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Nach einer Silvesterfeier bei Freunden verursacht der Ehemann von Christine Hansen einen Verkehrsunfall. Er hatte zu viel getrunken. Die Verletzungen von Christine sind so schwer, dass sie im Krankenhaus ihr ungeborenes Kind verliert. Ihre Ehe scheitert daraufhin und sie sieht keinen Sinn mehr in ihrem bisherigen Leben. Obwohl ihr die notwendige Auslandserfahrung hierfür fehlt, nimmt sie ein Forschungsprojekt in Afrika an, um den schmerzhaften Erinnerungen zu entfliehen, die auch Wochen nach dem Unfall noch ständig präsent sind. Erst in der völlig fremden Umgebung und den vielen neuen Herausforderungen ist Christine mit Hilfe ihres Bruders in der Lage, ihre Trauer zu verarbeiten und sich später auch auf eine neue Beziehung einzulassen.
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Seitenzahl: 472
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Kapitel I
Kapitel II
Kapitel III
Kapitel IV
Kapitel V
Kapitel VI
Kapitel VII
Kapitel VIII
Kapitel IX
Kapitel X
Kapitel XI
Kapitel XII
Kapitel XIII
Kapitel XIV
Kapitel XV
Kapitel XVI
Kapitel XVII
Kapitel XVIII
Kapitel XIX
Kapitel XX
Kapitel XXI
Es geschah am ersten Tag im Jahr 2017 in der Nähe von Elmshorn. Die Silvesterfeier fand im ausgebauten Scheunenteil des Bauernhofes von Olafs Eltern statt. Jens Hansen war mit seiner Ehefrau Christine von Hamburg angereist, um das für ihn beruflich sehr erfolgreiche Jahr mit seinen ehemaligen Studienkameraden ausklingen zu lassen. Chris hatte sich nur unter der Bedingung bereit erklärt mitzukommen, dass sie dort auch übernachten würden. Die Feier war locker und unbeschwert. Es wurden gemeinsame Erlebnisse von früher in Erinnerung gerufen, viel darüber gelacht und sie sprachen auch die jeweiligen aktuellen Lebenssituationen an.
Chris, die in zwei Monaten ihr erstes Kind erwartete, erzählte gerade über den schleppenden Verlauf ihrer Doktorarbeit an der Universität in Hamburg, als sie spürte, wie sich ihr Rücken immer stärker verspannte. Der Tag war anstrengend gewesen und ihr hatte die Möglichkeit gefehlt, sich zurückziehen zu können. Sie ging deshalb zu Jens, der sich gerade mit zwei Bekannten angeregt über sein aktuelles Bauprojekt in Cuxhaven unterhielt. Dieser unterbrach nur ungern seine Unterhaltung und wollte dann von ihr wissen: »Was ist denn?« – »Ich bin müde und mein Rücken tut mir weh. Karin hat gerade gemeint, dass sie die Schlafplätze für uns erst herrichten kann, wenn hier alles vorbei ist.«
Jens reagierte gereizt: »Und? Kannst du dich nicht solange bequem auf das alte Sofa dort drüben setzen?« – »Ich fürchte, dass die Feier noch bis in den frühen Morgen geht. Vielleicht sollten wir lieber versuchen, ein Hotelzimmer hier im Ort zu finden. Dann könnte ich mich dort schon hinlegen«, schlug sie vor. Jens sah auf seine Uhr und fragte dann Olaf nach einem Hotel in der Nähe. Olaf nannte ihm zwei, die Jens auch gleich mit seinem Handy anwählte. Das direkt an der Hauptstraße liegende war komplett ausgebucht. Nur ein Gasthof, einige Kilometer entfernt, hatte noch ein Zimmer frei.
Es war schon drei Uhr, als sich Chris mit ihrem Ehemann von Olaf und den übrigen Gästen verabschiedete. Da Jens etwas getrunken hatte, wollte sie fahren, doch Jens wiegelte ab: »Ich habe gar nicht viel getrunken und du magst es doch nicht, im Dunkeln zu fahren. Die paar Kilometer schaffe ich schon.« Als sie noch zögerte, sagte er, während er sich ans Steuer setzte: »Nun komm schon, ich bin noch so klar, dass ich Olaf eben mein ganzes Bauprojekt erklären konnte.« Da war dieser kurze Moment des unguten Gefühls, den Chris mit der Hoffnung überging, dass schon nichts passieren würde, worauf sie auf dem Beifahrersitz Platz nahm.
Während sie auf der Landstraße fuhren, kam ihnen in der zweiten Kurve ein Fahrzeug entgegen. Geblendet von den Scheinwerfern überfuhr Jens den Mittelstreifen. Chris rief: »Pass auf!« Jens versuchte noch, dem Fahrzeug auszuweichen, bevor sie ins Schleudern gerieten, der Wagen seitwärts die Böschung hinabrutschte und auf der Beifahrerseite liegen blieb. Chris war von einem heftigen Stoß an ihren Kopf bewusstlos geworden. Als sie wieder zu sich kam, hörte sie noch sehr benommen, wie ihr Ehemann mit seinem Handy den Rettungsdienst anforderte. Er hatte sich mit Hilfe der drei Insassen aus dem anderen Fahrzeug aus dem Unfallwagen befreien können und versuchte sich nun um seine verletzte Ehefrau zu kümmern.
Chris war auf dem Beifahrersitz eingeklemmt. Sie spürte keine Schmerzen und hatte den Eindruck, als sei die Welt um sie herum unwirklich weit weg. Erst als der Rettungswagen kam, änderte sich das für einen kurzen Moment. Die Hektik ihrer Helfer, deren besorgte Gesichter und auch die Blaulichtfahrt ins Krankenhaus ließen langsam die Angst für sie spürbar werden, dass gerade etwas Furchtbares geschehen war. In der Notaufnahme wurde Chris sofort in den nächsten freien Behandlungsraum gebracht und dort vom Arzt untersucht. Sie hatte eine Kopfverletzung, die genäht werden musste, einen Bruch des rechten Schlüsselbeins sowie drei angebrochene Rippen. Wegen ihrer Schwangerschaft verzichtete der Arzt auf Röntgenaufnahmen und untersuchte sie nur per Ultraschall.
Als sie kurz darauf mit ihrem Bett in die Frauenklinik geschoben wurde, setzten Unterleibsblutungen bei ihr ein. »Ich blute. Was ist mit meinem Baby?«, wollte Chris voller Angst von der Krankenschwester wissen. Die herbeigerufene Ärztin versuchte sie zu beruhigen: »Wir müssen erst einmal die Untersuchungsergebnisse abwarten, dann wissen wir mehr.« Mit Schmerzen und Angst um ihr ungeborenes Kind drängte Chris ihren Ehemann, der die ganze Zeit neben ihr saß: »Bitte, geh. Ich möchte jetzt lieber allein sein.« Jens stand erst noch einen Moment unschlüssig vor ihrem Bett, ging dann aber, als sie ihr Gesicht von ihm abwandte.
Da Jens selbst nur Prellungen hatte, konnte er das Krankenhaus wieder verlassen. Er wollte mit dem Taxi zurück zu Olaf fahren und dort die nächsten Tage abwarten. Wegen der bei ihm festgestellten Promillewerte im Blut hatte er sich aber am nächsten Tag bei der Polizeistation zu melden.
Noch bevor die Ärztin wieder zu ihr kam, hatte Chris die bange Vorahnung, dass in ihr etwas abgestorben sein könne. Die Blutungen hatten nicht aufgehört und sie spürte nach dem Unfall keine Kindsbewegungen mehr. Die Untersuchung bestätigte ihren Verdacht, worauf ihr die Ärztin riet: »Wir sollten jetzt die Geburt einleiten.« Als Chris noch zögerte, reagierte diese etwas ungehalten, indem sie sagte: »Ich komme in einer halben Stunde noch einmal vorbei und dann sollten Sie die Medikamente bekommen. Es kann nämlich Stunden dauern, bis der tote Fötus raus ist.«
Erst als sie wieder allein war, liefen ihr die Tränen über das Gesicht. Sie brauchte einen Moment, bis sie ihrem jüngeren Bruder Benno eine SMS schreiben konnte: »Bitte komm. Liege im Krankenhaus Elmshorn; habe nach einem Unfall mein Kind verloren.« Er versprach, sich sofort auf den Weg zu machen. Jens gab sie nicht Bescheid. Als die Ärztin kurz darauf ihr Einverständnis für die weitere Behandlung einforderte, fragte Chris noch einmal: »Sind Sie sich ganz sicher, dass mein Baby tot ist?«, worauf diese nur nickte.
Noch bevor Benno eintraf, kam Jens. Er wirkte besorgt und hatte ein schlechtes Gewissen. Als er sich mit der Frage »Na, wie geht es euch beiden denn?« auf den Stuhl neben ihrem Bett setzen wollte, spürte sie die ganze verzweifelte Wut in sich aufkommen. »Verschwinde! Unser Kind ist tot und unsere Beziehung ist es auch.«
Jens war zu schockiert, um darauf etwas antworten zu können. Er stand auf, ging ins Stationszimmer und verlangte dort, die Ärztin zu sprechen. Als diese ihm erklärte, dass die stille Geburt bereits eingeleitet wurde und in ein paar Stunden wohl alles überstanden sei, ging Jens zurück zu seiner Ehefrau.
Chris sah aus dem Fenster und schwieg. Erst als er sie mit den Worten trösten wollte: »Die Ärztin hat mir eben gerade gesagt, dass du später wieder ganz normal Kinder bekommen kannst«, blickte sie ihn verständnislos an. Mit leiser, aber sehr scharfer Stimme erwiderte sie: »Jens, das hier ist kein Haus, das abgerissen und dann einfach wieder neu aufgebaut wird. Es ist unser Sohn, den du letzte Nacht im Suff zu Tode gefahren hast! Verschwinde, ich will dich nie wiedersehen!« Mit der Hand wischte sie sich die Tränen aus dem Gesicht und sah nicht mehr, wie Jens den Raum verließ.
Ihr Bruder musste sich im Krankenhaus erst durchfragen, bis er das Zimmer seiner Schwester fand. Diese spürte bereits ein deutliches Ziehen im Unterleib und hatte nur noch Angst vor dem Moment, in dem sie ihren toten Sohn sehen würde. Benno war für einen Augenblick sprachlos, als er seine Schwester dort so liegen sah. Dann nahm er sich zusammen und fragte: »Wie ist das denn alles passiert?«
Chris weinte, während sie ihm schilderte, was geschehen war und dass sie nun ihren toten Sohn gebären würde. Mit dieser Nachricht hatte Benno nicht gerechnet. Er fühlte sich hilflos. »Möchtest du, dass ich solange bei dir bleibe?« Seine Schwester nickte. »Und was machen wir, wenn das Kind da ist?« – »Bring mich bitte mit meinem Sohn nach Göttingen. Ich möchte ihn dort neben Oma und Opa beerdigen lassen.«
Benno war auf den Flur gegangen, um sich aus dem Automaten einen Kaffee zu holen. Er hatte Kopfschmerzen von der Feier der letzten Nacht und fror vor Müdigkeit. Zum Glück hatte sich der Nachbar seiner Eltern, der als Diabetiker keinen Alkohol trinken durfte, sofort bereit erklärt, ihn in die Klinik zu fahren. Mit seiner Freundin Lisa besprach Benno per Handy, dass sie am nächsten Tag mit dem Wagen kommen solle und sie dann alle nach Göttingen fahren würden.
Als ihre Schmerzen heftiger wurden, brachte ein Pfleger Chris nun doch noch zum Röntgen. Für den Bruch am Schlüsselbein bekam sie einen Schlauchverband und der Rippenanbruch sollte ohne weitere medizinische Maßnahmen heilen. Damit für sie die Schmerzen erträglich wurden, verordnete der Arzt ihr ein Medikament, das sie auch die nächsten Tage einnehmen sollte.
Während Benno im Laufe der nächsten Stunden immer fahriger wurde und auch nicht wusste, wie er seiner Schwester wirklich helfen konnte, reagierte diese apathisch und sehr wortkarg. Durch die gute Unterstützung der Hebamme, die sie auf diesem schweren Weg begleitete, konnte dann Chris aber immer entschlossener werden, die Geburt zum Abschluss zu bringen.
Am nächsten Morgen gegen sieben Uhr wurde der kleine tote Junge geboren. Chris spürte einen tiefen Schmerz in sich, als sie ihn das erst Mal sah. Es war zwar alles an ihm dran, aber noch nicht richtig ausgeprägt, wodurch er in ihren Augen etwas künstlich aussah. Sie streichelte ihren Sohn und gab ihm den Namen Jannic, so wie sie es bereits vor Wochen zusammen mit Jens entschieden hatte.
Benno betrachtete eine Zeit lang stumm seine Schwester, bevor er schließlich sagte: »Ich muss hier einmal raus.« Auf der Stationstoilette schlug er mehrmals mit der Faust gegen die kalten Fliesen der Wand, während er seine Tränen nicht mehr zurückhalten konnte. Nachdem er sich wieder beruhigt hatte, trank er einen Becher Kaffee und ging zurück zu seiner Schwester.
Der Fötus lag bereits in ein weißes Tuch gewickelt bei Chris im Arm. Die Hebamme hatte von ihm noch zwei Fotos gemacht und sie ihr auf den Nachtschrank gelegt. Auf eigenen Wunsch wollte sie am Nachmittag das Krankenhaus verlassen und bekam auch die Erlaubnis, ihr totes Kind mitzunehmen, nachdem Benno zuvor mit dem Beerdigungsinstitut in Göttingen, das er schon von der Trauerfeier seiner Großeltern her kannte, weitere Einzelheiten abgestimmt hatte.
Sie warteten bereits auf das Eintreffen von Lisa, als sich Chris damit einverstanden erklärte, dass Benno mit ihren Eltern telefonierte, die über die Feiertage mit einem befreundeten Ehepaar in Nizza waren. Sie wollten morgen zurück sein und eigentlich war dann ein Familientreffen im Elternhaus in Bremervörde geplant. Während ihr Vater zwar bestürzt war, aber ansonsten eher besonnen reagierte, vermischte sich bei ihrer Mutter Mitgefühl mit der Panik darüber, dass das neue Jahr mit solch einer Katastrophe begann. Den Eltern wäre lieber gewesen, ihre Tochter bliebe bis zu ihrer Rückkehr im Krankenhaus, aber Chris und auch ihr Bruder wollten hier einfach nur noch weg.
Lisa wirkte blass und beinahe ängstlich, als sie nach einem zaghaften Anklopfen das Krankenzimmer betrat. Dieser Freundschaftsdienst fiel ihr sichtlich schwer. Nachdem sie Chris zur Begrüßung auf die Wange geküsst hatte, lugte sie zaghaft in das kleine Tuchbündel, das auf der Bettdecke lag. Der kleine Leichnam war durch die Totenstarre inzwischen hart geworden. Fast erleichtert stellte Lisa fest, dass er aber trotzdem einen inneren Frieden ausstrahlte, als sei er in einer besseren Welt. Eine Krankenschwester half Chris beim Anziehen und setzte sie dann in einen Rollstuhl.
Benno trug den kleinen Jannic, der gut eingewickelt war, während seine Schwester im Stationszimmer die restlichen Formalitäten für ihre Entlassung erledigte. Sie wollte sich gerade von der Stationsschwester verabschieden, als diese noch erwähnte, dass gegen Mittag ihr Ehemann angerufen und nach dem Verlauf der Geburt gefragt habe. Sichtlich nervös erkundigte sich Chris: »Was haben Sie ihm denn geantwortet?« – »Dass nun alles überstanden ist.«
Chris hatte wegen ihrer Verletzungen Probleme damit, auf der Rückbank von Lisas Kleinwagen Platz zu nehmen. Sie musste sich hierbei von ihrem Bruder helfen lassen, der Jannic bereits auf dem Beifahrersitz abgelegt hatte. Als sie eine Sitzposition gefunden hatte, die für sie erträglich war, legte Benno ihr den kleinen Leichnam auf den Schoß und setzte sich auf den Beifahrersitz. Obwohl sein erster Griff im Auto für gewöhnlich zum Radio oder CD-Player ging, blieb es während dieser Fahrt still und nahezu wortlos.
Es war ein düsterer Tag. Der Himmel war verhangen und ließ keinen Sonnenstrahl hindurch, während die Müllmänner auf den Straßen und Gehwegen die letzten Fetzen der Feuerwerkskörper einsammelten. Dieses neue Jahr sollte für Chris ein gutes Jahr werden, so hatte sie es sich zumindest noch am Silvesterabend vorgestellt und um Mitternacht mit einem Glas Orangensaft voller Hoffnung mit den anderen Gästen angestoßen. Sie hatte sich auf das Kind gefreut und wollte in diesem Jahr auch ihre Promotion erfolgreich zum Abschluss bringen. Es fehlte nicht mehr viel und sie glaubte, ihr Leben gut im Griff zu haben.
Gegen Abend kamen sie von den Ereignissen erschöpft bei dem alten Wohnhaus an, das in einer ruhigen Seitenstraße lag. Lisa hatte den Wagen auf der Garageneinfahrt abgestellt, damit Chris nicht so weit laufen musste. Es war das geräumige Haus ihrer Großeltern, die vor wenigen Jahren kurz hintereinander gestorben waren. Chris und ihr Bruder hatten es mit Zustimmung ihrer Mutter, die Alleinerbin war, in eine WG umgewandelt. Während Benno mit Lisa und drei Freunden, die sie aus der Uni kannten, hier fest wohnten, hatte sich Chris das ehemalige Gästezimmer mit dem Erker im Dachgeschoss für ihre Besuche eingerichtet.
Schon als Kind hatte sie die ruhige Atmosphäre dieses Hauses und den Garten mit den vielen Obstbäumen gemocht, die selbst im warmen Sommer den Aufenthalt im Freien noch angenehm machten. Jens dagegen war eher für einen modernen Baustil zu begeistern. Solange Chris in die WG zu ihrem Bruder fahren konnte, störte sie es nicht weiter, dass ihr Ehemann so viel Zeit mit seinen Bauprojekten verbrachte; es ließ ihr genügend Freiräume für ihr eigenes Leben und kleine Auszeiten von dem eher hektischen Leben in Hamburg.
Nur unter großen Schmerzen schaffte es Chris, ihr Dachgeschosszimmer zu erreichen. Ihr Bruder hatte das kleine Bündel hinter ihr hergetragen und fragte nun etwas hilflos: »Und was machen wir jetzt mit ihm?« Chris bat ihn, die kleine blaue Wäschewanne aus dem Bad zu holen, um Jannic dort hineinzulegen. Sie war sehr schwach, wollte eigentlich nur noch schlafen und sich mit ausreichend Schmerzmitteln versorgen. Insgeheim hoffte sie, dass diese sie so schläfrig machen würden, dass sie nicht nur ihre Schmerzen vergessen, sondern auch von ihrer wunden Seele nichts mehr mitbekommen würde.
Am Abend bekam Benno auf seinem Handy einen Anruf von Jens. Dieser fragte ihn ohne große Umschweife: »Ist Chris bei euch?« – »Was willst du von ihr? Du Penner!«, schrie er ins Handy. Nach einem kurzen, betroffenen Schweigen forderte ihn Jens sehr bestimmt auf: »Halte dich da bitte raus. Das ist allein eine Angelegenheit zwischen Chris und mir.« Benno war inzwischen wieder schlagfertig genug und formulierte scharf: »Dann ruf auch nicht auf meinem Handy an. Vollidiot!«, und legte auf.
Obwohl er seine Schwester jetzt lieber in Ruhe lassen wollte, ging er noch einmal zu ihr, um ihr von dem Anruf zu erzählen. Chris lag auf ihrem Bett und reagierte nicht, auch nicht auf die Ankündigung, dass die Eltern morgen gegen Mittag in Göttingen eintreffen wollten. Beunruhigt versuchte er, sie wach zu bekommen, indem er ihren Arm berührte. Als sie die Augen öffnete, kündigte er ihr den Besuch ihrer Eltern an, worauf Chris etwas benommen wissen wollte: »Und wo sollen wir die jetzt noch unterbringen? Hier ist doch alles voll.« Benno erklärte ihr: »Du, Lisa ist von all dem so geschockt, dass sie erst einmal für drei Tage zu ihren Eltern fahren möchte. Wir können dann in dieser Zeit aber ihr Zimmer nutzen.« Ohne noch etwas zu erwidern, schlief Chris sofort wieder ein.
Am nächsten Vormittag kam ein Mitarbeiter vom Beerdigungsinstitut, das Chris bereits vom Krankenhaus aus beauftragt hatte. Nach seiner Beileidsbekundung ging er mit Chris nach oben und betrachtete kurz den kleinen Leichnam. »Wir werden den kleinsten Sarg nehmen«, entschied er. Die anschließenden Absprachen verliefen unkompliziert. Chris hatte sehr genaue Vorstellungen davon, wie die Beerdigung ablaufen sollte. Erst in dem Moment, als sich der Bestatter erhob, um zu gehen und nach der kleinen blauen Wanne griff, realisierte Chris, was nun passieren würde.
»Kann er nicht doch bis zur Beerdigung hierbleiben? Früher war dies doch auch so«, bat sie. Ruhig, aber bestimmt erklärte ihr der Mann: »Das geht nicht. Das habe ich Ihnen doch schon erklärt. So sind nun einmal die Vorschriften. Heute Abend kommt ein Mitarbeiter von uns und Sie können dann gemeinsam mit ihm Ihr Kind waschen und ankleiden.« Chris schossen die Tränen in die Augen, als sie nickte und ihn dann zur Tür begleitete.
Als ihre Eltern eintrafen, führte Chris gerade ein Gespräch mit dem Pfarrer, den sie schon von ihren Großeltern kannte. Es war ein besonnener Herr, der kurz vor seiner Pensionierung stand und schon viele Trauerfälle begleitet hatte. Er wollte Chris in dieser Situation beistehen und hatte sich zu ihr und ihrem Sohn begeben, der inzwischen schon deutlich süßlichen Leichengeruch ausdünstete.
Die Eltern waren ebenfalls nach oben zu ihrer Tochter gekommen, die gerade mit dem Pfarrer schweigend vor der kleinen blauen Wanne stand. Ihrer Mutter entwich ein erschrockenes: »Oh mein Gott, das ist ja furchtbar«, worauf der Pfarrer mahnend sagte: »Der kleine Junge hat jetzt seinen Frieden gefunden. Nun sollten auch wir darum bemüht sein.«
Die Trauerfeier am nächsten Tag sollte im engsten Familienkreis stattfinden und der Junge im Familiengrab der Großeltern beigesetzt werden. Bevor der Pfarrer ging, erkundigte er sich noch, ob auch der Vater hieran teilnehmen würde, worauf Chris gleich voller Abwehr fragte: »Warum? Er ist doch schuld am Tod meines Kindes!« – »Diese Schuld wird mit Sicherheit sehr auf ihm lasten, aber geben Sie ihm wenigstens die Chance, sich bei Ihnen und Ihrem Sohn für sein Handeln entschuldigen zu dürfen, wenn er hierzu in der Lage ist.« Chris erlaubte dem Pfarrer nach einigem Zögern, Kontakt zu Jens aufzunehmen.
Als der Pfarrer gegangen war, empfand sie die Fürsorge ihrer Eltern als Belastung, obwohl sie froh darüber war, dass sie morgen bei der Beerdigung dabei sein würden. Chris kam ihr Leben plötzlich kalt und sinnlos vor und sie drohte, den Halt unter den Füßen zu verlieren. Sie zwang sich, für die Beisetzung ihres Sohnes zu funktionieren.
Nachdem ihr Vater nach den erschütternden Eindrücken versuchte, sich nützlich zu machen, indem er in dem nahegelegenen Supermarkt einkaufen ging, saß ihre Mutter lange Zeit wie erstarrt allein im WG-Zimmer ihres Sohnes. Erst als ihr Ehemann vollbepackt mit Lebensmitteln zurückkam, war sie in der Lage, das Essen zuzubereiten. Zwischen den Familienmitgliedern herrschte eine fast unwirkliche Sprachlosigkeit und deutliche Distanz. Jeder von ihnen war damit beschäftigt, mit sich und dem Schock umzugehen, ohne noch die anderen zu belasten.
Gegen Abend kamen zwei Mitarbeiter des Beerdigungsinstituts mit einem kleinen Sarg. Gemeinsam mit Chris wuschen sie den Kleinen und zogen ihm den Strampelanzug an, den sie schon vor Wochen in Vorfreude auf ihr Kind gekauft hatte, als sie mit Lisa Weihnachtseinkäufe erledigt hatte. Als der kleine Leichnam so frisch gewaschen und neu angekleidet in dem viel zu großen Strampler vor ihr lag, machte sie noch schnell ein Foto von ihm, denn sie spürte, dass sie Erinnerungsstücke von ihm brauchte, um ihn überhaupt gehen lassen zu können. Erst als sie diese letzten Dinge für ihren Sohn erledigt hatte, strich sie ihm ein letztes Mal über den Kopf und umfasste seine winzigen Hände, bevor der Sarg geschlossen wurde.
Als sie den kleinen Sarg und die Bestatter zur Haustür begleiten wollte, wurde ihr schwarz vor Augen. Ihre Eltern legten sie sofort aufs Bett, während sie am ganzen Körper zitterte, und riefen dann den ehemaligen Hausarzt der Großeltern an, der versprach, schnell vorbei zu kommen. Nachdem er Chris untersucht hatte, gab er ihr eine Spritze zur Beruhigung und um den Kreislauf zu stabilisieren.
In der Nacht schlief sie unruhig und sah immer wieder die Bilder von ihrem Sohn, der sich in ihrem Traum weiter und weiter von ihr entfernte. Mit starken Kopfschmerzen wachte sie am frühen Morgen auf. Da sie nicht mehr schlafen wollte, bat sie ihre Mutter, ihr beim Ankleiden zu helfen, weil sie sich schon für die Beerdigung fertig machen wollte.
Gemeinsam mit ihren Eltern und ihrem Bruder ging sie am Vormittag zum Blumenladen und dann zur Kirche, die sich nur zwei Straßen weiter befand. Sie hatten schon in der ersten Reihe vor dem kleinen Sarg Platz genommen, als sie hörten, wie hinter ihnen die schwere Kirchentür geöffnet wurde. Benno sah sich um und sagte dann leise: »Er ist da.« Jens ging bis an den Sarg heran und verharrte dort für einen Moment; dann blickte er kurz zur Familie seiner Ehefrau und nickte ihnen zu, bevor er in der Sitzreihe auf der anderen Seite Platz nahm. Jens sah blass und müde aus und es war ihm anzumerken, dass ihm dieser Termin ausgesprochen schwerfiel.
In seiner Predigt betonte der Pfarrer: »Ich kann hier zwar nicht viel über den kleinen toten Jannic selbst sagen, aber sehr viel über den Schmerz seiner Eltern und auch darüber, wie es ist, wenn ein Leben gar nicht erst beginnen konnte.« Chris weinte bei seinen Worten, bei der Orgelmusik und auch danach, als der kleine Sarg in das Familiengrab eingelassen wurde. Sie hatte noch nie in ihrem Leben einen so heftigen Schmerz gespürt und konnte es kaum ertragen, neben ihrem Ehemann zu stehen, um Erde auf den kleinen Sarg zu schaufeln.
Sie wollte weg von diesem Ort des Schmerzes und diesem Mann, der dieses Unglück mit seinem Leichtsinn verschuldet hatte. Sie hasste auch sich dafür, dass sie ihre Bedenken vor dieser Schicksalsfahrt in der Hoffnung, dass alles gut gehen würde, einfach ignoriert hatte.
Vom Grab aus ging sie sofort mit ihrer Familie nach Hause, ohne sich von Jens zu verabschieden. Sie schloss sich in ihr Zimmer ein und kam erst am Abend in die Küche, um ihren Eltern und Benno zu verkünden, dass sie sich scheiden lassen und aus Hamburg wegziehen wolle.
Am Tag nach der Beerdigung ließ Chris weder Benno noch ihre Eltern an sich heran. Einzig mit ihrem Arbeitgeber in Hamburg und einer Scheidungsanwältin vor Ort telefonierte sie. Sie wollte nach ihrer mehrwöchigen Krankschreibung noch ihren Resturlaub nehmen und dann hier in Göttingen ihre Promotion fertigstellen. Am nächsten Tag beauftragte sie ihre Anwältin damit, den Zeitpunkt des Getrenntlebens auf den Neujahrstag festzulegen und Unterhaltszahlungen sowie Schmerzensgeldansprüche gegenüber ihrem Noch-Ehemann durchzusetzen.
Erst nach der Abreise ihrer Eltern und der Rückkehr von Lisa in die WG war Chris in der Lage, über ihre Gefühle zu sprechen. Lisa konnte sie dazu bewegen, eine Trauertherapie zu beginnen, damit sie mit sich selbst wieder ins Reine käme. Während der nächsten Wochen ging Chris oft zu dem Familiengrab auf dem kleinen Friedhof, der direkt hinter der Kirche lag und dessen zahlreiche alten Bäume Ruhe und Beständigkeit ausstrahlten. Es war dort still, aber nicht zu einsam und sie stellte sich in diesen Momenten manchmal vor, wie weit ihre Schwangerschaft nun schon fortgeschritten wäre und wie es sein würde, wenn sie sich noch auf dieses Kind hätte freuen dürfen.
Abends betrachtete sie sich häufig die drei Fotos von Jannic und wünschte sich, sie hätte jemals seine Augen- oder Haarfarbe erfahren können oder seine kleine Stimme hören dürfen. Der Schmerz war zwar nun nicht mehr so heftig wie in den ersten Tagen, er nahm aber manchmal mehr Raum in ihrem Leben ein, als sie ertragen konnte. Sie vermied es, hinzusehen, wenn ihr eine Schwangere in der Stadt entgegenkam, oder an einem Kinderspielplatz vorbeizugehen. Selbst ein Kinderlachen auf der Straße schmerzte sie unerträglich.
Die einzige Ablenkung fand sie in der Arbeit an ihrer Promotion. Benno, der selbst mit seiner Abschlussarbeit in Politikwissenschaften beschäftigt war und nebenher noch als freier Journalist für eine Zeitung arbeitete, half ihr zusammen mit Lisa bei Schreibarbeiten, die ihr wegen ihres Schlüsselbeinbruchs immer noch schwerfielen.
Von Jens hatte sie kurz nach der Beerdigung noch einen Brief erhalten, in dem er sie um Verzeihung bat. Sie hatte ihm nicht geantwortet. Das Schreiben ihrer Anwältin sollte ihm ihren Standpunkt unmissverständlich klarmachen, dass sie die Trennung und Scheidung wollte, und zwar so schnell wie möglich. Ihre Eltern kamen jedes zweite Wochenende vorbei. Sie wohnten dann in einem nahegelegenen Hotel und boten ihr Hilfe bei der Schreibkorrektur an oder einen Spaziergang im Park. Manchmal ging sie mit ihnen auch in ein Lokal zum Essen, aber dann erst in den Abendstunden, wenn es für Familien mit Kindern bereits zu spät war.
Ihre Eltern vermieden es, auf sie einzuwirken, Jens doch noch eine Chance zu geben. Sie hatten ihren Schwiegersohn all die Jahre gemocht und auch Vertrauen zu ihm gewonnen. Sie bedauerten das Ende dieser Beziehung. Es waren aber auch die dramatischen Bilder vom toten Kind und der tiefe Schmerz ihrer Tochter, der ihnen deutlich machte, dass es eben nicht einfach einen Neuanfang geben könne.
Als die Knochenbrüche verheilt waren, erinnerten nur noch die kleine Narbe an der Stirn und die Schmerzempfindlichkeit am Schlüsselbein an die körperlichen Verletzungen dieses Unfalls. In ihrem Inneren sah es anders aus. Sie funktionierte nur noch und hangelte sich von einem Tag zum nächsten, ohne überhaupt noch an die Zukunft zu denken.
Sie arbeitete jetzt intensiver als je zuvor an der Fertigstellung ihrer Promotion, manchmal bis spät in die Nacht und war auch froh darüber, immer seltener Bennos und Lisas Hilfe in Anspruch nehmen zu müssen. Das Leben der beiden war mit eigenen Terminen genug gefüllt.
Es war in der vierten Stunde, als die Therapeutin mit ihr besprach, welche emotionalen Empfindungen sie vor ihrem Unfall hatte. Dinge, die sie glücklich und zufrieden machten und nicht mit der Vorfreude auf das Kind zusammenhingen. Chris hatte sich immer als sehr glücklich beschrieben und stellte jetzt fest, dass es neben dem Glücksgefühl über die Schwangerschaft auch viele andere schöne Momente in ihrem Leben gegeben hatte. Ihre Arbeit machte ihr Spaß, sie genoss die Treffen mit ihrer Familie und Freunden und trieb gern Sport. Hierbei wurde jedoch deutlich, dass sie mit Jens eher wenig unternommen hatte. Beruflich war er stark eingebunden und die Zeit für andere Dinge im Laufe ihrer Ehe wurde immer knapper.
Fast erstaunt stellte Chris fest: »Ja, wir haben wenig miteinander gemacht, ich war aber trotzdem glücklich. Irgendwie störte die Ehe nicht mein übriges Leben.« Nachdenklich wurde sie, als sie sich vorstellen sollte, was mit ihrer Beziehung zu Jens nach der Geburt des Kindes geschehen wäre. Sie hatte natürlich immer gehofft, dass er seine Vaterrolle ernst nehmen und beruflich kürzertreten würde. Aber konnte sie sich hier wirklich so sicher sein?
Sie hatte die Bilder vom Silvesterabend vor Augen. Umringt von seinen alten Bekannten, mit einer Flasche Bier in der Hand, erzählte er voller Begeisterung von seinen Projekten. Sein Gesicht war schon leicht gerötet. Aber kam dies tatsächlich nur von seinen lebhaften Erzählungen oder war es der Alkohol? Er hatte nach dem Unfall zu viel Promille im Blut. Hatte er nicht in letzter Zeit gerne eine gute Flasche Wein aufgemacht, um seine beruflichen Erfolge nach Feierabend genießen zu können?
Chris wurde in den darauffolgenden Therapiesitzungen immer deutlicher bewusst, dass ihre Ehe wahrscheinlich gar nicht den nächsten Entwicklungsschritt einer Elternschaft ohne größere Auseinandersetzungen über Aufgabenverteilungen, Rollenverständnis und großer Kompromissbereitschaft auf beiden Seiten überstanden hätte. Vielleicht wäre sie auch eine alleinerziehende Mutter mit einem sehr erfolgreichen Ehemann geworden. Diese Sitzungen mit der Therapeutin wühlten Chris stets auf, denn sie stellten sie und auch ihr bisheriges Leben infrage, ohne dabei Antworten zu geben, wie es nun weitergehen soll.
Dann kam der Tag, an dem sie mit ihrer Promotionsschrift in der Tasche nach Hamburg fuhr, um sie ihrem Doktorvater zu übergeben. Nervös wartete sie vor dessen Büro. Während sie in ihrem Kopf noch einmal durchging, was sie mit ihm gleich alles besprechen wolle, wurde sie von einer bekannten Stimme unterbrochen: »Hallo, Chris. Das ist ja schön, dass wir uns auch einmal wiedersehen.« Sie drehte sich um und erblickte ihre ehemalige Kommilitonin Vivienne, die als Biologin ins Lehramt übergewechselt war. Vivienne nahm sie kurz in den Arm und betrachtete dann forschend ihr Gesicht und gleich darauf ihren Bauch. »Du siehst ja ganz schön müde aus. Bereitet euer Kind dir jetzt schlaflose Nächte?«, wollte sie von ihr wissen.
Mit dieser Nachfrage hatte Chris nicht gerechnet. Der notdürftig aufgebaute Schonraum brach augenblicklich zusammen. Schroff antwortete sie: »Ja, mein Sohn ist schon da. Er liegt auf dem Friedhof.« Dann wandte sie sich zum Fenster, weil sich ihre Augen mit Tränen füllten. »Das tut mir aber leid. Du, ich habe jetzt einen wichtigen Termin. Ich muss noch schnell Unterrichtsmaterial besorgen. Mach es gut«, murmelte Vivienne bestürzt und ging hastig weiter.
Chris kämpfte gegen ihre Tränen an und versuchte sich wieder zu sammeln, als die Bürotür geöffnet wurde. Ihr Doktorvater verabschiedete gerade einen anderen Wissenschaftler, bevor er sich ihr zuwandte. Freundlich lächelnd sagte er: »Kommen Sie herein, Frau Hansen. Möchten Sie einen Kaffee?« Chris nickte und nahm schon an dem Besprechungstisch Platz, während Prof. Bachmann seine Sekretärin bat, ihnen einen Kaffee zu bringen. Es war eigentlich wie immer und gerade das machte Chris schmerzhaft deutlich, dass sie nicht mehr so wie früher war und auch nicht mehr in diese alte Welt passte.
Zum Glück vermied es ihr Doktorvater, den sie damals über den Unfall und den Verlust ihres Kindes informiert hatte, persönliche Fragen zu stellen, sodass sie anfangs nur über ihre Arbeit sprechen konnten. Erst als sie schon ihre Sachen wieder zusammenpackte, bemerkte er: »Mein Besuch eben, der Dr. Zerner, leitet ein Forschungsprojekt über wildlebende Tiere in Kenia. Er ist wieder einmal dabei, nach neuen Mitarbeitern Ausschau zu halten. Wenn Sie jemanden kennen, der Interesse hat, möge er sich bei ihm melden.« Froh, diesen Termin doch noch gut überstanden zu haben, erwiderte Chris eher halbherzig als wirklich interessiert: »Ich kann mich ja einmal umhören.« Von Prof. Bachmann bekam sie zu dem Projekt noch Infomaterial ausgehändigt, das sie aber gleich in ihrer Tasche verstaute, und verließ dann schnell das Büro.
Diesmal wollte sie nicht direkt nach Göttingen zurückfahren, sondern entschloss sich kurzerhand, bei ihren Eltern in Bremervörde Halt zu machen. Ihr Vater hatte dort eine Anwaltskanzlei, in der auch ihre Mutter stundenweise arbeitete. Als sie dort ankam, war es gerade Mittagszeit. Sie konnte mit ihren Eltern zusammen essen und da es ein Mittwoch war, musste ihr Vater auch nicht gleich wieder zur Arbeit.
Chris wirkte frustriert, als sie feststellte: »Es wird immer so interessiert gefragt, wie es einem geht, aber wehe, wenn die Antwort heißt: Mir geht es schlecht. Dann gibt es immer sofort einen Themenwechsel. Ich passe nicht mehr in diese Welt der Gutgelaunten und Erfolgreichen.« Besorgt erwiderte ihre Mutter: »Meinst du denn wirklich, dass dir all die Veränderungen in Göttingen guttun? Vielleicht hättest du in deinem bisherigen Leben mehr Halt.« Es herrschte einen Moment lang eine Stille, die durch den fassungslosen Gesichtsausdruck von Chris fast bedrohlich wirkte. Aggressiv wollte diese von ihr wissen: »Heißt das, ich bin jetzt selbst schuld, nur weil ich mich nicht wieder mit Jens ausgesöhnt habe und nicht einfach so weitermachen will?«
Vermittelnd versuchte ihr Vater einzugreifen: »Chris, auch Jens leidet unter der ganzen Sache; das habe ich von seinem Vater erfahren. Und er hat das nicht mit Absicht getan, vergiss das nicht.« Seine Tochter lehnte sich auf ihrem Stuhl etwas zurück und fragte ihn dann provokant: »Wisst ihr eigentlich, dass meine Ehe gar nicht so stabil und harmonisch war, wie sie immer aussah? Jens hat seinen Erfolg immer mit Alkohol begossen und jeder von uns ging seiner Wege.« Ihr Vater sah sie zweifelnd an: »Nun übertreib aber nicht. Jens war nie betrunken und auf ein gutes Geschäft wird nun einmal auch mit einem guten Tropfen angestoßen.« Chris sah ihn einen Moment ungläubig an. »Wenn das so ist, sind die Rollen ja schon gut verteilt. Vielleicht sollte man für die ach so erfolgreichen Menschen die Promillegrenze erhöhen, damit sie keine Probleme mit dem Gesetz bekommen. Blöd nur, dass es da immer noch Leichen gibt, die dann wohl lieber in den Kellern verscharrt werden.«
Ohne noch eine Reaktion ihrer Eltern abzuwarten, hatte sie ihre Jacke und Tasche gegriffen und verließ das Haus. Als sie in ihren Wagen gestiegen war, wusste sie nicht, wohin sie fahren sollte und entschloss sich dann kurzerhand für den Vörder See. Es war draußen noch frisch, aber die ersten Krokusse hatten sich schon einen Weg durch die Erdkruste gebahnt. Sie dachte daran, dass dies die Zeit gewesen wäre, wo sie gerade ihren Sohn geboren hätte und dieser Gedanke tat ihr weh.
Chris ging einfach nur spazieren und versuchte, Menschenmengen zu meiden. Da sie nicht in der Dunkelheit zurückfahren wollte, entschloss sie sich, in einer kleinen Pension zu übernachten. Benno schrieb sie nur kurz eine SMS, dass sie morgen wieder zurück sei. Als er nachfragte: »Wieso?«, war ihre knappe Antwort: »Warte es ab.«
Sie hätte es wissen müssen, dass so Familienleben nicht funktioniert. Am Abend hatten ihre Eltern bei Benno angerufen und besorgt nachgefragt, ob Chris schon wieder zurück sei, worauf ihnen dieser die wenig aussagekräftige SMS-Nachricht mitteilte. Nachdem nun alle sehr beunruhigt waren und Benno seinen Eltern am Telefon auch noch Vorhaltungen machte, dass das Tischgespräch zwischen ihnen und seiner Schwester ja wohl völlig scheiße verlaufen wäre, schrieb er Chris eine weitere SMS: »Alles in Ordnung bei dir? Soll ich kommen und wir haben eine tolle Nacht?« Chris reagierte nicht. Sie hatte ihr Handy ausgestellt und sich aufs Bett gelegt.
Eigentlich wollte sie einfach nur noch schlafen. Das gelang ihr aber nicht und so zappte sie sich durch die Sender, bis sie plötzlich auf eine Doku über ein Artenschutzprogramm in Afrika stieß. Von den verschiedenen Fördervereinen wurden die jeweiligen Arbeiten vorgestellt, wobei sie glaubte, den Wissenschaftler von heute wiedererkannt zu haben. Neugierig suchte sie in ihrer Tasche nach dem Infomaterial und las es sich durch.
Es war schon Mitternacht, als sie endlich das Licht löschte und ihr plötzlich klar wurde, wie sie sich aus diesem schwarzen Loch des Immer-nur-funktionieren-Müssens befreien konnte. Sie suchte wieder nach einem Leben mit Sinn und Leidenschaft.
Obwohl die Nacht kurz war, fühlte sie sich ausgeschlafen, als sie um sieben Uhr aufwachte. Sie duschte und zog sich an, um dann nach unten in den kleinen Speiseraum zum Frühstück zu gehen. Chris setzte sich an einen kleinen Tisch am Fenster und stellte ihr Handy an, bevor sie sich vom Frühstücksbüfett ein Käsebrötchen und ein Schälchen mit Müsli besorgte. Während sie auf den Kaffee wartete, der ihr direkt an den Tisch serviert wurde, checkte sie ihre Nachrichten. Ihr Bruder hatte noch einmal versucht, sie zu erreichen, ebenso ihre Eltern und diese klangen sehr besorgt. Um nicht noch eine Vermisstenanzeige auszulösen, schrieb sie Benno und ihren Eltern eine kurze SMS: »Mir geht es gut. Bin gegen Mittag wieder in Göttingen.«
Bevor sie losfuhr, rief sie noch im Büro bei Herrn Prof. Bachmann an. Er war wie sie ein Frühaufsteher und häufig schon vor acht Uhr in der Hochschule anzutreffen. Er war erstaunt, als sie sich meldete und noch mehr, als sie ihm ihr Interesse an dem Forschungsprojekt von Dr. Zerner bekundete. Etwas zweifelnd fragte er: »Glauben Sie wirklich, dass dies jetzt das Richtige für Sie ist? Nach dem, was Sie gerade alles erlebt haben?« Seine Frage ärgerte Chris und deshalb antwortete sie fast trotzig: »Von manchen Lebenskrisen kann man auch stärker werden und ich denke, dass ich auf dem besten Weg dahin bin. Schließlich bin ich auch früher als geplant mit meiner Dissertation fertig geworden. Sie würden mir sehr helfen, wenn Sie ein gutes Wort bei Dr. Zerner für mich einlegen könnten. Er kann sich gern bei mir melden, wenn er Interesse an meiner Mitarbeit hat.«
Prof. Bachmann war beeindruckt von ihrer Entschlossenheit und sagte ihr seine Unterstützung zu. Auch wollte er ihre Dissertation sehr zügig benoten, um sie dann an den Zweitprüfer zu übergeben. Obwohl er noch Zweifel hatte, ob diese blasse junge Frau von gestern tatsächlich geeignet war, diesen Job in einem afrikanischen Land anzutreten, musste er sich auch eingestehen, dass er recht wenig von ihr wusste und erst recht nicht, wo sie in ihrer Krisenbewältigung stand. Dafür war sein Betreuungsverhältnis als Doktorvater doch zu sehr auf das Fachliche begrenzt.
Die Fahrt nach Göttingen verlief ohne weitere Zwischenfälle. Nach dem Unfall hatte sie zwar große Probleme auf dem Beifahrersitz eines Pkws Platz zu nehmen und saß in der Zeit, in der sie wegen ihrer Verletzungen noch nicht selbst fahren konnte, lieber auf der Rückbank, aber an ihre eigenen Fahrkünste glaubte sie schon. In ihrer Ehe war es auch eher Jens, der es lieber sah, bei gemeinsamen Fahrten selbst am Steuer zu sitzen. Er empfand es einfach als unmännlich, sich von seiner Ehefrau fahren zu lassen und versuchte sie auch ganz gerne zu korrigieren, wenn sie dann doch einmal am Lenkrad saß, um ihn von einem Termin abzuholen.
Benno, der gerade an seinem Computer einen Artikel für die Zeitung verfasste, fuhr Chris ungehalten an, als sie an seiner geöffneten Zimmertür stehenblieb und sich bei ihm zurückmeldete: »Sag mal spinnst du? Was sollte denn die Nummer letzte Nacht?« Chris versuchte, ruhig zu bleiben, als sie ihm erklärte: »Ich stecke hier in einer Sackgasse. Ich brauchte einfach einen Plan, wie es in meinem Leben weitergeht.« Ohne noch eine Antwort von ihm abzuwarten, ging sie in ihr Zimmer.
Benno sah ihr einen Moment erstaunt hinterher und folgte ihr dann. In ihrem Zimmer setzte er sich in ihren Schaukelstuhl und wollte dann von ihr wissen: »Kannst du mir einmal sagen, was hier gerade läuft? Mama und Papa rufen fast stündlich an, um zu fragen, ob du schon da bist und du erzählst mir etwas von Lebenszielen?« – »Du kannst gerne bei ihnen anrufen und ihnen mitteilen, dass ich wohlbehalten im Nest der Familie aufgetaucht bin«, schlug sie mit deutlich unterkühlter Stimme vor.
Ihr Bruder ließ aber nicht locker und wollte nun von ihr wissen: »Eh, was ist los?«, worauf sie ihm von der Auseinandersetzung mit den Eltern erzählte und auch welche Gedanken sie in den letzten Stunden hatte. Erstaunt über ihre Pläne fragte er etwas skeptisch: »Chris, meinst du nicht, deine Pläne wären eher etwas für mich?« Sie musste lachen, als sie doch sehr selbstbewusst erwiderte: »Tut mir leid, mein Brüderchen, aber hierfür fehlt dir leider die nötige Qualifikation. Du kannst mich aber gerne dort besuchen und dann einen Artikel verfassen.« Benno war sofort begeistert von dieser Idee und wollte sich diesbezüglich mit Dr. Zerner in Verbindung setzen, wenn seine Schwester den Job kriegen würde.
Während sie noch überlegten, wer dies den Eltern wie erklären sollte, fragte Benno fast beiläufig: »Hat dir Papa gestern auch erzählt, dass er Jens im Strafverfahren wegen seiner Trunkenheitsfahrt vertritt?« Chris sah ihn einen Moment lang völlig sprachlos an. »Sie haben wohl immer noch geglaubt, Jens und du ihr versöhnt euch wieder und so hat er die Verteidigung von Jens übernommen. Wohl um die Familienehre zu retten«, interpretierte Benno das Verhalten seines Vaters. Chris fühlte sich von ihren eigenen Eltern verraten und auch manipuliert. Verbittert stellte sie fest: »Jetzt verstehe ich auch, warum Jens sich bislang ungewöhnlich handzahm meiner Anwältin gegenüber verhalten hat und Mama und Papa immer so zurückhaltend reagiert haben, wenn es um meine Scheidung ging. Sie hatten wahrscheinlich vor, mich bis Ende des Jahres wieder auf Familienkurs zu bringen.«
Noch ehe sie sich von dieser Nachricht erholt hatte, rief ihr Vater an. Auf dem Display konnte Chris den Anrufer ablesen. Scheinbar gelassen meldete sie sich am Telefon. Als ihr Vater mühsam beherrscht nachfragte, wo sie denn gewesen sei, antwortete sie nicht ohne Hintergedanken: »Ich habe mich auf ein Forschungsprojekt in Afrika beworben.« Es dauerte einige Sekunden, bevor ihr Vater völlig verdutzt nachfragte: »Was hast du?« – »Ich möchte für ein Jahr in Afrika arbeiten. Es lohnt also nicht, mir weiterhin die Ehe mit Jens schmackhaft machen zu wollen. Ich gehe zu den Affen und werde mich dort wohl besser verstanden fühlen als von euch.« Ohne noch eine Reaktion von ihm abzuwarten, legte sie auf.
Benno sah sie amüsiert an und meinte: »Ich bin stark beeindruckt von dir. Sonst war ich doch immer der Bad Boy der Familie und nun die ehemals brave Tochter, die ihr Abenteuer in der afrikanischen Wildnis sucht. Komm, lass uns Essen gehen. Ich lade dich zu einer Pizza ein.« Beim Italiener in der Innenstadt hörte er gespannt zu, was sie schon alles über das Projekt wusste. Sie überlegten dann gemeinsam, was Chris die nächsten sechs Monate alles zu erledigen hätte.
Sie wollte nun nicht nur die mündliche Prüfung ihrer Promotion zum Thema »Naturbelassene Wälder« abschließen, sondern auch eine überzeugende Bewerbung für Dr. Zerner verfassen. Auf ihrer To-do-Liste stand aber auch, einen Englischauffrischungskurs zu belegen, alle Impfungen und Gesundheitschecks zu bestehen und wieder körperlich fit zu werden. Den letzten Punkt auf der Liste wollte Benno aktiv unterstützen. Er hatte es in den letzten Monaten sehr vermisst, dass Chris wegen ihrer Schwangerschaft und anschließender Verletzung kaum noch mit ihm gejoggt oder mit ins Fitnesscenter gekommen ist.
Voller Elan waren sie gut gelaunt wieder in der WG angekommen, als ihnen Lisa mitteilte, dass ihr Vater noch einmal angerufen und dringend um Rückruf gebeten habe. Diesmal wollte Benno mit ihm telefonieren; konnte aber nur mit dessen Sekretärin einen Rückruf vereinbaren. Chris wollte nicht solange warten und war deshalb nach oben in ihr Zimmer gegangen. Dort betrachtete sie sich die Fotos ihres Sohnes, die in einem Bilderrahmen über ihrem Bett hingen. Sie hatte plötzlich ein schlechtes Gewissen, dass sie wieder voller Tatendrang und Zukunftsplänen war und vorhin mit Benno so viel beim Essen gelacht hatte.
Chris wollte sich nicht eingestehen, dass in diesem zukünftigen Leben ihr kleiner Sohn gar keinen Raum gefunden hätte. Sie hatte ihm noch in der letzten Nacht, die er in der kleinen blauen Wanne vor ihrem Bett verbracht hatte, versprochen, dass er in ihrem Leben immer einen festen Platz behalten würde. Aufgewühlt von ihren Gedanken war sie ans Fenster getreten und schaute auf die Baumkronen, die durch ihre vielen Knospen schon anzeigten, dass ihre Zeit bald kommen würde.
Chris fühlte sich wie diese Bäume. Ihre Wünsche waren die Knospen, die Vorbereitungen sollte die Blütezeit sein, ihre Promotion die Blätter und die einjährige Projektzeit in Afrika die Zeit der Frucht und der Ernte. Während sie diesem Gedanken nachging, spürte sie, dass all das nicht gegen ihren Sohn war, der sie in ihren Gedanken begleiten würde, sondern um die Wunde zu schließen, die die verhinderte Mutterschaft bei ihr hinterlassen hatte. Chris hatte sich auf ein zeitaufwendiges, schönes und intensives Leben mit ihrem Kind eingestellt und nun durch seinen Tod ihre Lebensperspektive verloren. Sie nahm sich vor, morgen nach dem Therapietermin wieder auf den Friedhof zu gehen.
Währenddessen hatte Benno mit dem Vater telefoniert, was keineswegs harmonisch verlief. Die Eltern warfen ihrem Sohn vor, einen schlechten Einfluss auf Chris zu haben, indem sie Hirngespinsten nachging, statt ihr Leben wieder in den Griff zu bekommen. Benno dagegen hielt sich mit Anschuldigungen auch nicht gerade zurück, indem er seinem Vater vorwarf, nur immer Dinge zu unterstützen, die dem Familienprestige entsprächen. Und da sei die Scheidung seiner Tochter von dem Sohn seines Steuerberaters nun einmal nicht etwas, was er gutheißen könne.
Nachdem der Vater diese Kritik seines Sohnes nicht weiter ernst genommen hatte, erkundigte er sich: »Und was ist nach diesem Jahr? Ist Chris dann in ihrem Leben weiter oder hat sie dann noch mehr Probleme, wieder ihren Platz zu finden?« – »Was ist denn ihr Platz? Die schöne Ehefrau eines erfolgreichen Mannes zu werden und es dann noch einmal mit einer Schwangerschaft zu versuchen?«, wollte Benno von ihm wissen und fuhr dann fort: »In welchem Jahrhundert lebt ihr eigentlich?« Weder Benno noch sein Vater wurden sich darin einig, welches Leben für Chris das richtige sei, und so endete das Telefonat dann auch in entsprechend frostiger Atmosphäre.
Nachdem Benno seiner Schwester vom Gespräch mit ihrem Vater berichtet hatte, wollte auch er von ihr wissen, was denn nach Afrika für sie käme. Chris überlegte kurz, bevor sie meinte: »Vielleicht fällt es mir danach tatsächlich schwer, mich wieder in der typischen deutschen Kultur zurechtzufinden. Ich weiß aber auch, dass der Tod von Jannic für mich so ein emotionaler Einschnitt in meinem Leben war, dass mir dieses ganze geordnete Bürgertum und die Leistungsgesellschaft im Beruf einfach nur noch wie eine inhaltsleere Fassade vorkommen. Ich muss mich wieder spüren. Verstehst du das?« Er nickte und nahm sie in den Arm. »Dann mach es, aber sei bitte vorsichtig. Und wenn du Hilfe brauchst, ruf deinen starken Bruder.« Chris versprach es ihm.
Für die nächsten Wochen hatte Chris einen vollen Terminkalender. Sie hatte mit Dr. Zerner Kontakt aufgenommen und erfahren, welche Unterlagen er für ihre Bewerbung benötigte. Sie erfuhr von ihm auch, dass ihr Doktorvater Wort gehalten und sich bereits für sie eingesetzt hatte, sodass sie im Telefonat mit Dr. Zerner deutlich spürte, dass auf seiner Seite ein gewisses Interesse an ihr bestand.
Nachdem sie in den nächsten Tagen alle Unterlagen zusammengestellt und ihm zugesandt hatte, wartete sie voller Ungeduld auf eine Antwort von ihm. Diese ließ nicht lange auf sich warten und so wurde sie bereits eine Woche später zum Vorstellungsgespräch nach Bonn eingeladen.
Obwohl es nicht ihre Art war, ihre Leistungen durch überbetontes Frausein hervorzuheben, wollte sie sich sicher fühlen. Den Abend zuvor gönnte sie sich eine Gesichtsmaske, eine Haarkur und ging zeitig ins Bett. Für das Vorstellungsgespräch hatte sich für einen legeren Hosenanzug und ein buntes Tuch entschieden; dazu wollte sie flache Schuhe tragen. Chris fuhr dieses Mal mit dem Zug, um noch genügend Zeit zum Nachdenken zu haben. Als sie zur vereinbarten Zeit bei Dr. Zerner eintraf, erwartete er sie schon mit zwei weiteren Kollegen.
Für Chris sprachen eindeutig ihr sicheres Auftreten, ihre guten Zeugnisse und auch das Empfehlungsschreiben von Prof. Bachmann, in dessen Institut sie bis zu ihrem Unfall gearbeitet hatte. Bedenken hatte das Auswahlgremium jedoch im Hinblick auf ihre geringe Auslandserfahrung und auch der Umstand, dass ihr Afrika völlig fremd war, verbesserte nicht gerade ihre Chancen. Es lag wohl eher an den anderen Bewerbern, die sich deutlich schlechter präsentierten, dass Chris in den frühen Abendstunden per Telefon dann doch noch die ersehnte Zusage bekam. Sie war in Bonn geblieben und wollte dort in einem kleinen Hotel übernachten. So konnte sie am nächsten Tag vor ihrer Rückreise gleich noch einmal zu Dr. Zerner fahren, um ihren Vertrag zu unterschreiben.
Ihr Herz schlug heftig, als sie sich das Schriftstück noch einmal gründlich durchlas. Vor lauter Aufregung musste sie manche Passagen zweimal lesen. Dr. Zerner hatte bemerkt, dass ihr dieser Schritt schwerfiel und ihr versichert: »Sie können nach sechs Monaten aus dem Projekt auch wieder aussteigen, wenn es Ihnen überhaupt nicht zusagt. Sie sollten dies aber drei Monate vorher bei mir anzeigen, damit ich Ersatz für Sie bekommen kann. Und wenn es Ihnen so gut gefallen sollte, dass Sie gar nicht mehr zurück möchten, kann ich Ihren Arbeitsvertrag auch um ein halbes oder ganzes Jahr verlängern.« Mit einem Augenzwinkern fügte er hinzu: »Aber nur dann, wenn wir mit Ihrer Arbeit auch zufrieden sind.«
Nachdem sie unterschrieben hatte, verriet ihr Dr. Zerner, dass sich das Auswahlgremium die Entscheidung nicht leicht gemacht hatte. Chris habe diesen Job trotz ihrer guten Beurteilungen auch nur deshalb bekommen, weil derzeit auf der Projektstation ein Dr. Crow, mit sehr viel Erfahrung, die Leitung übernommen hatte und dieser sie auch gut anlernen könne. Als sie kurz darauf zum Bahnhof fuhr, war sie sich nicht mehr so sicher, ob sie jetzt glücklich sein oder lieber ängstlich reagieren sollte, angesichts dessen, was sie ab September erwarten würde.
Am späten Nachmittag wurde sie voller Neugier von ihrem Bruder in der WG erwartet. Als er hörte, dass sie die Stelle bekommen hat, nahm er sie fest in den Arm. »Das ist doch toll, Schwesterchen. Und nun rocken wir Afrika«, stellte er sich übermütig vor. Chris dagegen lächelte nur zaghaft, worauf er von ihr wissen wollte: »Sag mal, bekommst du jetzt Schiss? Hast du deshalb nicht gleich geschrieben?« Sie setzte sich ziemlich müde auf sein Bett und gab zu: »Ja, ich habe auch Angst. Afrika ist ziemlich weit weg von meiner Herde.«
Abends rief sie bei ihren Eltern an. Der Kontakt zu ihnen verlief seit ihrer Auseinandersetzung in Bremervörde schwierig und sie kamen auch nicht mehr nach Göttingen. Sie telefonierten zwar wöchentlich miteinander, aber die Gespräche zeugten nicht mehr von der gewohnten Nähe. Am anderen Ende der Leitung meldete sich ihr Vater. »Hallo, ich bin’s. Ich habe heute meinen Arbeitsvertrag für Afrika unterschrieben«, teilte sie ihm gleich mit. Nach einem betroffenen Schweigen wollte ihr Vater wissen: »Hast du dir das alles wirklich gut überlegt? Dort ist das Leben nicht so wie bei uns, und schon gar nicht für die Frauen.«
Chris nahm ihm diese Einwände nicht weiter übel, weil sie wusste, dass sich ihre Eltern Sorgen machten. Sie beschwichtigte ihn deshalb: »Paps, das weiß ich. Ich muss diese andere Welt aber erfahren, damit ich hier in meiner jetzigen Welt wieder meinen Platz finden kann.« Um ihn zu beruhigen, erzählte sie ihm von Dr. Crow, der mit seiner Ehefrau auf der Station lebt und dass Benno sie dorthin begleiten wollte, um eine Story zu schreiben. Ihr letzter Satz beruhigte ihren Vater dagegen eher weniger, weil er immer gehofft hatte, dass sein Sohn endlich einmal seine Abenteuerlust ablegen würde.
Da dessen Geburtstag gerade anstand, verabredeten sie, hierfür einmal wieder nach Göttingen zu kommen. Ihr Vater wollte dann mit ihr auch noch einmal alle erforderlichen Formalitäten durchgehen. An seinem Angebot spürte Chris, dass es auch ihren Eltern sehr wichtig war, dass sich die Familienbeziehungen nicht noch weiter verschlechterten. Das stimmte sie wieder etwas versöhnlich.
Benno hatte an einem Freitag Geburtstag und veranstaltete aus diesem Anlass in der WG eine Feier mit seinen Freunden. Es gab ein leckeres Büfett und es wurde viel erzählt. Von manchen Gästen, die Chris ebenfalls kannte, bekam sie für ihre Pläne aufmunternde Worte und auch Komplimente. Als der Freund von Benno sie fragte: »Hättest du denn für deine Auszeit nichts Harmloseres finden können als ein Umweltprojekt in Afrika?«, entgegnete Chris nach kurzer Überlegung: »Vielleicht eine Weidezeit auf der Alm, aber dort ist es mir zu menschenleer und auch vielleicht zu reizarm.«
Gegen Mitternacht nahm Vincent seine Gitarre, zu der sie gemeinsam Lieder sangen und lachten. Chris wollte nicht den ganzen Abend dabei sein und sie spürte, wie sie mit der Unbekümmertheit der Gäste im Laufe des Abends nicht mehr umgehen konnte, sodass sie auf ihr Zimmer ging.
Bis zum Eintreffen ihrer Eltern am Sonntagvormittag sah die WG schon wieder etwas aufgeräumter aus und Benno hatte auch seinen Fetenkater ausreichend auskurieren können. Als die Familie mittags Essen ging, lag es keineswegs nur an dem gut besuchten Lokal, dass die Stimmung etwas verkrampft wirkte. Alle versuchten, die kritischen Themen zu vermeiden.
Wieder zurück in der WG begann der Vater damit, sich die Projektunterlagen durchzusehen. Während er an Chris’ Schreibtisch saß und las, hatte sie sich in ihren Schaukelstuhl ans Fenster gesetzt und schaute in die Baumkronen, die nun in voller Blüte standen. Sie versuchte sich vorzustellen, was ihr diese Bleibe noch nach ihrer Zeit in Afrika bedeuten würde. Natürlich gab es da das Grab ihres Sohnes und die alte vertraute Umgebung dieses Hauses, aber würde sie hier noch einmal als dessen Bewohnerin zurückkehren wollen?
Ihr Vater hatte die Durchsicht der Unterlagen abgeschlossen und unterbrach ihre Gedanken, indem er sagte: »Wenn du nicht gerade meine Tochter wärst, würde ich sagen, dass dies ein spannendes Projekt ist, das auch noch gut bezahlt wird.« Chris sah ihn erstaunt an. »Und, ist der Vertrag auch in Ordnung?« Ihr Vater nickte und kam dann zu einem ganz anderen Thema, indem er ihr erzählte, dass ihn Jens kürzlich angerufen habe, um nachzufragen, ob sie nicht schon wieder arbeiten würde. Nach dem Unfall hatte er sich sofort bereit erklärt, ihr monatlich Unterhalt zu überweisen, zwanzigtausend Euro Schmerzensgeld sowie die Beerdigungs- und Grabpflegekosten für Jannic.
Chris fragte nur: »Und, was hast du ihm geantwortet?« – »Dass wir am Wochenende nach Göttingen fahren und ich dann einmal mit dir darüber sprechen könnte, was du beruflich vorhast. Ich habe ihm aber auch gesagt, dass deine Promotion noch nicht ganz abgeschlossen ist.« Von ihrem Vater erfuhr sie auch, dass Jens sich nach dem Unfall ein neues Fahrzeug kaufen musste und ein Fahrverbot erhalten hat. Außerdem sei die ganze Sache mit der Trunkenheitsfahrt und dem Tod des Kindes von seinem sozialen Umfeld nicht gerade verständnisvoll aufgenommen worden.
Herr Evers fügte noch hinzu: »Der erfolgreiche Jens hat einige sehr große schwarze Flecken auf seine weiße Weste bekommen und kann damit auch nicht gerade gut umgehen.« – »Wieso?«, wollte Chris wissen, worauf ihr Vater nur kurz anmerkte, dass er häufig trinkt und aggressiv und gehetzt sei. Chris Vater wirkte resigniert, als er dieses Thema mit dem Satz beendete: »Manche Menschen führen ein Leben wie auf der Überholspur, direkt auf dem Weg zum schnellen Erfolg. Wenn es dann doch anders verläuft, verlieren sie leicht ihren Halt.«
Auf dem Weg nach unten, zu den anderen, sagte Chris mit ernster Miene: »Der lernt wohl nie dazu. Hoffentlich fährt er nicht den Nächsten zu Tode, wenn er wieder ans Steuer darf. Du kannst ihm sagen, dass ich ab September einen Job habe und er dann seine Unterhaltszahlungen einstellen kann.« Als ihr Vater noch wissen wollte, wann der gemeinsame Hausstand aufgelöst werden sollte, meinte sie nur: »Ich weiß nicht. Meine letzten ganz persönlichen Sachen kann er euch noch zusammenpacken und ihr bringt sie dann mit, so wie ihr es mit den anderen auch schon getan habt. Die gemeinsamen Anschaffungen möchte ich nicht. Sie erinnern mich zu sehr an die Ehe. Da würde ich mich lieber auszahlen lassen, wie auch mit dem Haus.«
Als sich ihre Eltern kurz darauf verabschiedeten, war die Stimmung auf beiden Seiten bedrückt. Chris spürte, dass sie die große Verantwortung hatte, ihren Eltern zu beweisen, dass sie ihren neuen Job besonnen und vorsichtig angehen würde, um aus deren großen Sorgen ja keinen Kummer werden zu lassen.
Anfang Mai hatte ihr Doktorvater und der Zweitprüfer ihre Dissertation bewertet und im Juni wurde der Termin für ihre Abschlussprüfung festgelegt. Nach diesem ersten Erfolgserlebnis arbeitete sie noch mehr daran, auch diese Prüfung gut zu bestehen. Zusammen mit Benno fuhr sie hierfür nach Hamburg. Chris war so aufgeregt, dass es ihr nicht mehr gelang, konzentriert in den Unterlagen zu lesen, die sie für die Fahrt mitgenommen hatte. Benno bemerkte darauf nur ungerührt: »Was du jetzt noch nicht im Hirn hast, kriegst du auch nicht mehr rein. Komm, mach jetzt einfach Redaktionsschluss und sag mir, wo wir nachher schön essen gehen können.«
Die Prüfung verlief gut. Chris war zwar nervös, aber gut vorbereitet und konnte ihre Arbeit überzeugend vertreten. Als sie danach mit ihrem Doktorvater auf die bestandene Prüfung mit einem Glas Sekt anstieß, wollte er sich vergewissern, ob sie im Herbst wirklich nach Afrika gehen würde. Es war ihm anzumerken, dass er noch immer Zweifel an der Richtigkeit ihres Vorhabens hatte. Als er ihr anbot, doch wieder in seinem Institut anzufangen, lehnte Chris dankend ab und sagte: »Ich glaube, das kann ich nicht. Dafür sind die Erinnerungen noch zu schmerzhaft.«
Am Abend löste Benno sein Versprechen ein und ging mit ihr zu ihrem Lieblingsitaliener. Dort erzählte er ihr, dass er inzwischen mit Dr. Zerner erfolgreich verhandelt habe und einige Berichte über die Aufzuchtstation und die Forschungsgruppen verfassen könnte. Als seine Schwester ihn noch ungläubig ansah, fügte er gut gelaunt hinzu: »Weißt du eigentlich, was das bedeutet? Ich bekomme so viel leichter ein Visum, um dich dort besuchen zu können!«
Die nächsten Wochen war Chris damit beschäftigt, ihre Dissertation veröffentlichen zu lassen. Als sie dann endlich ihre Pflichtexemplare für die Hochschulen abgeliefert hatte, zog sie unter das Kapitel »Doktorarbeit« einen Schlussstrich. Alle Arbeitsunterlagen wurden in Kisten verpackt und auf dem Dachboden verstaut.
An ihrem Geburtstag besuchte Chris ihre Familie in Bremervörde. Ihr Opa und ihre Großtante kamen auch vorbei und brachten einen selbstgebackenen Kuchen mit. Während der Opa den geplanten Afrikaaufenthalt seiner Enkelin spannend fand, stellte die Großtante eher skeptisch fest: »Als Frau hast du doch da gar nichts zu melden. Denen bist du viel zu aufmüpfig. Die schicken dich sicher bald wieder zurück.«
Chris’ Mutter hatte sich den nächsten Tag freigenommen und war mit ihr nach Hamburg gefahren, wo sie in Fachgeschäften für Sport- und Freizeitkleidung für ihre Projektarbeit Anziehsachen kaufen wollten. Da dies nicht gerade dem Stil von Chris entsprach, bemerkte sie tapfer: »Es soll ja nicht für immer sein«, worauf ihre Mutter ihr gleich beipflichtete: »Du, das will ich auch hoffen.«