Der Lebensblues - Anne Kreisel - E-Book

Der Lebensblues E-Book

Anne Kreisel

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Beschreibung

In diesem Roman geht es um die Scheidung nach häuslicher Gewalt und den Versuch der alleinerziehenden Mutter, einen Neuanfang für sich und ihr Kind zu wagen. Bevor ihr dies gelingt, erhält sie die Diagnose MS, was sie anfangs völlig aus der Bahn wirft. Dargestellt werden aber auch die Schwierigkeiten, in einer neuen Beziehung die Altlasten hinter sich zu lassen, und die Frage, wieviel Rücksichtnahme hierauf vom Partner erwartet werden kann wie auch auf die Erkrankung.

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Inhaltsverzeichnis

Kapitel I

Kapitel II

Kapitel III

Kapitel IV

Kapitel V

Kapitel VI

Kapitel VII

Kapitel VIII

Kapitel IX

Kapitel X

Kapitel XI

Kapitel XII

Kapitel XIII

Kapitel XIV

Kapitel XV

Kapitel XVI

Kapitel XVII

Kapitel XVIII

Kapitel XIX

I

Es war früh am Nachmittag, als Anna Hartung vor dem Supermarkt einen Anruf von Maik auf ihrem Handy erhielt. Sie war gerade dabei, ihren Einkauf im Kofferraum zu verstauen. »Du, auf unserem Campus-Sommerfest will ich mit meiner Band auftreten. Hast du Lust, uns bei ein paar Songs zu unterstützen? Du kannst sie dir auch aussuchen«, wollte er von ihr wissen. Von seiner Anfrage ziemlich überrascht, vertröstete sie ihn auf den Abend. Sie war in Eile und wollte ihren Sohn Denis noch rechtzeitig vom Hort abholen. Auf der Fahrt dorthin ließ sie sich die Idee noch einmal durch den Kopf gehen. Sie hatte schon ein paar Mal in der Band ihres befreundeten Arbeitskollegen gespielt, weil sie Spaß am Singen hatte und auch gut Gitarre spielen konnte, war aber noch nie mit ihnen auf einer größeren Veranstaltung aufgetreten.

Als sie kurz darauf ihren siebenjährigen Sohn aus seiner Hortgruppe abholte, merkte sie sofort, dass er schlechte Laune hatte. Er wollte aber nicht darüber reden, sodass sie sich entschloss, ihn erst einmal in Ruhe zu lassen. Zu Hause angekommen, zog er sich gleich in sein Zimmer zurück und machte seine Lieblings-CD an. Erst nachdem Anna ihren Einkauf in der Küche verstaut hatte, ging sie zu ihm. »Maik hat mich vorhin gefragt, ob ich auf dem Sommerfest zusammen mit seiner Band auftreten möchte. Wie findest du das?« Der betrübte Gesichtsausdruck von Denis verschwand schlagartig. Neugierig erkundigte er sich, was sie denn für Lieder spielen würden und ob er zusehen dürfe. Sie strich ihm über das Haar. »Klar kannst du dabei sein, wenn es nicht zu spät wird und die Omi mitkommt. Da sind nämlich immer ziemlich viele Leute. Aber vorher verrätst du mir noch, was bei dir heute schiefgelaufen ist.«

Mit finsterer Miene berichtete ihr Denis, dass es zwischen ihm und seinem Freund Alex im Hort zu einem heftigen Streit gekommen sei und ihn dieser nun nicht mehr zu seinem Geburtstag einladen wolle. Da diese Feier erst in zwei Wochen stattfinden sollte, machte ihm Anna Hoffnung, dass er sich bis dahin bestimmt wieder mit seinem Freund vertragen würde, was sich ihr Sohn aber im Moment nicht vorstellen konnte.

Gemeinsam bereiteten sie das Abendessen vor, zu dem auch Annas Mutter Marie, die eine Etage über ihnen wohnte, kam. Anna holte gerade den Nudelauflauf aus dem Backofen, als ihre Mutter eher beiläufig nachfragte: »Ist Torben noch im Institut?« – »Ja, wie immer. Abends lässt es sich dort wohl besonders gut forschen«, erwiderte Anna mit einem spitzen Unterton. Inzwischen hatte Denis seinen Ärger wieder vergessen und erzählte von dem Schüler, den sie neu in ihre Klasse bekommen hatten. Der Junge kam aus Syrien und sprach kaum Deutsch, habe aber trotzdem in der Pause mit ihm und den anderen Jungs aus der Klasse gut spielen können.

Während ihre Mutter den Tisch abräumte und ihren Enkel an das Zubettgehen erinnerte, rief Anna bei Maik an. Sie sagte ihm für den gemeinsamen Auftritt zu. Vorher wollten sie sich noch dreimal zum Proben treffen und einigten sich darauf, dass Anna fünf oder vielleicht auch sieben Songs mitspielen würde. Nach diesem Telefonat fühlte sie sich ausgesprochen gut, weil sie Lust hatte, sich mit der Band auf dem Campusfest einmal auszuprobieren. Sie las ihrem Sohn noch eine Gutenachtgeschichte vor und betete mit ihm, bevor sie zu ihrer Mutter in die Küche ging.

Dort vertraute sie ihr an, dass Torben unheimlich Druck auf sie ausüben würde, weil er darauf bestand, dass sie und Denis ihn für ein Jahr nach Amerika begleiten sollten, wo ihm eine Stelle als Gastwissenschaftler angeboten worden sei. Anna hatte aber nicht vor, mitzugehen, weil es seit langer Zeit nicht gut zwischen ihnen lief und sie auch ihre Stelle als Musiktherapeutin nicht verlieren wollte. Denis wollte ebenfalls nicht weg, zumal er sich inzwischen gut in der Schule und auch im Hort eingelebt hatte. Beunruhigt erkundigte sich ihre Mutter: »Und was willst du nun tun? Willst du ihn alleine fahren lassen?« – »Darauf wird es wohl hinauslaufen, weil Torben sich von diesem Amerikaaufenthalt einen ganz großen Karriereschub verspricht.« – »Und eure Ehe? Hält die das aus, oder willst du sie jetzt damit gleich beenden?«, hakte ihre Mutter nach. Anna blickte sie frustriert an, als sie gestand: »Das wäre doch eine gute Möglichkeit. Ich bin nur noch wegen Denis mit ihm verheiratet. Torben ist ein ehrgeiziger Wissenschaftler, aber kein guter Vater oder Ehemann. Familienleben wird doch nur von uns betrieben: Omi, Mama und Denis.«

Als ihre Mutter wieder nach oben gegangen war, entschloss sich Anna, gleich ins Bett zu gehen. Sie fühlte sich schon den ganzen Tag über müde und angeschlagen. Es war wieder so ein feuchter und kühler Tag gewesen, der ihr immer öfter Probleme bereitete, obwohl sie früher nie wetterfühlig war. Kurz nach dem Einschlafen wurde sie von Geräuschen im Flur geweckt. Es war ihr Ehemann. Er öffnete zwar noch ihre Zimmertür, schloss sie aber sofort wieder, als er sah, dass sie im Bett lag und von ihr keine Reaktion kam.

Am nächsten Morgen frühstückte Torben mit seiner Familie, was in den letzten Monaten eher selten vorkam. Wie immer nutzte er dieses Beisammensein, um bestimmte Dinge anzusprechen, die ihm wichtig erschienen. Denis war inzwischen wieder guter Dinge und freute sich sogar auf seinen Freund Alex, während Anna ihrem Ehemann mitteilte, dass sie auf dem Hochschulfest in Maiks Band mitspielen wolle. Torben blickte sie verständnislos an. »Und was soll das werden? Willst du mich nun noch vor allen lächerlich machen?« – »Warum? Was hast du damit zu tun?«, stellte sich Anna ahnungslos. »Dass ich dort an der Hochschule als Wissenschaftler an meiner Habilitation arbeite, damit ich endlich eine Professorenstelle bekommen kann«, belehrte Torben sie gereizt.

»Damit wir uns richtig verstehen, ich trete dort nicht als leichtbekleidete Tanzmaus auf. Womit soll ich dir da bitte schaden?«, rechtfertigte sie ihr Vorhaben. Torben stand auf und stellte sein Geschirr energisch auf die Spüle. »Ich will es nicht, und das muss ausreichen. Bis heute Abend will ich auch deine Entscheidung, ob du im Sommer mit nach Boston kommst.« Bevor sie noch etwas erwidern konnte, verließ er die Küche und kurz darauf die Wohnung. Denis begann gleich zu quengeln, dass er aber nicht umziehen möchte, worauf Anna ihn beruhigte: »Ich will auch nicht umziehen. Papa kann ja alleine fahren.« – »Und, ist er dann nicht sauer auf uns?«, fragte Denis. »Doch, schon. Aber du möchtest hier nicht alles zurücklassen und ich auch nicht. Das müssen wir ihm nur erklären. Vielleicht kann er das dann verstehen.«

An diesem Abend kam Torben bereits nach Hause, als sie Denis gerade seine Gutenachtgeschichte vorlas. Er blickte ins Kinderzimmer und bemerkte gleich: »Denis, du kannst doch schon selbst lesen und brauchst keinen Vorleser mehr. Anna, komm bitte mal ins Wohnzimmer.« Er ging schon vor und wartete ungeduldig auf sie. Als Anna ziemlich verstimmt zu ihm kam, wurde er gleich sehr konkret: »Ich muss morgen bekannt geben, ob ich mit Familie anreise. Es geht um die Unterbringung, und für Denis müssen wir ja auch noch die passende Schule finden.«

Anna hatte sich ihm gegenüber in den Sessel gesetzt und erklärte betont ruhig: »Du kannst alleine fahren. Wir möchten nicht mitkommen.« – »Und warum nicht? Ein Jahr Amerika ist für Denis eine Riesenchance und für unsere Ehe auch«, entgegnete Torben gereizt. »In welcher Beziehung soll dies für Denis eine Riesenchance sein? Dass er die Freunde aufgeben muss, die er gerade gefunden hat, und wenn er dann welche in Amerika hat, dann wieder alles umgekehrt? Denis ist bereits der Schritt vom Kindergarten zur Schule nicht gerade leichtgefallen«, versuchte sie ihm zu erklären. »Kann es sein, dass du keine Lust auf Amerika hast, nur weil du nicht ein Jahr lang deinem Mann zuliebe einmal ›nur Hausfrau‹ sein möchtest? Höre doch bitte auf, immer Denis als Grund vorzuschieben. Seine Probleme hängen bestimmt auch damit zusammen, dass er ein von dir und deiner Mutter verhätscheltes Einzelkind ist.«

Während sie schwieg, überlegte sie, wie weit sie gehen könne, und fragte ihn schließlich: »Und wenn es so wäre, was dann? Willst du dann mit Denis allein fliegen?« Seinem Gesichtsausdruck war deutlich die Verärgerung anzusehen, als er aufstand: »Das ist doch völliger Quatsch! Du weißt doch ganz genau, dass ich mich um den Jungen nicht kümmern kann. Aber dass du so egoistisch bist, finde ich schon ziemlich heftig. Und denke daran, irgendwann möchtest du auch einmal von meinem Professorengehalt gut leben.« Er verschwand in seinem Zimmer, während Anna noch einen Moment unschlüssig sitzen blieb. Sie hatte wieder diese Kopfschmerzen, wie so häufig in letzter Zeit.

Am nächsten Morgen sprach Torben seinen Sohn beim Frühstückstisch auf den Amerikaaufenthalt an. Er versuchte, ihn dafür zu begeistern, indem er ihm vorschwärmte, dass er mit einem Flugzeug über den Atlantik fliegen könne, ein tolles neues Zimmer bekäme und seine Freunde bestimmt alle neidisch sein würden, worauf Denis verzweifelt seine Mutter ansah und es dann aus ihm herausplatzte: »Ich will kein neues Zimmer und keine neuen Freunde! Ich möchte auch nicht so werden wie Abbed.« – »Wer ist bitte Abbed?«, fragte Torben gereizt. Als ihm Anna erklärte, dass dies der neue Mitschüler aus Syrien sei, der große Probleme habe, im Unterricht mitzukommen, weil er kaum Deutsch könne, stand Torben mit den Worten auf: »Das ist doch Unsinn. Du bist kein Flüchtling.« – »Englisch kann dein Sohn aber auch nicht, und das ist ja gerade seine Befürchtung«, gab Anna zu bedenken.

Torben hatte gerade seinen Kaffeebecher in die Spülmaschine gestellt, als er zurück zum Esstisch kam und sich verärgert zu Anna herunterbeugte, um ihr direkt ins Gesicht zu sagen: »Dein Sohn kann kein Englisch, weil du es nicht für nötig gehalten hast, es ihm beizubringen. Das hast du wirklich gut hingekriegt, aber glaube nur nicht, dass ich dir in Amerika auch nur eine Träne nachweine.« Wütend verließ er das Haus und Denis bekam feuchte Augen. »Kommt denn Papa danach zu uns zurück?«, fragte er verängstigt. Anna drückte ihren Sohn an sich und versuchte, ihm zu erklären: »Denis, Papa wird nicht viel Zeit für uns haben, wenn er dort in Amerika arbeitet, und wir können hier so weiterleben wie bisher. Darum geht es doch, und danach wird Papa schon selbst entscheiden, wo er arbeiten möchte. Und nun ab zur Schule.«

Nach dieser Entscheidung fand überhaupt kein Familienleben mehr mit Torben statt. Er ließ Anna sehr genau spüren, dass er in ihrem Verhalten einen Verrat sah, und kümmerte sich noch intensiver um seine beruflichen Belange. Anna versuchte sich derweil auf ihr Leben zu konzentrieren, auf ihren 30-Stunden-Job im Institut für Psychologie und die Versorgung ihres Sohnes gemeinsam mit ihrer Mutter, die als Lehrerin in einer Grundschule arbeitete.

Eine Abwechslung hierzu ergab sich an den Probeabenden bei Maik im Keller. Hier lernte sie auch seinen alten Schulfreund Frank kennen, der Anfang des Jahres an der Gesamtschule eine Stelle bekommen hatte und nun ebenfalls in Maiks Band mitspielte, wie in alten Zeiten. Als Anna ihm vorgestellt wurde, bemerkte Maik gleich: »Aber lass deine Finger von der scharfen Braut, die ist verheiratet.« Frank Sander, ein blonder, bärtiger Hüne aus dem Norden, stellte gleich sehr unaufgeregt klar: »Glauben Sie Maik kein Wort. Ich habe eine große Schwester, da lernt man schon sehr früh, wie weit man gehen darf.« – »Na ja, mit dem Mädchenanbalzen hatte ich ja schon immer meine Probleme, aber das habe ich ja nun zum Glück anders gelöst«, warf Maik spaßig ein, während Anna, der wegen der anhaltenden Probleme mit Torben weder nach Flirten noch Spaßen zumute war, etwas humorlos vorschlug: »Nachdem nun auch das geklärt ist, können wir ja für den Auftritt proben.«

Maik blickte sie zwar etwas irritiert an, weil er sie so nicht kannte, sagte aber nichts weiter. Er überließ es Frank, der neben Mathematik auch Musik unterrichtete, dessen Ideen für einen gemeinsamen Auftritt zu erklären. Sie probten bis kurz vor Mitternacht. Anna beeilte sich, nach Hause zu kommen, um am nächsten Tag wieder fit genug zu sein, aber auch, weil sie hoffte, Torben nicht mehr begegnen zu müssen, wenn er spät aus der Uni kam.

Denis schlief in dieser Nacht oben bei seiner Oma in deren Wohnung. Gleich, nachdem Anna die Wohnungstür aufgeschlossen hatte, stellte Torben sie zur Rede, wo sie denn jetzt erst herkomme. Sie hatte seinen Wagen schon vor dem Haus bemerkt und war deshalb vorgewarnt. Wortlos zeigte sie auf ihre Gitarre und wollte an ihm vorbei in ihr Zimmer gehen. Da griff Torben sie so fest am Arm, dass es schmerzte, und drückte sie gegen die Wand, während er ihr drohte: »Wenn du so weitermachst, verlierst du alles, auch deinen Sohn, vergiss das nicht!«

»Du tust mir weh!«, stieß sie hervor und versuchte, sich aus seinem Klammergriff zu befreien, worauf er sie nun auch am zweiten Arm packte und mit ganzer Kraft zudrückte. Er zog sie erst zu sich heran, um sie dann so heftig von sich zu stoßen, dass sie gegen die Flurwand stolperte. Entsetzt schrie sie ihn an: »Du willst keine Ehefrau, sondern eine Sklavin, und die bin nicht ich!« Hastig öffnete sie ihre Zimmertür und rief noch: »Wenn ich wirklich einmal später nach Hause komme, ist Denis gut versorgt. Kümmere du dich doch erst einmal um deinen Sohn. Du weißt doch nichts von ihm und hast nie Zeit, weil deine Forschungsautos immer wichtiger sind.« Dann verschwand sie in ihrem Zimmer und verschloss es von innen.

In dieser Nacht konnte Anna nur sehr schlecht schlafen. Ihr Rücken schmerzte und sie versuchte, eine Position zu finden, die ihr das Liegen erträglich machte. Auch hatte sie große Sorgen, wie es mit Torben und seinen Aggressionen weitergehen würde. Als der Wecker am nächsten Morgen klingelte, stellte sie erleichtert fest, dass ihr Ehemann noch nicht aufgestanden war und sie mit Denis, der schon startklar für die Schule im Treppenhaus stand, das Haus verlassen konnte, ohne Torben noch einmal zu begegnen.

Nachdem sie ihren Sohn vor der Schule abgesetzt hatte, fuhr sie ins Institut. Mit der Sekretärin besprach sie nach einem großen Becher Kaffee die Termine für die kommende Woche, bevor sie in ihr Büro ging und von dort aus in der Praxis ihrer Hausärztin anrief. Sie erfuhr von der Sprechstundengehilfin, dass ihre Ärztin die nächsten Tage nicht da sein werde, sie aber einen Termin bei deren Ehemann bekommen könne. Obwohl Anna ihn immer sehr unpersönlich fand, nahm sie diesen Termin an, weil sie unbedingt wissen wollte, was die Laboruntersuchung des großen Blutbildes ergeben hatte.

Sie meldete sich gerade bei der Sekretärin für den anstehenden Arzttermin ab, als ihre Kollegin Ottmar, die gerade am Kopiergerät stand, neugierig nachfragte: »Na, bist du wieder schwanger? Du siehst in letzter Zeit so blass aus.« – »Bei meiner ersten Schwangerschaft sah ich auch nicht blass aus, aber da kannten wir uns ja auch noch nicht«, beendete Anna die Nachforschungen und verließ das Institut.

Im Wartezimmer blätterte sie eher uninteressiert in einigen Zeitschriften, die dort auslagen, und blickte immer wieder nervös auf die Uhr. Nach einer halben Stunde wurde sie schließlich aufgerufen. Im Behandlungszimmer las der Arzt schon die Untersuchungsergebnisse vom Labor und forderte Anna knapp auf: »Frau Hartung, nehmen Sie schon einmal Platz.« Er fuhr dann fort: »Ihre Blutwerte sind ansonsten gut, nur die Entzündungswerte leicht erhöht; das kann aber auch ein harmloser Infekt sein.« – »Der muss dann aber schon ziemlich lange andauern, so müde und kaputt, wie ich mich seit Wochen fühle«, entgegnete Anna zweifelnd.

Der Arzt musterte sie kurz über seinen Brillenrand hinweg. »Frau Hartung, ich weiß ja nicht, was Sie meiner Frau alles erzählt haben, aber der Laborbefund ist eindeutig. Sie sind eine gesunde junge Frau, und jetzt reden Sie sich doch nichts ein und genießen Ihr Leben. Haben Sie nicht auch eine Familie?« – »Ja, ich habe eine Familie. Wie kann ich jetzt noch herausbekommen, wo die Entzündung herkommt?« – »Ziehen Sie einmal Ihre Bluse aus, damit ich Ihre Lunge abhören kann,« schlug er vor und stand von seinem Schreibtisch auf.

Skeptisch kam sie seiner Aufforderung nach und bereute schon, den Termin bei ihm wahrgenommen zu haben. Als sie vor ihm stand, bemerkte er die blauen Flecke an den Armen und auf dem Rücken, worauf er bemerkte: »Da haben Sie sich aber heftig gestoßen.« Anna schwieg erst einen kurzen Moment und erklärte dann: »Das war gestern mein Ehemann.« Ohne noch ein Wort zu sagen, begann der Arzt, sie abzuhorchen, und forderte sie danach auf: »Sie können sich wieder anziehen. Ich konnte eben nichts feststellen. Gehen Sie doch einmal zum Frauenarzt; vielleicht kommt Ihre Entzündung aus dem Bereich.« Schweigend zog Anna ihre Bluse an und verließ die Praxis.

Im geparkten Auto saß sie einen kurzen Moment wie betäubt hinter dem Steuer und schimpfte dann laut »Arschloch«, bevor sie zum nahegelegenen Einkaufszentrum fuhr. Im Reformhaus ließ sie sich beraten und kaufte sich schließlich ein Stärkungsmittel zur Behandlung allgemeiner Erschöpfungszustände. Wieder zurück im Institut, erzählte sie der Sekretärin von der Diagnose des Arztes, worauf ihr diese riet: »Der Arzt ist ja ziemlich merkwürdig. Gehen Sie doch notfalls noch einmal zu einem anderen, damit auch nichts übersehen wird.«

Als sie am Nachmittag Denis vom Hort abholte, wollte er sofort von ihr wissen, ob er am Wochenende bei seinem Freund Nick übernachten dürfe. Anna stimmte zu, zumal sie noch mehr Konflikte mit Torben befürchtete und ihren Sohn davor bewahren wollte. Sie war auch damit einverstanden, als er am Abend den Wunsch äußerte, bei ihr schlafen zu wollen. Denis war nach der Gutenachtgeschichte gerade eingeschlafen, als sie leise aufstand, um sich im Bad für die Nacht fertigzumachen. In der Zwischenzeit erhielt sie eine SMS von Torben: »Komme später, müssen noch etwas am Projektverlauf ändern.« Anna hörte nicht mehr, dass er erst nach Mitternacht nach Hause kam. Mit einer Flasche Wein aus der Küche verschwand er gleich in seinem Zimmer.

Am nächsten Morgen schlief Torben noch, als sie mit Denis früh das Haus verließ. Auf der Fahrt zur Schule wollte Denis von ihr wissen: »Wann fliegt denn Papa los?« – »Wieso?« – »Ich muss ihm doch noch sagen, was er in Amerika alles für mich kaufen soll.« Anna holte tief Luft. »Aber kein Plastik und keine Spielzeugwaffen.« Genervt maulte ihr Sohn: »Oh, Manno. Dann aber ein T-Shirt mit dem Superman.«

Für die kinderfreie Zeit am Wochenende verabredete sich Anna zur Musikprobe bei Maik. Kurz nachdem sie an der Haustür des kleinen Siedlungshauses geklingelt hatte, in dem Maik zusammen mit seinem Lebensgefährten und zwei Stubentigern mit Stammbaum wohnte, öffnete ihr Frank die Tür. »Hallo Anna, ich dachte schon, du bist der Pizzabringdienst. Es gibt sonst nämlich außer Katzenfutter nichts im Kühlschrank«, stellte er amüsiert fest.

Anna trat in den Hausflur, als Maik aus der Küche kam und sofort klarstellte: »Jens war diese Woche mit dem Einkaufen dran, ist dann aber mit Kumpels zum Mountainbiken.« – »Mit Kindern könntet ihr so nicht leben«, bemerkte Anna, während sie ihre Gitarre und Jacke ablegte. Sie drehte sich gerade wieder um, als Maik auf sie zukam und ihr den Ärmel ihres T-Shirts hochschob, der nur zum Teil ihre kräftigen blauen Flecke verdeckte. »Was ist denn das?«, fragte er entsetzt. »Und jetzt sag nicht, du bist die Treppe heruntergefallen.« Anna sah ihn einen Moment hilflos an und erwiderte dann mit gedämpfter Stimme. »Nein, das sag ich nicht. Können wir jetzt proben?«

Bevor sie eine Antwort hierauf bekam, klingelte es erneut an der Tür. Frank trug kurz darauf fünf Pizzakartons in die Küche. Nachdem auch die beiden anderen Bandmitglieder eingetroffen waren, schlug er vor: »Wollen wir nicht erst einmal essen? So hungrig, wie ich bin, treffe ich keinen Ton.« Während sie am Küchentisch aßen, wollte Maik wissen: »Wann fliegt Torben denn?« – »In zwei Wochen. Einen Tag nach unserem Auftritt.« Maik schwieg einen kurzen Moment, bevor er sie informierte: »Ich habe ihn gestern in der Mensa gesehen. Er war dort mit zwei Kollegen und einer dunkelhaarigen Frau mit kurzen Haaren. Die beiden schienen sich gut zu verstehen.«

»Das war wohl die Jennifer Wiegand. Mein letzter Stand ist, dass sie ihn für mehrere Wochen mit in die Staaten begleitet. Sie wollen zusammen an der einen Testreihe arbeiten.« – »Hast du nicht Angst, dass da zwischen den beiden etwas läuft?«, hakte Maik nach. Anna blickte etwas gequält, als sie die Gegenfrage stellte: »Wäre das nicht eine gute Lösung, wenn eine Beziehung am Ende ist?« – »Wenn ihr keinen Sohn hättet, würde ich dir recht geben, aber für Denis ist das alles Scheiße.« – »Ja, Maik, aber ein Weiter-so auch«, war sich Anna inzwischen sicher und berichtete dann von ihrem Arztbesuch und ihrer Hoffnung, durch das Stärkungsmittel wieder etwas fitter zu werden.

Sie kamen mit den Musikstücken gut voran, auch mit den neuen Songs von Frank, sodass Anna hierbei für fast drei Stunden ihre Sorgen vergaß. Als sie kurz vor 23 Uhr aufbrechen wollte, brachte Maik sie noch bis zum Auto. Er nahm sie in den Arm und sagte: »Du, wenn etwas ist, gib mir Bescheid, und passe gut auf Denis und dich auf; versprich mir das.« Anna gab ihm ihr Wort darauf und fuhr los.

Torbens Wagen stand bereits unter dem Carport und in seinem Zimmer brannte Licht. Anna zog sich der Magen zusammen, als sie leise die Wohnungstür aufschloss. Sie hatte gerade die Tür wieder geschlossen und drehte sich um, als er plötzlich vor ihr stand. Mit scharfer Stimme fragte er: »Wo kommst du her?« – »Frage ich dich, wo du nachts herkommst?«, erwiderte sie und wollte gerade mit der Gitarre an ihm vorbei in ihr Zimmer. Da riss Torben ihr das Instrument von der Schulter und warf es auf den Boden. Er trat auf den Gitarrenhals, worauf dieser mit einem heftigen Krachen abbrach. Anna drehte sich um und verließ die Wohnung. Sie ging nach oben zu ihrer Mutter.

Diese hatte bereits geschlafen, war aber sofort hellwach, als Anna ihr berichtete, was gerade geschehen war. Besorgt riet sie ihrer Tochter: »So geht das nicht. Schon wegen Denis nicht. Lasst euch einen Termin in der Erziehungsberatungsstelle geben.« – »Ja, ich rufe da am Montag an. Ich weiß aber nicht, ob Torben auch mitmacht.« Als sie kurz darauf auf dem Schlafsofa ihrer Mutter lag, schrieb sie Maik eine SMS: »Torben hat vor Wut meine Gitarre zertrümmert. Habe diesmal nichts abbekommen und bin bei meiner Mutter.« Maik schrieb kurz darauf zurück: »Scheiße! Frank ist noch hier. Du kannst von ihm seine zweite Gitarre haben. Melde dich morgen bei ihm. Gute Nacht.«

Beim gemeinsamen Frühstück am nächsten Morgen wollte Annas Mutter wissen: »Nimmt Torben noch seine Aufputschmittel, oder warum wird er immer öfter so handgreiflich?« – »Ich weiß nicht mehr viel von ihm. Ich gehe ihm aus dem Weg und hoffe, dass er bald abfliegt.« – »Und dann, was hast du dadurch gewonnen?«, hakte ihre Mutter nach. »Abstand, Ruhe, Trennung … Außerdem glaubt Maik, dass da was mit einer Kollegin läuft. Die fliegt übrigens auch mit.« – »Wenn man Kinder hat, kann man sich nicht einfach so trennen, vergiss das nicht«, mahnte ihre Mutter. »Wenn ich mitfliegen würde, könnte er mich völlig isolieren und ich wäre ihm und seinen Wutanfällen noch mehr ausgeliefert«, gab Anna zu bedenken.

Dann hörten sie, wie Torben mit seinem Pkw vom Grundstück fuhr. Erleichtert schaute Anna ihm durchs Wohnzimmerfenster hinterher, bevor sie ihr Handy nahm und Frank eine SMS schrieb: »Es geht um die Ersatzgitarre. Gruß Anna.« Kurz darauf antwortete Frank: »Willst du heute kommen und schauen, ob du mit meiner Gitarre aus Teenagerzeiten überhaupt spielen willst?« – »Um 12 Uhr kommt mein Sohn zurück. Danach ist es schlecht.« – »Dann komm doch gleich«, schrieb ihr Frank zurück.

Frank wohnte mit einem Kollegen in einer Vierzimmeraltbauwohnung. Als er ihr die Tür öffnete und sie in den einen der von ihm bewohnten Räume bat, wirkte er nicht mehr so unbeschwert wie sonst. Mit ernster Miene reichte er ihr die Gitarre. »Es geht mich ja vielleicht nichts an, aber häusliche Gewalt geht in meinen Augen gar nicht. Gestern war es die Gitarre und morgen bist du es wieder oder dein Sohn.« – »Ja, mein Professor hat Beziehungen gut erforscht und hierbei auch nachgewiesen, dass nicht immer nur Liebe und Zuwendung zwischen den Partnern ausgetauscht werden.«

Irritiert von ihrer Antwort wandte Frank ein: »Das heißt ja wohl nicht für dich, dass du alles hinnehmen musst.« – »Ich rufe morgen in der Erziehungsberatungsstelle an. Denis und ich werden vorerst bei meiner Mutter wohnen«, versuchte Anna, ihn zu beschwichtigen. Während sie seine Gitarre ausprobierte, wollte er von ihr wissen: »Wie lange geht das denn schon so?« – »Seit Beginn des neuen Projektes im letzten Jahr steht er so unter Strom. Er will damit seine Habilitation schaffen. Am Anfang war er nur nervös und gehetzt. Dann nahm er die Aufputschmittel, und nun schreit er bei jeder Kleinigkeit und wird handgreiflich.« – »Seid ihr bei deiner Mutter auch sicher oder willst du lieber mit Denis zu Maik ziehen? Er hat das schon vorgeschlagen.« – »Ich hoffe, dass das ausreicht«, versuchte Anna, sich selbst Mut zu machen. Als Frank sie zur Tür brachte, strich er ihr etwas hilflos über die Schulter, während er ihr noch mit auf den Weg gab: »Und wenn etwas ist, bin ich auch noch da. Melde dich dann einfach.«

Am Nachmittag ging Anna mit Denis zum Schwimmen, nachdem sie zuvor noch einen Teil ihrer Sachen in das Gästezimmer ihrer Mutter gebracht hatte. Auf der Heimfahrt wollte sie ihren Sohn darauf vorbereiten, dass sie nun erst einmal bei der Oma wohnen würden, was ihr aber nur bedingt gelang. Erst als sie ihm erklärte, dass der Papa letzte Nacht vor Wut ihre Gitarre kaputtgemacht habe und im Moment sehr schnell wütend würde, weil ihm die Arbeit und auch der Flug zu schaffen machten, stimmte Denis unter einer Bedingung zu: »Aber nur für drei Tage, dann will ich wieder in mein Zimmer!«

Während Denis am Abend von seiner Oma ins Bett gebracht wurde, rief Anna bei Torben auf dem Handy an. Sie wusste nicht, wo er sich gerade aufhielt, zu Hause war er jedenfalls nicht. Sie teilte ihm mit, dass sie morgen in der Erziehungsberatungsstelle anrufen wolle und sie vorerst bei ihrer Mutter wohnen würden. »Ich habe keine Erziehungsprobleme, sondern eine Frau, die völlig spinnt! Bis ich in zwei Wochen abfliege, will ich mit meinem Jungen in einer Wohnung wohnen. Sorge gefälligst dafür!« – »Du wirst immer aggressiver, und das spüre nicht nur ich. Ich gebe dir morgen den Termin von der Beratungsstelle durch, und ansonsten halte dich mit deinen Wutanfällen zurück, sonst kann dir das nur schaden.«

Für ein paar Sekunden schwieg Torben, bevor er drohend nachfragte: »Willst du mich jetzt unter Druck setzen, oder was? Erzählst du jetzt Gerüchte über mich, um mir zu schaden?« – »Blaue Flecke an Armen und Rücken und eine kaputte Gitarre sind keine Gerüchte, sondern Gewalt.« – »Ich glaube nicht, dass du dafür Beweise hast«, entgegnete er. »Torben, es reicht! Nur noch mit Abdeckcreme ins Schwimmbad gehen zu können, damit die anderen nicht sehen, was bei mir zu Hause los ist, soll nicht mein Leben werden. Kannst du bis zu deiner Abreise bei dieser Jennifer unterkommen?«, fragte Anna. Mit einem »Du spinnst ja völlig« beendete Torben das Telefonat.

Zusammen mit Denis wollte Anna auf der Doppelschlafliege im Gästezimmer ihrer Mutter schlafen. Ihr tat wieder der Rücken weh und so konnte sie nur schlecht einschlafen. In der Nacht träumte sie davon, dass bei dem Musikauftritt plötzlich ihre Beine wegsackten und sie auf der Bühne lag. Sie spürte die erstaunten Blicke der Zuhörer, bis Frank sie aufhob und wegtrug. Schweißgebadet wurde sie wach und überlegte, wie sie die nächsten zwei Wochen ohne große Zwischenfälle überstehen könne.

Als sie am nächsten Morgen ziemlich unausgeschlafen ins Institut kam, sprach sie ihr Vorgesetzter, Prof. Kiefer, an und bat sie in sein Büro. Er hatte vor, zukünftig stärker als Gutachter zu arbeiten und auch ein Fachbuch zu veröffentlichen, und erhoffte sich von Anna hierfür stärkere Entlastung als bisher. Er machte ihr deshalb den Vorschlag, zukünftig die Arbeitsgruppe zu leiten. Anna zeigte sich keineswegs begeistert von seinem Vorschlag und zögerte noch mit ihrer Antwort, sodass er nachfragte: »Oder stimmt es, was Frau Ottmar angedeutet hat, dass Sie krank sind?« – »Frau Ottmar hat kürzlich auch gemutmaßt, dass ich wieder schwanger wäre. Um selbst Karriere machen zu können, würde sie mich wohl auch noch als Außerirdische bezeichnen. Bis wann brauchen Sie die Entscheidung und was würde sich an meinen Arbeitszeiten ändern?«, erkundigte sie sich. Schließlich einigten sie sich darauf, dass sich Anna erst nach dem Abflug ihres Ehemannes zu ihrer beruflichen Veränderung äußern würde.

Mit der Erziehungsberatungsstelle konnte sie fernmündlich vereinbaren, dass sie am Abend mit ihrem Ehemann in die Notsprechstunde kommen könne, wovon Torben jedoch keineswegs angetan war. Stattdessen teilte er ihr per SMS mit, dass er seine Sachen, die er für seinen Auslandsaufenthalt benötigte. aus der Wohnung holen würde. Denis wollte er pro Woche noch einmal sehen, da er zu mehr keine Zeit habe. Als Anna von ihm noch den Haustürschlüssel ausgehändigt haben wollte, gab er erst nach, als sie ihm den Austausch der Schlösser androhte. Er wollte seine Schlüssel in den Briefkasten werfen.

Am Abend ging Anna allein in die Notsprechstunde. Es tat weh, der Erziehungsberaterin Frau Steffen zu erklären, dass Torben anfangs gar keine Kinder wollte, weil er seine Lebensaufgabe in der Wissenschaft sah. Erst als Anna, die als junge Studentin nach einer Pillenpanne von ihm ungewollt schwanger wurde, ihm versprochen hatte, sich allein um das Kind zu kümmern, hörte er auf, sie zu einer Abtreibung zu drängen.

»Und nun wollen Sie ihm nicht mehr den Rücken für seine Karriere freihalten?«, wurde Anna von Frau Steffen gefragt. Sie brauchte erst einen Moment, bevor sie antworten konnte: »Ich wollte meinem Ehemann und seinen Karriereplänen nie im Wege stehen und mache dies auch jetzt nicht. Ich möchte aber das Leben meines Sohnes oder meines ihm nicht völlig unterordnen.« Es entstand ein kurzes Schweigen, in dem Anna versuchte, im Gesicht der Erziehungsberaterin herauszulesen, was diese gerade über sie dachte. »Wie sieht dieses Unterordnen im Einzelnen denn aus?«, hakte Frau Steffen schließlich nach. »Mein Mann will aus beruflichen Gründen für ein Jahr nach Amerika umziehen, wird dort aber keine Zeit für das Kind haben. Unser Sohn und auch ich sollen aber mitkommen; Familie kommt dort wohl ganz gut an. Denis käme dann in eine ihm völlig fremde Welt, hätte aber trotzdem nichts von seinem Vater«, stellte Anna fast trotzig fest.

»Sie glauben also, dass sich Ihr Sohn besser ohne seinen Vater entwickeln kann?« – »Ja.« – »Sieht das Denis auch so?« Anna tat sich schwer damit, zu beschreiben, was Denis mit seinem Vater verband. Natürlich war er immer wieder enttäuscht, wenn ihn Torben aus Termingründen wieder einmal versetzt hatte, aber immerhin konnte er sagen, dass er einen Vater hatte, der ganz wichtige Dinge erforschte. Etwas hilflos schob Anna nach: »Das kann er aber auch, wenn er in der Klasse erzählt, dass sein Vater wichtige Dinge in Amerika entwickelt.«

»Es geht aber doch nicht nur um den Amerikaaufenthalt. Werden Sie danach wieder zusammenwohnen?« – »Nein, eher nicht. Da gibt es auch eine andere Frau«, versuchte Anna auszuweichen. »Sie wollen also per Salamitaktik Ihrem Sohn vermitteln, dass das gemeinsame Familienleben gescheitert ist?«, brachte es die Beraterin auf den Punkt. Anna wich ihrem Blick aus, als sie leise mit »Ja« antwortete. Sie war sich sicher, dass dies der richtige Weg war, auch wenn ihr die guten Argumente hierzu noch fehlten. Dann sprachen sie noch über Annas Befürchtungen hinsichtlich Torbens Aggressionen und überlegten, wie die beiden vereinbarten Treffen mit ihm und Denis ablaufen könnten. Zum Ende des Gesprächs bot Frau Steffen ihr einen gemeinsamen Termin mit Denis an, den Anna auch sofort vereinbarte, weil sie sich selbst in dieser Situation unsicher fühlte.

Wie von Anna vermutet, sagte Torben das nächste Treffen mit seinem Sohn kurzfristig ab, weil er noch wichtige Termine hatte. Für das zweite Treffen vereinbarten sie dann das Sommerfest. Die letzte Musikprobe hierfür fand an dem Wochenende statt, an dem Denis zu einer Geburtstagsfeier eingeladen war. Während Frank für Anna seine Ersatzgitarre richtig einstellte, erzählte sie ihm von ihrem Albtraum. »Ist dir das denn schon einmal passiert?«, fragte er irritiert. »Nein, ich habe manchmal Rückenschmerzen und fühle mich dann verspannt, aber sonst ist alles okay.« – »Na, dann wollen wir mal hoffen, dass es bei dem Albtraum bleibt. Bei Bedarf trage ich dich aber auch von der Bühne«, war sein Kommentar.

Sie wollten mit der Band proben, bis Denis abgeholt werden musste. Anna wirkte diesmal deutlich gelassener als sonst. Vor dem letzten Durchgang, ihrer Generalprobe, zog sie sich die Haarspange, mit der sie häufig ihre langen Haare zusammenhielt, heraus und ihre dunklen Locken fielen auf ihre Schultern. Frank blickte erstaunt von Anna zu Maik, der ihm die Verwandlung mit einem Grinsen erklärte: »Anna gibt jetzt richtig Gas.« Jens war ihr kritischer, aber auch begeisterter Zuhörer, und Anna hatte den Eindruck, als könnte sie durch die gemeinsame Musik, zu der sie diesmal auch tanzte, den grauen Schleier vertreiben, der gerade ihr Leben eintrübte.

Als sie losmusste, begleitete Frank sie zur Haustür. »Lässt dich dein Mann jetzt in Ruhe?«, erkundigte er sich. »Torben wohnt nicht mehr bei uns, und ich habe auch seine Schlüssel«, antwortete Anna und wirkte erleichtert. Während er sie zum Abschied noch in seinen Arm nahm, prophezeite er voller Optimismus: »Es wird nächste Woche richtig gut; glaub mir.«

II

Während Anna schon früher zum Sommerfest fuhr, um mit den anderen aus der Band die letzten Details für ihren Auftritt abzustimmen, wollte ihre Mutter mit Denis nachkommen und sich dort auch mit Torben treffen. Maik und Frank waren gerade dabei, die Beleuchtung und den Verstärker einzustellen, als Anna plötzlich hinter sich das Rufen ihres Sohnes vernahm. Erstaunt stellte sie fest, dass er nur mit seiner Oma gekommen war. Sie bat die anderen, noch einmal kurz zu Denis gehen zu können, der vor der Bühne ungeduldig auf sie wartete. »Hey, mein Großer«, begrüßte sie ihn und wollte dann von ihrer Mutter gleich wissen: »Wo ist denn Torben?« – »Der wollte gleich mit einem Kollegen vorbeikommen. Hat aber ansonsten nicht so viel Zeit«, antworte ihr diese knapp.

Zusammen mit Denis ging Anna zurück auf die Bühne. Dort nahm Maik sein Patenkind in den Arm und stellte ihn dann voller Stolz den anderen Bandmitgliedern vor. Erst zehn Minuten vor dem geplanten Auftritt trat Torben mit einem Kollegen an den Bühnenrand und gab nach einem lauten: »Hey, Denis« das Handzeichen, dass dieser zu ihm kommen solle. Anna ging mit ihrem Sohn zu ihnen, während sich ihre Mutter in ihrer Nähe aufhielt. Der Kollege von Torben wollte gerade schwärmerisch davon berichten, dass sie sich im Institut gerade einen interessanten Versuch angesehen hätten, worauf Anna nur bemerkte: »Die Zukunft wird zeigen, ob dieser Autotyp überhaupt noch bezahlbar ist, und außerdem wollen viele Fahrer ihre Autos auch lieber selber lenken. Maman, übernimmst du bitte Denis, es geht gleich los.«

Eilig ging Anna wieder zurück auf die Bühne. Sie wirkte sichtbar fahrig. Frank, der von Maik zuvor schon darüber informiert worden war, dass Annas Platzhirsch vor der Bühne stehen würde, erkundigte sich bei ihr: »Willst du schon beim ersten Song mit dabei sein oder erst einmal ankommen?« Sie schüttelte den Kopf: »Nein, nimm mich bitte gleich mit«, worauf sie sich auf einen Gitarrenvorspann von Maik und die Begrüßung durch Frank einigten, bevor es dann wie geplant losgehen sollte.

Mit dem ersten Song wurde Anna wieder ruhiger. Es hatten sich immer mehr Campusfestbesucher vor der Bühne versammelt und hörten ihnen interessiert zu. Beim zweiten Song war die Stimmung schon so ausgelassen, dass sich das Publikum gut von ihnen animieren ließ, mitzutanzen oder einfach den Rhythmus zu stampfen und den Refrain zu singen. Anna stand zwischen Frank und Maik, die auf ihren E-Gitarren spielten, vorne auf der Bühne. Sie hatte das Mikrofon aus dem Ständer gelöst und bewegte sich tanzend, während sie sang. Es ging ihr gut. Nach drei Songs tanzte sie übermütig sowohl Frank als auch Maik an, während sie die Zuschauer aufforderte, richtig »Gas zu geben«, was diese auch taten. Es waren hauptsächlich Studierende in sichtbar guter Partylaune.

Nach sieben Songs, in denen Anna ihr Bestes gab, verabschiedete Maik sie mit den Worten: »Unsere sexy Räuberbraut kommt nachher noch einmal auf die Bühne. Jetzt kommen aber noch die etwas ruppigeren Songs.« Anna wollte derweil zu Denis und ihrer Mutter gehen, die sich etwas abseits der Lautsprecher aufhielten. Beim Herabsteigen der schmalen Bühnentreppe hatte sie plötzlich das Gefühl, als ob ihre Beine nachgeben würden, worauf sie nach dem Treppengeländer griff. Auf der letzten Stufe hielt sie einen Moment inne und ging dann ziemlich unsicher weiter. Ihre Mutter sah ihr sofort an, dass etwas nicht stimmte. »Geht es dir nicht gut?« – »Kommt, wir setzen uns dort auf die Bank«, schlug Anna vor. »Mein Rücken hat sich ziemlich verkrampft.«

Denis war begeistert vom Auftritt seiner Mutter und wollte gleich von ihr wissen: »Wirst du jetzt Sängerin und bist dann berühmt?« Anna beugte sich zu ihm herunter und küsste seine Nasenspitze. »Nein, ich bleibe deine Mama und dies war alles nur Spaß, heute für das Fest.« Von ihrer Mutter erfuhr sie, dass Torben und sein Kollege sich nach drei Songs mit den Worten verabschiedet hätten, sie müssten noch einmal ins Institut. Denis schien darüber nicht weiter traurig zu sein, zumal er jetzt mit seiner Oma nach Hause fahren wollte, um noch seine Lieblingssendung im Kinderfernsehen anzusehen und dann bei ihr zu übernachten. Anna wünschte den beiden noch einen schönen Abend und ging dann zurück zur Bühne.

Die Band spielte gerade ihren letzten Song, wobei Maik und Frank hierfür alles aus ihren E-Gitarren herausholten, während das Publikum vor Begeisterung johlte. Danach stellte Frank mit Blick auf Maik fest: »Jetzt sind wir zwar mächtig verschwitzt, es gibt aber noch einen Song, zusammen mit Anna.« Der Beifall und die Rufe nach Zugabe hielten noch an, als Anna die Bühne betrat. Sie stellte sich wieder zwischen Maik und Frank, wobei dieser sie voller Elan aufforderte: »Jetzt spielen wir noch einmal unseren tollen Song.« Es war eine Art Gute-Laune-Dixiesong, der beim Publikum zuvor schon gut angekommen war und diesmal als Zugabe noch viel mehr. Danach, als der Beifall bereits wieder abebbte und Maik dem Publikum erklärte, was sie nun mit ihnen vorhätten, blickte Frank noch etwas verklärt, weil ihn der Song mit Anna doch sehr berührt hatte.

Diese wurde nun als gesangsfeste Musikerin gefordert, indem sie mit dem Publikum einen Kanon zu dem bekannten Schlaflied »Guten Abend, gute Nacht« hinbekommen sollte. Die Zuhörer kicherten erst etwas ungläubig, sangen dann aber eifrig mit. Maik nutzte derweil die Gelegenheit, um sehr schräg zur Belustigung der Übrigen zu singen, sodass nach drei Durchgängen der Musiklehrer bei Frank durchkam und er ins Mikrofon sagte: »Stopp, ich glaube, wir üben an diesem Stück noch einmal in aller Ruhe.« Maik, schon etwas heiser, widersprach ihm nicht und wünschte den Zuschauern: »Okay, habt noch einen schönen Abend auf dem Campusfest und dann bis Montag, in alter Frische.«

Erleichtert und ziemlich aufgedreht, dass insgesamt alles so gut geklappt hatte, fassten sich zur gemeinsamen Abschlussverbeugung alle Bandmitglieder an die Hände und verließen danach vor dem begeistert klatschenden und johlenden Publikum die Bühne. Bei den letzten beiden Stufen stolperte Anna und fiel hin. Frank, der hinter ihr ging, war sofort bei ihr und half ihr hoch, während Maik die Gitarre von ihm übernahm. Besorgt erkundigte sich Frank, ob sie laufen könne, was Anna, ziemlich blass im Gesicht vor Schreck, bejahte. Er fasste sie unter und brachte sie zu seinem Wagen. »Anna, du solltest dich einmal in die Röhre legen und ein MRT machen lassen. Ein Kollege von mir hatte einen Bandscheibenvorfall und konnte manchmal auch nicht mehr richtig laufen«, riet er ihr.

Ziemlich wortkarg fuhr er sie nach Hause. Als er vor ihrer Einfahrt einparkte, wollte er noch von ihr wissen: »Wenn dein Mann im Flieger sitzt, gehst du dann mit mir essen? Schließlich haben wir was zu feiern.« Anna schaute ihn erstaunt an. »Unser erstes Konzert und so«, ergänzte er schnell. Sie lächelte. »Torben fliegt morgen Mittag.« – »Wollen wir morgen Abend zum Italiener bei mir an der Ecke gehen?« – »Gerne. Ich bespreche das mit meiner Mutter wegen Denis und melde mich dann bei dir.«

Frank stieg aus, öffnete die Beifahrertür und reichte ihr die Hand, um ihr beim Aussteigen zu helfen. Obwohl sie erst noch sagen wollte, dass sie so gebrechlich auch nicht sei, nahm sie seine Hilfe an, weil sie schon wieder diese unangenehme Verspannung im Rücken spürte. Vor der Haustür beugte er sich zu ihr herunter und küsste sie auf die Stirn. Während er an einer ihrer dunklen Locken zupfte, verabschiedete er sich mit den Worten: »Schlaf gut, du Räuberbraut, und morgen hole ich dich dann zum Essen ab.«

Erst nachdem Anna ihre Jacke an die Garderobe gehängt hatte, blickte sie auf ihr Handy. Torben hatte dreimal versucht, sie anzurufen. Sie hatte es nicht bemerkt, zumal es für den Auftritt auf leise gestellt war. Anna setzte sich aufs Sofa im Wohnzimmer und wählte seine Nummer. Torben war wütend, als er ihr vorwarf: »Das hast du ja gut hinbekommen mit Denis. Willst du mir den Jungen jetzt völlig entfremden?« – »Torben, was willst du eigentlich? Du hattest letztes Mal keine Zeit, als du dich mit ihm zum Pizzaessen verabredet wolltest, und heute war dein Kollege dann auch wieder wichtiger. Wir können nicht alle auf Abruf leben, bis du mal wieder Interesse an uns hast.«

Seine Stimme hatte wieder diesen harten aggressiven Klang, als er entgegnete: »Ich wollte heute mit Denis die Kinderveranstaltung im Chemiezentrum besuchen, aber er wollte ja lieber mit deiner Mutter dein Musiktrallala ansehen. Übrigens, dein Auftritt war einfach nur peinlich; fand mein Kollege auch und hat mich ganz fassungslos gefragt, ob du nicht auch studiert hättest.« Anna holte tief Luft, bevor sie ihm antwortete: »Den übrigen Zuhörern gefiel es offenbar und Denis übrigens auch, sonst wäre er wohl auch nicht dortgeblieben.«

Torben wollte sie weiter unter Druck setzen und drohte deshalb: »Ich werde mich anwaltlich beraten lassen; so einfach überlasse ich dir den Jungen nicht.« – »Ich habe nächste Woche mit Denis den ersten Termin in der Erziehungsberatungsstelle. Dann wirst du seine Wünsche auch einmal berücksichtigen müssen, die sind nämlich keineswegs unerheblich.« – »Aber bestimmt nicht bindend.« – »Wenn das Jugendamt seine Stellungnahme hierzu abgibt, bekommen sie schon sehr viel Gewicht«, klärte ihn Anna auf. Mit den Worten: »Das wirst du noch bereuen. Du bist doch wirklich eine ganz miese Schlampe. Du solltest dich schämen«, beendete Torben das Gespräch. Anna atmete mehrfach tief durch und schrieb ihm dann eine SMS: »Ich habe nächste Woche auch einen Termin bei einer Scheidungsanwältin, damit unser Getrenntleben seit deinem Auszug rechtlich geregelt wird.« – »Das war ein Rauswurf durch dich, du bitch. Du wirst das noch bereuen«, war seine prompte Antwort.

Als Anna in ihrem Bett lag, musste sie gegen eine Panikattacke ankämpfen, die sie plötzlich überfiel. Sie wusste nicht, was sie sich wünschen sollte. Dass Torben in den USA seine Traumfrau kennenlernte und einen Traumjob gleich dazu bekam und dann für immer dortblieb? Ja, sie hatte das gemeinsame Leben mit ihm falsch eingeschätzt. Seine Geltungssucht und seinen Egoismus manchmal eher verharmlost, aber durfte sie nun das Leben von Denis und das ihre an die erste Stelle setzen?

Schließlich schlief sie ein und hatte wieder einen Albtraum. Sie träumte, dass sie einen Raum betrat und plötzlich nichts mehr erkennen konnte. Dann hörte sie Torben hinter sich brüllen: »Du miese Schlampe, da bist du ja!« Schweißgebadet wachte sie auf und ging ins Bad. Im Spiegel erblickte sie nicht mehr die gut gelaunte, attraktive junge Frau vom Nachmittag, sondern ein blasses, verschwitztes und verängstigtes Wesen, das verzweifelt nach einem Ausweg sucht.

Am nächsten Morgen klingelte Denis an der Wohnungstür Sturm, weil er sie fragen wollte, ob sie zum Frühstück käme. Sie versprach es ihm. Als sie kurz darauf die Wohnung ihrer Mutter betrat, bemerkte diese gleich: »Na, gestern ist es wohl noch spät geworden, du siehst ja richtig müde aus.« Anna setze sich zu ihnen an den Tisch. »Nein, ich war kurz nach dem Auftritt zu Hause. Es ging mir nicht so gut, weil mein Rücken wieder verspannt war. Dann habe ich noch mit Torben telefoniert. Er wird jetzt schon auf dem Weg zum Flughafen sein.« Denis sah nur kurz auf, während er sein Toastbrot mit Schokocreme bestrich. »Papa war gestern richtig sauer, dass ich ins Fußballcamp fahre. Ich hatte richtig Angst vor ihm.« – »Denis, erzähl das bitte nächste Woche Frau Steffen von der Beratungsstelle. Sie wird uns helfen, damit wir das alles so hinbekommen, dass keiner mehr sauer sein muss«, schlug Anna ihrem Sohn vor, was diesen aber nicht weiter zu interessieren schien. Der Junge erzählte ihr voller Vorfreude, dass er vorhabe, nachher mit der Oma einen großen Topf Knete selber herzustellen.

Gleich nach dem Frühstück war Denis nach unten in sein Zimmer gelaufen, um zwei Ritter aus seiner Burg zu holen. Anna nutzte diese Gelegenheit, um bei ihrer Mutter nachzufragen, ob sie heute noch mit Frank Sander zum Essen gehen könne. Ihre Mutter blickte sie erstaunt an. »War das der große Bärtige neben dir?«, erkundigte sie sich. »Ja.« – »Läuft da etwas zwischen euch?« – »Nein, warum?« – »Euren gemeinsamen Auftritt kann man schon als Kampfansage an Torben verstehen«, bemerkte ihre Mutter nachdenklich. Anna schwieg einen Moment, bevor sie erklärte: »Wir kennen uns seit vier Wochen und verstehen uns einfach gut. Die Probleme mit Torben gibt es seit Monaten und sie werden immer heftiger. Er hat mir gestern gedroht und mich Schlampe genannt. Meinen Auftritt fand er zwar lächerlich, aber das klang nicht nach Eifersucht, was von mir auch nicht beabsichtigt war.«

»Euer Auftritt gefiel mir gut. Es war nur nicht zu übersehen, dass die Chemie zwischen euch gut stimmt, und du bist sehr begabt; so wie dein Vater«, stellte ihre Mutter gerade fest, als Denis hereinstürmte und von Anna wissen wollte: »Warst du gestern noch in der Chemie? Papa wollte da hin.« – »Nein, der Frank hat mich nach dem Konzert gleich nach Hause gefahren, weil ich auf der Bühnentreppe gestolpert bin. Ich muss deshalb nachher noch mein Auto von der Uni abholen, damit ich dich morgen zur Schule fahren kann.« Ihre Mutter war beunruhigt, als sie von dem Sturz hörte, und bestärkte Anna darin, durch ein MRT abklären zu lassen, was hierfür ursächlich sein könnte. Anna versuchte, sich vorsichtig zu recken. »Von dem ganzen Stress bin ich im Rücken derart verspannt, so als hätte man Gitarrensaiten zu hart eingestellt.«

Dann telefonierte sie mit Frank, der ziemlich müde wirkte. Er war gestern mit den anderen aus der Band noch auf dem Campusgelände unterwegs gewesen, nachdem sie ihre Sachen von der Bühne geholt hatten. Erst waren sie in einigen Instituten, um sich dort Versuche anzusehen, und danach gab es noch ein Bier, auf den gelungenen Auftritt. Anna vereinbarte mit ihm, dass sie schon mittags zum Italiener gehen würden, damit sie am Abend wieder rechtzeitig zu Hause sein könnte, um ihren Sohn ins Bett zu bringen. Denis und ihre Mutter hatten sich vorgenommen, mit der Knete einen Zoo zu basteln, und würden sie deshalb am Nachmittag auch nicht vermissen.

Als Frank um halb eins klingelte, um sie abzuholen, war Denis der Erste an der Wohnungstür und öffnete sie stürmisch. Nach einem kurzen »Hallo« musterte er Frank eingehend. »Machst du immer solche Musik?«, fragte er schließlich. »Hm, nicht immer, aber sehr oft. Ich bin nämlich Lehrer und unterrichte auch Musik.« Nun wurde Denis neugierig. »Hast du auch ein Schlagzeug?« – »In der Schule haben wir ein Schlagzeug. Zu Hause habe ich nur zwei Gitarren, ein Banjo und ein Klavier.« Jetzt griff Anna in die Unterhaltung der beiden ein, weil sie den weiteren Verlauf des Nachmittags nicht ihrem Sohn überlassen wollte, und mahnte ihn: »Denis, du musst nun zu Omi gehen, damit ihr euren Zoo bauen könnt.«

Im Auto erkundigte sich Frank gleich, ob es ihr wieder besser gehen würde, worauf Anna auf ihre Uhr sah und dann feststellte: »Ja, er sitzt nun im Flieger, und das fühlt sich verdammt gut an.« Sie berichtete von Torbens letzten Beschimpfungen, worauf Frank nur ungläubig den Kopf schüttelte. »Früher habe ich immer geglaubt, Professoren oder Lehrkräfte an der Uni seien so etwas wie Übermenschen. So schlau und weise. Das habe ich sogar noch als Student in den ersten Semestern geglaubt.« Anna sah ihn amüsiert von der Seite an. »Und, was hat dich dann eines Besseren belehrt?« – »Irgendwann merkte ich, dass einige sehr eitel und fast neurotisch auftraten; das hat dann meine anfängliche Bewunderung doch etwas eingetrübt. Dein Torben bestätigt nur meine Wahrnehmung von damals. Ich glaube auch, an einer Uni könnte ich gar nicht arbeiten. Ich brauche echte Kollegen und ein Team und nicht hinter jeder Bürotür einen Konkurrenten.«

Im Restaurant wurde gerade ein kleiner Tisch in einer ruhigen Nische frei, sodass sie ungestört reden konnten. Frank erzählte ihr von seiner Arbeit an der Gesamtschule und auch, dass dort dringend Mitarbeiter für die Nachmittagsbetreuung in den AGs gesucht würden. Anna fragte eher scherzhaft nach: »Was zahlt ihr denn?« Dann kam sie auf ihre Situation in der Uni zu sprechen und auch darauf, dass sie sich bis morgen entschieden haben müsse, ob sie die AG-Leitung im Institut übernehmen möchte. Als sie die Konflikte mit ihrer Kollegin erwähnte, sah Frank sie nachdenklich an. »Wenn du den Job nicht machst, wer macht ihn dann?« – »Meine Kollegin.« – »Na super, dann hast du sie als Chefin, und sie weiß doch genau, dass du ihr das Wasser reichen kannst.«

Anna, die sich diese Gedanken auch schon gemacht hatte, wirkte etwas ratlos: »Und, was soll ich deiner Meinung nach tun?« – »Kannst du denn nicht noch einmal mit deinem Professor darüber sprechen?« – »Der wollte mich fördern und hat mir deshalb den Job angeboten. Mein Zögern war für ihn nicht nachvollziehbar. Bekommst du an der Uni eine Chance, musst du auch hart genug sein, dich zu behaupten. Ich werde morgen familiäre Gründe vorgeben, warum ich diese Chance nicht nutze, damit ich im Institut nicht als Weichei verschrien bin.« – »Und lässt dich dann von deiner neuen Chefin genüsslich grillen?«, malte ihr Frank ihre berufliche Zukunft aus. Anna war inzwischen der Appetit vergangen. Lustlos schob sie ihre Gabel in die Nudeln und schwieg.

Er umfasste ihre Hand. »Vielleicht ist dies ja auch eine Chance, dich in aller Ruhe beruflich umzuorientieren. Wenn du nicht so ein karriereorientierter Mensch bist, ist die Uni vielleicht der falsche Arbeitsplatz für dich. War das die Idee von Torben, auch an der Uni zu arbeiten?« – »Durch Torben hat die Unizeit nie wirklich für uns aufgehört. Denis hat die Unikrippe besucht und ich war nach dem Studium froh, dort sofort eine Stelle zu bekommen. Ich habe ein bisschen verlernt, wie ein Leben außerhalb der Uni funktioniert. Selbst das Fitnesstraining und das Mittagessen finden dort statt.« Ihre Worte amüsierten ihn. »Du, dann wird es jetzt höchste Zeit, dass du einmal unter dieser Käseglocke hervorkommst. Torben ist weit weg und du kannst jetzt endlich flügge werden.«

Frank hatte schon das Essen bezahlt. Nach dem Espresso fragte er: »Kommst du noch mit zu mir?« Anna wich seinem Blick nicht aus, als sie feststellte: »Ich war neun Jahre nur mit einem Mann zusammen und habe einen kleinen Sohn. Affären gehen anders, oder?« – »Du lebst getrennt, dein Sohn ist ein lieber Kerl und wir beide verstehen uns gut. Wer redet hier von Affäre?« Anna nickte und stand auf. Frank, der vorgegangen war, hielt ihr die Restauranttür auf. Erst auf der Straße griff er nach ihrer Hand und ging mit ihr in seine Wohnung auf der gegenüberliegenden Straßenseite.

Die beiden von ihm bewohnten Räume waren mit einer doppelflügeligen Glastür miteinander verbunden, die offen stand. Von seinem Wohnraum aus konnte Anna sehen, dass sein Bett noch so aussah, wie er es verlassen hatte, auch die Vorhänge waren noch zugezogen. Nachdem er die Zimmertür zum Flur geschlossen hatte, wollte sie von ihm wissen, ob sein Kollege gerade in der WG sei. »Nein, der besucht das Wochenende seinen Bruder«, beruhigte Frank sie. »Geht dir das alles zu schnell?« – »Ich versuche nur gerade, aus der Käseglocke zu kriechen. Du kennst dich mit dem normalen Leben besser aus.« Er nahm sie in den Arm. »Mein Liebesleben war bislang eine langjährige Beziehung mit einer ehemaligen Schulfreundin. Seit einem Jahr ist es vorbei, mit langer Trennungsphase. Ich habe einfach Lust darauf, mit dir noch Zeit zu verbringen. Egal ob auf dem Sofa, im Bett oder am Klavier.« Anna sah sich um. »Du hast es sehr gemütlich hier, und dein Bett sieht richtig kuschelig aus. Die nächsten drei Stunden gehören noch uns.«

Frank nahm sie bei der Hand und führte sie zu seinem breiten Bett mit den bunten Bezügen und vielen Kissen. Dort zog er sich seine Schuhe aus, legte sich auf die eine Betthälfte und blickte sie erwartungsvoll an. Anna schlüpfte aus ihren Sandalen und kroch dann auf der anderen Bettseite unter die Decke, um sich in die weichen Kissen zu kuscheln. »Ich habe noch nie so ein gemütliches Bett gesehen«, stellte sie mit einem Leuchten in den Augen fest. Frank war an sie herangerückt und nahm sie in seinen Arm. Während er ihre Haare kraulte, erkundigte er sich: »Bist du schon so weit, dass du dich auf uns einlassen willst?« Sie brauchte erst einen Moment, bevor sie zurückfragte: »Willst du wirklich die Beziehung mit all diesen noch ungelösten Problemen?« Er beugte sich zu ihr herüber und küsste sie, bevor er ihr versicherte: »Ich bin inzwischen Fachmann für ungelöste Probleme geworden.«

Es tat ihr gut, dass er sich Zeit nahm mit seinen Zärtlichkeiten und angenehm unverkrampft wirkte, als sie sich gegenseitig beim Ausziehen halfen und er erst einmal klären musste, wie sich ihr Kleid öffnen ließ. Seine körperliche Nähe war für sie noch zu ungewohnt, auch seine Küsse mit Bart und seine behaarte Brust, sodass sie ihr anfängliches Fremdeln erst überwinden musste. Als sie später in seinem Arm lag und eine Zeit lang schwieg, fragte er: »Bereust du es?« – »Nein, aber es kommt mir fast so vor, als seien wir schon immer zusammen. So als würden wir den Nachmittag im Bett verbringen; vertraut und kuschelig.« Er zog sie fest zu sich heran und flüsterte ihr ins Ohr: »So soll es auch sein.« Bevor sie wieder aufstehen mussten, überlegten sie noch, wann und wo sie sich zukünftig treffen könnten. Sie wollten es schon wegen Denis langsam angehen lassen, aber auch, um das anstehende Scheidungsverfahren nicht zu verkomplizieren.

Anna hatte schon einige Male auf die alte Pendeluhr an der Wand im Wohnraum geschaut, die sie durch die geöffnete Glastür vom Bett aus sehen konnte. Sie wollte nicht zu spät bei ihrem Sohn sein. Als sie schließlich aufstand, um sich anzuziehen, fragte Frank sie: »Willst du dich nicht lieber noch duschen?« – »Warum, wir haben doch ein Kondom benutzt, da bleibt dann auch kein Liebesduft.« Auch er war aufgestanden und zog sich an. Während er sich sein Hemd zuknöpfte, bemerkte er: »Du wirst aber nach mir riechen. Auf jeden Fall behauptet das immer meine Schwester Simone, wenn ich meine Neffen auf dem Arm hatte.« Anna küsste ihn, bevor sie sich weiter anzog. »Deine Schwester hat ja eine wirklich feine Nase. Außerdem möchte ich noch nach dir duften; vielleicht wasche ich mich auch gar nicht bis zu unserem nächsten Mal«, überlegte sie glücklich.

Frank fuhr sie zu dem Campusparkplatz, wo sie gestern vor dem Konzert ihren Wagen abgestellt hatte. Auf der Fahrt dorthin erzählte er ihr von seiner Schwester, die zusammen mit ihrem Ehemann und zwei Mitarbeitern ein Gesundheitszentrum an der Nordsee aufgebaut hatte, und von seinen beiden Neffen. Auch er hatte den Wunsch, bald eigene Kinder zu haben, und fragte Anna deshalb: »Meinst du nicht, für Denis wären Geschwister auch ganz gut?« Anna blickte ihn lächelnd von der Seite an und pflichtete ihm bei: »Für Denis und sein ausgeprägtes Ego wären Geschwister schon sehr wichtig, um auch mal zu begreifen, dass sich nicht alles um den kleinen Prinzen dreht.« – »Dann lass es uns gleich nach deiner Scheidung umsetzen, damit der Kleine nicht noch mehr Starallüren bekommt«, war sein Vorschlag.

III

Als Anna zu Hause ankam, bereitete ihre Mutter schon mit Denis das Abendessen vor. Denis stürzte gleich auf sie zu und zog sie in die Bastelecke, wo ein prächtiger Zoo aus Knete aufgebaut war, ergänzt mit Ästen und Heckengrün aus dem Garten, was die Grünanlage des Zoos darstellen sollte. Denis schmiegte sich gerade an seine Mutter, als er begann, an ihr zu schnuppern. »Du riechst aber gut.« Annas Mutter sah ihre Tochter an, sagte aber nichts. Als sie später gemeinsam am Esstisch saßen, erzählte ihr Anna, dass sie sich bis morgen entschieden haben müsse, ob sie die Gruppenleitung im Institut übernehmen wolle, sie aber Bedenken hätte, dieses Angebot anzunehmen.

Denis, den dieses Thema gar nicht interessierte, aß schnell auf und verschwand dann vor den Fernseher, um noch seine Kindersendung zu sehen. Erst als der Junge abgelenkt war, mahnte Annas Mutter: »Sei bitte vorsichtig mit einem neuen Mann. Noch bist du nicht geschieden, und auch euer Getrenntleben ist noch nicht offiziell.« – »Maman, ich weiß. Aber am Dienstag wird es offiziell und ich würde mich gerne jeden Mittwoch für drei Stunden mit Frank bei ihm treffen. Dann ist sein WG-Bewohner zum Sport und Denis wird noch ein wenig aus der Sache herausgehalten.«

Als ihre Mutter ihrem Plan zustimmte, besprach sie mit ihr noch, dass sie mit Franks Hilfe versuchen wolle, zukünftig an der Gesamtschule zu arbeiten. Sie dachte hier an AG-Betreuungsstunden oder daran, mit Frank zusammen eine Musik-AG anzubieten. Falls dies klappen würde, könnte sie die Stunden in der Uni reduzieren oder aber den Job dort ganz aufgeben. Etwas