In Zeiten wie diesen - Jörg Ingenpaß - E-Book

In Zeiten wie diesen E-Book

Jörg Ingenpaß

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Beschreibung

In Zeiten wie diesen erzählt von einer Zeit nach der Klimakatastrophe. Die Geschwister Noah und Alina leben im Duisburg der 60er Jahre des 21. Jahrhunderts. Die Menschheit leidet Hunger, ein Gesundheitssystem gibt es nicht mehr und der Staat ist, wo er nicht mit restriktiver Härte regiert, Clansystemen gewichen. Während Alina als praktische Ärztin mehr Menschen in den Tod geleitet, als ihnen helfen zu können, nimmt Noah an einem Experiment teil, in dem er in die Vergangenheit geschickt werden soll, um die Menschen zu einem nachhaltigeren Leben zu bewegen und so die Gegenwart von der Vergangenheit aus zu verändern.

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Für die Welt

Wenn wir die Natur besiegt haben, werden wir uns auf der Verliererseite wiederfinden.

Konrad Lorenz

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

1

Noah radelte neben Alina. Er hatte seine Schwester von der Arbeit abgeholt und sie kamen vom Norden her in das bewohnte Gebiet Duisburgs. Ihre Blicke trafen sich und Noah bemerkte, daß Alina außer Atem war. Die Hitze machte ihr zu schaffen, und auch Noah war erschöpft. Er hatte den ganzen Tag im IRZK zugebracht. Sie hatten versucht, einen Kollegen auf die Reise zu schicken. Noah wusste nicht, ob es funktioniert hatte, keiner wusste das. Nie wusste man das. Trotzdem probierten sie es. Denn das war ihr Job und ihre Hoffnung. Noah schaute nach rechts; über den Linsenfeldern glühte die untergehende Sonne in einem unbarmherzigen rot. Bestimmt war es noch an die sechsunddreißig Grad heiß. Oder auch nur vierunddreißig. Es war totenstill. Im Sommer sowieso. Da hörte man kein Insekt. Und Vögel gab es lange schon nicht mehr.

„Schau mal dahinten", sagte Alina und wies mit einer Kopfbewegung an den Westrand der Felder. Eine Gruppe Menschen lief dort umher.

„Bestimmt Plünderer, wer soll sonst dort herumlungern", antwortete Noah. Abends wurden die Felder bewacht und die Schutztruppen massakrierten die Plünderer mit ihren Äxten. Tagsüber war es wegen der Hitze ohnehin zu gefährlich, sich auf den Feldern aufzuhalten.

„Weißt du noch letzten Monat?", fragte Alina.

Sie hatten auf dem Nachhauseweg einen gefunden, der anscheinend die Mittagssirene missachtet oder nicht gehört hatte. Noah hatte gesagt:

„Schau mal, der Trottel." Und Alina hatte geantwortet:

„Ob der noch was Brauchbares dabeihat?"

Sie hatten angehalten und waren abgestiegen. Alina hatte Noahs Rad gehalten, damit er schnell wieder aufspringen konnte – vielleicht war es ja eine Falle. Noah hatte dem Toten in die Hosentasche gefasst, aber alles, was er fühlte, war die ausgetrocknete Haut, durch die er bis an die Beckenknochen tasten konnte.

„Nein, nichts, nur Haut und Knochen."

„In der Hemdentasche?"

Noah griff hinein.

„Nur Rippen."

„Na dann."

Sie fuhren weiter. Kopfschüttelnd.

Alina wohnte in der Nähe des Pollmann-Kreuzes in Marxloh. Früher war das ein belebtes Viertel gewesen. Noah wohnte keine zehn Minuten entfernt, aber oft blieb er über Nacht bei Alina und seinem Schwager Jan. Nachdem Noahs Frau gestorben war, war ihm seine Wohnung fremd geworden. Das Leben war ihm fremd geworden.

Sie erreichten das alte Mietshaus aus den zwanziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts und gingen die Treppe hoch. Es roch nach Staub und Hitze. Oben angekommen öffnete Alina die Tür, Noah folgte ihr und schloss sie hinter sich.

„Alina?", rief Jan von seinem Bett aus. Seine Lungenkrankheit schien ihm zu schaffen zu machen. Er keuchte. Obwohl Alina Ärztin war, konnte sie ihm nicht helfen. Sie wusste nicht einmal, was er genau hatte.

„Ja", antwortete sie. „Ich hab Noah mitgebracht."

Noah hatte miterlebt, wie sich Alinas Beruf in den letzten Jahrzehnten verändert hatte. Er erinnerte sich an die Zeit, als sie Medizin studiert hatte. Stolz war sie gewesen, doch viel davon hatte sie sich nicht erhalten können. Da war Noah froh, daß er Wissenschaftler war und Rückführungen plante.

„Ah, ja. Noah, wie geht es? Habt ihr wieder einen auf die Reise geschickt?", fragte Jan.

„Ja", antwortete Noah. Früher hatte er mit Jan oft in der Kneipe einen getrunken und sie hatten über Gott und die Welt geredet. Aber durch seine Krankheit war er matt und still geworden, wie aus dem Leben gefallen, und das tat Noah leid.

„Und, ist er gut angekommen?"

„Er ist nicht mehr hier", antwortete Noah.

„Das ist gut", sagte Jan.

Alina ging zur Kochstelle. Seit dem großen Blackout bestand sie aus einem alten Rost, über den sie einen Abzug gebaut hatten, der in einen Kaminabzug des Mehrfamilienhauses mündete. So konnten sie gefahrlos Feuer machen. Noah ging mit Alina am Wochenende oft morgens hinaus. In den toten Wäldern war es ein leichtes trockenes Holz und Reisig zu sammeln, und so konnte Alina auf dem Rost kochen, wann und solange sie wollte, statt die Stromsperrstunden zu beachten.

„Soll ich?", fragte Noah.

„Das wäre nett. Meine Hände sind so steif", antwortete seine Schwester. Noah nahm den Bogen und das Brett, den Holzstift und etwas Zunder. Dann spannte er den Stift zwischen den Faden des Bogens und positionierte ihn in der Kuhle des Brettes, das er mit dem Zunder ausstaffierte und einem kleinen, flachen Stein, den er in der Hand hielt Er bewegte den Bogen hin und her. Der Holzstift drehte sich. Noah pustete leicht auf den Zunder und schließlich entflammte dieser. Alina hatte bereits etwas Kleinholz und altes Papier in die Feuerstelle gegeben. Jan beobachtete die beiden und hustete seinen trockenen, rauen Husten. Bald brannte das Herdfeuer und Alina setzte den Topf mit den Linsen, die sie am Vortag zum Wässern aufgesetzt hatte auf den Rost. Sie öffnete den Schrank und holte ein Fladenbrot heraus.

„Schon ein wenig trocken geworden."

„Hauptsache nicht schimmelig."

Noah schaute sich den Hirsefladen an, den Alina vorgestern auf dem flachen Stein am Küchenfenster in die Sonne zum Trocknen gelegt hatte. Er biss eine Ecke ab. Es schmeckte leicht säuerlich, so wie es sein sollte, aber viel war es nicht mehr.

„Hättest Du was gesagt, Alina, dann hätte ich noch etwas Weizenbrot mitgebracht", sagte Noah.

„Weizenbrot?", fragte Alina. „Wo hast Du das denn her?"

„Ich war im StaLe", antwortete Noah. StaLe war der staatliche Lebensmittelladen, der rationalisierte Waren verkaufte.

„Und da gab's gerade Weizenbrot?"

„Nein, aber Weizenmehl. Ich habe gebacken."

„Gab's auch Äpfel oder Birnen?", fragte Jan.

„Nein, ansonsten war Flaute", antwortete Noah.

„Habt ihr Fleisch mitgebracht?", fragte Jan.

„Woher denn?"

„Ihr wart doch auf den Feldern."

„Man trifft ja nicht jeden Tag auf einen Köter", sagte Alina.

„Und eine Ratte oder Katze?"

„Auch nicht", antwortete Noah.

„Na, dann", sagte Jan und rieb sich den Bauch.

„Du wirst auch so satt werden, jammere nicht", sagte Alina unwirsch.

Noah zuckte zusammen. Sie meinte es nicht so, aber was sollte sie auch anderes sagen? Und Jan wusste ja, daß man nicht jeden Tag Glück haben konnte. Noah mochte Katze sowieso nicht. Ohne die richtige Marinade schmeckte Katze einfach ekelhaft, und im Sommer fand man nicht die richtigen Kräuter, um sie zu marinieren. Im Winter war das etwas anderes. Wenn es mal regnete, sprossen Kräuter aus dem Boden, und dann konnte er Brennnessel, Löwenzahn und Sauerampfer suchen. Dann gedieh auch mal ein Kohlkopf oder man fand hier oder da einen Beerenstrauch. Im Winter konnte Noah Kräuter sammeln und trocknen. So hatte er im Sommer etwas zum Würzen, wenn es nur Linsen und Hirse gab. Er vermisste die Vielfalt an Gemüsesorten und Früchten, aber es war nichts zu machen: Seitdem der Klimawandel zugeschlagen hatte, gab es Hirse und Linsen.

Das letzte Woche mit dem Köter war pures Glück gewesen. Plötzlich hatte er dagestanden. Ein Mischlingshund, gar nicht mal so klein. Er hatte erst geknurrt, dann gewinselt und war schließlich auf sie zugekommen. Alina war abgestiegen und hatte auf ihn eingeredet: „Ja, ein Braver bist du, ein ganz Braver."

Noah hatte sich umgesehen. Schnell musste das gehen. Ganz schnell. Er hatte ein Stahlrohr gesehen, es lag keine vier Meter entfernt zwischen den Linsenbüschen. Noah hatte sein Rad hingelegt und hatte das Rohr geholt Und als er zurückgekommen war – Bammm!

Während Alina noch den Hals des Hundes kraulte, hatte Noah ihm das Rohr voll gegen den Schädel gezimmert. Er wollte ja nicht, daß sich das Tier quälte. Und das tat es auch nicht Es war umgefallen wie ein nasser Sack. Es hätte ohnehin keine Viertelstunde mehr überlebt.

Irgendwer kam hier immer lang, und niemand hätte diese Gelegenheit unversucht gelassen.

„Guter Schlag", hatte Alina gesagt

„Ja." Noah schluckte.

Es war wirklich ein guter Schlag gewesen.

Sie mussten zusehen, daß niemand sie mit dem Hundekadaver sah, mussten ihn unbemerkt nach Marxloh bringen, sonst hätte man ihnen das Vieh geklaut Womöglich hätte man sie erschlagen deswegen. Alina hatte eine Decke dabei und Noah wickelte den toten Hund ein und schnallte ihn auf seinem Gepäckträger fest. Dann radelten sie weiter. Noah hatte sich auf das Abendessen gefreut wie selten.

2

Alina saß nun schon eine Viertelstunde in dem Behandlungszimmer und weinte. Die letzte Patientin war eine alte Frau aus der Umgebung gewesen. An die sechzig. Fieber hatte sie gehabt, wahrscheinlich eine Lungenentzündung aufgrund einer Infektion, die mit verdorbenen Lebensmitteln, faulem Wasser und Exkrementen auf den Straßen zusammenhing. Alina hatte fiebersenkende Mittel verschrieben und ihr gesagt, dass sie kommende Woche wiederkommen solle. Alina war sich sicher, dass es kommende Woche zu spät sein würde. Die Frau würde die nächsten fünf Tage kaum überleben. Aber Alina hatte es ihr nicht sagen können, so arm und schwach war sie gewesen und so jämmerlich war Alina sich vorgekommen.

Manchmal war Alina drauf und dran, ihre Praxis dichtzumachen. Einfach zu schließen, aus, vorbei. Manchmal wollte sie einfach nicht mehr. Dann bat sie keinen neuen Patienten in ihr Behandlungszimmer, sondern verschränkte die Arme auf den Tisch, legte ihren Kopf in die Arme und weinte. Es kam einfach über sie. Das Elend, das Alina sah, war anders als sie es sich nach dem Abschluss ihres Medizinstudiums vorgestellt hatte. An der Tür ihrer Praxis hing ein Messingschild mit einem eingraviertem

Äskulap-Stab und ihrem Namen:

Dr. med. Alina Hübner

Ärztin für Allgemeinmedizin

Die Zeiten waren härter geworden, seit sie die Praxis 2031 übernommen hatte. Ihr Vater war von Anfang an, den Untergang des Sozialsystems vorausahnend, dagegen gewesen. Alina konnte sich gut an die Gespräche erinnern.

„Und dann auch noch Allgemeinmedizin?", hatte er gefragt.

„Ja, weil ich den Menschen aus der Umgebung bei ihren normalen Beschwerden helfen will."

„Da wird später nicht mehr viel zu helfen sein, Alina. Wir manövrieren auf ein medizinisches Chaos zu."

„Ach, das wird alles nicht so schlimm kommen, wie du es wieder phantasierst. Sieh nicht so schwarz."

„Warte ab, in zwanzig Jahren sterben die Leute an Keuchhusten, einem Insektenstich oder einer kleinen Schnittwunde. Wenn erstmal alle Menschen gegen alle Antibiotika resistent sind, dann ist es vorbei."

„Die werden schon was erfinden", hatte Alina geantwortet