Der Lauf der Dinge - Jörg Ingenpaß - E-Book

Der Lauf der Dinge E-Book

Jörg Ingenpaß

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Beschreibung

"Der Lauf der Dinge" erzählt die Geschichte der Familie Hübner/ Koslowski aus "Anleitung zum Glück" weiter. Rainer und Markus sind erwachsen geworden und versuchen sich in einer Punkband, während Werner und Heike ihre Kneipe unterhalten. Plötzlich taucht Jolanda auf. In den Neunzigern wird Punk und Kiffen durch Tekkno und Speed abgelöst. Markus gerät in den Strudel von Partys und Drogen und entfernt sich immer mehr von Rainer, der mittlerweile solider geworden ist. Als Markus schließlich abstürzt beschließen Rainer und Jolanda eine Familie zu gründen. Doch einfach ist das nicht ...

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Books on Demand GmbH 2023

für Nicole

Der wahre Weg geht über ein Seil,

das nicht in der Höhe gespannt ist,

sondern knapp über dem Boden.

Es scheint mehr bestimmt,

stolpern zu machen,

als begangen zu werden.

Franz Kafka

Inhaltsverzeichnis

Frühjahr ’84

Dezember ’84

Januar ’85

Frühjahr ’85

Sommer ’85

Frühjahr ’86

November ’86

Spätsommer ’87

November ’87

Herbst ’88

Frühjahr ’89

Sommer ’89

Sommer ’90

Frühjahr ’92

Anfang ’93

Frühjahr ’94

Herbst ’94

Sommer ’95

Jahresende ’96

Mitte ’97

Ende ’97/ Anfang ’98

Spätsommer ’98

11. August 1999

Silvester ’99

Frühjahr ’84

Näherte Rainer sich dem Hafen mit seinen stählernen Kranen und geschäftigem Getöse von der Schnellstraße aus, so daß er die Wiesen der Ruhr, auf denen bisweilen Schafe müßig weideten, neben sich liegenließ, sah er schon von Weitem die drei alten, roten, vom Krieg und den Bombardements der alliierten Streitkräfte verschont gebliebenen Backsteinbauten der Spedition Heckmann & Wessels mit ihren schmalen Fenstern, durch die kein Blick dringen mochte, und dem Balkongang auf der obersten Etage, auf dem manchmal Herren im Anzug verweilten, um eine Zigarre zu paffen, wie sie zwischen den neuen, aus den Fünfziger- und Sechzigerjahren stammenden Betonbauten mit ihrer glatten und unpersönlichen Erscheinung, altmodisch, aber doch in gewisser Weise würdevoll, wenn nicht sogar beinahe ein wenig majestätisch emporragten.

Für Rainer gehörte all das zusammen: die Schafe, die Ruhr und die Backsteinbauten. Und all das gehörte zu ihm. Und während er die Schnellstraße entlangfuhr, trug er unter seinem Helm seinen Walkman und hörte die letzte Scheibe von Peter & The Test Tube Babies, hatte den Griff fürs Gas bis zum Anschlag durchgedreht und bretterte die Fahrbahn entlang.

Ein Freund hatte ihm sein altes, schwarz umlackiertes Herkules-Mofa frisiert und nun war er mit über sechzig Sachen dabei. Würden ihn die Bullen anhalten, so wäre die Karre Legende, würde als Exponat beim Tag der offenen Tür der Polizei enden und dort in den Sommerferien von Schülern unter den fachmännischen Erklärungen eines Polizeikommissars, der Krümmer und Hubraum erläuterte, bestaunt werden. Aber Rainer passte ja auf.

Dann kam die Einmündung zum Schotterweg. Rainer verlangsamte das Tempo und verließ die Schnellstraße. Sein Ziel war der mittlere Backsteinbau von Heckmann & Wessels. Seit Herbst war er Lehrling. Mehr Glück als Verstand hatte er gehabt, als er die Zusage erhalten hatte. Mit seiner abgebrochenen Schullaufbahn wäre er als Kandidat für eine Lehre zum Speditionskaufmann gar nicht in Frage gekommen, aber der angehende Lehrling war abgesprungen, hatte etwas Besseres gefunden, und für Heckmann & Wessels war es zu spät geworden, einen neuen Auszubildenden zu rekrutieren.

So war Rainer trotz Jugendarbeitslosigkeit plötzlich der einzig Verfügbare, weil er noch keine andere Stelle gefunden hatte. Glück musste der Mensch haben! Rainer wusste, daß dies eine Chance war, die er nicht vergeigen durfte und so kam er immer pünktlich und gab sein Bestes. Aber ihn begeisterte die Arbeit nicht – im Gegenteil. Sie erschien ihm zumeist uninteressant, entsprach nicht im Geringsten seinen Interessen und langweilte ihn bisweilen durch ihre Eintönigkeit und Stupidität zu Tode.

Heckmann & Wessels besaßen sowohl einen eigenen Schienenanschluss als auch eine Anlegestelle für Lastschiffe. Güterwaggons wurden eingefahren, Kähne legten an, Lastwagen fuhren vor. Rainer musste die Fuhren kontrollieren, die von dem einen auf den anderen Kahn, LKW oder Waggon geladen wurden.

Er notierte, wie viele Paletten, Gebinde oder Container mit irgendwelchen Stahlblechrollen, Turbinen oder Teilen für Schiffsmotoren verladen wurden, fertigte Zollbescheinigungen an, füllte Frachtscheine aus und zeichnete eine Unzahl weiterer Papiere ab.

Als er die Bürotür öffnete, sah er seine Ausbilderin schon Frachtpapiere wälzen.

"Tach Monika."

"Tach Rainer."

Rainer fand sie ganz nett. Sie war ruhig und hatte selbst einen Sohn in seinem Alter, so daß sie entspannt genug war, nicht alles auf die Goldwaage zu legen.

"Und, wie läufts?", fragte Rainer. "Viel los heute?"

"Ach, es geht. Ne Handvoll Ladungen. Die erste in etwa ner Stunde, denke ich. Sach mal, wenne dir en Kaffee holst, bringste mir en neuen mit? Tasse hab ich schon hier." Monika wies auf ihre Tasse, die aussah, als hätte sie seit Beginn seiner Lehre noch keine Spüle gesehen.

"Kein Problem. Muss nur eben noch zum Klo."

"Mach mal."

Rainer stellte seinen Helm auf den Schrank und hängte seine Jacke über den Schreibtischstuhl. Dann ging er zur Toilette. Das Mofafahren mit seinem Gerappel schlug ihm immer auf die Blase. Nachdem er fertig war und für sich und Monika Kaffee geholt hatte, setzte er sich und ging die Papiere durch, die sich im Posteingang stapelten.

"Ja, nix Wildes. Wie du gesacht hast."

"Nich?"

Rainer lehnte sich zurück. Er brauchte sich nicht zu beeilen und ließ daher seine Gedanken schweifen. Gestern hatte er sich lange mit Markus unterhalten, der gerade in seinen Abiturprüfungen steckte.

"Und, meinze du packst dat?", hatte Rainer gefragt. Sie saßen bei Markus im Zimmer auf den Matratzen, die auf dem Boden lagen, hatten ihre Bierflasche neben sich stehen und im Hintergrund lief ein Mixtape mit Punk-Klassikern.

"Weiß nicht, glaub schon."

"Ich mein, also viel übste ja nicht grad und grade mit Mathe als Leiku is dat doch nicht so easy, oder?"

"Mathe mag ich zwar nicht – kann ich aber. Da mach ich mir eher um die andern Fächer en Kopp. Hätte nie Englisch nehmen sollen."

"Und haste en Plan, watte dann damit anfängst, wenne fertich bist?"

Markus lachte und schüttelte den Kopf. Er nahm einen Schluck Bier.

"Nee, woher?"

"Willze studieren?"

"Weiß nicht. Ich werd wohl erst mal meine Verweigerung schreiben. Sicher is sicher. Bevor die Spastis mich noch einziehen. Dat wär ja mal echt dat Hintervorletzte."

"Und worauf verweigerste?"

Rainer war froh, daß er zurückgestellt worden war. T4. Schlechte Zähne und Hüftschiefstand. Vorerst wollte man ihn nicht. Gott sei Dank. Markus hatte weniger Glück gehabt. T2 – außer Fallschirmspringen hätte er alles gedurft.

"Weiß noch nicht", sagte Markus. "Aus ethischen Gründen käm der Sache wohl am nächsten. Religion? Wenn die mich da zum Nachgespräch einladen, bin ich geliefert. Aber eigentlich würd ich ja gern aus politischen Gründen verweigern."

"Aus politischen?"

"Wieso nicht?"

"Is ja nicht ganz ohne."

"Wenn die wollen, wissen die sowieso, dat ich in der SDAJ bin und wenn die wissen, dat mein Alter im Knast war und mit Radikalen abgehangen hat, dann wollen die mich sowieso nicht bewaffnen." Markus lachte und hielt Rainer die Flasche zum Anstoßen hin.

Rainer musste auch lachen; sie stießen an und Rainer sagte: "Auf dein Abi und den Zivildienst, du Radikaler!"

"Jou, Prost!"

Es klickte, als das Tape am Ende war. Rainer lehnte sich zum Tapedeck hin und drehte es um. Der nächste Track war Johnny Was. Markus trommelte mit den Fingern auf den Oberschenkeln mit.

"Und – gehn wir morgen ins AKZent?"

Das AKZent, oder Alternatives Kulturzentrum, wie es richtig hieß, war Rainers Lieblingsladen. Freitags spielten da Punkbands und er und seine Freunde gingen immer dorthin. Alles hatten sie dort schon gesehen – die Plastic Brains, die Bad Sinners und auch Pseudo-Krupp. Das Bier war billig und der Laden immer voll wie Hulle, schon im Eingang saßen die Leute rum.

Die Wände waren bis unter die Decke mit Parolen wie Weg mit dem Scheißsystem! und Lasst euch nicht BRDigen! besprüht, die Toiletten siffig und der ganze Laden roch wie die hinterste Ecke der Bahnhofskneipe. Aber die Konzerte waren wild, laut und die Partys dauerten bis zum nächsten Morgen. Genau das brauchte Rainer nach einer öden und trostlos langweiligen Arbeitswoche bei Heckmann & Wessels.

"Spielt da wer?", fragte er.

"Bin da gestern vorbeigekommen, da hing en Plakat. Demolition Unit. Aus Holland. Kennze die?"

"Nie gehört, aber wird bestimmt gut."

"Denk ich auch."

Rainer nippte an seinem Kaffee. Er blätterte den ersten Satz Unterlagen aus dem Posteingangskorb durch und griff sich den obersten Frachtschein. Eine Fabrik aus dem Bergischen, das würde heute die erste Ladung sein. Eine Zulieferfirma. Das hieß, palettenweise gebundene Teile. Einfache Sache: Durchgezählt, multipliziert, von A nach B geladen, abgezeichnet, fertig. Mittagessen gehen.

Arbeit konnte schon pillepalle sein. Womit die Leute ihr Geld verdienten – Rainer wunderte sich immer wieder. Wenn er an damals dachte, an Amsterdam, als er obdachlos gewesen war, seine Knete hatte erbetteln oder sonstwie verdienen müssen, von einem auf den anderen Tag gelebt hatte – Gar kein Vergleich war das.

Nicht, daß er die Zeit in Amsterdam bereute, aber so im Vergleich konnte Leben schon verdammt einfach sein.

Der Tag bei Heckmann & Wessels verging nicht wie im Flug, aber ohne besondere Ereignisse. Vier Ladungen fertigte Rainer ab, füllte die Papiere aus und verbrachte die restliche Zeit mit Kaffeetrinken, dem Durchstöbern des Kleinanzeigenblattes und nutzlosem, aber halbwegs unterhaltsamem Smalltalk mit den anderen Lehrlingen und Praktikanten der Nachbarabteilungen. Sie sprachen über die Arbeit, die Chefs, die Berufsschule. Alles Dinge, die nichts mit seinem richtigen Leben, seiner Freizeit, zu tun hatten.

Rainer freute sich auf den Abend im AKZent. Vorher würden sie bestimmt noch auf ein oder zwei Bier ins Café Randgruppe gehen. Zur Einstimmung war das ganz brauchbar.

Obwohl: Vielleicht war Jasmin wieder da. Rainer war sich nicht sicher, ob er die heute sehen wollte. Jasmin war eine Grufti-Alte. Nicht unsexy auf ihre Art, aber seit neulich …

Da hatte sie ihn angebaggert und er war drauf eingestiegen.

"Na, wie gehts?", hatte sie gesagt und sich einfach zu ihnen gesetzt.

"Alles locker. Und selbst?"

"Kann ich mich zu euch setzen?", hatte sie gefragt, dabei saß sie doch schon und hatte ihren Cuba Libre vor sich auf dem Tisch positioniert.

Unter ihrem schwarzen Minirock trug sie Netzstrümpfe. Sowas trug sie immer – war eben eine Grufti-Alte.

"Und, wo gehts heut noch hin? Steht wat an?", fragte Jasmin.

"Wir wollten ins AKZent. Da spielen Flesh & Muscles."

"Kenn ich nicht", sagte Jasmin.

"Ne Punk-Gruppe aus Belgien", erklärte Rainer.

"Hmm, wie sind denn die?", fragte Jasmin.

"Keine Ahnung, aber kostet nur en Fünfer Eintritt."

"Ja, aber ins AKZent. Weiß nicht."

"Wieso?", fragte Markus. "Is doch geil da."

"Da stinkts immer so. Nach Pisse und irgendwie nach Fäulnis und Schweiß."

"Quatsch", sagte Rainer.

"Doch", sagte Jasmin und tatschte ihm die Schulter.

"Gar nicht. Dat riecht da nur en bissken wie nicht gelüftet", sagte Rainer.

"Ja, nach Schweiß und Fäulnis. Immer wenn ich da war, musste ich mich anschließend erst mal duschen." Rainer fand das überzogen. Klar roch es woanders besser und das AKZent war ein echt siffiges Loch, aber wollte man etwa ins chromglänzende Coco Flair gehen oder ins Maison chic einen Kir-Royal schlürfen, wo die Mantafahrer mit ihren blonden, toupierten Pudeln hingingen und zu Michael Jackson und Sheila E. im Flashlight unter der Discokugel abzappelten?

"Ja, und? Wat wär denn dein Plan für den heutigen Abend?", fragte Rainer.

Markus sagte nichts. Er schien von Jasmins Gegenwart genervt.

"Weiß nicht", antwortete Jasmin.

"Siehste", sagte Rainer. Jasmin lachte und tatschte ihm wieder die Schulter. Dabei klang ihre Lache gestellt.

"Wann gehts denn da los?", fragte Jasmin.

"Eigentlich schon in zehn Minuten, aber die haben da immer elendich Verspätung. Vor halb zehn läuft da nix."

"Hmmm." Jasmin knetete ihre Unterlippe zwischen Daumen und Zeigefinger. Dann sagte sie: "Bin dabei."

Rainer sah, wie sich Markus’ Gesicht ein wenig verfinsterte, aber was sollte es? Jasmin würde ihnen ja nicht den ganzen Abend auf der Pelle hängen.

"Gut", antwortete Rainer. "Aber jetzt geh ich erst mal nochn Bier holen. Markus – auch eins?"

"Lass mal, ich hol schon", antwortete Markus und stand auf.

Rainer vermutete, daß Markus lieber zur Theke ging, als mit Jasmin allein am Tisch zu sitzen. Als der in der Menschenmasse an der Theke verschwunden war, setzte sich Jasmin zu Rainer auf die Bank.

"Der Stuhl ist ungemütlich."

"Ach so", sagte Rainer.

Später im AKZent machte sich Jasmin immer intensiver an Rainer ran. Der fand das nicht unangenehm. Jasmin war schon eine Hübsche, auch wenn ihm dieser Grufti-Look nicht wirklich gefiel. Das blass geschminkte Gesicht mit dem schwarzen Kajal, die hochtoupierten Haare. Und eigentlich passte sie damit auch nicht ins AKZent, aber irgendwie war es auch egal, denn im AKZent hingen so viele Leute rum, die dort nicht hinpassten, einschließlich ihm selbst, daß das gar keine Rolle spielte. Da alle dort stoned oder besoffen waren oder sonstwie mit dem Kopf in den Wolken hingen, war es völlig Wurscht.

Flesh & Muscles waren schlechter als erwartet. Ihre Bühnenpräsenz war nicht übel, aber der Drummer hatte null Taktgefühl und so kamen alle ständig durcheinander. Die Gitarrenriffs saßen nicht, der Bass ploppte so unrhythmisch einher, daß es ungewollt funky wirkte und der Sänger fand sich in dem Chaos nicht zurecht.

Während Markus vorn im Getümmel stand, hatte Rainer sich mit Jasmin in Richtung Bar aufgemacht und für sie einen Cuba Libre gezahlt. Er wusste selbst nicht, wieso. Sie unterhielten sich über Gruppen, die Rainer oder Jasmin gut fanden und stellten fest, daß sie doch einige Gemeinsamkeiten hatten – Joy Divison oder Bauhaus zum Beispiel.

Dann lästerten sie über Leute, die sie beide kannten und irgendwann fragte Jasmin: "Wat machste hiernach noch?"

"Nach Hause, denk ich mal."

"Magste noch auf en Kaffee mit zu mir?", fragte Jasmin und lächelte ihn an.

"Weiß nicht", antwortete Rainer.

"Sollteste aber. Weißt du eigentlich, daß du echt süß bist?", fragte Jasmin und gab ihm einen Kuss.

Rainer merkte, daß er rot wurde, obwohl es nichts gab, um rot zu werden. Was war dabei: Ein Kuss. Was war schon ein Kuss?

Am Ende war Rainer mit zu Jasmin gegangen.

Markus hatte den Kopf geschüttelt und gesagt: "Musse wissen, Rainer, viel Spaß."

Rainer hatte genickt und sie waren zu Jasmin gefahren, die bereits eine eigene Bude hatte. Und natürlich waren sie im Bett gelandet. Wo auch sonst?

Rainer hatte es im Nachhinein nicht schlecht gefunden, aber auch nicht gut, weil er Jasmin nicht wirklich toll fand, nicht mit ihr zusammen sein wollte und weil ihm One-Night-Stands nicht lagen.

Und außerdem: Er hing immer noch an Jolanda.

Jolanda – seine große Liebe, die er zurückgelassen hatte.

Und von der er nicht mal wusste, was sie heute tat und wo sie war. Ob sie immer noch in Amsterdam wohnte? Immer noch Tulpen beim Großhändler verpackte? Vielleicht war Jolanda ja mittlerweile verheiratet oder hatte ein Kind. Vielleicht war sie wieder auf H. Vielleicht … ach, was wusste er schon? Es war alles möglich. Schließlich hatte er seit fast einem Jahr nichts von ihr gehört, keinen Brief von ihr bekommen. Und sie auch nicht von ihm.

Trotzdem war da was, das sie verband. Er spürte es ganz deutlich.

Dezember ’84

"Hier die Wurst, hier hamm wa den Käse und hier den Kaffee. Soll ich Ihnen den Käse und so direkt in den Kühlschrank packen, Frau Szech?", fragte Markus.

"Ach, lassense", antwortete Frau Szech. "Wennse mir noch den Abfall runterbringen würn?"

"Sicher, mach ich doch sowieso, wenn ich geh", antwortete Markus. Dann fiel ihm das Wechselgeld ein. "Hier noch der Kassenbon, 39 Mark 78, und hier dann das Wechselgeld, zehn Mark und zehn, zwölf, 22 Pfennige."

Markus legte die Münzen auf den Küchentisch. Die Küche von Frau Szech war übersichtlich, wenn nicht gar spärlich eingerichtet und auch die übrige Wohnung stand fast leer. Frau Szech war Sozialhilfeempfängerin, also bezahlte das Amt die Zivildienstleistenden der Altenhilfe e.V., bei der Markus seit September seinen Zivildienst absolvierte.

"Hier, die Münzen könnense sich einstecken", sagte Frau Szech und schob Markus die 22 Pfennige rüber.

"Vielen Dank", sagte Markus, nahm das Geld, drehte sich um und legte es auf den Küchenschrank.

Er wusste, daß Frau Szech kaum Geld hatte und wollte das Kleingeld nicht annehmen. Aber hätte er was gesagt, hätte Frau Szech drauf bestanden.

Da fand er es schon interessanter, mal bei ihrem Hausarzt vorbeizugehen und sich mit dem Vorwand, Frau Szech habe das Rezept verlegt, ein neues für Valium 10 und Normoc einzupacken. Das knallte mit einigen Bieren recht gut.

"Das ist aber eine große Dose Erbsen mit Möhren", sagte Frau Szech, als sie anfing, die Lebensmittel einzuräumen.

"Sie und Ihr Mann hamm doch auch Hunger", sagte Markus.

"Ja, sicher – dat stimmt."

Frau Szechs Mann, den sie immer nur Tarzan nannte, war vor zwei Jahren gestorben, aber Frau Szech kochte immer noch für ihn mit. Sie stand dann immer am Fenster und rief ihn herein, weil er doch "draußen im Garten arbeitete".

"Tarzan! Tarzan! Komm rein, gibt Essen."

Das erste Mal, als Markus das miterlebt hatte, wusste er gar nicht, wie er reagieren sollte, aber mittlerweile gehörte Tarzan einfach dazu. Er wurde bekocht, seine Kleidung lag auf dem Bett und kam er nicht rechtzeitig zum Essen, musste Markus mit Frau Szech in den Garten und ihn überreden, reinzukommen.

Markus fand das gleichermaßen lustig wie traurig. Frau Szech tat ihm leid, so dement und allein zu Hause, aber die Storys, die er bei ihr erlebte, hatten auch einen gewissen Standup-Comedy-Charakter.

"Ach, Frau Szech, der Stundenzettel." Markus legte den Stundenzettel seiner Dienststelle auf den Tisch.

"Hamse en Stift?", fragte Frau Szech.

"Sicher, hier." Markus hielt ihr den Kugelschreiber hin und Frau Szech unterschrieb, ohne den Zettel auch nur eines Blickes zu würdigen.

Bei den Dementen, bei denen das Amt die hoch angesetzten Stunden bezahlte, schrieb Markus immer mehr auf, als er eigentlich geleistet hatte. Das war praktisch, denn so hatte er früh Feierabend.

Bei Frau Szech holte er Kohlen aus dem Keller, ging einkaufen und saugte Staub. Das war in knapp zwei Stunden zu erledigen, aber aufschreiben konnte er dreieinhalb. Genauso machte er es bei Frau Brinkfeld, Frau Dehlen und so weiter. So sparte er zwei oder sogar drei Stunden täglich ein.

Eigentlich ein cooler Job. Markus hätte das am liebsten länger gemacht, als der Staat den Zivildienst vorsah. Kaputt machte er sich nicht und mit den Omis kam er gut klar. Die Opis hatten schon fast alle die Hufe hochgerissen. So war das nun mal.

Heute kam Markus das besonders recht, denn er wollte noch bei Achim, seinem Stammdealer, vorbei. Sein Dope-Vorrat neigte sich dem Ende und das Wochenende stand vor der Tür. Abhilfe tat Not.

Achim wohnte in einer WG mit lauter Hippies in der Nähe vom Altmarkt. Markus mochte weder Hippies noch deren Sound, aber Achim hatte das beste Dope. Ketama Gold, ganz frisch aus Marokko. Stolz zeigte Achim ihm dann die Hundert-Gramm-Platte mit dem Prägestempel, der das Wappen der Region Ketama trug.

Den ersten Bong musste Markus immer direkt dort rauchen, denn Achim war eine Labertasche. Erzählen konnte der – ohne Ende. Über seine Fahrten in den Jemen, wo er seinen alten Mercedes verkauft hatte und all solchen Hippiekram.

Markus überlegte, ob er vor dem Einkauf bei Achim noch nach Hause sollte, denn er war kladdernass. Es hatte stark geregnet und Markus hatte keine Lust gehabt, auf dem Mofa den Regenanzug zu tragen.

Aber egal, saß er eben nass bei Achim herum. So hatte er wenigstens einen Grund, nicht ganz so lange dessen Geschwafel anzuhören und sich schnell wieder aus dem Staub zu machen.

"Tach Markus, lang nicht gesehen", begrüßte Achim ihn. "Bisse wieder zurück aus Westfalen?"

"Ja, endlich. Nachher hats doch genervt."

"Komm rein, setz dich. Erzähl mal, wies dir da ergangen ist."

"Können wir schnell machen? Ich bin nass wie Sau, siehste ja." Markus stellte sich vor Achim hin und wies auf seine Kla-motten.

"Ja, aber trotzdem, jetz setz dich erst mal hin", sagte Achim. Ließ sich durch nichts beirren, die Boxbirne. Nun gut. "So, und jetz lass mal hörn, wie et war mit den anderen Zivis", fragte Achim, als sie saßen.

Markus war letzten Monat zur Zivildienstschule gewesen, einen Monat in einer ehemaligen Nazivilla im tiefsten Westfalen, die von den Engländern – oder waren es die Amerikaner gewesen? – nach dem Krieg beschlagnahmt und dann anschließend mit der Auflage freigegeben worden war, sie irgendwelchen gemeinnützigen Zwecken zuzuführen. So war sie schließlich zur Zivi-Schule umfunktioniert worden.

"Dat is übrigens Benni", sagte Achim und zeigte auf einen Langhaarigen in Markus’ Alter. "Benni will auch verweigern. Wie hattesse dat eigentlich noch gemacht? Auf ethische Gründe?"

"Politische", sagte Markus.

"Alle Achtung! Königsdisziplin", sagte Benni. "Und keine Probleme mit Vadda Staat bekommen?"

"Nee", sagte Markus. "Hab geschrieben, dat ich als Mitglied einer Partei, die die Abschaffung des politischen Systems der BRD im Programm befürwortet, nicht geeignet bin, den Dienst an der Waffe zu leisten, und dat ich im Ernstfall nicht wüsste, ob ich nicht zum Feind, sei er denn Russe, überlaufen und meine Waffen gegen die eigenen Truppen wenden würde."

Benni schlug sich auf die Schenkel. "Gewagt, Alter, gewagt", sagte er.

"Und wie wars jetzt in der Zivi-Schule?", fragte Achim.

"Geil. Da war en Schwabe, der Psilocybin-Pilze beigehabt hat, die er immer am Wochenende im Wald sammelt. Nachts warn wir dann so hektisch, da hamm wir uns dann manchmal mit Opium von einem aus Hamburg runtergeraucht. Mann, hab ich Filme gefahren: Habe dagelegen und mein Blut in den Venen rauschen gehört und überall Schritte gehört, wo keiner war, voll schräg. Aber auch zu geil. Da war ich mit dem Dope echt en Waisenknabe."

Markus wurde langsam ungeduldig. Achim sollte jetzt das verflixte Dope auspacken.

"Ja, krass. Hey, da bereu ich ja beinahe, T5 zu sein." Achim hatte Scheuermann und ging immer gebeugt. "Und sonst so? Wat habter da gemacht? Also, ich mein jetzt, wat da so unterrichtet wurde?", fragte Achim.

"Dies und das. Achim, können wir jetz ma? Ich will echt nach Haus, mich umziehen", sagte Markus. Langsam ging Achim ihm auf die Nerven mit seiner Fraugerei.

"Gut, klar. Wieviel bekommsse denn heute?", fragte Achim.

"Gib ma zwanzig Gramm", antwortete Markus. "Dann reicht das bis über die Feiertage."

"Kluge Entscheidung. Kennze ja, über Weihnachten is immer schwer."

Achim holte den Beutel mit den Platten und seine Waage. Er hielt ein Messer über die Flamme seines Kartuschenkochers, dann schnitt er einen Streifen ab und legte ihn auf die Waage. Der würzige Geruch von angesengtem Dope drang in Markus’ Nase.

"Knapp 19, gutes Augenmaß", sagte Achim. Er knappte noch ein Stückchen ab und legte es dazu.

"20,6 – soll gut sein so."

"Danke, Achim." Markus packte das Dope ein, sein Geld aus und legte es hin; Achim nahm es wortlos. "Hömma Achim, ich verpiss mich dann jetzt. Siehst ja, ich bin scheißenass geworden und will mir trockene Sachen anziehen."

"Kein Problem, Alter, mached gut un frohen Christ, falls wir uns nicht vorher noch mal sehn."

"Jou, dir auch, und dir natürlich auch, Benni."

"Kannze vielleicht mal Achim deine Verweigerung reinreichen? Vielleicht kann ich da wat draus gebrauchen", fragte Bennie noch.

"Kein Thema, mach ich." Dann stand Markus auf und trat den Heimweg an.

Markus war abgenervt, daß Achim ihn so lange aufgehalten hatte, obwohl er ihm ein paarmal gesagt hatte, daß er schnell loswollte. Er schwang sich auf sein Zivi-Mofa und fuhr nach Hause, um sich in seinem Zimmer erst mal gemütlich einen Feierabend-Joint zu bauen.

Gegen drei traf er zu Hause ein. Seine Mutter war mit seinem Stiefvater in der Kneipe beschäftigt. Um fünf würden sie öffnen, dann hatte er seine Ruhe. Dann würde auch Rainer aufschlagen, was essen und danach würden sie los in den Proberaum, den sie seit ein paar Wochen hatten.

Vor sechs Wochen, bevor er in die Zivi-Schule musste, hatte er einem Typen, den er betreute, dessen alte Musikinstrumente rausgeleiert. Erwin hieß der und war wohl in der Jugend recht witzig draufgewesen. Nun saß er im Rollstuhl und machte nichts mehr, außer mit seinem CB-Funk herumzuspielen. Zu Hause bei Erwin hing die ganze Wohnzimmerwand voller QSL-Karten: Rote-Else aus Frankfurt, Super-Faultier aus Bremen und Sir Charles aus Bad Soundso. So nannten sich diese Langweiler, die abends mit dem Mikro in der Hand herumsaßen und sagten: "Hier Kasper Hauser, hier Kasper Hauser, Kanal 45, kann mich jemand hören? Hier Kasper Hauser."

Markus hätte sich sowas nicht vorstellen können, aber er saß ja auch nicht im Rollstuhl. Bei Erwin mit seiner Multiplen Sklerose war das was anderes, der hatte in den Sechzigern in einer Beatgruppe gespielt. The Black & Whites – und so wie er erzählte, war das wohl eine ziemlich heiße Zeit gewesen.

Armer Erwin – die heiße Zeit war für ihn vorbei. Und so hatte Erwin, der das wusste, als Markus ihm erzählt hatte, daß er gerne Schlagzeug spielen wollte und sein Halbbruder – er hatte Rainer der Einfachheit halber als Halbbruder bezeichnet – doch wieder gern Gitarre spielen würde, Markus die ganzen alten Instrumente und die alten Gitarren- und Bassverstärker überlassen und gesagt: "Aber wenn ihr mal auftretet, sagt Bescheid", wohl wissend, daß er ohnehin nicht dorthin konnte.

Zu Hause hatten Rainer und er die Instrumente ausprobiert.

"Wow, wat is los, dat is ja mal ne echt coole Gitarre", hatte Rainer gesagt. "Die is ja mal der Hammer."

"Und der Verstärker, en altes Röhrending. Und schau mal hier, der Bass." Markus hielt ihm den Bass mit einer Sunburst-Lackierung hin.

"Dat is ja mal voll der Schnapper."

Sie hatten sich umgeschaut und Bekannte gefragt, ob es irgendwo einen Proberaum gab, und schnell was in einem Hochbunker gefunden. Er war nicht groß und auch nicht schön, vielleicht an die zwanzig Quadratmeter und ein Drittel des Raumes war so niedrig, daß man nicht aufrecht stehen konnte. Dort stellten sie das Schlagzeug und eine durchgewetzte Ledercouch auf. Markus stieß sich die ersten Male immer die Birne, wenn er von dem Hocker aufstand.

Sie hatten keine Ahnung, aber es machte einen Heidenspaß. Markus konzentrierte sich darauf, gleichmäßig statt abwechslungsreich zu spielen, so daß Rainer, der ein wenig Gitarrenerfahrung hatte, ihn mit ein paar Riffs begleiten konnte.

Es war noch alles ziemlich unausgegoren und schräg, da war Markus ehrlich genug zu sich selbst. Aber was sollte es? Schließlich hatten sie erst viermal zusammen gejammt. Die Ramones waren auch nicht am ersten Tag im CBGBs aufgetreten.

"Na, Markus?" Rainer war reingekommen.

"Wie issed?", fragte Markus.

"Alles klar soweit, ganz unstressig gewesen

heute."

"Rauchse einen mit?"

"Lass mal, ich ess erst mal was."

Markus hatte damit gerechnet und wohlweißlich nur zwei Blättchen genommen. Hätte er einen Drei-Blatt-Joint alleine geraucht, wäre er nicht mehr mit dem Arsch hochgekommen, um in den Proberaum zu fahren. Und das ging ja mal gar nicht. Denn das war genau, was Markus wollte: Sound machen.

"Im Ofen steht noch en Rest vom Mittag für dich", sagte Markus und Rainer nickte und verließ das Zimmer. Markus machte es sich auf seiner Matratze bequem und stellte die Adicts lauter.

Johnny was a soldier

He can’t dance anymore

when he came out

he tried to form a band

but he’s only got one leg

and he can’t hardly stand

"Tja, Johnny, Zivi ist schon geiler als Krieg, was?" Markus kicherte, lehnte sich gemütlich zurück und stekkte sich den Joint zwischen die Lippen.

Januar ’85

"Scheißekalt", sagte Markus.

"Kannze drauf", antwortete Rainer.

Markus hatte die Hände in die Taschen gesteckt, aber nun bekam er einen Joint gereicht. Er nahm eine Hand aus der Manteltasche, griff danach und nahm einen tiefen Zug.

Es hatte etwas genieselt und sie standen zitternd vorm Proberaum-Bunker. Die Luft war kalt und diesig, es hatte Smog-Warnung gegeben. Der Lichtschein der Laternen kam Markus vor wie eine leuchtende Wattekugel. Vielleicht war es ja auch so.

Und während Markus dastand, in das leuchtende Etwas starrte und plötzlich über das geozentrische Weltmodell von Tycho Brahe grübelte, in dem die Planeten von Kristallkugeln statt einer Atmosphäre umgeben waren, fragte Rainer: "Und, meinze, der kommt, der Typ?"