Seelenkuss - Lynn Raven - E-Book

Seelenkuss E-Book

Lynn Raven

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Beschreibung

Eiskalte Herzen, schutzlose Seelen

Prinzessin Darejan erkennt ihre Schwester nicht wieder. Die mitfühlende Königin Seloran scheint plötzlich eiskalt geworden zu sein, und den rätselhaften Gefangenen, den sie in ihrem tiefsten Kerker versteckt, behandelt sie ungewöhnlich grausam. Angeblich sei er ein Spion der Nordreiche. Doch dann entdeckt Darejan eine schreckliche Wahrheit: Der finstere Magier Ahoren hat Besitz von Königin Selorans Körper ergriffen und baut eine Armee von Schattenkriegern auf, um das Königreich zu unterwerfen. Und plötzlich ist Darejan selbst auf der Flucht, zusammen mit dem angeblichen Spion. Er gehört dem Geheimorden der DúnAnór an, die als Einzige in der Lage sind, Ahoren zu bannen. Doch der Gefangene hat sein Gedächtnis verloren. Und zudem scheint er Darejan zu hassen. Das ungleiche Paar begibt sich auf eine Suche voller tödlicher Gefahren ...

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Seitenzahl: 799

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Lynn Raven

Seelenkuss

cbt ist der Jugendbuchverlag

in der Verlagsgruppe Random House

Gesetzt nach den Regeln der Rechtschreibreform

1. Auflage 2013

© 2013 cbt Verlag, München

Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Katja Theiß

Umschlaggestaltung: Zeichenpool, München

unter Verwendung von Motiven von © Zhang Jingna

SK · Herstellung: kw

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN: 978-3-641-12969-9

Pwww.cbt-jugendbuch.de

Als sich die Pforten des Schleiers unter dem ersten Seelenmond öffneten, überzog Ahoren Nesáeen die Welt mit seinen Schattenlegionen und ertränkte die Erde in Blut und Kälte.

»Aus den Annalen der Seelenkriege«

1

Vergiss ihn!

Ihre Hände versanken in weichem Gefieder, die mächtigen Schwingen trugen sie höher und höher, ihr Jauchzen mischte sich mit einem Schrei, der an den eines Adlers erinnerte. Sie lehnte sich weiter vor, duckte sich in den Schutz des eleganten Halses, um dem kalten Wind zu entgehen, der ihr die Tränen in die Augen trieb und ihr atemloses Jubeln davonwehte. Weit unter ihr glitzerte das tiefblaue Band des Flusses. Ein Rudel Hirsche floh in den Schatten des Waldes, die Sonne ließ die Mauern von Kahel glänzen, dann legte sich das herrliche Geschöpf, auf dessen Rücken sie saß, in einen weiten Bogen und kehrte zur Erde zurück. Hände streckten sich ihr entgegen, stellten sie wieder auf den Boden, ein zärtlicher Kuss beendete ihr begeistertes Geplapper, warm und tief– bis er zu Frost wurde und Schmerz. Ihr Lachen erstarb. Eis kroch in ihr Blut, ließ es gefrieren. Fahler Nebel verschlang die Lichtung um sie her, die Sonne erlosch. Vergiss ihn! Schreie gellten; dumpf, wie hinter unzähligen Mauern. Sie wollte sich losreißen von dem Schatten, der bis eben noch ein Mann gewesen war. Er hielt sie fest, zwang sie ins Gras, das zu den seidenen Laken ihres Bettes wurde. Vergiss ihn!

Mit einem hilflosen Wimmern krallte sie die Finger in die weiche Decke, versuchte der Kälte zu entgehen, die mit dem leisen Wispern gekommen war– und konnte sich doch nicht bewegen. Vergiss ihn! Die Worte sickerten in ihren Verstand wie finsteres Gift. Der Schatten neigte sich tiefer über sie, Berührungen aus Eis glitten über ihre Haut. Sie versuchte, sie abzuschütteln, sich gegen die kalten Liebkosungen zu wehren. Aufwachen! Aufwachen aus dem Traum, der keiner war. Bald, meine Liebste! Das Gefäß ist fast bereit. Dann bin ich nicht mehr länger schwach. Das raue Flüstern fesselte ihren Geist. Vergiss ihn! Lippen aus Dunkelheit strichen über ihre, hinterließen eine Spur aus geronnenem Reif bis zu ihrer Schläfe. Gedulde dich bis zum nächsten Seelenmond. Dann gehörst du mir! Du wirst zurückkehren. Und noch immer glaubte sie jenseits der Stimme, wie aus weiter Ferne, jene gellenden Schreie zu hören.

Mit einem Keuchen fuhr sie aus dem Schlaf auf. Neben ihr rührte sich die Magd, die sie am Abend gebeten hatte, mit ihr das Bett zu teilen, in der Hoffnung, ihre Wärme würde die Kälte fernhalten, die Nacht für Nacht unter ihre Decken kroch und sie am ganzen Körper zitternd aufschrecken ließ. Doch die Frau drehte sich nur auf die andere Seite und schlief ruhig weiter. Hastig löste sie die verkrampften Fäuste aus den Laken, als ihr bewusst wurde, dass sie die kostbare Sarinseide verzweifelt umklammert hielt. Ein Albtraum! Es war nur ein Albtraum! Blind starrte sie in die Dunkelheit, die nur schwach vom fahlen Mondlicht durchdrungen wurde, versuchte, sich zu erinnern…

Erst als das nebelverhangene silbrige Rund im Bogen des Fensters erschien, klärte sich ihr Blick. Nur noch wenige Tage, dann wäre die bleiche Scheibe wieder voll. Ein Zittern kroch in ihre Glieder bei dem Gedanken, dass sie sich blutrot färben könnte. Noch nie hatte sie einen Seelenmond gefürchtet, doch diesmal konnte sie vor Angst kaum atmen.

2

Ein weiterer Mann der Garde war spurlos verschwunden! Müde rieb Réfen sich die Kiemennarben und starrte zur gekalkten Decke seines Dienstzimmers hinauf. Zwei Stunden vor Morgengrauen war er zuletzt von Kameraden gesehen worden. Sie hatten zusammen an einem der Feuerbecken gestanden, um sich in der Kälte, die seit dem letzten Seelenmond jede Nacht zusammen mit einem zähen Nebel in den Mauern von Kahel Einzug hielt, einen Moment aufzuwärmen. Heute Morgen beim Appell hatte er gefehlt und die stundenlange Suche nach ihm war ebenso erfolglos verlaufen wie die nach den Männern, die schon zuvor verschwunden waren– und wie jedes Mal hatten die Torwachen geschworen, der Vermisste sei nicht an ihnen vorbeigekommen.

Vor zwei Tagen hatte er Königin Seloran einen ähnlichen Vorfall gemeldet, so wie schon an mehreren Tagen zuvor. Dass es inzwischen Gerüchte gab, die Männer seien aus Angst vor dem drohenden Krieg davongelaufen, machte alles nur noch schlimmer. Der Gedanke, ihr heute wieder unter die Augen treten zu müssen, ließ ihn unwillkürlich schaudern. Seine Finger schlossen sich fester um den Federkiel, mit dem sie schon eine ganze Zeit unruhig spielten. Und zerbrachen ihn. Bei den Sternen, er war mit ihr und ihrer jüngeren Schwester Darejan aufgewachsen. Nach dem Tod seines Vaters, der ein Freund und Waffenbruder König Kadeirens gewesen war, hatte der Herrscher der Korun ihn, Réfen, zu seinem Mündel gemacht. Wie einen Sohn hatte er ihn behandelt, obwohl seine Mutter, eine Kaufmannstochter, nur die Geliebte seines Vaters gewesen war und er als Kind in den Gassen des Silnen-Viertels gelebt hatte. Kurz nur huschte ein Lächeln über seine angespannten Züge. Irgendwann hatte er aufgehört, die Gelegenheiten zu zählen, bei denen er Seloran gedeckt hatte, weil sie sich verbotenerweise in das Labor des Hofmagicus geschlichen und in seinen Büchern gelesen hatte. Oder für Darejan saubere Kleider aus dem Palast geschmuggelt hatte, weil sie sich wieder einmal einem der halbwilden CayAdesh-Rösser genähert hatte, die sein Vater aus den Bergsteppen mitgebracht hatte– und nach einem misslungenen Versuch aussah, als hätte sie den Schweinen in der Suhle Gesellschaft geleistet– oder sich mit einem Stalljungen geprügelt. Er kannte die Schwestern, seit König Kadeiren ihn in den Palast geholt hatte, aber seit dem letzten Seelenmond hatte er zuweilen das Gefühl, bei Seloran einer Fremden gegenüberzustehen. Etwas an ihr hatte sich verändert, auch wenn er nicht mit Sicherheit sagen konnte, was.

Ein Klopfen riss ihn aus seinen Gedanken. Auf sein »Herein!« betrat ein hochgewachsener Krieger den Raum und schloss bedächtig die Tür hinter sich.

»Garwon!« Réfen nickte dem Mann herzlich zu. »Was führt dich zu dieser späten Stunde zu mir?« Er wies einladend auf den Sessel, der auf der anderen Seite seines Schreibtisches stand, doch der Krieger dankte nur mit einer kurzen Geste und blieb stehen.

»Ich muss dich sprechen, Hauptmann!«

»Was gibt es?« Die Förmlichkeit in Garwons Stimme überraschte ihn.

Einen langen Augenblick schien der Krieger nicht zu wissen, wie er beginnen sollte. Dann trat er an das hohe Fenster, das in den Innenhof des Palastes hinausblickte, und starrte einen Moment in die Dunkelheit jenseits des geschliffenen Glases. Schließlich begann er doch zu sprechen. »Es geht um den Gefangenen, Hauptmann. Den, von dem die Königin glaubt, er sei ein Spion der Nordreiche.«

»Dieser Gefangene geht uns nichts an, Garwon«, unterbrach Réfen ihn, ehe er weitersprechen konnte. »Die Königin hat ihn den Grauen Kriegern übergeben.«

Abrupt wandte der Mann sich ihm zu. »Ja, und keiner weiß, was diese Grauen Kerle diesem armen Hund jede Nacht antun. Aber– bei den Sternen, Réfen– was auch immer es ist, das hat keiner verdient, ob er nun ein Spion ist oder nicht.«

»Was soll das heißen?«

Mit zwei Schritten stand Garwon vor seinem Schreibtisch und stützte sich mit beiden Händen auf die polierte Platte. »Die Grauen kommen jeden Abend, wenn die ersten Schatten sich zeigen– den ganzen Tag über sieht man nichts von den Kerlen–, und dann…« Angewidert schüttelte er den Kopf. »Bis hin zur Wachstube hört man ihn schreien! Die ganze Nacht!«

Réfen begegnete dem Blick des anderen scheinbar gelassen. Doch sie wussten beide, was er von unnötiger Grausamkeit hielt. »Es ist üblich, einen Spion zu befragen.«

»Die ganze Nacht? Jede Nacht seit er hier ist?«, brauste der Krieger auf. »Verdammt, Réfen, der Mann hat, seit sie ihn ins Verlies geschleppt haben, weder Wasser noch etwas zu essen bekommen.«

»Garwon, der Mann soll…«

»Ich weiß!«, fiel der ihm unwirsch ins Wort. »Er soll nicht nur ein Spion sein, sondern obendrein auch noch etwas mit dem Verschwinden Prinzessin Darejans zu tun haben. Und ja, der Umstand, dass die Grauen ihn mit ihr zusammen in den Höhlen unter den GônBarrá aufgegriffen haben, spricht dafür.« Der Krieger stieß sich mit einem Ruck von der Tischplatte ab und richtete sich auf. »Aber dennoch weigere ich mich zu glauben, dass das alles tatsächlich auf Befehl der Königin geschieht.« Er schüttelte den Kopf. »Der Mann ist vielleicht ein Spion, vielleicht sogar Schlimmeres. Aber er ist auch ein Mensch. Und du, als Hauptmann der Garde…«

Réfens erhobene Hand ließ den Krieger innehalten. Schweigend blickte er auf die Bruchstücke des Federkiels vor sich auf dem Tisch. Garwon hatte recht. Seloran wäre im ersten Zorn dazu fähig, einen Mann, der Hand an ihre geliebte jüngere Schwester gelegt hatte, unverzüglich dem Henker zu übergeben. Aber sie würde ihn nicht tagelang foltern und hungern lassen. Auch er weigerte sich, das zu glauben.

»Und da ist noch etwas, Réfen.« Die Stimme des Kriegers ließ ihn aufschauen. »Diese Grauen Krieger– die Männer fürchten sie.« Als Garwon sah, wie seine Braue sich hob, stieß er ein scharfes Schnauben aus. »Ich weiß, wie das klingt. Aber ich rede nicht von irgendwelchen grünen Bauerntölpeln, die gerade erst nach Kahel gekommen sind und noch nie zuvor einer Gefahr ins Auge gesehen haben. Du kennst die Männer, und du weißt so gut wie ich, dass keiner von ihnen ein Feigling ist.« Jetzt setzte Garwon sich doch auf den Sessel, den Réfen ihm zuvor angeboten hatte, und beugte sich vor. »Irgendetwas ist an diesen Kerlen seltsam.– Sie haben noch mit keinem Mann ein Wort gewechselt. Stets bleiben sie unter sich, niemals sieht man sie ohne diese weiten grauen Gewänder und ihre Helme.– Wer sind diese Kerle? Woher kommen sie?«

»Beinah könnte man meinen, die Männer hielten sie für Geister oder etwas Ähnliches, Garwon.« Réfen schob mit einer ungeduldigen Geste die Reste des Federkiels beiseite. »Du warst dabei, als die Königin den Männern erklärte, was es mit den Grauen Kriegern auf sich hat. Es sind Verbündete, die uns in dem bevorstehenden Krieg gegen die Nordreiche beistehen werden. Sie tragen diese weiten Gewänder und die Helme, weil ihre Gestalt sich von der unseren unterscheidet und sie weder die Männer noch die übrigen Bewohner Kahels erschrecken wollen. Deshalb bleiben sie auch unter sich und halten sich während des Tages in ihrem Lager im Wald vor der Stadt auf.– Und Garwon: Du weißt so gut wie ich, dass dieses knappe Dutzend der Grauen Krieger nur eine Vorhut ist. Ein Zeichen des guten Willens ihres Herrn. Es werden mehr von ihnen kommen und unsere Männer werden Seite an Seite mit ihnen kämpfen müssen.«

»Und du glaubst das tatsächlich, Hauptmann?– Ganz abgesehen davon, dass die Nordreiche gar keinen Grund hätten, sich gegen uns zu erheben. Du hast die Berichte selbst gelesen…«

»Dann sag mir, Garwon: Warum sollte die Königin lügen?«

Der Krieger fuhr sich mit beiden Händen durchs Haar. »Genau diese Frage stelle ich mir die ganze Zeit, und ich will verdammt sein, wenn ich sie beantworten kann.«

Réfen stieß ein leises Seufzen aus. »Also gut! Ich werde dort unten nach dem Rechten sehen, auch wenn ich damit gegen einen direkten Befehl der Königin verstoße, und gegebenenfalls dem Tun der Grauen Einhalt gebieten.« Entschlossen stand er auf, griff nach seinem Schwertgurt und bemerkte zu seiner Überraschung, dass Garwon beinah erleichtert nickte, ehe er ihm die Tür öffnete und den Vortritt ließ.

Die Korridore des Palastes waren wie ausgestorben. Nur vereinzelt verriet ein leises Schnarchen aus einer Nische, dass sich dort ein Diener in seine Decken gewickelt hatte, falls sein Herr oder seine Herrin ihn noch benötigen sollte. Die Wachen, die in den Fluren ihren Dienst versahen, nickten ihm ehrerbietig grüßend zu, und mehr als einmal spürte er ihre erstaunten Blicke, ob des Umstandes, dass auch er jetzt noch– weit nach Mitternacht– auf den Beinen war.

Er hörte die Schreie schon, als sie die schmale Treppe hinter sich gelassen hatten, die auf die erste Ebene des Kerkers hinabführte. Verwundert warf er Garwon einen kurzen Blick zu, der seine unausgesprochene Frage mit einem knappen Nicken beantwortete. Seine Fingerknöchel waren weiß, so fest umklammerte er den Griff der Fackel, mit der er ihm die Stufen hinunterleuchtete. Unwillkürlich beschleunigte Réfen seine Schritte, als er die zweite Treppe hinabstieg, die in der Wachstube der Kerkerwache endete. Der grauenvolle Laut wollte scheinbar nicht enden.

Der Anblick, der sich ihm am Fuß der Stufen bot, brachte ihn abrupt zum Stehen. Die Männer der Wache hatten sich am anderen Ende des Raumes um einen Tisch gedrängt. Die geschnitzten Würfel und polierten Steine eines Jaran-Spieles lagen auf dem Holz, ebenso vergessen wie die Becher und der Krug mit Bier, der in ihrer Mitte stand. Jede Fackel und jede Kerze war angezündet, sodass die kleine Stube beinah taghell erleuchtet war. So, wie sie ihm und Garwon entgegensahen, konnte er ein Schaudern nur schwer unterdrücken. Dann erkannten die Männer ihn und seinen Begleiter. Ein erleichtertes Raunen ging von Mund zu Mund. Erst als die Blicke der Krieger zu dem dunklen Durchgang huschten, hinter dem es zu den tiefer liegenden Zellen ging, wurde ihm die plötzliche Stille bewusst– und dieses Mal zuckte er ebenso zusammen wie die anderen, als die Schreie unvermittelt wieder einsetzten. Bei den Sternen, so entsetzliche Laute hatte er bisher noch nicht einmal von sterbenden Tieren gehört, geschweige denn von einem menschlichen Wesen. Was auch immer dort unten vorging, es konnte tatsächlich nicht auf einen Befehl der Königin geschehen.

»Ist das jede Nacht so?« Die Männer wichen seinem Blick aus, nickten. Réfen presste die Lippen zu einem schmalen Strich zusammen. »Ihr hättet früher zu mir kommen sollen!« Entschlossen trat er in den Durchgang und stieg die Stufen hinab, die zu den anderen Zellen führten. Garwon beeilte sich, ihm mit der Fackel zu folgen, und nach einem weiteren Augenblick hörte er auch die Schritte der anderen Krieger.

Eigentlich hatte er die niedere Tür auf der rechten Seite des Ganges, deren schweres Holz die qualvollen Laute nicht zu dämpfen vermochte, einfach aufreißen wollen, um die Grauen Krieger bei ihrem Tun zu überraschen. Doch selbst als er sich mit der Schulter dagegenstemmte, rührte sie sich nicht. In einer Mischung aus Ärger und Verwirrung blickte er die Männer an, die um ihn herumstanden. Offenbar waren sie ebenso erstaunt, dass sie sich nicht öffnen ließ, wiesen die Kerkertüren doch nur auf dieser Seite Riegel und Schlösser auf.

Ungeduldig schlug er mit der Faust gegen das Holz. »Öffnet!«, forderte er laut. Nichts außer Schweigen antwortete ihm. Nach einem Moment hieb er erneut gegen die Tür, härter dieses Mal. »Öffnet! Das ist ein Befehl!« Abgesehen von einem hohen, klagenden Laut, bei dem sich ihm die Nackenhaare aufstellten, blieb es still. »Öffnet oder ich lasse die Tür aufbrechen!« Wieder schlug er gegen das Holz, mit der flachen Hand diesmal– und sah sich unvermittelt einem der Grauen Krieger gegenüber, als sie abrupt nach innen schwang. Kälte schlug ihm entgegen, sein Atem bildete weiße Wolken, während der Graue ihn aus Augen, die unter dem Helm nicht zu erkennen waren, anzustarren schien. Über die Schulter des Kriegers erhaschte Réfen einen Blick auf zwei weitere grau gekleidete Gestalten, die sich in der hinteren Ecke der Zelle über etwas beugten. Schwere, keuchende Atemzüge waren zu hören, ansonsten herrschte eine geradezu unheimliche Stille. Er wandte seine Aufmerksamkeit wieder dem Grauen in der Tür zu. »Was geht hier vor? Rede, Kerl!« Sein scharfer Ton ließ den anderen vollkommen unbeeindruckt. Réfen knurrte gereizt. »Antworte, Mann!« Der Graue starrte ihn nur weiter schweigend an. Obwohl er nicht gesehen hatte, dass die beiden anderen Krieger sich bewegt hätten, erklang wieder ein gellender Aufschrei. Als er dem Treiben der Grauen endgültig ein Ende setzen und den Kerl in der Tür beiseiteschieben wollte, hob der abrupt die Hand und legte sie gegen Réfens Brust. Geltscherkalter Schmerz explodierte unter der Berührung, jagte durch seine Glieder und schleuderte ihn in Schwärze.

3

Feiner Staub tanzte in den dünnen Lichtstreifen, die durch die schmalen Spalten in den Raum fielen, an denen die schweren Vorhänge zusammenstießen. Ein wenig erstaunt blinzelte Darejan in das Halbdunkel. Warum sperrte ihre Schwester die wärmenden Sonnenstrahlen aus dem Studierzimmer des vor einigen Mondläufen verstorbenen Hofmagicus aus, wenn dies doch der Raum war, in dem sie sich in letzter Zeit beinah häufiger aufhielt als in ihren eigenen Gemächern?

»Seloran, bist du hier?« Stille antwortete ihr. Darejan runzelte leicht die Stirn. Nun gut. Sie sollte in der Lage sein, die Kräuter für Nian auch ohne Selorans Hilfe zusammenzustellen. Mit energischen Schritten durchquerte sie den Raum und zog die Vorhänge mit einem Ruck beiseite. Sofort flutete warmes Gold durch die hohen Fenster und ließ die Wandtäfelung aus poliertem Jedraholz wie mattes Kupfer glänzen.

Heute Morgen war Nian bleich und schwach aufgewacht. Dunkle Ringe unter den Augen hatten das hübsche Gesicht der jungen Magd verunziert und sie war so matt und entkräftet gewesen, dass Darejan sie voller Sorge in ihre Kammer geschickt hatte, damit sie sich ausruhte. Sie hatte sogar den königlichen Heiler zu Nian befohlen. Während der Mann sich um die Magd kümmerte, hatte sie seinen Platz an Réfens Bett eingenommen.

Ein Herzanfall! Sie konnte es noch immer nicht glauben. Réfen stand gerade erst in seinem neunundzwanzigsten Jahreslauf. Sein blasses Gesicht auf den Kissen, die schwachen Atemzüge, unter denen seine Brust sich langsam hob und senkte– Réf war in seinem ganzen Leben noch nie ernsthaft krank gewesen, und ihn jetzt so sehen zu müssen, hatte ihr wehgetan. Dass ein Verband aus weichem Leinen um seinen Kopf geschlungen war, da er sich obendrein eine Wunde an der Stirn zugezogen hatte, als er bewusstlos zusammengebrochen und gegen eine Mauerkante geschlagen war, ließ ihn nur noch verletzlicher erscheinen. Sie machte sich immer noch Sorgen um ihn, obwohl der Heiler ihr mehrfach versichert hatte, dass Hauptmann Réfen sich nach ein paar Tagen strengster Bettruhe und anschließend mindestens einem Viertelmond Schonung wieder vollständig erholen würde. Auch wenn einige Adelige der Meinung waren, der Hauptmann der Garde sei kein angemessener Umgang für eine Prinzessin der Korun, machte sie keinen Hehl daraus, dass sie Réfen gernhatte. Immerhin waren sie aufgewachsen wie Bruder und Schwester.

Der Heiler war schließlich mit der Nachricht zurückgekehrt, dass Nian an einer seltsamen Schwäche litt, die auch schon zwei von Selorans Pagen befallen hatte, für die er aber keinen Grund finden konnte. Entsprechend vermochte er nichts zu tun, außer den Betroffenen Ruhe zu verordnen. Und dann hatte der Kerl doch tatsächlich die Unverschämtheit besessen, sie aus Réfens Gemach zu werfen, da ihre Anwesenheit im Zimmer eines kranken und obendrein halb nackt im Bett liegenden Mannes seiner Meinung nach äußerst ungehörig sei. Halb nackt! Pah! Réf trug ein Hemd und war bis zum Kinn zugedeckt– und außerdem hatte sie ihn schon mehr als einmal mit bloßer Brust und nur in seiner Hose gesehen. Wäre da nicht Nians unerklärliche Schwäche gewesen, hätte sie sich auf eine Auseinandersetzung mit dem Heiler eingelassen. So war sie unter Protest gegangen.

Während sie an den fleckigen und zerkratzten Arbeitstisch unter einem der Fenster trat, schlüpften ihre Finger, ohne dass sie es bemerkte, unter ihre weiten Gewandärmel und rieben gedankenverloren über die hauchdünne Oberfläche ihrer Unterarmflossen. Ebenso wie die drei zu beiden Seiten des Halses schräg nach hinten aufwärtslaufenden Kiemennarben, die bei den Frauen ihres Volkes weniger stark ausgeprägt waren als bei den Männern, waren sie ein Erbe ihrer Vorfahren, die vor unzähligen Jahresläufen im Meer gelebt hatten. Sie reichten vom Handgelenk bis zum Ellbogen hin, liefen schräg nach obenhin aus und waren mit silbrigregenbogenfarben glänzenden Schuppen bedeckt, die sich ein kleines Stück auf die Haut zu beiden Seiten des Flossenansatzes fortsetzten. Als ihr bewusst wurde, wohin ihre Finger sich wieder verirrt hatten, zog sie die Hände hastig aus den Ärmeln. Die meisten adeligen Korun verbargen ihre Unterarmflossen unter eleganten Stulpen aus zartem Stoff, weil es als liederlich galt, wenn ein Mann die Unterarmflossen einer Frau sah– oder am Ende gar berührte. Darejan hatte diese Enge an den Unterarmen nie ertragen und sich die Stulpen heruntergezogen, sobald ihre Kinderfrau nicht hingesehen hatte. Was eigentlich ein filigranes, zartes Gewebe sein sollte, war deshalb bei ihr an den Rändern ausgefranst und mit schillernden Schuppen bedeckt, die sich an unzähligen kleinen Narben gebildet hatten, sodass ihre Unterarmflossen beinah so prächtig schimmerten wie die eines Mannes. Zugleich waren sie umso empfindsamer geworden, weshalb sie die eleganten Stulpen noch weniger ertrug. Wenn man nach den Maßstäben ihres Volkes ging, war das ein schwerer Makel für eine junge Frau– ein Makel, den auch der Umstand nicht aufwiegen konnte, dass sie die Schwester der Königin war. Mit einem Seufzen verdrängte sie die traurigen Gedanken und ließ ihren Blick über die ordentlich aufgereihten Tiegel, Töpfchen, Phiolen und kleinen Fläschchen vor sich schweifen. Auf dem Boden neben dem Tisch stand sogar eine hohe, mit Wein gefüllte Amphore, um eine Rezeptur auch mit etwas Stärkerem als Wasser ansetzen zu können. Erstaunlich, wie beinah übertrieben sorgfältig Seloran seit einiger Zeit das Studierzimmer, das gleichzeitig als Laboratorium diente, aufgeräumt hielt. Früher hatte es regelmäßig so ausgesehen, als sei ein Windgeist durch die Regale und über die Tische gefegt, wenn ihre Schwester hier einige Stunden verbracht hatte. Darejan strich sich eine Strähne aus der Stirn, drehte die lange schwarzsilberne Pracht zu einem Rosschweif zusammen, den sie im Nacken zu einem Knoten schlang, trat zu dem Schrank, hinter dessen geschliffenen Glastüren sich die kostbaren Folianten befanden, aus denen sie selbst unter Meister Fanerens Anleitung ihre ersten Elixiere zusammengestellt hatte. Mit zusammengekniffenen Augen studierte sie die Titel auf den Buchrücken, bis sie fand, was sie suchte. Sie zog den schweren ledergebundenen Band hervor, legte ihn auf den Tisch, schlug die Seite auf, auf der die Rezeptur für Nians Medizin verzeichnet war, und machte sich an die Arbeit. Sehr schnell hatte sie die Ingredienzien bereitgestellt und begann, die Zutaten abzumessen.

Es war eine unbewusste Bewegung, mit der sie irgendwann den schweren Folianten ein Stück zur Seite schob, um etwas mehr Platz zu haben. Ein Scharren ließ sie den Kopf heben, sie sah einen wachsversiegelten Tiegel und eine tönerne Flasche mehr als eine Armlänge entfernt am Rand des Tisches schwanken, dann kippen. Ohne nachzudenken, hob sie die Hand, um den Fall der Gefäße mit ihrer Magie zu verhindern– und vergaß, dass sie es nicht mehr vermochte. Tiegel und Flasche zerbrachen mit einem misstönenden Krachen auf dem steinernen Boden, eine farblose Flüssigkeit lief in eine andere, fahlrote hinein und beinah im gleichen Atemzug schlugen Flammen empor. Einen Moment lang starrte sie erschrocken auf das brennende Gemisch, das träge über die Steine rann und schließlich hungrig nach einer Truhe aus altem, rissigem Holz und dem schweren Vorhang leckte, hinter dem diese halb verborgen stand. Wieder bewegte sich ihre Hand, ohne dass sie sich dessen richtig bewusst wurde– wieder ohne dass etwas geschah. Für einen kurzen Augenblick spürte sie nur Verzweiflung und Enttäuschung. Noch vor nur ein paar Tagen hätte es nicht mehr als dieser kurzen Geste bedurft, um das Feuer zu ersticken. Oder um zu verhindern, dass Tiegel und Flasche über die Tischkante kippten. Aber jetzt… Wie konnte sie sich noch länger eine Hexe nennen, wenn sie noch nicht einmal mehr in der Lage war, ein kleines Feuer mit Magie zu löschen. Der Geruch von brennendem Stoff riss sie aus ihrer Erstarrung. Hastig packte sie die Amphore und erstickte die Flammen unter einem Schwall Wein. Qualm stieg aus dem Vorhang auf. Die glänzende Feuchtigkeit versickerte in den Rissen des Deckels… Mit einem Fluch fiel sie auf die Knie und wischte hastig an dem Holz herum. Was auch immer in dieser Truhe war: Hoffentlich war nicht genug Wein hineingelangt, um es zu verderben! Seloran würde einen Vollmond kein Wort mit ihr sprechen, wenn sich darin irgendetwas Wichtiges befand, das jetzt ruiniert war. Ein letztes Zögern, dann sah sie sich nach etwas um, mit dem sie das altertümliche Schloss der Truhe öffnen könnte. Schließlich griff sie nach dem schmalen Dolch, den sie am Gürtel trug. Réfen hatte es ihr oft genug gezeigt, als sie noch Kinder gewesen waren. Tatsächlich schnappte der Bügel einen Moment später mit einem Knirschen auf und Darejan hob den Deckel der Truhe, fuhr mit der Hand über die Innenseite.– Alles war trocken. Erleichtert stieß sie die Luft aus, doch dann bemerkte sie aus dem Augenwinkel das breite Rinnsal, das in den Ritzen und Löchern einer zerbrochenen Bodenplatte am Fuß der Kaminmauer versickerte. Nein! Die Sveti! In erschrockener Eile kroch sie zu den schadhaften Steinen hin und zwängte mühsam die Finger in die Spalten, um sie aus dem Boden zu lösen, ohne auch nur einen Gedanken darauf zu verschwenden, dass sie sich die Haut aufschürfte und die Nägel einriss. Die Sveti vertrugen keine Feuchtigkeit! Und eine kleine Gruppe der pelzigen Tiere lebte unter der zerbrochenen Steinplatte und in der Kaminmauer dahinter. Meister Faneren hatte die etwa handgroßen Geschöpfe mit dem Hornkamm, der sich von ihren schmalen Drachenschnauzen bis zur Spitze ihres flachen Schwanzes zog, hier geduldet, weil allein ihre Anwesenheit genügte, um jedwedes andere Getier fernzuhalten, das seinen kostbaren Büchern oder Kräutern gefährlich werden könnte. Wie oft hatten Seloran und sie selbst die Tiere auf dem Schoß gehabt und mit Brot oder süßen Roonfrüchten gefüttert. Es wäre schrecklich, wenn sie durch ihr Ungeschick mit dem Wein in Berührung kämen.

Endlich! Nachdem sie das erste Bruchstück gelöst hatte, waren die anderen problemlos beiseitezuräumen. Doch als sie sich vorbeugte, sog sie verblüfft den Atem ein. Der Hohlraum unter der Platte war nicht leer, auch wenn keines der Tiere sich darin aufhielt. Das Heft eines Schwertes glänzte darin. Die Klinge steckte in einer Scheide aus dunklem Leder, auf der sich deutlich sichtbar feuchte Flecken abzeichneten. Jemand hatte sie mit der Spitze voraus tief in den Svetibau geschoben, damit die Waffe Platz unter der geborstenen Platte fand. Vorsichtig nahm Darejan sie heraus und drehte sie im Licht. Es war ein schlanker Eineinhalbhänder, dessen etwas zu langer, mit dunklem Leder und gezwirntem Golddraht umwickelter Griff es seinem Träger erlaubte, die Waffe problemlos auch mit beiden Händen zu führen. In den Knauf selbst war ein matt schimmerndes Juwel eingesetzt, in dessen dunklem Ockerton tiefrote Einschlüsse lohten. Zur Klinge hin war die Parierstange leicht gebogen und an den Enden in der Form von Klauen gespalten. Langsam zog sie die Waffe aus der abgegriffenen Scheide. Grau schimmerten ineinander verschlungene Runen in der Blutkehle, hoben sich dunkel vom Rest des glänzenden Stahls ab. Sie fuhr vorsichtig mit den Fingerspitzen über die Klinge. Und stellte erstaunt fest, dass sie geflammt war. Doch die Wellen waren so schwach ausgeprägt, dass man schon sehr genau hinsehen musste, um es erkennen zu können. Und im Gegensatz zu den Schwertern, die sie kannte, hatte sie keine Fehlschärfe, die es ihrem Träger erlaubt hätte, die Klinge direkt unter der Parierstange zu packen und mit dem Heft einem Gegner das Schwert aus der Hand zu hebeln. Warum lag die Waffe unter der geborstenen Steinplatte? Wer hatte sie hier versteckt? Meister Faneren? Nein! Weder an der Scheide noch am Griff hing Staub. Aber wer dann? Seloran? Weshalb sollte ihre Schwester ein Schwert hier verstecken? Es gab keinen Grund für einen solchen Unsinn! Verwirrt ließ sie den Blick noch einmal über die Klinge gleiten, ehe sie sie wieder in ihre Hülle schob und sich abermals vorbeugte, um einen Blick in den Svetibau zu werfen. Auch jetzt zeigte sich keines der Tiere. Vielleicht wegen der dunklen Weinlache, die sich auf dem Boden des Hohlraumes gesammelt hatte? Darejan stand auf, ergriff einige alte Lappen, die auf dem Arbeitstisch lagen, und machte sich daran, die Feuchtigkeit sorgsam aufzuwischen. Ihre Finger streiften kühlen Stoff. Verblüfft legte sie die Tücher fort und hob ein Bündel aus schimmernd schwarzer, golddurchwirkter Seide ans Licht. Der Stoff glitt durch die Bewegung zur Seite, und die Bruchstücke eines Edelsteins kamen zum Vorschein, der ursprünglich wohl knapp faustgroß gewesen sein mochte. Es war die gleiche Art von Stein, wie er auch in den Schwertknauf eingelassen war, doch dieser war vollkommen klar und ohne jeden Makel gewesen. Eines der Bruchstücke rutschte aus der Seide. Es gelang Darejan gerade noch, es aufzufangen, ehe es auf die Steinplatten schlug.

Seloran, die sich über den sich windenden Körper eines Mannes beugte. Seine Züge verborgen in Dunkelheit. Ihre Stimme nur ein heiseres Murmeln. In ihren Händen hielt sie zwei Hälften eines faustgroßen Edelsteins, der in einem tiefen Ockerton makellos erstrahlte. Verschmolz. Ein Schatten erstand aus dem Stein. Senkte sich auf den sich in Agonie hilflos aufbäumenden Mann.

»Nein!« Das Wort verwehte, übertönt von einem Laut wie dem Schrei eines Adlers, geboren aus blanker Qual. Der Mann lag still. Magie brannte in der Luft. Der Edelstein zerbarst. Grausames Gleißen. Der Schatten krümmte sich, kreischte, verblasste in Seloran. Schmerz in ihrem Inneren, der zu Dunkelheit wurde.

Mit einem leisen Klacken schlug das Bruchstück des Juwels auf die Steinplatte. Sie starrte auf die Edelsteinsplitter, plötzlich am ganzen Körper zitternd, ohne sich erinnern zu können warum. Hinter ihrer Stirn war wieder jener seltsame Schmerz, der sie seit einigen Tagen immer wieder peinigte. Ein Schatten huschte über den Boden, unwillkürlich schrie sie auf, prallte zurück. Nur allmählich klärte sich ihr Blick, erkannte sie das Sveti, das sich dicht vor ihr auf die Hinterbeine aufgerichtet hatte und sie aus seinen schwarzen Knopfaugen mit den goldenen Pupillenschlitzen ansah. Seine runden, durchscheinenden Ohren bewegten sich unruhig, der flache, buschige Schwanz wischte hin und her. Es blickte mit zitternden Barthaaren zur Tür. Dann drehte es sich mit einem schrillen, angstvollen Pfeifen um und verschwand in dem Bodenloch. Kälte kroch über Darejans Rücken, ohne dass sie gewusst hätte, weshalb. In fliegender Hast sammelte sie das Bruchstück des Juwels wieder ein, darum bemüht, es mit Hilfe des kostbaren Stoffes kein zweites Mal zu berühren, stopfte das Bündel aus golddurchwirkter Seide und Edelsteinsplittern in den Hohlraum, schob das Schwert hinterher und beeilte sich, die Stücke der Steinplatte wieder an ihren Platz zu rücken.

»Was machst du da unten?«

Seloran stand im Halbschatten bei der Tür. Der Ausdruck in ihren Augen schnürte Darejans Kehle zu.

»N-n-nichts!« Ihre Stimme versagte.

»Nichts?« Mit schmalem Blick kam ihre Schwester auf sie zu. Ihr schönes Gesicht verzog sich, als sie ins Licht trat. Der helle Perlmuttton ihrer Haut wirkte nahezu grau. Wie in den letzten Tagen lagen dunkle Schatten unter ihren Augen und ihre Wangenknochen traten scharf hervor. Dann beugte sie sich zu ihr hinab, musterte sie beinah lauernd. Die tiefrote Sarinseide ihres Gewandes raschelte. »Wenn du ›nichts‹ machst, warum rutschst du dann auf den Knien auf dem Boden herum?«

Hatte sie sich geirrt oder hatte Seloran tatsächlich prüfend zu der zerbrochenen Steinplatte gesehen? Fast hätte sie sich selbst mit einem raschen Blick vergewissert, dass die Bruchstücke tatsächlich an Ort und Stelle lagen. Weshalb hatte sie plötzlich Angst vor ihrer Schwester? Was war nur mit ihr los? Möglichst unauffällig atmete sie tief durch und stand auf. Die pochende Angst in ihrer Kehle blieb. Auch Seloran erhob sich, ohne den Blick ihrer dunkelblauen Augen von Darejan zu nehmen.

»Also? Was tust du hier wirklich, Darejan?« Die Handbewegung ihrer Schwester umfasste den ganzen Raum.

Darum bemüht, gelassen zu klingen, trat sie an den Arbeitstisch. »Eine meiner Mägde ist krank. Ich habe dich gesucht, da ich dich um eine Medizin zur Stärkung für sie bitten wollte. Du warst nicht hier, deshalb habe ich sie selbst zusammengestellt.« Mit einem schwachen Lächeln sah sie Seloran an und betete, sie würde nicht merken, wie sehr sie innerlich noch immer zitterte. »Leider war ich etwas ungeschickt.«

»Das sehe ich!« Ihre Schwester schaute sich demonstrativ um. Dieses Mal war Darejan sich sicher, dass Selorans Blick den Bruchteil eines Atemzugs zu lang auf den zerbrochenen Steinplatten verweilte. Dann hob sie mit einer knappen Geste die Hand und die Weinreste auf dem Boden waren ebenso verschwunden wie die Spuren der Flammen oder die Scherbenvon Tiegel und Flasche. »Hast du sonst noch etwas angefasst?«

Darejan zuckte bei dem kalten Ton ihrer Schwester zusammen. Was ging hier vor? Das Schwert! Die Bruchstücke des Steins! Was hatte das zu bedeuten? Warum wollte Seloran nicht, dass sie etwas davon wusste? »Was meinst du?« Sie versuchte harmlos zu klingen. Unvermittelt war ein Lächeln auf Selorans Lippen und sie trat direkt neben sie.

»Nichts!« Langsam glitten ihre Finger Darejans Arm hinauf bis zu ihrer Schulter, wo sie scheinbar versonnen mit einer silberschwarzen Strähne spielten. »Ich hatte nur gerade eine etwas unerfreuliche Unterhaltung mit Réfen, wahrscheinlich bin ich deshalb… hm… noch ein wenig angespannt.« Ihre Hand fiel herab, als Darejan sich ihrer Berührung durch einen Schritt zur Seite entzog und das Lächeln erlosch. Seloran wandte sich dem Arbeitstisch zu. Ihr Blick wanderte über die Zutaten, die daraufstanden. Nach einem Moment verzog sich ihr Mund in leiser Missbilligung. »Weshalb machst du dir so viel Arbeit wegen einer Magd?«

»Was?«, entsetzt starrte Darejan ihre Schwester an.

Das Lächeln kehrte auf Selorans Lippen zurück. »Weshalb machst du dir so viel Arbeit wegen einer Magd?– Wenn du tatsächlich nur mich nach einem Elixier zur Stärkung hättest fragen müssen.« Sie wandte sich ab. Wie zufällig streifte ihre Hand den Arm ihrer Schwester, als sie zu einem Bord an der gegenüberliegenden Wand ging und eine schlanke Phiole herunternahm. Darejan zögerte noch einen kurzen Moment, dann stieß sie sich vom Tisch ab und durchquerte den Raum.

»Ich danke dir!« Zu ihrem Erstaunen zitterten ihre Finger nicht, als sie sich um das Glas schlossen.

Seloran nickte, strich ihr eine silbrigschwarze Strähne zurück. Die Berührung war seltsam kalt und der Ausdruck in den Augen ihrer Schwester… Unvermittelt war die Angst in ihrer Kehle zurück und ließ Darejan zurückschaudern. Selorans dunkle Augen wurden schmal. »Was ist?«

»Nichts!« Schnell schüttelte sie den Kopf, wich weiter zurück. »Ich werde Nian die Medizin bringen! Entschuldige mich!« Beinah glaubte sie, den Blick ihrer Schwester in ihrem Rücken zu spüren, als sie hastig den Raum verließ.

4

Wenn du meine Befehle noch einmal missachtest, werde ich es dich bereuen lassen!« Selorans Worte gingen ihm noch immer nicht aus dem Sinn. Sie war kurz nach der Mittagsstunde in sein Zimmer gekommen, vorgeblich, um sich nach seinem Befinden zu erkundigen, doch die Kälte, mit der sie ihn anblickte, hatte er noch nie in ihren Augen gesehen. Beinah hätte er tatsächlich glauben können, eine Fremde stünde neben seinem Bett. Er nickte den Männern zu, die in der Wachstube Dienst taten, und stieg langsam weiter die Stufen in den Kerker hinunter. Letztendlich hatte sie nichts anderes getan, als ihm erneut zu befehlen, sich nicht für das zu interessieren, was mit diesem bestimmten Gefangenen geschah. Das unstete Licht seiner Fackel warf huschende Schatten auf die rauen Felswände, in die vor unzähligen Jahresläufen die Verliese des Jisteren-Palastes gehauen worden waren. Er musste sich unter einer fahlen Gesteinsader ducken, und für einen kurzen Moment schien der Boden unter seinen Füßen wegzudriften, nur um dann mit seltsam wellenförmigen Bewegungen zurückzukehren. Halt suchend stemmte er die Hand gegen den Felsen. Die Schwäche nistete noch immer in seinen Gliedern und auch jene seltsame Taubheit wollte nicht aus seinem linken Arm weichen.

Nachdem Seloran gegangen war, hatte er noch eine Ewigkeit gegen die Decke gestarrt und darüber nachgedacht, was der Grund für ihr seltsames Verhalten sein könnte. Er hatte keine Erklärung gefunden. Doch je länger er gegrübelt hatte, umso mehr hatte sein Entschluss sich gefestigt: Er musste wissen, was im Kerker vor sich ging!

Mit einer energischen Bewegung stieß er sich von der klammen Mauer ab und stieg die Stufen weiter hinunter. Ein fernes Donnern verriet die steigende Flut, die sich ihren Weg in die verzweigten Kavernen tief unter dem Palastfelsen und der Stadt suchte.

Der Krieger, der vor der schweren Tür Wache hielt, blickte ihm erstaunt entgegen.

»Hauptmann?!… Man sagte uns, ihr hättet einen Herzanfall und die Königin hätte euch vorübergehend vom Dienst befreit.«

»Hat man euch das gesagt? Tatsächlich? Nun, dann bin ich wohl auch nicht hier.– Öffne die Tür, Ledan!«

Die Augen des Mannes weiteten sich. »Ich verstehe, Hauptmann.« Dann zuckte sein Blick zu den Stufen am Ende des Ganges. »Es kann nicht mehr lange dauern, bis die Grauen hier auftauchen.«

Réfen nickte knapp und deutete auf die Tür. Schweigend schloss Ledan auf, dann zog er sich ein Stück zur Treppe hin zurück, während Réfen sich in die Zelle hineinduckte. Eisige Kälte schlug ihm entgegen, verwandelte seinen Atem in dampfende Wolken. Er hob die Fackel höher. Selbst in den Wintermonaten hatte sich hier unten noch nie Reif auf den Mauern gebildet. Was bei den Sternen ging hier vor?

Der Gefangene lag in einer Ecke, Arme und Beine eng an den Leib gezogen, in der Kälte unkontrolliert zitternd. Im Schein der Fackel kauerte sich der Mann mit einem schwachen Ächzen noch weiter zusammen und zuckte zur Mauer hin zurück, als Réfen langsam näher trat.

Was genau er zu finden erwartete, konnte er nicht sagen. Réfen rammte die Fackel in einen Mauerspalt, drehte den Gefangenen unter dem leisen Klirren seiner Ketten auf den Rücken. Mit einem Stöhnen wich der Mann vor ihm zurück, soweit seine Fesseln es ihm erlaubten, und vergrub den Kopf in den Armen. Réfen ließ den Blick über den von Frostschauern geschüttelten Körper gleiten. Der Kerl war halb erfroren. Sein sandfarbenes Hemd war über der Brust der Länge nach zerrissen und wies ein paar große Blutflecke auf, die wohl mehrere Tage alt sein mussten und die sich auch auf der eng anliegenden Hose aus weichem Leder zeigten, die in hohen Stiefeln steckte. Eine tiefe Linie erschien auf Réfens Stirn, während er sich vorbeugte und den weichen Stoff auseinanderzog. Seit wann ließ man einem Gefangenen Stiefel und Hemd, vor allem, wenn sie tatsächlich, wie es schien, aus dunklem Jindraleder und aus Adeshwolle gemacht sein sollten? Dann hielt er überrascht inne. Was bei den Sternen ging hier vor? Die Schreie des Mannes hatten in der vergangenen Nacht geklungen, als würden die Grauen ihm mit bloßen Händen die Eingeweide aus dem Leib schälen– aber da war nichts! Keine Spuren von Schlägen, keine blauen Flecke oder gar Wunden! Nichts! Nichts außer ockerfarbenen verschlungenen Ornamenten, die die Brust des Mannes zierten und sich auf der vor Kälte bläulichweißen Haut deutlich abzeichneten. Und die nicht danach aussahen, als seien sie ihm erst kürzlich eingestochen worden. Verwundert schaute er auf den Gefangenen hinab. Meeresknechte und zuweilen auch Seehändler ließen sich die Abbilder ihrer Schiffe, fischschwänzige Narieden oder die Namen ihrer Liebsten in die Haut stechen, aber so etwas hatte er noch nie gesehen. Als er sich vorbeugte, um die seltsamen Zeichen genauer zu betrachten, stieß der Gefangene jäh einen klagenden Laut aus, schlang die Arme um seine Brust, wie um sich vor einer Berührung zu schützen, wandte sich von ihm ab, soweit seine Fesseln es zuließen, und kauerte sich noch enger zusammen. Réfens Blick blieb an den Handgelenken des Mannes hängen, die von eisernen Ringen umschlossen waren. Nur beiläufig registrierte er die Froststerne, die die Ketten überzogen, die hinter dem Gefangenen in die Wand eingelassen waren und ihm kaum Bewegungsfreiheit ließen, während er verwundert die Brauen hob. Eisenringe, nicht die üblichen Bandeisen, die die Haut von den Gelenken scheuerten und oft hässliche Narben hinterließen. Erst auf den zweiten Blick wurde ihm bewusst, dass die Fesseln weder ein Schloss noch ein Scharnier aufwiesen. Was hatte das zu bedeuten?

»Hauptmann!« Ledans Stimme ließ ihn aufblicken. Unruhig immer wieder den Gang entlangspähend, stand der Krieger in der Tür. »Die Sonne steht schon tief! Die Grauen werden bald hier sein.«

Mit einem Nicken und einer Geste gab er dem Mann zu verstehen, dass er die Zelle gleich verlassen würde, ehe er seine Aufmerksamkeit wieder dem Gefangenen zuwandte und ihn abermals zu sich umdrehte. Als er sich diesmal über ihn beugte, fiel das Licht der Fackel ungehindert auf das Gesicht des Mannes und Réfen fluchte. In dem rötlichen Schein blitzten die Edelsteintätowierungen der Jarhaal über und in der rechten Braue und an der Schläfe des Gefangenen. War der Kerl doch ein Spion? Könnten Selorans Informationen demnach wahrhaftig zutreffen und die Nordreiche planten tatsächlich einen Krieg gegen die Korun? Was aber konnten die Jarhaal damit zu schaffen haben? Ihre Sippen lebten irgendwo weit in den zerklüfteten GônTheyraan, wo ihre Bergstadt Adreshaal in die Hänge eines unzugänglichen Felsentals hineingebaut sein sollte. Sie trieben Handel mit den Völkern der Jerden und Zonara, ihren direkten Nachbarn, interessierten sich gewöhnlich aber nicht für die Politik der anderen Reiche. Soweit Réfen wusste, galten sie als Krieger, deren Fähigkeiten mit Onadesh und Zerda nicht zu unterschätzen waren, gleichzeitig brachte man ihnen auch als Künstler und Gelehrte Respekt entgegen. Wie waren sie in all das verwickelt? Und vor allem: Wenn die Nordreiche tatsächlich einen Spion nach Kahel gesandt hatten, weshalb hatten sie nicht einen aus dem Volk der Jerden oder der Saln ausgewählt, die mit ihrer hellen Haut und den dunklen Haaren eher einem Korun ähnelten? Ein Jarhaal musste unweigerlich auffallen, hatten sie doch gewöhnlich eine dunklere Hautfarbe, und zudem trug jeder einzelne von ihnen jene glitzernden Edelsteintätowierungen in und über der rechten Braue, die sich in eleganten Linien bis über die Schläfe hinzogen.

Die Lippen zu einem harten Strich zusammengepresst, starrte er auf den Mann hinab. Verdammt, das ergab alles keinen Sinn. Er brauchte ein paar Antworten. Und er würde sie bekommen. Jetzt!

»Los, Kerl! Mach die Augen auf!« Réfen packte den Gefangenen rau am Kinn, ohne dessen schwaches Ächzen zu beachten, und drehte sein Gesicht endgültig ins Licht– und sog scharf den Atem ein. Das war nicht möglich! Aber der unstete Feuerschein narrte ihn nicht. Das dunkle Haar des Mannes war zurückgefallen und verbarg nicht länger die goldenen Edelsteintätowierungen, die sich im zuckenden Licht der Fackel blitzend sein Ohrläppchen hinaufwanden.

»KâlTeiréen.« Bei den Sternen, von den KâlTeiréen erzählten Legenden. Männer und Frauen, deren Seele sich mit der eines anderen Lebewesens verbunden hatte. Es war in den Nordreichen ein ungeschriebenes Gesetz, dass die Stimme eines KâlTeiréen gehört werden musste, wenn er oder sie dies verlangte. Unter hunderten Jarhaal wurde nur einer geboren, der von den Göttern für ein Band mit einer anderen Seele auserwählt war. Und man erzählte sich, dass ein KâlTeiréen keine Falsch kannte. Doch wenn dies stimmte…– bedeutete es, dass dieser Mann kein Spion sein konnte. Weshalb war er dann hier? Wusste Seloran, wen sie hatte in Ketten legen lassen? Er ballte die Faust. Wie sollte sie nicht?– Was beim Licht der Sterne ging hier vor?

»Hauptmann! Ihr müsst gehen!« Réfen hörte Ledans Worte nur wie aus weiter Ferne. Es gab vermutlich außer Seloran nur einen Menschen, der ihm helfen konnte, dies alles zu verstehen. Und der lag hier in der Kälte.

»Hauptmann!«, drängte Ledan erneut von der Tür her.

»Nicht jetzt!« Unwillig bedeutete Réfen ihm zu schweigen und beugte sich erneut über den Gefangenen. Mit sehr viel mehr Respekt als zuvor fasste er den Mann bei den Schultern, zog ihn vom Boden hoch und lehnte ihn gegen die Wand. Das zerrissene Hemd war über seiner Brust weiter auseinandergeglitten und halb über den Arm herabgerutscht, sodass mehr von den ockerfarbenen Linien, die sich scharf von seiner bleichen Haut abhoben, zu sehen war. Verwirrt betrachtete Réfen die ineinander verwobenen Muster genauer, die vom Schlüsselbein abwärts über die linke Hälfte der Brust, die Rippen bis hinunter zu den Flanken des Gefangenen führten, wo sie zur Hüfte hin schmal zuliefen und unter dem Bund der Hose verschwanden. Sie erstreckten sich sogar über die Schulter und einen Teil des Oberarms. Nein, das waren keine einfachen Ornamente, wie manche Männer sie sich in die Haut stechen ließen, um sich zu schmücken. Vielmehr erinnerten sie Réfen an altertümliche Runen, wie er sie schon in uralten Codices gesehen hatte. Und eine dieser Runen, die, die sich direkt über dem Herzen des Mannes befand und in der alle anderen ihren Ursprung zu haben schienen, war durch einen tiefen Schnitt, dessen Ränder rot geschwollen waren, zerstört worden.

»Hauptmann! Es ist keine Zeit mehr!« Wieder Ledans Stimme. Réfen beachtete ihn nicht, sondern fasste den Gefangenen bei den Schultern und schüttelte ihn leicht. »Könnt ihr mich hören? Kommt zu euch!« Nur ein Stöhnen antwortete ihm. Haltlos rollte der Kopf zur Seite.

Réfens Mund wurde schmal. Dann schlug er zu. Ihm blieb offensichtlich keine andere Wahl. Vier Mal traf seine Hand klatschend die Wangen des Jarhaal, dann flogen dessen Lider mit einem keuchenden Schrei auf und Réfen sog zum zweiten Mal innerhalb kurzer Zeit entsetzt den Atem ein. Die Augen des Mannes waren von einem hellen Silberton. Grünviolette Flecken, wie winzige Splitter eines makellosen Sodijan, glitzerten um die schwarze Mitte herum. Doch das, was Réfen erschreckte, war der dunkle Ring, der das helle Silber der Pupille vom Weiß des Augapfels trennte: ein Dämonenring.

Er schluckte hart, verdrängte das Entsetzen und beugte sich näher zu dem Gefangenen. »Könnt ihr mich hören?«

Für den Bruchteil eines Atemzuges schien etwas wie ein Flackern im Blick des Jarhaal zu sein, doch dann war es erloschen und Réfen sah nichts als nackte Angst. Abermals fasste er den Mann bei den Schultern. »Wer seid ihr? Was wollt ihr in Kahel?«

Die hellen Augen huschten durch die Kerkerzelle, kehrten zu Réfens Gesicht zurück, noch immer erschreckend stumpf.

Sein Griff verstärkte sich. »Antwortet mir! Ihr seid ein KâlTeiréen aus dem Volk der Jarhaal, nicht wahr? Sagt mir euren Namen!«

Wieder war da etwas in den silbernen Tiefen, ein kurzes Lodern. Die dunklen Brauen zogen sich zusammen und die Lider schlossen sich wie unter Schmerzen. Dann rann auf einmal ein Zittern durch den Körper des Gefangenen. Er riss sich von Réfen los und warf sich zur Seite, kauerte sich vornüber und wiegte sich unter dem leisen Scharren der Ketten vor und zurück, die Fäuste gegen die Schläfen gepresst. Der Laut, der aus seiner Kehle kam, verursachte Réfen eine Gänsehaut.

Schwachsinnig! Bei den Sternen– was auch immer die Grauen ihm angetan hatten, es hatte den Jarhaal den Verstand gekostet.

»Hauptmann! Die Grauen…« Der Rest von Ledans Worten ging in dem Heulen unter, mit dem der Gefangene ohne Vorwarnung herumfuhr und nach Réfens Dolch langte.

Die Ketten spannten sich mit einem Knall, während Réfen sich selbst ob seiner Unvorsichtigkeit verfluchte und noch versuchte, dem Mann auszuweichen, doch da hatte der andere die Waffe schon an sich gebracht. Mehrere Augenblicke rangen sie um die Klinge. Réfen hörte Ledan hinter sich, zischte, als der Dolch im gleichen Moment tief in seine Handfläche drang, dann gelang es ihm, den Griff des Mannes zu brechen. Klirrend schlitterte die Klinge über die Steinplatten, er stieß den Gefangenen zurück und gegen die Wand, wo er mit einem keuchenden Wimmern liegenblieb.

Der Schmerz war in Réfens Brust zurückgekehrt, die Luft schien ihm zu dünn zum Atmen. Sein Blick fuhr in die Höhe als Ledans Schatten unvermittelt auf ihn fiel– und begegnete den silbernen Augen des Jarhaal. Das Flackern war wieder in ihnen, deutlicher als zuvor, beinah, als würde sich irgendetwas mühsam aus ihren Tiefen emporkämpfen.

Unter dem Kratzen der Ketten schob sich die Hand des Mannes langsam über den Steinboden, auf Réfen zu. »Töte mich!« Die Worte waren nicht mehr als ein brüchiges Flüstern, das in Ledans drängendem: »Vergesst den Kerl! Ihr müsst fort, Hauptmann! Die Grauen kommen!«, beinah unterging, und doch richteten sich Réfens Nackenhaare auf. Wie betäubt wehrte er sich nicht dagegen, dass Ledan ihn aus der Zelle zerrte und hastig in eines der benachbarten Verliese schob.– Bei den Sternen: Der Mann hatte den Dolch niemals gegen ihn benutzen wollen. Dann schloss sich eine schwere Tür mit einem dumpfen Laut, und er zuckte zusammen, als beinah im selben Augenblick ein gellender Schrei erklang. Schaudernd starrte Réfen auf seine blutige Handfläche.

»Hauptmann?« Ledans Stimme ließ ihn aufschauen, dann nickte er, als der Krieger ihm bedeutete, dass er sein Versteck verlassen konnte. Auf dem Gang hielt er inne, blickte einen Moment auf die Tür, hinter der wieder die gleichen schauerlichen Laute erklangen wie in der Nacht zuvor. Ohne auf den Schmerz zu achten, ballte er die Faust. Dies hier war Unrecht und er war inzwischen bereit darauf zu wetten, dass die Königin davon wusste. Es musste aufhören! Aber er konnte nicht nur auf einen Verdacht hin handeln, er brauchte Antworten. Er presste die Lippen zu einem schmalen Strich zusammen. Der Geist des Mannes, der jenseits der Tür unter den Händen der Grauen schrie, bis seine Stimme zerbrach, war so verwirrt, dass er vermutlich noch nicht einmal mehr begreifen würde, was Réfen von ihm wollte. Also konnte er die Antworten nur von Seloran erhalten– oder? Der Gedanke überraschte ihn selbst. Aber vielleicht… Wenn der Mann hinter dieser Tür tatsächlich ein KâlTeiréen war, und wenn das, was man sich erzählte, der Wahrheit entsprach, musste das Geschöpf, mit dem seine Seele sich verbunden hatte, in der Nähe sein. Wenn es ihm gelang, es zu finden, konnte er vielleicht auf diesem Wege die Antworten bekommen, die er brauchte.

Abrupt wandte er sich ab und stieg die Stufen zur Wachstube hinauf. Wie am Abend zuvor hatten die Männer jede Fackel und jede Kerze angezündet und sich in ihrem Licht um den Tisch geschart. Als er den Raum betrat, wandten sich ihm die Augen der Krieger zu. Es war Tellwe, ein Mann mittleren Alters, dessen linke Wange von einer gezackten Narbe zerschnitten wurde, der abrupt seinen Stuhl zurückstieß und auf ihn zu trat. Er warf Ledan einen ärgerlichen Blick zu, während er sein Wams abstreifte und es Réfen um die Schultern legte. Überrascht sah der ihn an.

»Ihr seht aus, als wärt ihr da unten halb erfroren, Hauptmann!«, erklärte Tellwe brüsk, wobei er ihn beinah respektlos zum Tisch schob und damit näher an die Wärme des Feuerbeckens, das in der Ecke stand. Réfen ließ sich auf einen Stuhl drücken, dann reichte Naria ihm ein sauberes Tuch, das er sich um die verletzte Handfläche schlang, während Borda einen Becher mit angewärmtem Würzbier zwischen seinen Händen platzierte. Dankbar nahm er einen tiefen Schluck, betrachtete einen Moment die dunkel glänzende Flüssigkeit. Halb erfroren, ja. In seinen Fingern brannte noch immer die Kälte. Langsam hob er die Augen, sah die Männer einen nach dem anderen an. Schweigend erwiderten sie seinen Blick. In der Stille waren die Schreie, die aus den tiefer liegenden Zellen heraufdrangen, das einzige Geräusch. Borda, in dessen dunkelbraunem Haar sich das erste Grau zeigte und der vor zwei Jahresläufen seinen einzigen Sohn an das rote Fieber verloren hatte; Tellwe, der vor einem halben Leben bei einer Messerstecherei in der Lagunenstadt des Hafens beinah sein linkes Auge eingebüßt hatte und noch immer einen Groll gegen Meeresknechte hegte; Ledan, der so schnell mit dem Dolch war, dass noch nicht einmal Garwon ihm diesbezüglich das Wasser reichen konnte, und dem die Frauen zu Füßen fielen, wenn er ihnen eines seiner seltenen Lächeln schenkte; der junge Naria, der seit einem Halbmond einem Mädchen aus der Tollnagasse am Rand der Lagunenstadt den Hof machte und noch immer glaubte, er, Réfen, wisse nichts davon; und Garwon, der älteste der fünf, kühl und besonnen, ein Mann, der strickt nach dem Ehrenkodex der Krieger lebte und der auch nicht davor zurückschreckte, einem Adeligen die Meinung zu sagen, wenn er es für angebracht hielt. Sie wussten, was er hier gerade tat. Was er dort unten getan hatte. Und jetzt warteten sie, was er noch tun würde. Seine Finger schlossen sich fester um den Becher. Der Schnitt in seiner Handfläche brannte. Noch einmal sah er einen nach dem anderen an, ehe er zu sprechen begann.

»Ich will, dass der Mann am Leben bleibt!«

Die Krieger wechselten schnelle Blicke, schwiegen aber weiter. »Die Grauen kommen erst, wenn die Sonne schon tief steht. Während des Tages…« Réfen machte eine vage Handbewegung. »Brot, angewärmtes Bier, ein paar Schluck Suppe…– Aber die Grauen dürfen keinen Verdacht schöpfen.«

»Wie lange, Hauptmann?« Garwon zwängte die Finger unter die lederne Stulpe und kratzte sich an dem, was unzählige Kämpfe von seinen Unterarmflossen übrig gelassen hatten. Im Kerzenlicht schimmerten die wenigen grauen Fäden in seinem hellen Haar silbrig, als er sich vorbeugte.

»Bis ich Antworten habe!«

»Dann solltet ihr euch beeilen, diese Antworten zu bekommen, sonst ist es vielleicht zu spät.«

Nickend stand Réfen auf, sah die Männer abermals an. »Niemand darf hiervon erfahren!«

Scheinbar verwirrt zog Borda die Brauen in die Höhe. Ein feines Lächeln spielte um seine Lippen. »Wie sollte jemand von etwas erfahren, das gar nicht stattgefunden hat, da ihr ja krank in eurem Zimmer liegt und wir euch gestern, als ihr zusammengebrochen seid, zuletzt gesehen haben?«

5

Die Arme um die eng an den Leib gezogenen Beine geschlungen, saß Darejan in der Fensternische und starrte in die Nacht. Das Mondlicht glänzte in der Kristallkuppel der alten Bibliothek und verwandelte die Lagunenstadt dahinter in eine schwarze Silhouette vor dem silbern schimmernden Spiegel des Meeres, der sich jenseits der Pfahlbauten des Hafens in die Unendlichkeit zu erstrecken schien. Vom Wald her trieb zäher Nebel über die Landzunge auf die Stadt zu. Ein Schwarm Nachtflügel glitt durch die Dunkelheit, angelockt vom Feuer der Seetürme, die auf den Spitzen der Felsenbuhnen weit draußen in die sternenbesäte Finsternis aufragten und den Schiffen den Weg wiesen. Ein Schatten bewegte sich vor der hellen Janansteinmauer des Siebengartens, ein zweiter gesellte sich hinzu, verschmolz mit dem ersten. Der Wind trug ein leises Flüstern bis zu ihr herauf, dann schob sich eine Wolke vor den Mond, und als sie vorbeigezogen war, waren auch die Schatten fort.

Darejan presste die Stirn auf die Knie. Seloran wollte sie verheiraten! Und das auch noch an einen vollkommen Fremden, von dem sie nicht mehr wusste, als dass er ein abtrünniger Jarhaal war, der jenseits des Windmeeres sein Glück gemacht hatte und nun als mächtiger Kriegerfürst nach Oreádon zurückkehrte. Groß und schlank sollte er sein, ein dunkelhaariger Mann mit hellen Augen– und der Herr dieser unheimlichen Grauen Krieger, von denen immer mehr in den Mauern Kahels auftauchten und die er ihrer Schwester sozusagen als Vorhochzeitspräsent schon jetzt überlassen hatte. Binnen der nächsten Mondhälfte erwartete Seloran ihn hier. Darejan schloss die Augen. Dabei hat es ihre Schwester noch nicht einmal interessiert, ob sie überhaupt heiraten wollte. Oder ob sie nicht vielleicht schon in einen anderen Mann verliebt war.

Sie hatte Seloran gefragt, warum nicht sie selbst diesen Fremden zum Gemahl nahm. Das Lachen ihrer Schwester klang noch immer in ihren Ohren. Da sie die Königin der Korun war, hatte Seloran ihr erklärt, konnte sie nicht unter ihrem Stand heiraten, so mächtig der Mann auch sein mochte. Vor allem, da er obendrein aus einem der Völker stammte, mit denen sie bald im Krieg liegen würden– auch wenn er sich schon vor einem halben Leben von ihm losgesagt hatte.

Ärgerlich wischte sie sich die Tränen aus den Augen. Also ruinierte sie Darejans Leben für ein Bündnis. Als wäre sie eine Zuchtstute, die sie an den Meistbietenden verkaufen konnte. Sie ballte die Fäuste in die Seide ihres Gewandes. Noch nie zuvor hatte sie sich so verraten gefühlt.

Irgendwo bellte ein Hund, ein Zweiter fiel ein, dann ein dritter, vierter. Darejan lehnte die Stirn gegen das geschliffene Glas des Fensters und blickte wieder in den Hof hinunter. Fahle Nebelfäden wandten sich über den Boden, schimmerten gespenstisch, wenn sie in das Licht des Mondes gerieten. Das Gebell wurde schriller und endete jäh in einem Winseln, das schließlich auch verstummte.

Ein gellender Schrei erklang auf dem Korridor. Sie sprang auf, wollte zur Tür, als diese schon aufgerissen wurde. Die zweite ihrer Mägde, Briga, stand da, die Augen groß vor Entsetzen, und stammelte etwas, das Darejan im ersten Moment nicht verstand. Nur eines hörte sie heraus, einen Namen: Nian! Hastig schob sie sich an Briga vorbei, aus ihrem Gemach, und blieb abrupt direkt wieder stehen. Ein Wächter kniete neben etwas, das lang hingestreckt auf dem Boden lag. Hastige Schritte näherten sich.

»Was…?«

Der Mann sah auf und schüttelte den Kopf. »Sie ist tot, Prinzessin.« Jetzt erst begriff Darejan, dass er sich über Nians leblosen Körper beugte. Hinter sich hörte sie Briga haltlos schluchzen. Zögernd ging sie zu dem Krieger hin, sank ebenfalls auf die Knie. Ihre Hand zitterte, als sie sie nach der Toten ausstreckte und ihr sacht das Haar aus dem Gesicht strich. Sie schauderte bei dem Anblick. Nians Züge waren zu einer Fratze verzerrt, der Mund zu einem lautlosen Schrei aufgerissen. Ihre Haut war selbst für eine Tote unnatürlich grau und runzlig und spannte sich pergamenten über den scharf hervortretenden Wangenknochen, über denen die Augen viel zu tief eingesunken schienen. Ein Stück weiter den Korridor entlang drängten sich flüsternd Bedienstete, die von dem Schrei der Magd aufgeschreckt worden waren und eben von zwei weiteren Wächtern zurückgedrängt wurden. Das Flüstern verstummte, als sich eine schlanke Gestalt zwischen ihnen hindurch schob. Die Männer und Frauen machten hastig Platz, als sie die Königin erkannten.

Seloran blieb neben der Toten stehen und blickte schweigend auf sie hinab. Im Licht der Kerzen, die den Korridor erhellten, schimmerte ihre Haut wie helles, poliertes Perlmut und schmiegte sich weich über ihre eleganten Wangenknochen. In ihren dunkelblau schillernden Augen brannte ein seltsames Feuer. Die Schatten um sie herum waren verschwunden. Ein unergründlicher Zug huschte um ihre Lippen, dann hob sie den Blick und sah Darejan an. Ein Grollen überall um sie her. Schatten, die vor behauenen Felswänden waberten. Der reglose Körper eines Mannes. Über einen Felsen hingestreckt. Die Brust blutverschmiert. Schimmerndes Grau. Nebelfäden, die sich umeinanderwanden. Wütendes Heulen, das zu Gelächter wurde. Eine Stimme…– Vergiss! Der Schmerz war so unvermittelt in Darejans Kopf, dass sie nicht mehr spürte, wie sie bewusstlos neben Nian auf den Boden schlug.

6

Unter ihm erklang das stetige, leise Klatschen, mit dem die Wellen sich an den Pfählen aus Gedanholz brachen, die die Lagunenstadt schon seit Hunderten von Jahresläufen trugen. Dazwischen trieben träge Tangbündel, die für jemanden, der es wagte, hier ins Wasser zu steigen, zu einer tödlichen Falle werden konnten. Zuweilen durchbrach ein dumpfer Schlag das gleichförmige Geräusch, wenn ein an ihnen vertäutes Boot oder ein Stück Treibholz gegen einen der salz- und muschelverkrusteten Pfeiler prallte.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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