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In "Der lebende Leichnam" präsentiert Lew Tolstoi eine tiefgreifende Auseinandersetzung mit dem menschlichen Dasein, dem Schmerz der existenziellen Isolation und der Frage nach der Sinnhaftigkeit des Lebens. Der Roman entfaltet sich in einem dramatischen Dialog zwischen den Protagonisten, die in einer untergründigen, psychologischen Spannung gefangen sind. Stilisierte Sprache und ein eindringlicher, nahezu autobiografischer Ton kennzeichnen Tolstois Erzählweise, die den Leser in die trüben Gewässer der menschlichen Emotionen zieht und dabei unverhohlen gesellschaftliche Themen behandelt, die in der russischen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts relevant waren. Tolstois Bedeutungen entfalten sich in der subtilen Schilderung der inneren Konflikte und der philosophischen Überlegungen seiner Charaktere. Lew Tolstoi, der als einer der bedeutendsten Romanciers der Weltliteratur gilt, betrachtete Zeit seines Lebens die Themen von Glauben, moralischer Integrität und dem Kampf um das gute Leben. In "Der lebende Leichnam" spiegelt sich Tolstois eigene Lebenskrise und seine Suche nach dem Sinn des Lebens wider. Die Inspiration zu diesem Werk entstammt nicht nur seiner persönlichen Erfahrung, sondern auch seiner intensiven Auseinandersetzung mit sozialen und religiösen Fragen, die ihn zeitlebens beschäftigten. Dieses Buch ist ein unverzichtbares Werk für Leser, die sich für die tiefgründigen Fragen des Lebens und die Komplexität menschlicher Beziehungen interessieren. Tolstois geschicktes Spiel mit Psychologie und Philosophie bietet eine unvergessliche Lektüre, die sowohl emotional berührt als auch intellektuell herausfordert. Wer sich auf diese literarische Reise einlässt, wird am Ende bereichert und zum Nachdenken angeregt.
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Veröffentlichungsjahr: 2022
Die Handlung spielt in Moskau, in Protasows Wohnung. Die Szene stellt ein kleines Speisezimmer vor.
Anna Pawlowna, eine korpulente, grauhaarige Dame, sitzt im Korsett allein am Teetisch.
Anna Pawlowna und die Kinderfrau, die mit einer Teekanne hereinkommt.
Kinderfrau: Kann ich bei Ihnen etwas heißes Wasser bekommen?
Anna Pawlowna: Jawohl. Was macht der kleine Mascha?
Kinderfrau: Er ist sehr unruhig. Es ist recht übel, daß die gnädige Frau ihn selbst nährt. Sie hat so ihren Kummer, und das Kind leidet darunter. Was muß das für eine Milch geben, wenn die gnädige Frau bei Nacht nicht schläft, sondern immerzu weint.
Anna Pawlowna: Aber ich denke, sie hat sich jetzt beruhigt?
Kinderfrau: Gott bewahre! Es zieht einem das Herz zusammen, wenn man sie ansieht! Sie hat da etwas geschrieben und dabei immerzu geweint.
Anna Pawlowna, die Kinderfrau und Sascha, welche eintritt.
Sascha (zur Kinderfrau): Lisa sucht Sie.
Kinderfrau: Ich geh schon, ich geh schon. (Ab.)
Anna Pawlowna und Sascha.
Anna Pawlowna: Die Kinderfrau sagt, sie weint immerzu. Daß sie sich immer noch nicht beruhigen kann!
Sascha: Nein, Mama, über Sie muß man sich wirklich wundern. Sie soll sich von ihrem Manne, dem Vater ihres Kindes, lossagen, und Sie verlangen, sie solle dabei ruhig sein!
Anna Pawlowna: Daß sie dabei ruhig sein soll, verlange ich nicht. Aber was geschehen ist, das ist geschehen. Wenn ich als Mutter es nicht nur zugelassen habe, sondern mich sogar darüber freue, daß meine Tochter sich von diesem Manne lossagt, so muß er das doch wohl verdienen. Nicht grämen sollte sie sich, sondern sich freuen, daß sie von einem so schlechten Subjekte, von einem solchen Goldmenschen frei kommt.
Sascha: Mama, warum reden Sie so? Sie wissen ja doch, daß das nicht wahr ist. Er ist kein schlechter, sondern im Gegenteil ein vortrefflicher, ganz vortrefflicher Mensch, trotz seiner Schwächen.
Anna Pawlowna: Na ja, ein vortrefflicher Mensch! Sobald er nur Geld in die Hände bekommt, sei es eigenes oder fremdes ...
Sascha: Mama, er hat nie fremdes Geld genommen.
Anna Pawlowna: Ganz egal, das Geld seiner Frau.
Sascha: Aber er hat ja doch sein ganzes Vermögen seiner Frau hingegeben.
Anna Pawlowna: Warum hätte er es ihr auch nicht hingeben sollen, da er ja wußte, daß er sonst doch alles durchbringen würde.
Sascha: Ob er es nun durchbringt oder nicht, ich weiß nur, daß man sich von seinem Manne nicht scheiden lassen darf, und am wenigsten von einem solchen wie Fedja.
Anna Pawlowna: Nach deiner Meinung muß man damit warten, bis er alles durchgebracht hat und seine Zigeunerliebsten ins Haus bringt?
Sascha: Er hat keine Liebsten.
Anna Pawlowna: Das ist eben das Malheur, daß er euch alle irgendwomit behext hat. Nur mich nicht; ich durchschaue ihn, und er weiß das. An Lisas Stelle würde ich mich nicht erst jetzt von ihm losmachen, sondern ich hätte es schon vor einem Jahre getan.
Sascha: Wie Sie das nur so leichten Herzens sagen können!
Anna Pawlowna: Nein, nicht leichten Herzens. Mir als Mutter ist es ein Schmerz, meine Tochter als geschiedene Frau zu sehen. Glaube mir, daß mir das ein großer Schmerz ist. Aber es ist doch immer noch besser, als daß sie ihr junges Leben zugrunde richtet. Nein, ich danke Gott, daß sie sich jetzt entschlossen hat, und daß nun alles zu Ende ist.
Sascha: Vielleicht ist es doch noch nicht zu Ende.
Anna Pawlowna: Ach was! Wenn er nur erst in die Scheidung einwilligt.
Sascha: Was soll daraus Gutes hervorgehen?
Anna Pawlowna: Nun, sie ist noch jung und kann noch glücklich werden.
Sascha: Ach, Mama, es ist schrecklich, was Sie da sagen; Lisa kann doch keinen andern liebgewinnen.
Anna Pawlowna: Warum sollte sie das nicht können? Wenn sie erst frei sein wird? Es gibt Männer, die tausendmal besser sind als euer Fedja, und die sich glücklich schätzen werden, Lisa zur Frau zu bekommen.
Sascha: Mama, es ist nicht recht von Ihnen, so zu reden. Ich weiß, Sie denken dabei an Viktor Karenin.
Anna Pawlowna: Warum soll ich nicht an ihn denken? Er liebt sie schon zehn Jahre lang, und sie liebt ihn.
Sascha: Sie liebt ihn, aber nicht so wie ihren Mann. Das ist eine Jugendfreundschaft.
Anna Pawlowna: Diese Jugendfreundschaften kennt man! Wenn nur erst die Hindernisse beseitigt sind.
Anna Pawlowna und Sascha. Das Stubenmädchen kommt herein.
Anna Pawlowna: Was willst du?
Stubenmädchen: Die gnädige Frau hat den Hausknecht mit einem Briefe zu Viktor Michailowitsch geschickt.
Anna Pawlowna: Welche gnädige Frau?
Stubenmädchen: Jelisaweta Andrejewna, unsere gnädige Frau.
Anna Pawlowna: Nun, und?
Stubenmädchen: Viktor Michailowitsch hat sagen lassen, er werde sogleich selbst herkommen.
Anna Pawlowna (erstaunt): Eben erst haben wir von ihm gesprochen. Ich verstehe nur nicht, warum sie ihn hat rufen lassen. (Zu Sascha:) Weißt du es nicht?
Sascha: Vielleicht weiß ich es, vielleicht aber auch nicht.
Anna Pawlowna: Immer Geheimnisse.
Sascha: Lisa kommt gleich; die wird es Ihnen sagen.
Anna Pawlowna (kopfschüttelnd zu dem Stubenmädchen): Der Samowar muß wieder in Glut gesetzt werden. Nimm ihn mit, Dunjascha! (Das Stubenmädchen nimmt den Samowar und geht hinaus.)
Anna Pawlowna und Sascha.
Anna Pawlowna (zu Sascha, die aufgestanden ist und hinausgehen will): Es ist gekommen, wie ich gesagt habe. Sofort hat sie ihn rufen lassen.
Sascha: Vielleicht hat sie ihn in ganz anderer Absicht rufen lassen.
Anna Pawlowna: In welcher Absicht denn?
Sascha: Jetzt, in diesem Augenblicke, ist Karenin ihr ebenso gleichgültig wie jeder andere.
Anna Pawlowna: Nun, du wirst ja sehen. Ich kenne sie doch. Sie läßt ihn rufen, um sich von ihm trösten zu lassen.
Sascha: Ach, Mama, wie wenig kennen Sie sie, wenn Sie denken können ...
Anna Pawlowna: Du wirst ja sehen. Ich freue mich sehr; sehr freue ich mich.
Sascha: Wir werden ja sehen. (Sie geht, vor sich hinsingend, ab.)
Anna Pawlowna allein.