist ein Hexer, und der Kontakt mit ihm erweckt Ellas magische Kräfte. Christian überredet Ella, sich von ihm ausbilden zu lassen, doch dabei verfolgt er nicht nur uneigennützige Pläne …

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Seitenzahl: 540

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Lynn Raven

Hexenfluch

Roman

Knaur e-books

Inhaltsübersicht

1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. Kapitel9. Kapitel10. Kapitel11. Kapitel12. Kapitel13. Kapitel14. Kapitel15. Kapitel16. Kapitel17. Kapitel18. Kapitel19. Kapitel20. Kapitel21. Kapitel22. Kapitel23. Kapitel24. Kapitel25. Kapitel26. Kapitel27. Kapitel28. Kapitel29. Kapitel30. Kapitel31. Kapitel32. Kapitel33. Kapitel34. Kapitel35. Kapitel36. Kapitel37. Kapitel38. Kapitel39. Kapitel40. KapitelVier Wochen später
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1

Wir waren nicht verabredet, Roland.« Mit langen Schritten marschierte Dr. Ella Thorens quer über das Parkdeck des California Hospital Medical Center. Er wusste, was sie davon hielt, wenn er weit vor Ende ihrer Schicht in der Notaufnahme auftauchte. Und immer wieder demonstrativ auf die Uhr sah, wenn sie an ihm vorbeikam.

»Dann sind wir es eben jetzt, Honey.« Roland Piers legte besitzergreifend seinen Arm um ihre Mitte und zog sie an sich. Und brachte sie damit prompt zum Stolpern. »Hoppla.« Er lachte leise. »Nenn mir nur einen guten Grund, warum du ein Abendessen mit mir ausschlagen solltest.« Da war ein Unterton in seiner Stimme, der sich fast drohend anhörte.

Ella schob ihn von sich weg, kramte den Autoschlüssel aus der Handtasche. Einen Grund? Nur einen einzigen? Sie konnte ihm ohne nachzudenken gleich mehrere liefern. Zum Beispiel, weil sie eine 36-Stunden-Schicht hinter sich hatte. Weil sie dreizehn davon im OP zugebracht hatte, in denen sie unter anderem zu verhindern versuchte, dass ihr eine junge Frau von noch nicht mal fünfundzwanzig auf dem Tisch verblutete, nachdem irgendein besoffener Vollidiot sich trotz mörderisch hoher Promillewerte hinters Steuer seines Wagens gesetzt hatte; in denen sie die inneren Organe eines Siebzehnjährigen zusammengeflickt hatte, der eindeutige Tätowierungen trug und sich dem Bericht der Polizei nach eine Messerstecherei mit dem Mitglied einer verfeindeten Gang geliefert hatte. Weil sie ihren Wagen heute Abend zu Tonio in die Werkstatt bringen musste, damit der endlich dafür sorgte, dass der Motor nicht mehr an jeder Ampel ausging. Und außerdem das Rücklicht reparierte, wegen dem sie gestern schon von einer Streife angehalten worden war – und sie sowieso schon viel zu spät dran war. Weil sie schlicht und ergreifend müde war und sich einfach nur nach einem heißen Bad und höchstens noch einer oder zwei entspannten Stunden vor dem Fernseher – mit oder ohne Roland – sehnte und ihr nicht der Sinn danach stand, sich noch einmal schick zu machen, um mit ihm essen zu gehen. Was sie ihm alles bereits gesagt hatte, als er sie vor gut zwei Stunden angerufen hatte, um ihr mitzuteilen, dass er heute Abend mit ihr ausgehen wollte.

»Zu dieser Patientin in South Central«, er verzog das Gesicht, »kannst du doch auch morgen noch.«

»Nein, das kann ich nicht.« Wann hatte er sich eigentlich in einen Vollidioten verwandelt? Beziehungsweise: Wann hatte er sich eigentlich in einen Vollidioten verwandelt, ohne dass sie etwas davon mitbekommen hatte? Sie ließ die Zentralverriegelung ihres Impala aufblinken, während sie an seinem Heck vorbei und zur Fahrerseite ging. Roland überholte sie und stemmte die Hand gegen den Türholm.

»Heißt das, irgendeine Wildfremde ist dir mal wieder wichtiger als ich?« Seine Stimme war mit jedem Wort ärgerlicher geworden. Ella biss die Zähne zusammen. Das hier war nur eine weitere Variation von: Dein Beruf ist dir mal wieder wichtiger als ich.

»Verdammt noch mal, Roland …«

»Wenn du mich jetzt wegen dieser Frau hier stehenlässt, sind wir geschiedene Leute, Ella.«

Sie verharrte abrupt, die Hand schon halb nach dem Griff der Autotür ausgestreckt. ›Wenn du diesen Privatschnüffler nicht jetzt und hier anrufst und ihm sagst, dass er nicht weiter nach deiner Mutter suchen soll, dann verlässt du augenblicklich mein Haus.‹ Fast glaubte sie, die Stimme ihres Vaters über Rolands zu hören. Wenn … dann … Sie war damals in ihr Zimmer gegangen und hatte ihre Sachen gepackt. ›Wenn du jetzt durch diese Tür gehst, dann brauchst du nicht wiederzukommen, dann bist du nicht mehr meine Tochter.‹ Sie hatte ihren Vater seitdem nie wiedergesehen. Wenn … dann … Sie konnte die Worte nicht mehr hören. – Dumme Kuh, die sie war, hatte sie eine ganze Weile geglaubt, Roland sei anders. Sie legte die Finger entschlossen um den Griff, zog daran, hörte das Klacken des Schlosses. Nur dass auch er vor kurzem angefangen hatte, Symptome der Wenn-dann-Krankheit zu zeigen. Offenbar waren alle Männer so.

Roland nahm die Hand vom Holm, packte sie stattdessen am Arm und zerrte sie zu sich herum. Unsanft. Grob. »Hast du mich gehört, Ella? Wenn du …«

Sie zischte. Kein Mann fasste sie auf diese Weise an. »Ich habe dich gehört.« Mit einem Ruck machte sie sich los. »Weißt du, was? Ich habe morgen Vormittag frei. Komm vorbei und hol deine Sachen.« Er starrte sie an. Ella drängte ihn zurück, riss die Tür endgültig auf, pfefferte ihre Tasche auf den Beifahrersitz, stieg ein und rammte den Schlüssel schon in die Zündung, während sie noch die Tür hinter sich zuknallte. Der Motor jaulte auf. Roland sprang hastig aus dem Weg, als sie zurücksetzte, Gas gab und auf die Ausfahrt zuraste. Die Reifen ihres Impala quietschten auf dem Asphalt. Was er ihr hinterherbrüllte, verstand sie nicht. Es interessierte sie auch nicht.

Das war’s. Keine Männer mehr in ihrem Leben.

Ein für alle Mal.

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2

Der Stift zerbrach zwischen Alec MacCannans Fingern. Macht! Eine mörderische Detonation. Vollkommen unkontrolliert. Die aufflammte und sofort wieder verging. Und für den Bruchteil eines Atemzugs etwas zurückließ wie … Agonie. Er stand so rasch auf, dass die Klavierbank krachend umkippte, durchquerte hastig sein Loft, riss den Autoschlüssel vom Haken neben der Tür. South Central. Was auch immer da gerade geschehen war, es war in South Central. Und etwas sagte ihm, dass er keine Zeit verlieren durfte.

Auf der Treppe stieß er beinah mit David Monroe zusammen. »Was zum …«

Er drängte sich an ihm vorbei, ohne wirklich langsamer zu werden. »Ruf die anderen hierher. Wahrscheinlich brauche ich den ganzen Zirkel.«

»Was …?«

»Tu’s einfach!« Die letzten beiden Stufen. Er nahm sie wie eine. Hinter sich hörte er David fluchen.

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3

Schlaf!« …

 

Grelles Licht. Schatten davor. Stimmen. Schmerz.

»Was zum … Aber das ist doch … – Dr. Thorens? Dr. Thorens, können Sie mich hören?«

Eine Berührung am Handgelenk. Ihr war kalt.

»Dr. Thorens, sagen Sie etwas! Kommen Sie, Kindchen!«

Sie konnte nicht denken. Da war nur Schmerz.

»Dr. Jacobs! Dr. Jacobs, schnell! – In die Drei mit ihr! Tempo!«

Die Lichter glitten über ihr dahin. Dazwischen Gesichter. Verschwommen. Unscharf. Verzerrt.

»Reden Sie mit mir. Ella, bleiben Sie bei mir, hören Sie mich? Bleiben Sie bei mir. Alles wird gut. – Dr. Jacobs. Hier! Schnell. Es ist Dr. Thorens!«

… Ein dunkler Raum. Zu viele Ecken. Sieben. Bunte Fenster. Ein Kreis auf dem Boden. In dem sie liegt. Stimmen. Murmeln. Ein paar zornig. Andere besorgt. Noch mehr Stimmen. Vertreiben die Kälte. Den Schmerz.

»Schlaf!« …

»Ella? Was …? Heilige Scheiße!«

Eine andere Stimme. Sie sollte sie kennen. Jede Einzelne.

»Wie kommt sie hierher? – Offene Abominalverletzung. Thoraxtrauma. Massiver Volumenverlust.«

»Atmung eingeschränkt.«

… ein Ruck …

»Intubieren!«

»Herzfrequenz 180. Sättigung bei 75Prozent.«

… die Lichter standen still …

»Sauerstoff. 100Prozent. – Vorsicht mit ihrem Arm. – Weiß irgendjemand, was passiert ist?«

… wurden mal heller, mal dunkler.

… Eine Gasse. Im Dunkeln. Die Laterne flackert. Mrs. Groner braucht ihre Medizin. Männer. Fünf. Baseballschläger. Und anderes. Licht auf Messern. Und Blut. Ein Mann geht zu Boden. Kommt wieder hoch. Ein anderer taumelt zurück. Einer hebt ein Messer. Der Mann sackt in die Knie. Ein Baseballschläger auf die Schulter. Knochen krachen. Dunkelheit wabert. Er geht wieder zu Boden. Sie schreit. …

»Zugang gelegt. Infusion läuft.«

»Ein Mann hat sie hergebracht …«

»Blutdruck 70 zu 40. Fällt.«

»3 Konserven. 2 FFP. – Verdacht auf Schädelfraktur. Stark verzögerte Pupillenreaktion. – Mehr Volumen! – Schnappt euch den Kerl und findet heraus, was passiert ist! Ich will wissen, wer sie so zugerichtet hat.«

Etwas zerriss. Es wurde noch kälter.

»Ella? Dr. Thorens? Bleiben Sie bei uns!«

Alles verschwamm noch mehr …

»Ich habe Ihnen den Chefarztsessel nicht überlassen, damit Sie mir schon nach einer Woche wieder abspringen, verstanden? Nicht so. Sie sind doch sonst nicht der Typ, der klein beigibt. Also beißen Sie gefälligst jetzt auch die Zähne zusammen.«

… verwischte …

»Blutdruck 60 zu 30. Fällt weiter.«

»Verdammt noch mal, bewegt euch! Wir müssen sie stabil kriegen.«

»Pneumothorax!«

»Thoraxdrainage! – Wo bleiben die Konserven!«

… Blut. Überall Blut. Dazwischen weiße Knochen. Schädelfraktur. Die Schulter gebrochen. Der Arm. Die Rippen. Stichwunden in Brust und Bauch. Helles Haar. Dunkelblond. Blut an seinem Ohr. Ein einzelner Tropfen. Das Licht fängt sich darin. Blitzt. …

»Ich brauche ein Ganzkörper-CT!«

Wieder Berührung. Licht stach ihr in die Augen.

»Verdammt! Wie oft hat dieses Arschloch zugestochen?«

»Keine Pupillenreaktion.«

»Scheiße, Kleine, was hast -- angestellt? -- einem Bandenkrieg mit--mischt?«

Ein Piepen. Irgendwo. Kalt.

»Wo -- Teu-- bleiben die Kons--?«

Sie trieb auf der anderen Seite des Lichts. So kalt. Verzerrt. Alles. Da war Schmerz, der unter dem anderen Schmerz verging. Müde.

… Blut im Licht der Straßenlampe. So viel. Die Atemzüge schwach. Ein Gurgeln. Schaum auf seinen Lippen. Eine Rippe muss die Lunge verletzt haben. Es ist ein Wunder, dass er überhaupt noch lebt. »Hören Sie mich? Alles wird gut. Ich bin Ärztin. Ich werde Ihnen helfen. Keine Angst.« Ihre Fingerspitzen berühren seine Kehle, auf der Suche nach dem Puls. Es erwacht. Schmerz! Schreie. Ihre eigene Stimme. Die Nacht explodiert in nichts als Schmerz …

Schmerz …

»Bleiben Sie --- uns, Ella! Bleib-- --- bei ---!«

So müde. Jemand musste Sushi füttern.

»Kam--flim--!«

»3,5 Li--kain. U-- -- renal--. Defib -- la--. -weihun--. -- Nein, El--! N--n! Kämp--n Sie, Kl---e!«

Alles wurde dumpf, zu einem Rauschen; die Stimmen; das Piepen; weit entferntes Rauschen; Rauschen; graues Rauschen … das verebbte.

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4

Die Katze atmete panisch in dem Sack auf dem Boden, bewegte sich, suchte noch immer nach einem Fluchtweg, maunzte kläglich. Seine erste Liebesgabe an Majte war eine kleine Katze aus ihrem Stall gewesen. Dreifarbig. Mit Augen wie Bernstein. Sie war in der gleichen Nacht spurlos verschwunden, in der er das Haus in Brand gesteckt hatte. Eine ganze Zeit hatte er gehofft, sie wäre nicht in dem Feuer umgekommen.

Irgendwann war es egal gewesen.

Wie so vieles.

Nachdenklich betrachtete Kristen Havebeeg dieses andere Haus ein paar Meter weiter, quer über den Rasen. Es war nicht besonders groß. Zweistöckig. Weiß getüncht. Eine kleine überdachte Veranda mit einer Hollywoodschaukel. Gardinen in den Fenstern. Zwei Bäume im Garten. Apfel, soweit er das beurteilen konnte. Eine schmale Einfahrt mit Garage. – Typisch amerikanischer Vorort.

Das ganze Grundstück war umgeben von einer sauber gestutzten Hecke, die ihnen derzeit vor allzu neugierigen Blicken aus der Nachbarschaft Schutz bot. Nicht, dass kurz nach Mitternacht mit besonders vielen Zuschauern zu rechnen gewesen wäre. Ganz abgesehen davon stand das Haus hinter ihnen ohnehin leer und zum Verkauf.

Er war noch nicht in seinem Inneren gewesen. Noch nicht. Das hätte möglicherweise zu viel Aufmerksamkeit auf dieses bestimmte Haus gelenkt. Und seine Besitzerin. Was er um jeden Preis vermeiden wollte.

»Das ist es?« Die junge Hexe neben ihm rümpfte die Nase. »Es ist so …«

Bieder. Schmucklos. Unauffällig. – Heimelig? – Was für ein blödsinniger Gedanke.

»… spießig.« Geradezu angeekelt wedelte sie mit der Hand. Die kleinen Strasssteinchen auf ihren Fingernägeln blitzten. »Ich frage mich, was du mit diesem langweiligen Ding willst, Kristen.«

Das konnte er sich vorstellen. Nicht, dass er vorhatte, es ihr zu sagen. Sie warf ihr schwarzes Haar über die Schulter zurück und wandte sich in der Bewegung halb zu ihm um. Schlank und feingliedrig. Dunkle, leicht mandelförmige Augen. Asiatisches Blut. Hochbegabt. Intrigant und raffiniert. Männer verbrannten an ihr wie Motten in einer Kerzenflamme. Einer ihrer derzeitigen Lieblinge. War es tatsächlich erst zwei Jahre her, dass er sie für sie eingebrochen hatte?

»Wir haben einen Deal, Linda. Du tust, was ich will, und stellst keine Fragen.«

»Ja, ja, ich weiß.« Sie wandte sich endgültig zu ihm um, kam ganz dicht heran, legte die Hand auf seine Brust. »… und zur Belohnung habe ich dich eine Nacht in meinem Bett. Freiwillig.« Sollte ihr Augenaufschlag verführerisch sein? Die Art, wie sie sich die Lippen leckte, hatte mehr von Katze und Sahnetopf. Dass sie ihn mit dieser Aktion hier theoretisch auch noch erpressen konnte, machte die Sache für sie noch reizvoller. »Schade nur, dass ich vor den anderen nicht damit angeben darf. Marish würde Gift und Galle spucken.«

Er pflückte ihre Hand von seiner Brust und trat einen Schritt zurück. »Erst die Arbeit, dann das Vergnügen.« Wenn er sie nicht gebraucht hätte, hätte er nichts lieber getan, als ihr das Handgelenk zu brechen.

Linda stieß ein kleines, unwilliges Schnauben aus, hob dann aber die Schultern. Die Haut unter dem Trägertop war absolut makellos. »Also gut.« Ihr ohnehin knapper Rock rutschte noch ein Stück höher, als sie in die Knie ging und in ihrem Beutel kramte. Schweigend sah er ihr zu, verfolgte jede ihrer Bewegungen genau. Fast rechnete er damit, dass sie versuchen würde, ihn zu täuschen. Sie tat es nicht. Die Kräuter, mit denen sie den Dolch einrieb, nachdem sie ihn in Salz gereinigt hatte, die Beschwörung, die sie dabei sprach … Alles stimmte. Also glaubte sie denen, die behaupteten, dass er dazu tendierte, äußerst unschöne Dinge mit den Frauen zu tun, die ihn verärgerten. Zu Recht. Auch wenn seine Möglichkeiten begrenzt waren.

Doch als sie sich vorbeugte und den Dolch in den Boden stoßen wollte, packte er sie am Handgelenk. »Zieh ihn richtig!«

Empört kniff sie die Augen zusammen. »Du erwartest jetzt nicht ernsthaft von mir, dass ich einmal um dieses Haus herumkrieche, wenn ich einen Schutzkreis auch auf diese Weise ziehen kann.«

»Ich zahle. Also wird es gemacht, wie ich will. Zieh den Kreis richtig!«

Aus Empörung wurde Ärger. Ihr Blick sollte vermutlich einschüchternd sein. Er hob nur eine Braue.

»Wie der Kunde wünscht.« Mit einer fast schnippischen Geste warf sie erneut ihr Haar zurück. »Aber das kostet dich extra, Kristen.«

Seine Antwort war ein träges, arrogantes Lächeln.

Wie ein Schatten folgte er Linda um das Haus herum, ließ sie den Kreis korrigieren, wo sie ihn schlampig ziehen wollte, immer darauf bedacht, seine eigene Magie im Zaum zu halten, obwohl es ihn in den Fingern juckte, ihr den Dolch aus der Hand zu nehmen und den Kreis selbst zu beenden. Die ganze Zeit brannte der Bannfluch auf seiner Haut. Ihr übertriebenes Stöhnen, als sie den Anfang des Kreises wieder erreichten, ignorierte er.

»Fast geschafft. Gib mir die Katze.« Ihre Augen leuchteten, als sie ihn ansah. Blutmagie war für eine wie sie fast so gut wie Sex. In der Andeutung eines Schmollmundes schob sie die Unterlippe vor. »Bekommt ein braves Mädchen einen Kuss, wenn es hiermit fertig ist?«

»Wir werden sehen.« Er kniete sich neben den Sack, löste die Schnur, griff hinein. Die Katze machte ihm klar, was sie von dem hielt, was sie offenbar mit ihr vorhatten, und grub ihm die Krallen in die Hand. Kristen fluchte, erwischte sie dann aber doch im Genick und zog sie aus ihrem Gefängnis. Eine graugetigerte Sie. Riesige grüne Augen starrten ihn an. Die Pfotenspitzen sahen aus, als hätte sie sie in weiße Farbe getunkt. Katzenpfotennagellack. Beide Hinterbeine waren bis über die Knöchel weiß. So hilflos sie in seinem Griff auch war: Ihre Zähne waren gebleckt.

»Oh, was für eine Hübsche.« Linda trat heran. Der Dolch glänzte in ihrer Hand. »Leg sie auf den Boden.«

Die Katze fauchte, versuchte sich frei zu winden, kaum, dass ihre Pfoten die Erde berührten. Kristen hielt sie erbarmungslos fest – und bezahlte dafür mit noch mehr blutenden Kratzern. Linda kauerte sich neben ihn. Murmelte die letzten Zauber. Hob den Dolch. Und stieß ein Zischen aus, als die Katze unvermittelt davonschoss, in der Dunkelheit verschwand.

»Was zum …«

Kristen hatte die Hand über ihrer um den Dolchgriff geschlossen, darauf bedacht, ihn selbst nicht zu berühren, drehte die Klinge. Eine knappe, harte Bewegung. Schneller, als Linda reagieren konnte. Die Spitze ging durch Haut und Fleisch wie heißer Stahl durch Butter. »Ich habe etwas Besseres.«

Alles, was über ihre Lippen kam, war ein Keuchen.

Kristen fing sie auf, schob sich halb hinter sie. Noch ein Ruck. Die Klinge rutschte tiefer. Diesmal erstickte er Lindas Schrei mit seiner freien Hand. »Das Blut einer Hexe ist deutlich mächtiger als das einer einfachen kleinen Katze, Liebling. Findest du nicht? Und für diesen Kreis ist das Beste gerade gut genug.« Er zog den Dolch aus ihrer Brust. Aus ihrer Kehle kam ein würgender Laut. Ihr Blut tropfte von der Klinge. Auf genau die Stellen, auf denen er es haben wollte. Noch immer die Hand über ihrer um dem Griff und nach wie vor peinlich darauf bedacht, nicht selbst mit dem Dolch und damit dem Zauber in Berührung zu kommen, beendete er den Schutzkreis. Linda wurde immer schwerer. Lag schließlich schlaff in seinem Arm.

Er spürte das Beben in der Magie, als der Kreis sich endgültig schloss. Der Bannfluch regte sich auf seiner Haut. Für eine Sekunde wagte er nicht zu atmen. Bis da erneut nur das übliche, schwache Brennen war. Langsam stieß er die angehaltene Luft wieder aus, warf einen letzten Blick auf den Kreis. Perfekt. Niemand aus seiner Welt würde dieses Haus und seine Besitzerin jetzt noch für etwas Besonderes halten. Damit musste er nur noch alle übrigen Spuren auslöschen, um sicherzustellen, dass man die Bewohnerin auch in ihrem normalen Leben nicht mehr aufspüren konnte.

Er wischte den Dolch an Lindas Shirt sauber, steckte ihn in die Scheide zurück und warf ihn in ihren Beutel. Ihre Habseligkeiten würden ebenso spurlos verschwinden wie sie selbst. Das Blut der jungen Hexe klebte unangenehm an seinem Hemd und seinen Hosen. Nicht, dass das ein Problem wäre. Oder das erste Mal.

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5

Da ist sie. – Dr. Thorens, warten Sie!«

Ella drehte sich bei Patrics Ruf um. Der Pfleger kam mit langen Schritten auf sie zu, vermutlich, um nicht noch einmal quer durch den Krankenhauskorridor schreien zu müssen und sich dadurch Ärger mit Oberschwester Kate einzuhandeln.

»Da ist jemand für Sie, Doc«, verkündete er, noch immer ein gutes Stück von ihr entfernt, und wies grinsend mit dem Daumen hinter sich, während er gleichzeitig einem kleinen Kind auswich, das mit einem Plüschtier unter dem Arm aus einem der Krankenzimmer schoss. Erstaunt blickte Ella über die Schulter des jungen Pflegers den Gang hinunter. Sie wusste sofort, wen er meinte, denn sie erkannte den Mann in derselben Sekunde – auch wenn er jetzt einen maßgeschneiderten Anzug trug anstelle von Jeans und einem zerfetzten Hemd, wie er es bei ihrem ersten Zusammentreffen getan hatte, in der Straße bei dem alten Abbruchgelände. Als irgendwelche Gestalten versucht hatten, ihn umzubringen. Als dieses andere in ihr erwacht war, diese seltsame Kraft, die sie beinah getötet hatte. Mit einem lautlosen Heulen hatte es sich in ihrem Inneren geregt, kaum dass sie auf der Suche nach seinem Puls die Fingerspitzen gegen seine Kehle gedrückt hatte; unerklärlich, entsetzlich und machtvoll. Ein Blitzschlag in ihrem Inneren. Sie hatte gespürt, wie seine Wunden zu bluten aufhörten und sich schlossen, während sie zugleich auf ihrer Haut erschienen, wie seine Rippen heilten, während ihre brachen. Schmerz war durch ihren Körper gefahren und in ihrem Verstand explodiert und hatte nichts als Grauen und Finsternis zurückgelassen. Eine Finsternis, aus der sie erst im Krankenhaus wieder erwacht war. Orientierungslos. Inmitten von nervtötendem Piepen. Angeschlossen an alle möglichen Geräte. Nach Tagen in tiefster Bewusstlosigkeit. Mit Bildern in ihrem Kopf wie aus einem Traum. Die sich verrückt real anfühlten. Obwohl sie es nicht sein konnten.

Sie hatte ihre Krankenakte gelesen. Ihr war schlecht geworden, und sie hatte sich mehr als einmal gefragt, warum sie überhaupt noch am Leben war. Noch viel mehr hatte sie jedoch über eine ganz andere Frage nachgegrübelt; eine Frage, die ihr Angst machte: Wie sie überhaupt zu diesen Verletzungen gekommen war. Den Verletzungen, die sie bei ihm gesehen hatte. Dem Mann, der Patric gefolgt war und nun knapp vor ihr stehen blieb.

Eine junge Frau marschierte entschlossen den Korridor hinunter, Richtung Aufzüge, aber ihre Schritte wurden langsamer, als sie an ihnen vorbeiging. Unverhohlen starrte sie den Besucher an. Doch seine dunkelgrauen Augen blieben unverwandt auf Ella gerichtet.

»Dr. Thorens.« Er neigte leicht den Kopf. Ella musste ihre Reisetasche auf die andere Seite wechseln, um seine ausgestreckte Hand schütteln zu können. Ihr Arm protestierte bei der Belastung. Sie biss die Zähne zusammen. Sein Griff war fest und warm. In dem Grau seiner Iris waren grüne und braune Sprengsel zu sehen. Sein Blick ließ sie keinen Sekundenbruchteil los.

»Darf ich?« Sie glaubte den Duft eines herben Parfums wahrzunehmen, als er sich, ohne eine Antwort abzuwarten, vorbeugte und ihr die Riemen der Tasche abnahm. Nein, genau genommen hatte er ihr die Tasche bereits aus der Hand genommen, bevor er gefragt hatte. Eigentlich schon kaum, dass sie sie auf die verletzte Seite gewechselt hatte. Vollkommen überrumpelt überließ sie ihm ihre Sachen. Sein Haar war ein kleines Stück zu lang für eine hundert Prozent seriöse Frisur und ringelte sich dunkelblond und dicht über dem Kragen seines cremefarbenen Seidenhemdes. In seinem linken Ohrläppchen glänzte ein kleiner, tiefroter Stein. Sie erinnerte sich … In der Gasse hatte sie ihn für Blut gehalten. Ein kurzes Lächeln offenbarte Ella, dass er sich ihrer Musterung sehr wohl bewusst war.

Sie schluckte und räusperte sich. »Ich bin froh, dass es Ihnen wieder gutgeht, Mr. …«

»Havreux. Christian Havreux. – Ein Umstand, den ich nur Ihnen zu verdanken habe, Dr. Thorens.« Ella krümmte sich innerlich bei seinen Worten. Beinah wäre sie seinem Blick ausgewichen.

»Ich bin Ärztin. Ich helfe Menschen«, erklärte sie ihm mit bemüht fester Stimme.

»Ich wage zu bezweifeln, dass Ihre Tätigkeit es gewöhnlich beinhaltet, wildfremden Männern in dunklen Gassen mit Eisenstangen das Leben zu retten.« Wieder glitt ein halbes Lächeln über seine Lippen. Die Stange war das Erste, was ihr zwischen dem Schutt in die Hände gekommen war.

»Was hatten Sie eigentlich mitten in der Nacht in dieser Gegend zu suchen, Mr. Havreux?« Die Schärfe in ihrem Ton überraschte sie selbst. Waren seine Augen eben tatsächlich noch dunkler geworden? Was für ein Unsinn. Dann fiel ihr etwas anderes ein. »Havreux? Haben Sie etwas mit Havreux Enterprises zu tun?«

»Die Firma gehört mir. – Disqualifiziert mich das jetzt als Ihren Chauffeur?« Ihre erste Frage überging er vollständig.

»Chauffeur?«, wiederholte sie verwirrt und versuchte zugleich, ihren Schrecken darüber zu verbergen, dass der Mann, der da mit ihrer Tasche in der Hand vor ihr stand, einer der Reichsten der Stadt war. Und so öffentlichkeitsscheu, dass er ein regelrechtes Phantom war. Der einzig greifbare Beweis für seine Existenz war der Havreux Tower im Norden von Los Angeles, an dessen Spitze er – wenn man den Gerüchten glaubte – ein Penthouse bewohnte. Bilder von ihm? Fehlanzeige. Und jetzt stand er vor ihr. Mit ihrer alten Reisetasche in der Hand.

»Ich habe gehört, wie Patric Ihnen ein Taxi gerufen hat, und da dachte ich, dass ich Sie nach alldem zumindest nach Hause fahre. Deshalb habe ich mir die Freiheit genommen, ihm zu sagen, er soll es wieder abbestellen.« Er schien ihr scharfes Luftholen bei seiner Offenbarung gar nicht zu bemerken und wies den Korridor hinunter. »Wollen wir?«

Ellas Schrecken wich Unbehagen. Sie schüttelte den Kopf. »Ein Taxi wäre mir lieber. Ich muss noch einkaufen. Der Inhalt meines Kühlschrankes ist inzwischen garantiert ungenießbar. Und ich möchte Ihre Zeit nicht über Gebühr beanspruchen.«

Sein Lachen klang eher wie ein dunkles Schnurren, und Ella hatte den Eindruck, dass sich jede Frau im Gang bei dem Geräusch umdrehte. »Kein Problem!« Er streckte ihr auffordernd die freie Linke hin. »Sie sagen mir, wohin es gehen soll, und ich bringe Sie hin. Meine Zeit gehört ganz Ihnen. Verfügen Sie darüber, Dr. Thorens!« Als sie weiter zögerte, nahm er einfach ihre Hand und zog sie sanft, aber bestimmt zu den Aufzügen. Eine Sekunde überlegte sie, ob sie sich losreißen sollte. – Nein, er allein erregte schon genug Aufmerksamkeit – und ganz offensichtlich war Christian Havreux ein Mann, der es gewohnt war, dass man sich ihm nicht widersetzte.

Erst im Aufzug hielt er es für nötig, ihre Hand wieder freizugeben, und Ella brachte unauffällig ein wenig Abstand zwischen sie. Der kurze Blick, der sie traf, und das angedeutete Lächeln, mit dem er sie bedachte, sagten ihr sehr deutlich, dass es ihm nicht entgangen war.

Sein Wagen stand – verbotenerweise – nur ein paar Meter vom Eingang der Klinik entfernt auf dem Bürgersteig. Die Sonne spiegelte sich auf dem silbergrauen Lack des Mercedes-Cabriolet, als sie darauf zugingen. Beinah erwartete sie, irgendwo in der Nähe einen Chauffeur zu entdecken, doch Christian Havreux öffnete ihr die Beifahrertür selbst und wartete, bis sie eingestiegen war, ehe er den Wagen umrundete, ihre Tasche im Kofferraum verschwinden ließ und auf den Fahrersitz glitt.

»Wohin soll es gehen?«, fragte er, während er den Motor anließ, und nickte nur, als Ella ihm die kleine Mall nannte, in der sie gewöhnlich immer einkaufen ging.

Gekonnt fädelte er sich in den Verkehr ein und ordnete sich in die linke Spur ein, um bei der nächsten Gelegenheit abbiegen zu können. Die Sonne fühlte sich zusammen mit dem leichten Fahrtwind angenehm warm auf ihrer Haut an. Ella ermahnte sich selbst, dass dies der falsche Moment war, um die Augen zu schließen und sich in dem weichen Ledersitz wohlig entspannt zurückzulehnen.

»Es tut mir leid, dass ich mich nicht schon früher erkundigt habe, wie es Ihnen geht, Dr. Thorens. Aber als ich in die Gasse zurückkam, waren Sie verschwunden. Und es hat leider ein wenig gedauert, bis ich Ihren Namen herausgefunden hatte«, sagte er unvermittelt in das sanfte Brummen des Motors hinein.

Überrascht wandte sie sich ihm zu. »Ich dachte, Sie hätten mich in die Notaufnahme gebracht?« Alles, woran sie sich noch erinnerte, war der Schmerz, der durch ihre Hände von seinem Körper auf ihren überzubranden schien und auf den eine alles verschlingende Dunkelheit folgte, aus der sie erst wieder in der Notaufnahme des California Medical zumindest ansatzweise aufgetaucht war.

Sie hatte mit den Schwestern gesprochen, die in jener Nacht Dienst gehabt hatten, um herauszufinden, wie sie dort hingekommen war, doch alles, was man ihr hatte sagen können, war, dass ein gutaussehender Unbekannter sie hereingetragen hatte, der allerdings wieder verschwunden war, noch ehe man seine Personalien hatte aufnehmen können. Oder erfahren, was überhaupt geschehen war. Die Polizei hatte umsonst nach ihm gesucht. Vor allem, da die Beschreibung der Schwestern im besten Falle vage war.

Havreux’ Blick streifte sie nur kurz aus dem Augenwinkel, bevor er den Kopf schüttelte, während er gleichzeitig den Blinker setzte und abbog. »Als ich zu mir kam, waren die Burschen, die mich überfallen hatten, verschwunden, und sie lagen bewusstlos halb über mir. Ihr Puls war so schwach, dass ich ihn kaum fühlen konnte. – Ich habe versucht, Hilfe zu holen, allerdings ohne Erfolg.« Seine Mundwinkel verzogen sich. »Und als ich dann in die Gasse zurückkam, waren Sie nicht mehr da.« Erneut schaute er sie für einen Sekundenbruchteil an. »Ich habe mir Sorgen gemacht.« Er nahm eine Hand vom Lenkrad, fasste ihre und drückte sie kurz, ehe er sie sofort wieder losließ. Seine Berührung hinterließ ein seltsames Prickeln auf ihrer Haut, das wie der Hauch eines Streichelns ihren Arm emporzugleiten schien. Sie atmete tief durch und widerstand dem Verlangen, ihre eigene Hand auf die Stelle zu legen.

»Was hatten Sie dort überhaupt zu suchen, Mr. Havreux?«, fragte sie stattdessen. Darauf war er ihr immer noch eine Antwort schuldig.

Wieder traf sie ein Blick aus dem Augenwinkel, dann glaubte sie so etwas wie Schuldbewusstsein über seine Züge huschen zu sehen. »Ich war spazieren.«

»Spazieren?«, wiederholte sie fassungslos. »In dieser Gegend?«

»Ja, ich weiß. Man sollte mehr Verstand von mir erwarten. Aber an diesem Abend …« Er hob die Schultern. »Ich musste irgendwie den Kopf freibekommen, und ich bin nicht der Typ, der dann stumpfsinnig auf einem Laufband in irgendeinem Fitnessstudio vor sich hin trabt. – Ich war so in Gedanken, dass ich irgendwo falsch abgebogen sein muss. Den Rest der Geschichte kennen Sie ja bereits. Und glauben Sie mir: Es tut mir verdammt leid.« Die Ampel vor ihnen schaltete auf Rot. Er stoppte an der Linie und sah ihr direkt in die Augen. »Aber was hatten Sie dort zu suchen?«

»Ich wollte nach einer Patientin sehen, die in dieser Gegend wohnt.«

»Zu meinem Glück. – Auch wenn ich sagen muss, dass es ziemlich leichtsinnig von Ihnen war, alleine dorthin zu gehen. Hätte Ihr Mann Sie nicht begleiten können?« Die Ampel sprang auf Grün, und er konzentrierte sich wieder auf den Verkehr, während er weiterfuhr.

Ella war dankbar dafür. So bemerkte er nicht, dass sie die Handflächen gegeneinanderpresste. Ein paar dahergesagte Worte, und da war es wieder, dieses verdächtige Ziehen in der Brust.

»Ich bin nicht verheiratet.« Sie schaffte es, absolut gelassen zu klingen.

»Nicht?« Er bog in die Seitenstraße ein, an deren Ende die Mall lag. »Aber einen Freund werden Sie doch haben, oder?«

»Ich bin Ärztin, Mr. Havreux. Mein Beruf ist mir sehr wichtig. Die meisten Männer können das nicht akzeptieren.« Zumindest nicht für längere Zeit.

Erneut wanderte sein Blick zu ihr. Der Ausdruck in seinen Augen war nicht zu deuten. Dann schaute er wieder nach vorne.

»Das klingt einsam«, sagte er nach einer kleinen Pause. Ella biss sich auf die Lippe. War es auch. Doch noch ehe sie ihm eine weitere nichtssagende Standardantwort geben konnte, schüttelte er kaum merklich den Kopf. »Es tut mir leid, Dr. Thorens. Ihr Privatleben geht mich nichts an. Entschuldigen Sie meine Indiskretion.« Verblüfft starrte sie ihn an. Bisher hatte sie in solchen Momenten in der Regel ermüdende Diskussionen über Kinder und den – offensichtlich irgendwo im Universum gesetzmäßig festgeschriebenen – Wunsch jeder Frau nach einem Ehemann und Familie führen müssen.

Eine Antwort blieb ihr erspart, da er gerade auf den Parkplatz der Mall einbog und seine Aufmerksamkeit endgültig auf die anderen Wagen, plötzlich zwischen den geparkten Autos hervorrennende Kinder und sich angeregt unterhaltende Frauen mit Einkaufstüten auf den Armen richten musste.

Wie durch ein Wunder fand er einen Parkplatz ganz in der Nähe des Eingangs, doch im selben Moment, als sie den kleinen Lebensmittelladen im vorderen Teil des glasüberdachten Einkaufszentrums betrat, wurde ihr klar, dass es ein Fehler war, Christian Havreux hierher mitzunehmen. Man kannte sie hier und wusste, dass sie sich zugunsten ihres Berufes für ein – überwiegendes – Singledasein entschieden hatte. Und nun tauchte sie mit diesem verboten gutaussehenden Mann auf, der ihr, ohne zu fragen, den Einkaufskorb aus der Hand nahm und ihr wie ein Schatten durch die Regalreihen folgte. Sie wurde mit überraschten – und zum Teil neidischen – Blicken bedacht, während sie sich daran zu erinnern versuchte, was sie alles hatte einkaufen wollen. So wie Havreux den Inhalt des Korbes immer wieder musterte, musste ihre Auswahl ihm im besten Falle seltsam vorkommen.

Während sie bezahlten, starrte die Kassiererin Havreux mit unverhohlener Neugier an. Ella beeilte sich, ihre Kreditkarte einzustecken und den Laden so schnell wie möglich hinter sich zu lassen. Hier konnte sie sich in nächster Zeit nicht mehr blicken lassen.

Er trug ihr die beiden Einkaufstüten zum Auto, stellte sie auf den Rücksitz und öffnete ihr wie zuvor galant die Tür, ehe er selbst zur Fahrerseite wechselte. Ohne sie nach ihrer Adresse zu fragen, fuhr er los. Die erste Verblüffung machte einer unangenehmen Erkenntnis Platz. »Sie haben Erkundigungen über mich eingezogen?«

Er bedachte sie mit einem schnellen Lächeln. »Ich habe versucht, die Frau zu finden, die mir das Leben gerettet hat. – Ich hoffe, Sie nehmen mir das nicht übel?«, fügte er mit einem solchen Welpenblick hinzu, dass sie nur den Kopf schütteln konnte. Sein Lächeln vertiefte sich, und Ella glaubte für einen kurzen Moment, etwas darin zu entdecken, das verdammt nach selbstzufriedener, männlicher Arroganz aussah.

 

Als sie ihr kleines Haus in einem der Außenbezirke erreichten, wusste er, wie lange sie schon als Ärztin in der Notaufnahme arbeitete, wo sie studiert hatte, worüber sie ihre Doktorarbeit geschrieben hatte und dass sie mit Ärzte ohne Grenzen zwei Jahre in Südafrika gewesen war. Das Einzige, was sie über ihn herausgefunden hatte, war, dass er klassische Musik mochte – und selbst das nur, weil eine entsprechende CD in der Stereoanlage seines Mercedes gelaufen war und sie ihn darauf angesprochen hatte.

Er überließ ihr nur unter Protest die leichtere der beiden Papiertüten. Und das auch nur, weil sie darauf bestand, damit er ihr gleichzeitig mit ihren Einkäufen auch ihre Reisetasche hineintragen konnte und nicht zweimal gehen musste. Als sie die Haustür geöffnet hatte und Havreux ihr durch ihr Wohnzimmer zur Küche folgte, fragte sie sich unwillkürlich, wie wohl seine Wohnung eingerichtet war. Ein wenig unbehaglich registrierte sie, dass sein Blick ebenso aufmerksam über die dunklen Holzmasken glitt, die sie aus Afrika mitgebracht hatte und die zusammen mit Fotografien der wildschönen Savannen die Wände schmückten, wie über das halb in die Wand eingelassene Aquarium, in dem es nur noch Korallen gab. Drei hölzerne, bemalte Giraffen bewachten den Durchgang zur Küche, während auf einem Wandregal ein Rudel unterschiedlichster, grob geschnitzter Tiere stand. Die jungen Männer eines Dorfes hatten sie ihr geschenkt, als sie herausgefunden hatten, wie sehr sie die Tiere Afrikas liebte.

In der Küche lud sie ihre Tüte auf dem Tisch ab und nahm ihm die zweite aus dem Arm. »Stellen Sie die Tasche einfach auf den Boden, ja?«

Er tat es mit einem leichten Nicken und blieb dann einfach im Türrahmen stehen. In seinem eleganten Anzug wirkte er in ihrer kleinen Küche vollkommen fehl am Platz. Ella räusperte sich. »Vielen Dank für die Chauffeurdienste – auch wenn es …«

»Gehen Sie heute Abend mit mir essen, Dr. Thorens.«

»Was?« Unwillkürlich wich Ella zurück.

Hastig schüttelte er den Kopf.

»Verstehen Sie mich nicht falsch. Ich möchte mich nur bei Ihnen bedanken. Ein Abendessen. Mehr nicht.« Er machte einen Schritt auf sie zu und streckte die Hand aus. »Kein Date. Keine Verpflichtungen. Nur ein Abendessen. – Bitte!«

»Aber …«

Ehe sie noch weiter zurückweichen konnte, stand er direkt vor ihr. Sie musste zu ihm aufschauen. Die Farbe seiner Augen hatte sich in dunkles, uraltes Silber verwandelt. Das Andere regte sich in ihr. Sie hörte seine Stimme nur noch wie aus weiter Ferne.

»Bitte. – Um acht. – Ja?«

Ella ertappte sich dabei, wie sie nickte. In den Tiefen seiner Augen glitzerte es, während ein Lächeln sich über seine Lippen legte und er gleichzeitig zurücktrat. Benommen blinzelte sie.

»Danke! – Ich hole Sie ab.« Er war schon halb an der Tür. »Bis um acht.« Damit war er endgültig hinaus. Sie hörte die Haustür ins Schloss fallen.

Noch immer wie betäubt sank Ella auf den nächsten Stuhl. Was war da eben passiert? Hatte sie tatsächlich zugestimmt, heute Abend mit Christian Havreux auszugehen? Er war einer der reichsten Männer der Stadt. Und sie hatte keine Ahnung, wohin es gehen würde.

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6

Vor dem Haupteingang des Havreux Tower stieg Kristen aus dem Mercedes und warf die Schlüssel einem jungen Mann zu, der dienstbeflissen auf ihn zueilte. Mit langen Schritten überquerte er den halbrunden, kleinen Platz vor der flachen Treppe, in dessen Zentrum ein sichelförmiger Springbrunnen glitzernde Wasserfontänen in den Himmel spuckte.

Obwohl die Glasfront des Gebäudes die schon tiefstehende Sonne wie ein übergroßer Diamant spiegelte, lag alles in einem Radius von mehreren Metern um das Bauwerk herum in grauen Schatten. Ein Phänomen, das es nicht nur an diesem Ort gab – auch wenn es hier mit am ausgeprägtesten war. Hätte ein Wissenschaftler versuchen wollen, es zu erklären, er wäre gescheitert.

Kaum trat er in die Schatten, kühlte die Luft um ihn schlagartig um mehrere Grad ab.

Er ging zwischen den beiden mächtigen Sphinxen hindurch, die die Stufen auf zwei massiven Steinblöcken flankierten. Ihre mörderischen Klauen hatten tiefe Scharten in den grauen Basalt gerissen. Eine der beiden wandte den Kopf und sah ihn an, die gewaltigen Schwingen halb ausgebreitet, bereit, sich mit einem einzigen Schlag in den Himmel zu erheben – was sie, wie sie beide wussten, vermutlich nie wieder tun würde. Auch die zweite blickte jetzt zu ihm herüber. Kristen nickte den beiden zu, eine wortlose Geste des Respekts. Von den Menschen um ihn herum bemerkte es keiner – ebenso wenig, wie sie gesehen hatten, dass die beiden Wächter des Havreux Tower gar nicht aus totem, reglosem Stein bestanden. Oder dass sich die Beine des jungen Mannes, der eben mit Kristens Mercedes zur Tiefgarage raste, in die falsche Richtung gebeugt hatten. Für die Bewohner L.A.s war der riesige Büroturm schlicht perfekte Architektur aus Beton, Stahl und Glas, mit einer atemberaubenden Eingangshalle, die sich über drei Stockwerke erhob. Er passierte die gläserne Drehtür und wandte sich nach links, dorthin, wo jemand ohne die Gabe nur eine massive Wand sah, die mit dem verschlungenen Emblem von Havreux Enterprises geschmückt war, und schritt auf die ausladende Freitreppe aus schwarzem Marmor zu, die in jene anderen Tiefen des Gebäudes führte. Im selben Moment, in dem er endgültig in die Schatten eintauchte und die Stufen hinaufzusteigen begann, trug er nicht länger den maßgeschneiderten grauen Anzug, sondern schwarze, eng anliegende, weiche Lederhosen, die nichts mehr verbargen. Das locker geschnittene Hemd aus schwarzer Seide, dessen Ärmel sich um seine Arme bauschten, stand über seiner Brust bis zur Mitte offen. Genau die Art Kleidung, in der sie ihn stets sehen wollte. Kitsch ließ grüßen.

Auf der Hälfte der Treppe kam ihm Marish entgegen. Sie vertrat ihm den Weg und warf ihre silberblonde Mähne über ihre Schulter zurück.

»Da bist du ja, Kristen. Du kommst spät«, tadelte sie ihn und schob gleichzeitig ihre Hand unter sein Hemd. Er spannte sich an, als sie mit ihren langen Nägeln über seine Brust strich, abwärts.

»Nimm die Hände weg, Marish.« Grob hielt er ihre Finger auf, ehe sie noch tiefer gelangen konnte, und stieß sie zurück. Wie hatte er damals nur so blind sein können.

Ihre grünen Augen verengten sich zu Schlitzen, während sie sich ein Stück weiter aufrichtete. – Wenigstens musste sie immer noch zu ihm aufsehen. »Sie hat mir gesagt, dass ich dich heute Nacht haben kann. Und wenn mir der Sinn danach steht, kann ich dich zum Schreien bringen.«

Er bedachte sie mit einem dünnen, spöttischen Lächeln und hob eine Braue. »Ach? Tatsächlich?« Verdammt! Er brauchte diese Nacht für die kleine Ärztin.

»Ja, tatsächlich. Du solltest also vorsichtig sein.«

»Sollte ich das?« Verächtlich ließ er den Blick über ihren zierlichen Körper gleiten. Dann trat er so dicht vor sie, dass ein tieferer Atemzug genügt hätte, damit seine Brust ihre berührte. Ein Hauch seiner Magie glitt unter ihre Kleider, strich über ihren Bauch und zwischen ihre Beine. Marish schnappte nach Luft. Er verstärkte den Druck ein wenig, und sie stieß ein kehliges Seufzen aus. »Bist du sicher, dass sie meine Leine nicht vielleicht locker genug lässt, damit ich dich zum Schreien bringen kann, Marish – und das aus ganz anderen Gründen?«, raunte er so dicht an ihrem Ohr, dass sie seinen Atem spüren konnte.

»Du … du wagst es, mir zu drohen …« Die Worte kamen als Japsen über ihre Lippen, gefolgt von einem weiteren Stöhnen – das zu einem frustrierten Schrei wurde, als er sich abrupt zurückzog.

Erneut glitt sein Blick verächtlich über ihren Körper. Er lächelte auf jene träge, arrogante Art, die kein anderer außer ihm zu zeigen wagte.

»Du langweilst mich, Marish.«

»Mistkerl!« Sie wollte ihm ins Gesicht schlagen.

Er fing ihre Hand ab und hielt sie fest.

»Für dich doch immer, Liebling.« Sein Lächeln wurde kalt und grausam, während seine Magie durch seinen Griff floss. Marish stieß ein Keuchen aus und versuchte sich loszureißen. Der Bannfluch regte sich auf seinem Körper, grub reißend die Krallen in ihn. Nicht genug! Bei weitem nicht genug, um ihn in die Knie zu zwingen. Kristen wappnete sich, um dem Schmerz zu begegnen, und verstärkte seinen Griff ein wenig mehr. Marish wimmerte mit weit aufgerissenen Augen. Unvermittelt gab er sie frei. Sie taumelte zurück, ihr verbranntes Handgelenk in der anderen Hand geborgen, verfehlte eine Treppenstufe und stürzte.

»Das wirst du mir büßen! Ich werde sie darum bitten, dass sie dich zum Betteln bringt.« Die Worte waren eine Mischung aus Schluchzen und Fauchen.

Er lachte leise, während der Bannfluch die Krallen aus ihm nahm und wieder zur Ruhe kam. »Tu das, Marish. – Aber vergiss nicht, auch dafür zu sorgen, dass sie mich danach nie wieder in dein Bett schickt.« Ohne ihr noch einen Blick zu gönnen, wandte er sich ab und stieg weiter die Stufen hinauf.

Im vierten Stock schob er das doppelflügelige Portal auf, das am Ende des Korridors aufragte, und betrat den Raum dahinter. – Nicht, dass er sich die Mühe gemacht hätte anzuklopfen. Oder auf ein »Herein!« zu warten.

»Unverschämt wie immer, Kristen«, begrüßte ihn die nur zu vertraute Stimme Lyreshas von dem kleinen Erker aus, der für die Menschen unsichtbar auf den privaten Park blickte, der sich direkt hinter das Gebäude von Havreux Enterprises anschloss. Sie saß vor ihrem mannshohen Spiegel und sah ihm in dem schillernden Glas entgegen. »Verschwinde!« Mit einer unwilligen Geste verscheuchte sie den jungen Burschen, der zu ihren Füßen kauerte. Die bernsteingelben Augen weit aufgerissen, flüchtete er an Kristen vorbei aus dem Raum. Sie hatte also wieder Geschmack an Gestaltwandlern gefunden.

»Du wolltest mich sehen?« Er hatte ihren Ruf durch den Bannfluch gespürt, als er die kleine Ärztin nach Hause gefahren hatte.

»Komm her! Und schenk mir ein Glas Wein ein!« Ihre Aufmerksamkeit richtete sie auf etwas, das sie in dem Spiegel sah.

»Wie meine Herrin befiehlt!« Mit einem sardonischen Lächeln deutete er eine spöttische Verbeugung an, ging hinüber zu ihrem Schreibtisch und füllte einen der schweren Kristallkelche mit dem Gebräu, das sie als ›Wein‹ bezeichnete. – Allerdings war Wein in dieser fahlen Flüssigkeit nur eine Ingredienz von vielen.

Mit der Hand fuhr sie über den Spiegel, ließ den Zauber erlöschen, mit dem sie was auch immer in seinem Inneren beobachtet hatte, und wandte sich zu ihm um.

»So fügsam? Hast du etwas getan, das mir missfallen wird?«, erkundigte sie sich lauernd.

Er zuckte nonchalant die Schultern, während er den Raum durchquerte, und reichte ihr den Kelch. »Nicht, dass es mir bewusst wäre.« Aber er brauchte von nun an jede Sekunde, die sie ihn in die normale Welt entließ, für seine eigenen Pläne. Also würde er bis auf weiteres ein fügsamer Sklave sein. So fügsam, wie es ihm eben möglich war, ohne dass sie Verdacht schöpfte. Denn dass er es nach all der Zeit ausgerechnet jetzt aufgegeben hatte, gegen sie zu kämpfen, würde sie niemals glauben.

»Und warum hast du gerade den Bannfluch geweckt? Ich hatte dir nicht erlaubt, Magie über den ersten Grad zu rufen.« Ihre erhobene Hand und ihr amüsiertes Lachen verhinderten, dass er antwortete. »Lass mich raten: Marish hat dir gesagt, dass du heute Nacht ihr gehörst.« Ihr Blick wurde kalt. Unvermittelt grub der Bannfluch seine Krallen in seine Männlichkeit. Kristen stieß mit einem Zischen die Luft aus und machte unwillkürlich einen Schritt zurück. Um ein Haar hätte ihn der jähe Schmerz auf die Knie gezwungen. Die Krallen zogen sich so plötzlich zurück, wie sie zugeschlagen hatten. Doch erst nach einer weiteren Sekunde, in der der Schmerz erloschen war, wagte er es, sich ein Stück zu entspannen.

»Dein Stolz ist immer wieder höchst unterhaltsam, Kristen.« Sie musterte ihn einen Moment lang amüsiert, dann erhob sie sich und schritt an ihm vorbei zu ihrem Schreibtisch. »Du wirst heute Nacht zu Marish gehen. Wenn ich sie morgen nach deinem Betragen frage, will ich hören, dass du ein braves Spielzeug warst. Ansonsten weißt du, was geschieht.« Über die Schulter warf sie ihm einen kühlen Blick zu. »Wir haben uns verstanden?« Der Bannfluch bewegte sich rastlos auf seiner Haut.

Ganz langsam neigte Kristen den Kopf. »Wie meine Herrin befiehlt!« Er hatte drei Stunden Zeit, sich etwas einfallen zu lassen, damit er um acht Uhr bei der Ärztin sein konnte.

Lyresha stellte den Kelch auf ihren Elfenbeinschreibtisch und ließ sich dahinter in ihrem Sessel nieder. »Was hast du mir von meinen anderen Geschäften zu berichten?«

»Die Aktien von Havreux Enterprises sind gestern um fast fünf Punkte gestiegen.«

Sie schnaubte abfällig.

Kristen gab vor, es nicht gehört zu haben, und sprach weiter. »Ich habe vielleicht jemanden gefunden, der dir das Artefakt beschaffen kann, hinter dem du seit einem halben Jahr her bist. Nach dem, was ich gehört habe, ist er gut, aber er verkauft grundsätzlich nur an den Meistbietenden und …«

»Bis zum nächsten Vollmond habe ich die Grabplatte, Kristen. Ich dulde keine weiteren Ausflüchte. – Sag mir lieber, welche Erfolge du mit diesen Hexern vorzuweisen hast, die mir in letzter Zeit solche Schwierigkeiten machen.«

Er folgte ihr durch den Raum, blieb aber hinter dem Stuhl vor ihrem Schreibtisch stehen und stützte die Unterarme auf die hohe Lehne.

»Keine.«

»Wie war das?«

»Jeder Einzelne von ihnen ist mächtig, Lyresha, und wenn sie zusammenarbeiten, kann ich noch weniger gegen sie ausrichten. – Es sei denn, du lässt mir mehr von meiner Macht, um …«

Eine scharfe Geste schnitt ihm das Wort ab. Sie beugte sich vor. Ihr Gewand klaffte auseinander und offenbarte weit mehr, als er sehen wollte. »Für wie dumm hältst du mich, Kristen? Ich habe in all der Zeit nicht vergessen, wozu du fähig bist. Ich werde den Bannfluch nicht schwächen, indem ich ihn verändere, und riskieren, dass es dir vielleicht doch gelingen könnte, dich zu befreien.«

Kristen versuchte gar nicht, die Schärfe aus seiner Stimme herauszuhalten. »Dann wäre es vielleicht sinnvoller, wenn du Aaron damit beauftr-«

Ihre Hand wischte ärgerlich durch die Luft. »Du wirst mir diese Hexer vom Hals schaffen. Wie, ist mir egal. Lass dir etwas einfallen. – Und jetzt geh! Marish erwartet dich!«

Für eine Sekunde maßen sie einander über den Schreibtisch hinweg mit Blicken, dann machte Kristen wortlos kehrt und ging zur Tür. Er hatte sie noch nicht erreicht, als sie aufgestoßen wurde und zwei massige Wandler im Rahmen erschienen. Abrupt blieb er stehen und drehte sich um. Lyresha lächelte ihn an.

»Bringt Meister Kristen zu Marish«, befahl sie ihnen in spöttischem Ton.

Kristen biss die Zähne zusammen und schritt zwischen den beiden hindurch. 800 Jahre waren genug!

Mehr als genug!

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7

Sie war underdressed. Anders ließ es sich nicht ausdrücken.

Sosehr sie sich auch bemühte, den Blick stur auf den Rücken des MaÎtre d’ gerichtet zu halten: die eleganten Kleider und der teure Schmuck an den Tischen um sie herum entgingen ihr trotzdem nicht. Und dazu sie, mit ihrem hellgrauen Hosenanzug und der Bluse … Natürlich gab es in ihrem Kleiderschrank das ein oder andere Cocktail- und Abendkleid. Aber keines davon hätte die Narben an ihrer Schulter oder ihrem Arm verdecken können, wo Dr. Jacobs, Cindy und Marc ihre zertrümmerten Knochen mühsam wieder zusammengesetzt hatten. Zumindest hatte sie die kleinen Perlenohrringe angelegt, die sie sich selbst zur bestandenen Doktorarbeit geschenkt hatte.

»Alles in Ordnung?«, fragte Christian Havreux halblaut über ihre Schulter. Er passte in seinem maßgeschneiderten, dunkelgrauen Anzug natürlich perfekt zu den übrigen Gästen des Chez Frédéric.

Ella nickte. Die Bewegung wirkte selbst auf sie gezwungen. Und abgehackt. »Ja. Natürlich.« Sie sah kurz zu ihm zurück, versuchte ein Lächeln.

Eine feine Linie grub sich zwischen seine Brauen. »Sicher? Wir können auch woandershin gehen …«

»Nein. Schon okay.« Es war abzusehen gewesen, dass er mit ihr nicht zu irgendeinem kleinen, gemütlichen Italiener um die Ecke gehen würde. Sie hatte sich auf diese Sache eingelassen, jetzt würde sie sie auch zu Ende bringen. Ein Abendessen mit ihm. Mehr nicht. Kein Date. Danach würde er wieder aus ihrem Leben verschwinden. Auch wenn immer wieder ein Gedanke durch ihren Kopf spukte: Wusste er, was in der Gasse tatsächlich geschehen war? Konnte er ihr die Frage beantworten, warum sie die Narben trug, die eigentlich er haben müsste? Oder würde er sie für verrückt halten, wenn sie ihn darauf ansprach? Nun, genau genommen hielt sie sich ja selbst für verrückt. So etwas war einfach unmöglich. – Und doch war es passiert.

»Ich möchte, dass Sie sich wohl fühlen, Dr. Thorens. Sie müssen mir nur sagen, was ich dafür tun kann. Wenn das bedeutet, dass wir wieder gehen, dann werden wir das. Claude wird es überleben.« Seine Stimme hatte etwas von Seide und Samt auf der Haut. War er eigentlich verheiratet? Nicht, soweit sie wusste. Allerdings war über sein Privatleben auch nicht wirklich viel bekannt. Hatte er überhaupt eines? Zumindest genug, um sich solche Feinde zu machen, dass man ihn in dunklen Gassen zusammenschlug. Oder war er nur versehentlich an eine Gang geraten? Aber wären die Mitglieder einer Gang vor einer schreienden, nur mit einem Eisenrohr bewaffneten Frau davongerannt? Wohl kaum. Oder? – Nein! Sie würde sich darüber nicht den Kopf zerbrechen. Jetzt nicht und auch zu keinem späteren Zeitpunkt.

Ihr Leben hatte bis zu jenem Abend einen Sinn gemacht. Aber jetzt? Gab es verdammt viele Scherben in ihrem Gehirn. Und Dinge, die absolut keinen Sinn mehr ergaben.

»Dr. Thorens?«

»Hm?«

»Sagen Sie mir, was Sie möchten. Sollen wir wieder gehen?«

Um ein Haar hätte sie ›Ja‹ gesagt, hätte Claude nicht in genau diesem Moment einen Schritt zur Seite gemacht und »Ihr üblicher Tisch, Monsieur Havreux« verkündet. Elegant zog er einen Stuhl von einem Tisch direkt bei den Fenstern zurück. Einem Tisch, der obendrein ein wenig abseits von den anderen stand. Doch er runzelte die Stirn, als Ella wohl eine Sekunde zu lang zögerte. »Oder wäre Ihnen der Tisch auf der Dachterrasse angenehmer?« Fast hätte sie sich verschluckt. Man bekam hier keinen Tisch, ohne Tage, vielleicht sogar Wochen vorher reserviert zu haben, und Christian Havreux hatte hier nicht nur einen ›üblichen‹ Tisch, er hatte sogar noch die Wahl zwischen einem hier drinnen und einem draußen auf der Dachterrasse. Claude räusperte sich. »Ich war der Meinung, die Dame würde …«

»Dr. Thorens? Was meinen Sie?« Havreux war an ihr vorbeigetreten.

»Nein. Hier ist vollkommen in Ordnung …«

»Sie hören es, Claude.« Er nickte dem MaÎtre d’ zu.

Der verneigte sich und zog den Stuhl ein Stückchen weiter zurück. »Sehr wohl, Monsieur Havreux. – Madame?«

»Danke sehr.« Ella rang sich ein weiteres Lächeln ab und setzte sich. Die anderen Gäste warfen ihnen bereits unverhohlen Blicke zu. Fehlte nur noch ein Paparazzo mit seiner Kamera. Sie konnte sich die Schlagzeile beinah vorstellen:

Christian Havreux in unbekannter weiblicher Begleitung im Chez Frédéric gesehen

Das erste Bild von ihm, das seinen Weg in die Medien fand. Und das mit ihr.

Havreux hatte sich ihr gegenübergesetzt, beugte sich jetzt vor und streckte die Hand nach Ella aus, vorbei an der schlanken Tafelkerze und dem eleganten Arrangement aus offenbar echten Blumen in der Mitte. Nur um dann ein paar Zentimeter vor ihrer innezuhalten und sie auf das blendend weiße Tischtuch sinken zu lassen. Sie war erstaunlich blass.

»Dr. Thorens, bitte. Ich will nicht, dass Sie dies hier als einen … Pflichttermin empfinden. Ich sage es noch einmal: Wenn Sie gehen wollen, können wir das jederzeit tun.«

»Nein. Wirklich. Es ist in Ordnung. Ein Pflichttermin sieht für mich anders aus. Ehrlich.«

»Gut.« Er zog die Hand zurück, richtete sich wieder auf. »Dann lassen Sie uns diesen Abend genießen. – Claude.« Mit einem kurzen Blick über die Schulter nickte er dem MaÎtre d’ zu, der sich diskret einen Schritt zurückgezogen hatte und nun wieder herantrat.

»Monsieur Havreux?«

»Was hat die Küche heute zu bieten, Claude?«

»Wenn Sie erlauben, Monsieur, heute Abend kann ich Ihnen und Madame als Auftakt eine Erbsensuppe mit Parmesan-Croutons empfehlen. Außerdem hätte die Küche Ziegenkäse mit Orangenhonig und Pfefferpfirsichen zu bieten. Oder würden Sie Gänseleberpastete an sauren Kirschen, mit kandierten Pistazien und Gelee von weißem Portwein bevorzugen? Danach eventuell Hähnchenbrust in Parmesankruste mit Basilikum-Limonen-Butterschaum an Artischockenherzen? Oder einen wunderbaren Arktischen Saibling auf Burgundertrüffel-Crumble? Außerdem hätten wir heute Abend ein exquisites Lammkarree auf Zitronen-Chili-Spiegel mit Sojabohnenpüree. Oder lieber gedünsteten Hummer auf Salbeibutter? Als Desserts hätten wir Zitronengras-Soufflé mit gesalzenem Karamell und kandierten Mandelsplittern auf Grapefruitspiegel. Des weiteren hätten wir da ein traumhaftes Blutorangen-Sorbet an Bitterschokolade-Macarons. Oder vielleicht ziehen Sie weiße Mousse au chocolat auf Himbeer-Coulis vor?« Claude blickte von Ella zu Havreux. Der sah ebenfalls zu ihr, hob fragend eine Braue. »Gibt es etwas, das Sie nicht essen, Dr. Thorens?«

»Abgesehen von Insekten und Maden? – Sagen wir so: Solange es nichts mit Muscheln, Schnecken, Tintenfisch oder Fröschen zu tun hat, bin ich in dieser Beziehung eigentlich recht pflegeleicht.«

Für den Bruchteil einer Sekunde entgleiste Claudes höflich-zuvorkommende Miene. Um Havreux’ Mundwinkel zuckte es. »Tatsächlich?« Er räusperte sich. »Vertrauen Sie mir?«

Ella schaute zwischen den beiden Männern hin und her. Schließlich nickte sie.

»Sie werden es nicht bereuen.« Havreux lächelte ihr zu. »In Ordnung, Claude, dann nehmen wir als Erstes den Ziegenkäse mit Orangenhonig und den Pfefferpfirsichen. Ich denke, wir machen weiter mit dem Lammkarree und nehmen anschließend den Hummer … Und das Dessert … Ich würde ja das Blutorangen-Sorbet mit den Macarons vorschlagen, aber vielleicht warten wir mit dieser Entscheidung noch … – Trinken Sie Wein, Dr. Thorens?«

»Nein.«

»Dann für mich auch nur Wasser.«

»Sie müssen nicht …« Ellas Protest wurde überhört. Sie drückte die Hand flach auf den Tisch, um ihren Ärger zu beherrschen. Ihren vorletzten Freund hatte sie in die Wüste geschickt, weil auch er irgendwelchen Einwänden ihrerseits nie Beachtung geschenkt hatte. Ein Abendessen, und Havreux würde wieder aus ihrem Leben verschwinden!

»Mit oder ohne Kohlensäure?« Claudes Miene war wieder undeutbar.

Mit einem Blick gab Havreux Claudes Frage an Ella weiter.

»Ohne, bitte.« Sie bemühte sich um einen leichten Ton.

Der MaÎtre d’ nickte. »Zitrone?«

»Ja. Gern.«

»Sehr wohl, Madame. – Monsieur Havreux?«

»Keine Zitrone für mich. Und ohne Kohlensäure.«

»Sehr wohl.« Claude verneigte sich erneut. »Pierre wird Ihnen sofort die Getränke bringen. Und zögern Sie bitte nicht, nach mir zu rufen, sollten Sie noch irgendeinen Wunsch haben.«

»Danke, Claude.«

Eine weitere kleine Verbeugung, und der MaÎtre d’ zog sich zurück.

Wieder mit Havreux allein, kam das Unbehagen zurück. Unauffällig ließ sie den Blick durch den Raum gleiten. Eleganz und Luxus pur und absolut nicht ihre Welt. Obwohl sie beileibe nicht schlecht verdiente, wäre es ihr nicht einmal in ihren kühnsten Träumen eingefallen, hier essen zu gehen. – Die Aussicht auf das nächtliche Los Angeles jenseits der Fenster war allerdings atemberaubend.

Christian Havreux hatte sich auf seinem Stuhl lässig zurückgelehnt, beobachtete sie schweigend. Und hob fragend eine Braue, als sie wieder zu ihm hinsah.

»Kommen Sie oft hierher?« Sie nahm die Hände beiseite, damit der herbeigeeilte Kellner das Glas vor ihr abstellen und ihr eingießen konnte. »Danke.« Ihr Lächeln wurde mit einer angedeuteten Verbeugung beantwortet, bevor er um den Tisch herumging und auch Havreux sein Wasser brachte.

»Von Zeit zu Zeit. Wenn ich mal wieder gut französisch essen will.« Er bedankte sich mit einem kurzen Nicken bei dem jungen Mann, griff nach seinem Glas und prostete ihr zu. »Allerdings bisher noch nie in Begleitung. Und schon gar nicht in weiblicher.«

Ella hatte ebenfalls ihr Glas gehoben. Und verschluckte sich jetzt bei seinen Worten fast an ihrem Wasser. Beinah panisch sah sie sich um. Suchte nach Fotografen. Havreux lachte. »Fürchten Sie eine Schlagzeile, Dr. Thorens?«

»Eine ehrliche Antwort?«

»Ich bitte darum!« Verschwörerisch beugte er sich vor.

»Ja.«

»Keine Sorge. Diskretion wird hier großgeschrieben. Wer versucht, im Chez Frédéric auf Skandaljagd zu gehen, bekommt ernsthafte Probleme. Nicht umsonst gehören einige mehr als hochkarätige Anwälte zu den Stammgästen.«

»Ich bin nicht sicher, ob mich das wirklich beruhigt.« Vorsichtig stellte sie ihr Glas auf den Tisch zurück.

»Nicht? – Würde es Sie beruhigen, wenn ich Ihnen sage, dass Paparazzi hier von Claude persönlich geteert und gefedert und anschließend von der Dachterrasse geworfen werden? Ohne Fallschirm. – Wohlgemerkt: Wir sind im 20. Stock.« Er klang so todernst, dass Ella ihm möglicherweise sogar bei jeder anderen Gelegenheit geglaubt hätte. So absurd es auch war. Sein kurzes, schnelles Lächeln, das nur einen Mundwinkel hob, ließ sie ihr eigenes hinter der Hand verbergen.

»Und was geschieht mit Gästen, die die Rechnung nicht zahlen können?«

Er schob sein Glas beiseite, sah sich verstohlen um und beugte sich dann noch weiter zu ihr. »Kennen Sie Shakespeares Der Kaufmann von Venedig?«

»Natürlich kenne ich …« Ella riss in gespieltem Entsetzen die Augen auf, als ihr klar wurde, was er meinte. »Nein«, hauchte sie scheinbar fassungslos.

»Aber ja.« Havreux nickte nachdrücklich.

Sie lehnte sich ihrerseits vor. »Dann hoffe ich, dass Ihre Kreditkarte gedeckt ist.«

»Absolut. Kein Limit. – Weibliche Schuldner werden übrigens nur am Stück verkauft. An den Meistbietenden. Auktion jeden Mittwoch und Samstag.« Er senkte die Stimme ein bisschen mehr. »Sie glauben gar nicht, wie viele der anwesenden Herren auf diese Weise schon ihre Ehefrauen gefunden haben. – Und vor allem: wieder losgeworden sind.«

Diesmal konnte Ella sich das Lachen nicht mehr verbeißen. Von neuem wurden ihnen von den Nachbartischen Blicke zugeworfen. Die Heiterkeit blieb ihr im Hals stecken, als sie einem davon begegnete.

»Dr. Thorens?«

Sie starrte die Frau noch an, als die sich schon wieder abgewandt hatte.

»Dr. Thorens? – Ella?« Nur langsam drang Christian Havreux’ Stimme in ihr Bewusstsein.

»W-was?« Selbst jetzt fiel es ihr schwer, die Augen von der Frau zu lösen und zu Havreux hinzusehen. Für einen Moment hatte sie gedacht … gehofft … Nein.

»Das wollte ich Sie gerade fragen. Sie sind weiß wie das Tischtuch. Was ist passiert?« Seine Brauen waren zusammengezogen.

»N-nichts.« Ein weiteres Mal sah sie zu der Frau hinüber. Diesmal folgte er ihrem Blick. Nein. Sie hatte sich geirrt.

»So sehen Sie aber nicht aus.« Er hatte sich erneut vorgebeugt, seine Aufmerksamkeit wieder ihr zugewandt. Streckte abermals die Hand nach ihrer aus. Und ließ sie wie zuvor auf den Tisch sinken, ehe er ihre berührt hätte. »Genau genommen hätte man glauben können, Sie wären einem Geist begegnet. – Sagen Sie mir, was los ist.«

Ella schaute auf seine Hand. Da war ein Unterton in seiner Stimme …

»Meine Mutter … ich dachte, diese Frau … sie sah ihr ähnlich …«

Die kleine Falte zwischen seinen Brauen vertiefte sich. »Sie sind auf der Suche nach Ihrer Mutter?«

»Ja. Nein. – Nicht mehr.«

Einen Moment blickte er auf ihre Hände, dann legte er seine über ihre. Sie war eiskalt.

»Erzählen Sie mir, was passiert ist?« Seine Worte klangen wie eine Frage. Und fühlten sich nicht so an.

»Sie verschwand, als ich vier war. Ich kann mich nicht mehr wirklich an sie erinnern …«

»Sie erinnern sich offenbar genug, um sie zu vermissen. – Was ist damals geschehen?«

»Ich … weiß es nicht.« Ella schaute erneut auf ihre Hände. »Am Abend hat sie mich zu Bett gebracht und mir aus meiner Lieblingsgeschichte vorgelesen.« Seine schien beinah … durchsichtig zu sein. Er zog sie zurück. »Und am nächsten Morgen war sie fort.« Sie hob den Blick, begegnete seinem. Kühl und dunkel. »Es gab keinen Streit zwischen meinen Eltern. Sie war nur einfach nicht mehr da. Mein Vater …« Sie schüttelte den Kopf. Schluckte. Selbst nach all den Jahren drohte ihre Stimme zu versagen. Ihre Welt war damals mit einem Schlag zerbrochen. Nicht nur, weil ihre Mutter plötzlich spurlos verschwunden war, sondern auch, weil ihr Vater von einem Tag zum nächsten ein anderer Mensch gewesen war. Aus einem Zuhause voller Liebe und Harmonie war ein kalter, dunkler Ort geworden, an dem es kein Lachen mehr gab. Und aus ihrem sanften, liebevollen Vater ein bitterer, hartherziger Mann.

›Deine Mutter war eine Hure und eine Hexe!‹ Wie oft hatte sie diese Worte von ihm zu hören bekommen, jedes Mal, wenn sie es in der darauffolgenden Zeit gewagt hatte, entgegen seinem ausdrücklichen Verbot nach ihr zu fragen. Selbst von ihr zu sprechen hatte er ihr verboten. Ohne dass sie den Grund dafür verstanden hatte. Bis heute nicht. »… er war mit einem Mal ein … anderer. Fast wie ein Fremder.«

»Das tut mir leid.« Havreux’ Blick forschte in ihrem. »Sie haben sie gesucht?«

»Ja. Hinter dem Rücken meines Vaters. Sobald ich auch nur irgendwie in der Lage war, Geld zu verdienen, um die Suche zu finanzieren. Ich war vierzehn, als ich den ersten Privatdetektiv engagiert habe. Seitdem habe ich immer wieder versucht, sie zu finden. Jedes Mal ohne Erfolg.« Ella wich seinen Augen aus. »Sie muss … tot sein. – Ich versuche, es zu akzeptieren.« Plötzlich brauchte sie etwas, an dem sie sich festhalten konnte, und legte die Hände um ihr Glas. »Aber trotzdem … ertappe ich mich ständig dabei, dass ich auf der Straße nach ihr Ausschau halte. Oder unter meinen Patienten im Krankenhaus. Manchmal glaube ich, sie inmitten von wildfremden Menschen zu erkennen, so wie gerade …« Sie schüttelte erneut leicht den Kopf, schaute ihn wieder an. »Warum erzähle ich Ihnen das eigentlich?«

Er hob die Schultern. »Weil ich Ihnen zuhöre?«

Mit einem bitteren kleinen Lachen strich sie mit dem Daumen durch die Kondenswasserperlen an ihrem Glas. »Vermutlich halten Sie mich jetzt für rührselig und sentimental.«

»Nein. Warum sollte ich?« Ohne sie aus den Augen zu lassen, lehnte er sich ein bisschen weiter auf seinem Stuhl zurück.

»Weil ich …« Sie löste die Hand für einen Moment in einer wegwerfenden Geste von ihrem Glas. Und legte sie sofort wieder darum. »Vergessen Sie’s. – Was ist mit Ihnen? Ihrer Familie? Haben Sie Geschwister?«