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Die junge Ärztin Katherine Barkley verlässt im Sommer 1976 England, nachdem sie sich von ihrem langjährigen Verlobten getrennt hatte. Sie nimmt im Krankenhaus von Asunción, das ihr Vater in der Hauptstadt von Paraguay leitet, eine auf ein Jahr befristete Stelle an. Durch die Zusammenarbeit mit dem jungen Kollegen, Leonardo Terno, erfährt sie von der Untergrundbewegung der Regimegegner des Diktators, die brutal von dem Polizeikommandanten Lopez bekämpft und unterdrückt wird. Obwohl sowohl ihr Vater als auch Dr. Terno sie von diesen Kreisen fernhalten wollen, wird sie durch die Liebesbeziehung zu ihrem Kollegen immer weiter hineingezogen und gerät so ebenfalls ins Visier von Lopez, der nun auch sie unter Druck setzt. Erst als der Aufstand in den Armenvierteln massiver und ein Attentat auf Lopez verübt wird, muss dieser seine Gewaltherrschaft in der Hauptstadt aufgeben.
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Seitenzahl: 511
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Das neue Leben in Paraguay
Der erste Kontakt zum Untergrund
Eine Beziehung voller Gegensätze
Die überstürzte Heirat
Lopez’ Rache
Leonardo wird angeklagt
Die Familie wird größer
Lopez gibt nicht auf
Die Fahrt nach England
11.7.1976
Katherine Barkley döste in ihrem Liegestuhl auf dem Deck der Zofia, einem betagten Frachtschiff unter polnischer Flagge. Die gleichmäßigen Motorengeräusche hatten sie müde gemacht. Auf dem Schiff waren nicht viele Mitreisende. Nur ein älteres Ehepaar, das seine Tochter und deren Familie in Buenos Aires besuchen wollte und wegen der Flugangst der Frau lieber das Schiff benutzte, sowie ein Forscher, der die von ihm transportierten Gerätschaften wie einen Schatz hütete, damit diese auf der Überfahrt keinen Schaden nehmen würden. Letzteres war auch der Grund, warum sich Kathy dieses Mal für die Schiffsreise entschieden hatte. Sie wollte ihren Hausstand unbeschadet in einem Möbelcontainer nach Paraguay bringen und man hatte ihr vor ihrer Abfahrt geraten, den Transport selbst zu überwachen. Bis auf ihr Klavier und ihren Mini nahm sie alles aus England mit, was sich inzwischen an persönlichen Gegenständen in ihrem Leben angesammelt hatte.
Die Abfahrt aus England sollte eine »Auszeit« von ihrem bisherigen Leben sein, das ihr manchmal, bis zu ihrer Trennung von Brad, so vorbestimmt und festgefahren vorgekommen war. Sie war jetzt 27 Jahre alt und hatte sich in den letzten Monaten immer öfter die Frage gestellt, wie ihr zukünftiges Leben aussehen könnte.
Nach dem Abschluss ihres Medizinstudiums vor einem Jahr hatte Kathy in einem Krankenhaus in London eine Stelle angenommen, um sich erst einmal in der ärztlichen Berufspraxis zu orientieren. Sie suchte aber auch den Abstand zu Brad, mit dem sie bis vor Kurzem verlobt gewesen war. Dieser war gerade dabei, sich als Wissenschaftler und Chirurg einen Namen zu machen, und hätte es lieber gesehen, wenn sie nach ihrem Examen gleich geheiratet hätten. Als sie sich vor acht Jahren an der Universität kennenlernten, sie die Erstsemesterstudentin und er der ehrgeizige Student aus dem sechsten Semester, glaubte sie noch, dass ihre Gemeinsamkeiten ausreichend für eine gute Beziehung sein könnten. Dass gerade ihre größte Gemeinsamkeit, der medizinische Beruf, zu der endgültigen Trennung führen könnte, hätte Kathy damals noch nicht für möglich gehalten.
Während des Studiums herrschte noch ein Schonraum, der Freiräume ließ für Ideale und Illusionen. Nächtelang diskutierte Kathy mit Freunden über den Sinn und die Grenzen ihres späteren Berufes und sie war sich damals so sicher, dass sie es später schaffen würde, diese Ideen im Berufsalltag umzusetzen. Brad dagegen gehörte zu einer völlig anderen Sorte von Studenten. Er war einer von denen, die ihr Studium vom ersten Semester an bis zum Examen systematisch und karriereorientiert betrieben und dann auch schneller als die Idealisten ihr Examen und danach eine Anstellung bekamen. Brad war nicht nur karriereorientiert, sondern auch talentiert genug, die richtigen Leute im richtigen Moment auf sein medizinisches Können aufmerksam zu machen, und so hatte er bald seine Promotion und einen Job, den er selbstbewusst als erste Sprosse seiner beruflichen Erfolgsleiter bezeichnete.
Ein guter Mediziner wurde von Brad gleichgesetzt mit einem erfolgreichen. Gedanken über Berufsethik und den Sinn des Lebens waren für ihn etwas für Idealisten, die sich seiner Meinung nach praxisfremd und zaudernd nur selbst blockierten. Kathy gehörte seiner Meinung nach zu dieser Sorte Menschen. Dass ihre Art zu denken nicht schon viel früher zu einer ernsten Beziehungskrise geführt hatte, lag wohl eher daran, dass Brad einer Frau eine derartige Lebensauffassung gerade noch zugestand. In gewissem Maße konnte Kathy am Anfang der Beziehung seine Einstellung ebenfalls tolerieren, weil es andere Dinge gab, die sie an ihm schätzte.
Nach der Scheidung ihrer Eltern und der späteren zweiten Eheschließung ihrer Mutter mit einem Mann, den sie als neuen Vater nicht akzeptieren wollte, fühlte sich Kathy zu Männern hingezogen, die einerseits zielstrebig ihre Pläne verwirklichten und ihr so das Gefühl von Sicherheit und Verlässlichkeit vermittelten, die ihr aber auch auf der anderen Seite großzügig den Freiraum für ihre eigene Entwicklung ließen, wie sie ihn gerade brauchte. So war es auch bei Brad. Obwohl er oft viel zu beschäftigt war, um gemeinsame Zeit mit ihr zu verbringen, war dies für sie kein Problem. Sie hatte ihren eigenen Freundeskreis und genoss es, sich wegen Brad recht wenig einschränken zu müssen.
Nachdem Brad sein Examen bestanden hatte, zeigten sich erste Risse in ihrer Beziehung. Es wurde deutlich, dass jeder bislang hauptsächlich seine eigenen Interessen verfolgt hatte und wenig Bereitschaft bestand, für ein gemeinsames Leben notwendigen Kompromisse einzugehen. Brad war auch hier, wie immer, derjenige, der schon einen festen Plan für sein Leben hatte und diesen um jeden Preis umsetzen wollte. In gewissem Maße gehörte zwar auch Kathy zu seinem Plan, aber nur so weit, wie er es sich vorstellte. Er hatte Kathy nie als Konkurrentin im angestrebten Beruf gesehen. Nicht nur wegen seines Vorsprungs im Studium, sondern auch wegen ihrer Lebenseinstellung. Vielleicht war es gerade diese Eindeutigkeit, die sie als Partnerin für ihn so attraktiv machte. Er konnte sich sicher sein, dass sie für seinen enormen beruflichen Einsatz Verständnis haben, sich aber niemals selbst in die erste Reihe drängen würde.
Dass Brad so sehr an der Verlobung und einer schnellen Heirat nach ihren Examen interessiert war, hatte für ihn auch berufliche Gründe. Er bewegte sich in Kreisen, die standesgemäße Ehen vorzuweisen hatten, und gesellschaftliche Anlässe galten hier als Kontaktbörse für die Karriere. Bei Kathy wusste er, dass ihre Mutter immer großen Wert darauf gelegt hatte, dass ihre Tochter die Regeln des gesellschaftlichen Lebens in den gehobenen Kreisen beherrscht. So hatte Kathy von ihrer Mutter vermittelt bekommen, dass die Ehefrau eines erfolgreichen Mannes in erster Linie die Aufgabe hat, ihrem Gatten den Rücken freizuhalten und ihre eigenen Bedürfnisse dem Lebensrhythmus des Ehemannes unterzuordnen.
Vielleicht war es gerade dieses, für ihre Begriffe negative Vorbild der eigenen Mutter, das Kathy dazu brachte, an einer eigenen Identität zu arbeiten und die Universität nicht lediglich als Heiratsmarkt für Töchter aus besseren Kreisen zu nutzen. Sie wollte ihr Studium abschließen und später als Ärztin arbeiten, obwohl sie nicht gegen eine Heirat war und auch später gern einmal Kinder haben wollte. Sie wehrte sich aber dagegen, für ein Familienleben allein verantwortlich sein zu müssen, während ihr Ehemann seine beruflichen Pläne verfolgt.
Anfangs hoffte sie noch, Brad dazu überreden zu können, später mit ihr eine gemeinsame Praxis zu eröffnen; dieser hatte jedoch ganz andere Pläne. Da er bereits ein Profil als Wissenschaftler vorweisen konnte und sie die Berufsanfängerin war, hatte er wenig Interesse an beruflichen Gemeinsamkeiten. Brad schien Kathy auch nicht bei ihrem beruflichen Weiterkommen behilflich sein zu wollen, indem er sich zum Beispiel bei seinen eigenen Förderern für sie eingesetzt hätte. Insgeheim hoffte er, dass ihr die Arbeit im Krankenhaus den Spaß an einer eigenen Berufstätigkeit sehr bald nehmen und sich so das Problem von alleine lösen würde. Für Kathy hingegen war von Anfang an klar, dass sie nicht länger als ein Jahr in dem Londoner Krankenhaus arbeiten wollte. Sie konnte diesem Massenbetrieb auf Dauer nichts Positives abgewinnen, sah hierin aber eine Chance, in vielen medizinischen Bereichen Berufserfahrung zu sammeln.
Die Beziehung zu Brad war auf die Wochenenden beschränkt, von denen sie jedes zweite frei hatte. Erstaunt stellte sie fest, dass dies anfangs sogar besser klappte als zu Zeiten, in denen man sich noch häufiger sah. Sehr schnell setzte aber auch die Entfremdung ein, die letztendlich dazu führt, dass man plötzlich sehr genau auf Dinge achtet, die vorher unwichtig erschienen. Kathy störte immer häufiger die selbstgefällige und ungeduldige Art, die Brad im Umgang mit seinen Mitmenschen zeigte, was sie selbst auch zu spüren bekam. Es wurde für sie deutlich, dass er die Medizin lediglich als Wissenschaft betrachtete und weniger als die Lehre der Heilung.
Am Anfang blieb es bei spitzen Bemerkungen, mit denen Kathy ihrem Unmut Ausdruck verschaffte, und gipfelte schließlich in heftigen Auseinandersetzungen. Brad, der in privaten Dingen schon immer sehr konfliktscheu war, versuchte anfangs noch, ihre Kritik als eine Laune oder gar Empfindlichkeit zu verharmlosen und ihr so wenig Beachtung wie möglich zu schenken. Er erreichte hiermit aber genau das Gegenteil. Es war der zweite Advent 1975, als sie sich heftig darum stritten, inwieweit Patienten über Behandlungsmethoden und Risiken aufzuklären seien, wobei Brad dies lieber auf ein Minimum begrenzen wollte, weil er in seinen Patienten nun einmal gefühlsbetonte Laien sah. Kathy, die spürte, wie ihr dieser Mann immer fremder wurde und die seine Einstellung ablehnte, fragte ihn mühsam beherrscht: »Weißt du eigentlich, dass ich mir wünsche, niemals von dir behandelt werden zu müssen? Hältst du dich wirklich für so unfehlbar, dass du über das Leben deiner Patienten bestimmen darfst? Warum weigerst du dich eigentlich, sie miteinzubeziehen und ihre Bedürfnisse zu akzeptieren? Hast du etwa Angst vor ihren Gefühlen und Ängsten?« – »Nein«, erwiderte er kühl, »ich habe nur keine Lust, Zeit und Energie in etwas zu investieren, was völlig sinnlos ist. Wenn ich so arbeiten würde, wie du es dir vorstellst, würde ich nur die Hälfte von dem schaffen, was ich zurzeit an Operationen durchführen kann. Und wem würde das helfen?« Bitter antwortete Kathy: »Wahrscheinlich jedem, dem es erspart bliebe, von dir operiert zu werden.«
Ihr wurde plötzlich bewusst, dass Brad nicht nur seine Patienten bevormundete, sondern auch sie. Er ließ sich nur scheinbar auf Kompromisse ein, um dann auf seine Chance zu warten, seinen Plan in die Tat umzusetzen. Als sie ihm ihre Gedanken mitteilte, schien endlich der Damm der falschen Gefühle und Rücksichtnahmen zu brechen. Das erste Mal in ihrer Beziehung warf er ihr sehr aggressiv vor, wie idealistisch, gefühlsbetont und völlig lebensfremd sie ihr Leben führe, und betonte, dass er nicht mehr bereit sei, dies zu tolerieren. Er habe bestimmte Zukunftspläne für sein privates Leben und keine Lust, diese ihren Ideen zu opfern. Erleichtert registrierte Kathy seine Vorwürfe und erwiderte provozierend: »Keiner verlangt von dir, dass du meine ach so lebensfremde Art weiter tolerierst. Ich denke, es passt sich wirklich gut, dass auch ich kein Interesse mehr habe, für dich lediglich Funktionen zu erfüllen.« Sie wusste zu gut, dass er zwar fähig war, seine Gesprächspartner durch Worte zu verletzen, aber nicht in der Lage war, sich mit ihr wegen dieser Beziehungsprobleme auseinanderzusetzen, weil dies auch seine Person in Frage gestellt hätte.
Brad hatte nach dieser Auseinandersetzung das Apartment von Kathy verlassen. Er war zwei Stunden ziellos durch London gelaufen und kehrte schließlich zurück, ohne zu wissen, wie es mit ihnen weitergehen solle. Kathy, die das Gefühl hatte, dass die ganze Beziehung schon so verfahren war und beschwichtigende Worte es auch nicht mehr schaffen würden, ihr Misstrauen Brad gegenüber zu beseitigen, schlug eine Trennung auf Probe vor, um nicht eine jahrelange Partnerschaft leichtfertig zu beenden.
Im Januar trennten sie sich dann endgültig, ohne größere Aussprache, weil eigentlich schon keiner mehr einen Sinn in einem gemeinsamen Leben sah, jetzt, da der Abstand zueinander so sichtbar geworden war. Verstanden wurde diese Trennung weder von ihren Familien noch von dem Großteil der gemeinsamen Bekannten. Sie galten allgemein als das ideale Paar. Natürlich wurde der Schuldige am Scheitern dieser Beziehung gesucht und es zeigte sich, dass Brad sich auch hier viel besser verkaufen konnte. Er, der erfolgreiche Wissenschaftler, der Kathy eine sichere Existenz geboten hätte und mit ihr eine Familie gründen wollte, und auf der anderen Seite Kathy, die sich von ihren Idealen nicht trennen wollte, um ein Leben an der Seite eines erfolgreichen Mannes zu führen.
Kathy konnte deshalb nur sehr begrenzt auf Mitgefühl und Verständnis hoffen und lernte auch, dass derjenige, der aus einer Beziehung ausbricht, sich und seiner Umwelt erst einmal beweisen muss, dass er auch die richtige Entscheidung getroffen hat. Sie wollte nun nicht in einen Wettstreit mit Brad treten, wer sich nach der Trennung besser fühlt, und entschied sich daher, für ein Jahr zu ihrem Vater nach Paraguay zu gehen. In den letzten Jahren hatte sie ihn regelmäßig dort besucht und daher sowohl zu ihm als auch zu seiner neuen Familie einen recht guten Kontakt. Ihre Eltern hatten sich getrennt, als sie elf Jahre alt war. Ihr Vater nahm damals nach der Scheidung das Angebot eines befreundeten Kollegen an, die Leitung des Krankenhauses in Asunción zu übernehmen.
Als sie ihm Anfang Februar über die Trennung von Brad berichtete und auch über die Reaktionen aus ihrem sozialen Umfeld hierauf, machte ihr Vater ihr den Vorschlag, im Sommer nach Paraguay zu reisen, um erst einmal Distanz zu bekommen, was auch ihm damals nach seiner Scheidung geholfen habe. Zunächst war von einem längeren Urlaub die Rede, dann rief er aber Anfang April bei ihr an und fragte sie, ob sie es sich auch vorstellen könne, eine Stelle bei ihm im Krankenhaus anzunehmen, da demnächst ein Arzt aus Altersgründen ausscheiden werde.
Kathy hatte sich bislang nie Gedanken darüber gemacht, ob sie jemals in diesem südamerikanischen Land leben wollte. Die Besuche bei ihrem Vater waren für sie immer sehr schön gewesen, weil sie gerne mit ihm und seiner Familie zusammen war und dort alles so fremdländisch aussah. Jetzt, da sie sich entscheiden musste, kamen ihr auch Bilder in Erinnerung, die ihr zu viel Fremdheit zeigten, um sich dort wirklich heimisch fühlen zu können. Außerdem kam die Armut dieses Landes ihr nun noch bedrückender vor als bei ihren Besuchen. Sie wusste, dass sie dort vieles würde entbehren müssen, was für sie bislang ganz selbstverständlich zu ihrem Leben gehörte. Eigentlich konnte sie sich erst in dem Moment für Paraguay entscheiden, als sie sich sagte, dass sie das jederzeit wieder würde verlassen können, falls sie es nicht mehr ertragen würde, und als ihr Wunsch, so ihrem Vater, den sie in den letzten Jahren häufig vermisst hatte, näher sein zu können, stärker als ihr Zaudern wurde.
Nach der Scheidung ihrer Eltern war sie nicht gefragt worden, bei welchem Elternteil sie bleiben wollte. Wahrscheinlich wäre sie lieber bei ihrem Vater geblieben, weil sie mit ihm mehr Gemeinsamkeiten hatte als mit ihrer Mutter. Doch selbst als sich später in der Pubertät die Konflikte mit ihrer Mutter häuften, war für ihre Eltern klar, dass Kathy in England ihren Schul- und Studienabschluss machen sollte, um dadurch später bessere Berufschancen zu haben, und sie fügte sich dieser Entscheidung.
Tage später in Buenos Aires
Als Kathy in Buenos Aires von Bord des Schiffes ging, hatte sie anfangs Mühe, den Weitertransport ihres Möbelcontainers und des Gepäcks zu regeln. Es war für sie das erste Mal, dass sie nicht das Flugzeug benutzte, um nach Paraguay zu gelangen, was die ganze Sache nicht gerade einfacher machte, da das Land im Inneren von Südamerika lag und daher nicht direkt mit dem Schiff erreichbar war. Der Container wurde im Hafen direkt auf ein kleineres Frachtschiff verladen, das am nächsten Tag nach Asunción aufbrechen sollte, während Kathy die letzte Strecke zunächst mit dem Zug durch Argentinien und dann mit der paraguayischen Zentralbahn zurücklegen wollte. Weil diese Reise über zwei Tage dauern sollte, hatte sie sich einen Platz im Schlafwagen reservieren lassen.
Von der Anspannung der letzten Stunden erschöpft, saß sie endlich im Zugabteil. Nahezu teilnahmslos beobachtete sie von ihrem Tisch im Speisewagen aus das lebhafte Treiben um sie herum und versuchte sich schließlich durch das Lesen eines Buches abzulenken, bis das Rütteln des alten Zuges sie auch hierzu zu müde machte, sodass sie sich in ihr Schlafabteil zurückzog. Anfangs konnte sie wegen der vielen Geräusche nicht einschlafen und lauschte den Stimmen im Nachbarabteil, in dem sich ein Pärchen zu streiten schien. Da sie deren Sprache aber nicht verstand, gab sie schließlich auf und döste vor sich hin, bis sie endlich einschlief.
Am nächsten Morgen war sie keineswegs ausgeschlafen, weil sie in der Nacht häufig wach geworden war. Nach dem Frühstück im Speisewagen sah sie sehr lange aus dem Waggonfenster, um etwas von dem Land zu sehen, in dem sie die nächste Zeit leben wollte. Sie sah sehr viele Waldgebiete und dünn besiedelte Landstriche. Während ihrer Ferienaufenthalte hatte sie bislang eher die Ballungszentren und Sehenswürdigkeiten dieses Landes kennengelernt, sodass dies nun völlig neue Eindrücke für sie waren. Wenn sie nicht aus dem Fenster sah, las sie in ihrem Buch, um sich etwas zu beruhigen, weil sie spürte, dass sie mit jeder in diesem Zug verbrachten Stunde nervöser wurde. Diese Reise kam ihr endlos vor und als sie endlich die ersten Häuser von Asunción erkennen konnte, hatte sie Herzklopfen. Aufgeregt stand sie mit ihrem Gepäck nahe der Waggontür, als der Zug in den großen weißen Bahnhof von Asunción einfuhr, den sie bislang nur von außen kannte. Durch die Scheibe versuchte sie, ihren Vater zu erkennen, der sie vom Bahnsteig abholen wollte.
Sie sah die große, schlanke Gestalt ihres Vaters erst, als der Zug zum Stehen kam. Voller Ungeduld wartete sie, dass die Reisenden vor ihr ausstiegen, und drängte sich dann mit ihrer Reisetasche und dem sperrigen Koffer durch die enge Tür des Zuges. Ihr Vater hatte gesehen, wie sie den Zug verließ, und kam auf sie zu. Als er vor ihr stand, rief sie »Hi Dad!« und umarmte ihn stürmisch. Sie hatte Tränen in den Augen, als er sie im Arm hielt und mit den Worten begrüßte: »Da bist du ja endlich, mein Kleines. Willkommen in Paraguay.«
Vom Bahnhof fuhren sie direkt zum Hafen. Die Ruhe ihres Vaters und seine Selbstsicherheit, mit der er den letzten Transportabschnitt ihrer Möbel regelte, ließen sie wieder gelassener werden. Vom Hafen dauerte es noch eine halbe Stunde, bis die alte Limousine von Dr. Barkley endlich auf dem Schotterweg vor der kleinen Villa am Rande des Krankenhausgrundstückes, die er mit seiner Familie bewohnte, vorfuhr. Die Begrüßung durch Elena, ihre Stiefmutter, und ihre beiden Halbbrüder war wie immer herzlich und machte es ihr leicht, sich wieder als Teil dieser Familie zu fühlen. Während Kathy ihr Reisegepäck nach oben brachte und sich frisch machte, bereitete Elena das gemeinsame Essen zu. Sie saßen lange am Esstisch zusammen und hörten Kathys Erzählungen von den Erlebnissen auf ihrer Reise zu, die immerhin nahezu drei Wochen gedauert hatte. Kathy hatte sich in dieser Zeit meist sehr einsam in dieser ihr völlig fremden Welt gefühlt und war nun froh, alles ohne große Zwischenfälle überstanden zu haben.
Asunción, Ende Juli 1976
Die letzten Tage waren Kathy und Elena damit beschäftigt gewesen, die drei Räume der Dachgeschosswohnung der Villa mit den Möbeln aus dem Container einzurichten. In dieser Wohnung, die im zweiten Stock lag, hatte vor einem Jahr noch die an Krebs erkrankte Mutter von Elena bis zu ihrem Tod gewohnt. Einen Teil der Wohnungseinrichtung hatte Elena mit nach unten genommen oder verschenkt. Übrig geblieben waren die Kücheneinrichtung, zwei schöne alte gedrechselte Schränke, ein Vitrinenschrank sowie ein großer alter Schreibtisch, ein altes Plüschsofa und ein runder Tisch davor. Obwohl diese Möbel in einem völlig anderen Stil waren als Kathys Einrichtungsgegenstände aus Rattan und hellem Holz, versuchte sie diese beiden Welten miteinander zu verbinden. Elena versorgte sie mit viel buntem Stoff für Gardinen, Tischdecken und einem Sofaüberwurf, den sie in einer Truhe aufbewahrt hatte. In der Stadt kaufte sich Kathy noch Kübelpflanzen und eine Tischlampe aus Metall mit einem gläsernen Lampenschirm für den alten Schreibtisch.
1.8.1976
Als Kathy am Sonntagabend vor ihrem Dienstantritt in ihrer Badewanne lag, die wie ein Kahn auf vier Füßen im dunkelblau gefliesten Badezimmer stand, stellte sie erleichtert fest, dass sich ihre bisherige Welt erstaunlich gut in ihr neues Leben eingepasst hatte. Dieses gute Gefühl hatte sie aber nicht nur, weil ihr die neue Wohnung gefiel, sondern weil ihr die gemeinsamen Stunden mit Elena gut taten. Mit ihr hatte sie sich von Anfang an sehr gut verstanden, sie konnte mit ihr all die Jahre über die Probleme reden, die sie im Umgang mit ihrer Mutter hatten sprachlos werden lassen.
Elena war eine hübsche, lebhafte Person Mitte vierzig. Sie arbeitete als Lehrerin an der deutschen Schule Colegio Goethe und kümmerte sich, wenn ihr die Erziehung der beiden Söhne dazu noch Zeit ließ, um eine Beratungsstelle für Frauen, die von der Kirche ihres Bezirks und mit Hilfe von Spenden, die Elena unermüdlich einsammelte, unterhalten wurde. Überhaupt schien es hier nichts Ungewöhnliches zu sein, wenn verheiratete Frauen weiterhin berufstätig waren. Für die Erziehung der Kinder und den Haushalt wurde entweder Personal eingestellt, das ohne größere Probleme zu bekommen und auch durchaus bezahlbar war, oder aber es gab Großeltern oder Tanten, die halfen.
Nun zwei Brüder zu haben war für Kathy ebenfalls ein schönes Gefühl, auch wenn der Altersunterschied, der Ältere war zwölf und der Jüngere acht Jahre alt, ihr schon mehr die Autorität einer Erwachsenen verschaffte. Sie hatte keine weiteren Geschwister, ihre Mutter hatte sich bereits mit ihrer ersten Schwangerschaft sehr schwer getan. Außerdem war sie eine Frau, die sich zwar sehr gut auf die Bedürfnisse ihres zweiten Ehemannes einstellen konnte, aber nicht zu den mütterlichen Typen gehörte, die einfach Spaß an dem Zusammenleben mit Kindern haben.
Am Montagfrüh sollte Kathy ihren Dienst im Krankenhaus beginnen. Von ihrem Vater erfuhr sie, dass sie zunächst auf der chirurgischen Station assistieren sollte, die gleichzeitig als Unfallstation diente. Hier waren noch zwei weitere Ärzte tätig; der ältere, Dr. Philippo, arbeitete seit fünf Jahren auf dieser Station und hatte vorher eine eigene Praxis auf dem Lande gehabt. Als ihm seine Ehefrau wegen einer Herzerkrankung nicht mehr helfen konnte, hatte er die Stelle im Krankenhaus angenommen, die ihm auch geregeltere Arbeitszeiten und ein sicheres Einkommen garantierte. Kathy hatte ihn schon in den Jahren zuvor auf den Geburtstagsfeiern ihres Vaters kennengelernt und konnte es daher nachempfinden, dass ihr Vater ihn als sehr zuvorkommenden Kollegen und verlässlichen Arzt beschrieb.
Der jüngere Kollege, Dr. Terno, war erst vor 18 Monaten auf die Station gekommen. Er war der zweitälteste Sohn eines ehemaligen Arbeitskollegen von Elena und Dr. Barkley hatte ihn damals eingestellt, obwohl ihn der Polizeikommandant des Bezirkes davon abriet, weil Dr. Ternos Familie angeblich einer Untergrundbewegung angehöre. Als Kathys Vater dies sagte, mischte sich Elena in das Gespräch ein. Sie erklärte, dass all diese Behauptungen gar nicht wahr seien und die Familie Terno zu Unrecht verdächtigt und bespitzelt werde. Elena glaubte, dass der Polizeikommandant nur Angst habe, dass sich die Familie einmal dafür rächen könnte, was man ihr in den letzten Jahren angetan hatte. Aus der temperamentvoll vorgetragenen Empörung schloss Kathy, dass Elena sehr viel an der Familie ihres ehemaligen Arbeitskollegen gelegen war. Sie erfuhr von ihren Eltern, dass vor drei Jahren der älteste Sohn der Familie auf der Flucht von der Polizei erschossen worden sei, weil man ihn als Untergrundkämpfer verdächtigt und deshalb gejagt hätte. Der ehemalige Kollege von Elena sei für sechs Monate wegen desselben Verdachtes inhaftiert und grausam gefoltert worden, wodurch er seitdem schwer gehbehindert sei. Auch ihm habe man nichts nachweisen können. Leonardo, der zweitälteste Sohn, sei zwar nicht inhaftiert worden, habe aber während dieser Zeit keine Arbeitserlaubnis erhalten, um als Arzt tätig sein zu können. Dr. Barkley habe ihm dann an der Universität eine Promotionsstelle bei einem befreundeten Professor besorgt und in der letzten Phase der Promotion unter dem Vorwand eingestellt, dass er den praktischen Teil dieser Arbeit betreuen würde.
Kathy hatte zwar die Jahre zuvor bei ihren Besuchen am Rande mitbekommen, dass die innenpolitische Situation des Landes nicht konfliktfrei war, und wusste auch, dass gegen Regimegegner hart durchgegriffen wurde; für sie waren dies jedoch bislang Probleme gewesen, die sie aus der sicheren Distanz einer Touristin hatte beobachten können. Ihr wurde nun bewusst, dass sich diese Distanz schlagartig dadurch verkleinerte, dass sie zukünftig mit einem Kollegen zusammenarbeiten würde, dessen Familie von der Polizei verfolgt worden war. Sie wollte deshalb wissen: »Hat sich denn nun der Polizeikommandant damit abgefunden, dass Dr. Terno hier im Krankenhaus arbeitet?« – »Nur scheinbar«, entgegnete Elena. »Seit Dr. Terno die Armensiedlungen ambulant betreut, häufen sich wieder die Bespitzelungen durch die Polizei.«
Von einer solchen Betreuung hatte Kathy bislang nichts gewusst. Erstaunt erfuhr sie von ihrem Vater, dass für die Armenviertel am Stadtrand derzeit nur einmal in der Woche eine ambulante medizinische Versorgung angeboten werden könne. Dieses Projekt wurde auch von der zuständigen Kirchengemeinde mitgetragen. Da es verständlicherweise nicht viele Ärzte gab, die sich um diese Arbeit gerissen hätten, sei er froh gewesen, dass Dr. Terno diese Aufgabe vor sechs Monaten übernommen habe.
Während Kathy ihrem Vater und Elena aufmerksam zuhörte, überkam sie zum ersten Mal Angst, sie könne ihren neuen Job nicht schaffen. Sie kam sich so unendlich naiv vor, dass sie hatte annehmen können, mit Spanischkenntnissen und einem abgeschlossenen Medizinstudium, aber kaum Berufserfahrung die Erwartungen erfüllen zu können, die ihr Vater und mit Sicherheit auch die neuen Kollegen an sie stellen würden. Als sie ihrem Vater diese Zweifel mitteilte, schaute er sie für einen kurzen Moment forschend an, bevor er antwortete: »Kathy, ich weiß, dass du noch recht wenig Berufserfahrung hast, und der Job hier wird mit Sicherheit auch nicht leicht für dich sein. Ich weiß aber auch, dass du eine Idealistin bist, die danach hungert, neue Erfahrungen zu sammeln, anstatt in London nach alter Tradition eingefahrene Wege zu gehen.« Er lächelte stolz, als er fortfuhr: »Und ich weiß, dass du es schaffen wirst. Schließlich bist du meine Tochter.«
Die Nacht von Sonntag auf Montag war für Kathy unruhig. Sie war aufgeregt bei dem Gedanken, wie ihr erster Arbeitstag verlaufen würde, und sie hatte schlecht geträumt. Als sie gegen zwei Uhr wach wurde, konnte sie anfangs ihre neue Umgebung nicht einordnen, sodass sie für den Rest der Nacht lieber das Licht im Flur brennen ließ.
2.8.1976
Am nächsten Morgen ging ihr Vater mit ihr auf die Station, um sie dort vorzustellen. Im Schwesternzimmer hatte sie zuerst Kontakt mit der recht resoluten Stationsschwester Isabell, die Kathy kritisch durch ihre Brillengläser musterte und ausgesprochen reserviert reagierte. Die anderen Krankenschwestern und Pfleger begrüßten Kathy zwar höflich, trugen aber ansonsten durch ihr Verhalten nicht dazu bei, ihr den Eindruck zu vermitteln, als freue man sich über die neue Mitarbeiterin. Lediglich ihr Kollege Dr. Philippo versuchte durch seine humorvolle Art die Vorstellungssituation etwas aufzulockern. Nachdem ihr Vater die Station verlassen hatte, zeigte ihr Dr. Philippo die übrigen Räumlichkeiten der Station und besprach mit ihr, welche Arbeitsbereiche von ihr übernommen werden sollten. Sie einigten sich darauf, dass sie anfangs auch die leichten chirurgischen Eingriffe nur im Team mit einem anderen Arzt durchführen würde, weil sie erst über relativ wenig Operationserfahrung verfügte.
Kathy hatte anfangs noch große Schwierigkeiten, sich die Namen der Kollegen zu merken, das Arbeitsmaterial zu finden und sich in die Krankenakten ihrer Patienten einzuarbeiten, und war deshalb erleichtert, als sie ihren ersten Arbeitstag ohne größere Zwischenfälle hinter sich gebracht hatte. Kurz vor Dienstschluss wollte sie noch einmal nach einer Patientin sehen, bei der sich eine Thrombose im Bein gebildet hatte. Als sie ins Stationszimmer zurückkam, war Dr. Terno schon eingetroffen, um die Station zu übernehmen. Dr. Philippo ging mit ihm gerade die Eintragungen im Stationsbuch durch. Kathy wurde von Dr. Philippo mit den scherzhaft gemeinten Worten vorgestellt, dass dies das »Cheftöchterlein« sei, das sich bei ihnen zur »Buschärztin« ausbilden lassen wolle. Dr. Terno begrüßte sie recht kühl und hatte dabei einen Gesichtsausdruck, als würde er genau das von ihr denken, was sein Kollege aus Spaß gerade gesagt hatte.
Kathy selbst hatte nicht viel zur Stationsübergabe beizutragen und verabschiedete sich deshalb schon bald von ihren Kollegen. Als sie zuhause ankam, fragte Elena sie gleich, wie ihr erster Arbeitstag verlaufen sei. Kathy fasste kurz ihre Eindrücke zusammen und sagte zum Abschluss fast beiläufig, dass Dr. Terno nicht gerade begeistert gewirkt habe, als sie ihm vorgestellt worden sei. Elena fragte sie, was sie denn erwartet habe. Für manchen aus dem Krankenhaus sei sie nun einmal das »Cheftöchterlein«, das aus ihnen völlig unverständlichen Gründen England verlassen hat, um in einem südamerikanischen Land als Ärztin zu arbeiten. Sie hielt einen Moment inne und fuhr dann fort, dass Kathy damit rechnen müsse, dass in der nächsten Zeit die wildesten Gerüchte über sie verbreitet würden, weil sich jeder seine eigenen Gedanken darüber mache, warum sie nach Paraguay gekommen sei. Kathy hatte dies zwar schon befürchtet, aber trotzdem gehofft, dass ihr diese Art Interesse, das ihr offensichtlich einige Mitmenschen entgegenbrachten, erspart bleiben würde.
3.8.1976
Ihr nächster Arbeitstag war Operationstag und am Nachmittag fand die vierzehntägige Dienstbesprechung im großen Kollegenkreis statt. Die Operationen waren recht unkompliziert, sodass Kathy Gelegenheit hatte, einige Arbeiten selbstständig durchzuführen. Sie hatte den Eindruck, dass ihr Dr. Philippo relativ wenig Schonzeit einräumen wollte und sehr darauf bedacht war, sie so schnell wie möglich zu einer stationstauglichen Ärztin heranreifen zu lassen. Wohl um dies zu beschleunigen, sollte sie im ersten halben Jahr ausschließlich im operationsintensiven Frühdienst arbeiten. Später, während der Dienstbesprechung, wurde Kathy den übrigen Kollegen vorgestellt. Sie konnte hierbei die Beobachtung machen, dass die Kollegen, die sie von ihren früheren Besuchen her bereits kannte, es scheinbar eher akzeptierten, dass sie nun hier arbeiten würde, als die ihr völlig unbekannten. Sie schloss daraus, dass bei einigen von ihnen wohl auch die Angst im Vordergrund stand, dass sie als Cheftochter Strukturen verändern könnte, weil man annahm, dass sie in gewissem Maße auch Einfluss auf ihren Vater habe.
Dr. Terno hatte sie während der Dienstbesprechung manchmal gemustert, schien aber ansonsten wenig Interesse an ihrer Person zu haben. Nach der Besprechung sprach er sie kurz an, um mit ihr die am nächsten Tag geplanten Operationen abzustimmen. Da er nachmittags in die Armenviertel fuhr, arbeitete er mittwochs immer im Frühdienst. Kathy hatte die Zusammenarbeit mit Dr. Philippo gut gefallen und sie glaubte auch, in den zwei Tagen viel von ihm gelernt zu haben; trotzdem fühlte sie sich unsicher bei dem Gedanken, nun mit Dr. Terno zusammenarbeiten zu müssen.
4.8.1976
Als sie am nächsten Morgen auf die Station kam, besprach sich Dr. Terno gerade mit Schwester Isabell. Kathy stellte sich zu ihnen und wartete geduldig ab, welche Arbeiten er ihr zuweisen würde. Nachdem er das Gespräch mit der Stationsschwester beendet hatte, fragte er Kathy kühl, welche Operationen sie übernehmen könne. Kathy war durch sein abweisendes Verhalten verunsichert, sodass ihr Selbstvertrauen gerade für eine simple Blindarmoperation reichte. Sie hatte den Eindruck, dass er ihre Verunsicherung zwar spürte, ihr aber keineswegs helfen wollte. Unbeeindruckt legte er fest, dass sie mit der Blindarmoperation beginnen und ihm danach bei einer Blasenstein- und einer Magenoperation assistieren solle.
Im Operationsraum fragte Dr. Terno sie, ob sie noch Fragen zum Ablauf habe. Sie schüttelte den Kopf und sah auf den Patienten, der bereits narkotisiert vor ihr auf dem Tisch lag, und dann wieder zu ihrem Kollegen, der sie beobachtete. Als sie merkte, wie ihr vor Anspannung der Schweiß auf die Stirn trat und ihre Finger feucht wurden, sagte sie kaum hörbar: »Es geht nicht.« Dr. Terno begann wortlos mit der Operation. Als die Wunde vernäht werden konnte, forderte er sie auf, dies zu übernehmen, was Kathy dann auch tat. Die nächste Operation war schon vorbereitet. Dieses Mal versuchte Dr. Terno Kathy stärker miteinzubeziehen und gab ihr knappe Anweisungen, was sie tun müsse. Obwohl sich bei ihr langsam das Gefühl der Unsicherheit legte, fühlte sie sich blamiert und glaubte auch, dass ihr Kollege dies durch seine betont kühle Art bewusst provoziert hatte.
Am Nachmittag sprach sie mit Elena über diese schwierige Zusammenarbeit. Elena, die Dr. Terno schon viele Jahre kannte und ihn sehr schätzte, hatte bislang schon häufiger die Beobachtung gemacht, dass er seine Mitmenschen auf Distanz hielt, war sich aber sicher, dass es nicht seine Absicht war, hierdurch jemanden zu demütigen.
9.–12.8.1976
In der nächsten Woche hatte Kathy wieder Frühdienst, dieses Mal gemeinsam mit Dr. Terno. Sie hatte sich vorgenommen, ihm gegenüber selbstbewusster aufzutreten. Sie führte deshalb bis auf die Operationen die Behandlung ihrer Patienten völlig selbstständig durch und verhielt sich auch dem Stationspersonal gegenüber selbstbewusster als sonst, was wiederum von Schwester Isabell mit sichtbarem Missfallen registriert wurde. Seit Anfang der Woche war auch Schwester Monica wieder aus dem Urlaub zurück, mit der Kathy von Anfang an Probleme hatte, weil diese sich ihr gegenüber spürbar aufsässig benahm.
Dr. Terno schien bemerkt zu haben, dass Kathy versuchte, ihm aus dem Weg zu gehen, ließ sie aber gewähren. Bei der Absprache, wer welche Operationen durchführen solle, legte Kathy Wert darauf, dass sie für Operationen eingeteilt wurde, die sie sich zutraute. Auch dies wurde von ihm akzeptiert. Eine Ausnahme bildete lediglich die letzte Operation am Donnerstag, die komplizierter war und bei der er sie bat, ihn zu unterstützen. Die Bauchoperation war sehr schwierig und Dr. Terno machte auch gar nicht erst den Versuch, Kathy Dinge zu erklären oder sie anzulernen. Sie hatte ausschließlich die Aufgabe, ihm zu assistieren.
Als die Operation schon nahezu abgeschlossen war, passierte es beim Vernähen der Operationswunde immer wieder, dass es bei dem schon älteren Patienten, der bereits mehrfache Bauchoperationen mit deutlichen Vernarbungen hinter sich hatte, zu Gewebseinrissen kam, was ein Verschließen der Wunde erheblich erschwerte. Dr. Terno, der ansonsten ruhig und sicher operierte, reagierte inzwischen nervös. Gereizt fuhr er die OP-Schwester an, als diese ihm nicht gleich das richtige Instrument reichte, und sagte mit einem kurzen Blick zu Kathy: »Wenn ich hier gleich die Nerven verliere, versuchen Sie wenigstens, das Schlimmste zu verhindern.« Betont ruhig antwortete diese: »Es wird schon klappen«, und wischte ihm den Schweiß ab, der sich gerade von seiner Stirn einen Weg zum Auge bahnte.
Nach mehrfachen Versuchen konnte die Wunde endlich verschlossen werden, doch Dr. Terno war sich keineswegs sicher, ob die Nähte das brüchige Gewebe auch wirklich zusammenhalten würden. Er sah erschöpft aus, als er den Operationsraum verließ, um sich umzuziehen. Kathy, die das Gefühl hatte, er wolle jetzt allein sein, folgte ihm nicht. Sie traf ihn erst einige Zeit später im Stationszimmer, wo er am Schreibtisch saß und den Operationsbericht schrieb. Als sie den Raum betrat, um die Krankenblätter ihrer Patienten zu holen, sah er von seinen Unterlagen auf und sprach sie an: »Danke, Sie haben mir vorhin sehr geholfen, indem Sie einfach Ruhe bewahrt haben.« Kathy nickte und erwiderte knapp: »Es war schon okay.« Dann griff sie nach den Krankenblättern und verließ das Stationszimmer.
13.8.1976
Es war der 55. Geburtstag ihres Vaters, der in einem größeren Rahmen gefeiert wurde. Geladene Gäste waren neben den Familienangehörigen, Freunden und Bekannten nicht nur die Kollegen aus dem Krankenhaus, sondern auch einige Persönlichkeiten der Stadt. So machte Kathy auf dieser Feier die Bekanntschaft des Polizeikommandanten des Bezirkes, Señor Petro Lopez. Er war ein kleiner, sehr selbstbewusster Mann, der sich seiner Macht, die er auf Menschen ausüben konnte, genau bewusst war. Als ihr Vater sie Lopez vorstellte, hatte Kathy sofort das Gefühl, dass sie dessen Interesse weckte, was sie eher beunruhigte. Seine charmante und gleichzeitig fordernde Art war ihr ausgesprochen unangenehm. Aus den Unterhaltungen mit ihren Eltern hatte sie geschlossen, dass man Lopez möglichst aus dem Weg gehen sollte, und sein Interesse an ihrer Person machte dies nicht gerade einfach.
Kathy gab sich sehr reserviert und versuchte, das Gespräch recht zügig zu einem Abschluss zu bringen, was aber dadurch erschwert wurde, dass Petro Lopez ihr immer neue Fragen stellte, um sie so in eine längere Unterhaltung zu verwickeln. Sie spürte, dass er hierbei sehr geschickt seine Autorität als Polizeikommandant ausspielte, was ihr noch stärker missfiel. Etwas hilflos wanderten ihre Blicke zum Terrassenausgang, den sie schon als Fluchtweg anvisiert hatte. Sie entdeckte auf der Terrasse Dr. Terno, der sich dort mit einem Kollegen von der Kinderstation unterhielt und öfter zu ihr herübersah. Als sich ihre Blicke trafen, hatte Kathy den Eindruck, er würde ihren gequälten Gesichtsausdruck wahrnehmen. Er wirkte etwas besorgt, als er ihr mit einer leichten Handbewegung andeutete, sie solle doch zu ihm kommen.
Kathy beendete das Gespräch mit Lopez abrupt, indem sie sehr bestimmt sagte: »Entschuldigen Sie bitte, aber ich habe noch dringend etwas mit meinen Kollegen zu besprechen. Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Abend.« Lopez war diesmal viel zu überrascht, um sie am Weggehen zu hindern, und sah ihr wortlos nach, als sie zur Terrassentür ging. Erleichtert betrat Kathy die Terrasse und stellte sich zu Dr. Terno und dem Kinderarzt Dr. Sharre. Sie unterhielten sich noch einige Zeit über eine Fachtagung, die nächste Woche an der Universität stattfinden sollte, bis die geladene Musikgruppe zu spielen begann und eine Unterhaltung hierdurch erschwert wurde.
Als sich die ersten Paare auf der Tanzfläche einfanden, fragte Dr. Terno: »Haben Sie Lust zu tanzen?« Kathy sah das aufmunternde Nicken von Dr. Sharre und ging dann etwas zaghaft mit ihrem Kollegen auf die Tanzfläche. Bislang hatte sie immer geglaubt, eine recht gute Tänzerin zu sein, was nach europäischen Maßstäben sicherlich auch der Fall war. Die Wendigkeit und das Temperament der Südamerikaner blieben jedoch nicht ohne Einfluss auf ihr Selbstbewusstsein. Die ersten Tanzschritte verliefen ausgesprochen unharmonisch, bis Dr. Terno ihr sagte: »Machen Sie einfach nur das, was ich vorgebe«, und dann mit einem provozierenden Lächeln betonte: »Und ich führe hier.«
Einige Gäste schauten den beiden amüsiert zu. Als Kathy sich etwas sicherer fühlte und sich nicht mehr jeden Schritt überlegen musste, fragte sie ihren Tanzpartner, was Lopez für ein Mensch sei. »Er ist ein Frauenheld, der fast immer auch bekommt, was er will. Sie sollten sich zu schade dafür sein, ein neues Exemplar in seiner Sammlung zu werden«, war seine eher harsche Antwort. Sein Gesicht wirkte bei diesen Worten angespannt. Kathy wollte keinen Zweifel an ihrer Person aufkommen lassen und antwortete: »Ich habe nicht vor, etwas mit ihm anzufangen. Er ist nicht mein Typ und außerdem ein Polizist.« Dr. Terno sah sie erstaunt an. »Haben Sie etwas gegen Polizisten?«, fragte er leicht spöttisch. »Gegen diese Art von Polizisten schon. Was haben Sie für Erfahrungen mit ihm gemacht?«, wollte Kathy wissen. Sein Gesichtsausdruck wurde plötzlich sehr abweisend. »Wir sollten jetzt nicht darüber reden. Einige Dinge, die wichtig sein könnten, werden Ihnen mit Sicherheit auch Ihre Eltern erzählen«, war seine ausweichende Antwort. Um dieses Gespräch nicht fortführen zu müssen, schlug er vor, wieder zu den anderen zu gehen. Er begleitete sie noch zu Dr. Philippo und dessen Ehefrau und verschwand dann im Gewühl der übrigen Gäste. Kathy hatte an diesem Abend keine Gelegenheit mehr, mit Dr. Terno zu sprechen. Sie sah ihn zwar noch einige Male, als er zum Büffet ging oder sich mit anderen Kollegen unterhielt, hatte aber immer den Eindruck, als würde er nicht gerade ihre Nähe suchen, auch wenn er sich offenbar schon dafür interessierte, wo sie sich gerade aufhielt, und öfter zu ihr herübersah.
Lopez konnte sie dadurch aus dem Weg gehen, dass sie sich immer im Kreise von ihr gut bekannten Gästen aufhielt. Sie fühlte sich aber dennoch von ihm beobachtet. Kurz vor Mitternacht ging sie nach oben in ihre Wohnung, weil sie für den nächsten Tag zum Wochenenddienst eingeteilt worden war und dafür wenigstens halbwegs ausgeschlafen sein wollte.
14.–15.8.1976
An den Wochenenden waren für das ganze Krankenhaus lediglich zwei Ärzte zuständig, eine Verstärkung erfolgte nur bei Bedarf. Kathy hatte zusammen mit Dr. Sharre Dienst, den sie schon von früher her kannte und der ihr sehr sympathisch war. Wenn es gerade nichts zu tun gab, unterhielten sie sich über England, das er von Auslandsaufenthalten kannte. Auf Kathys Station war an diesem Wochenende Monica eingeteilt. Kathy hatte sich am Anfang ihrer Zusammenarbeit noch Mühe gegeben, mit ihr auszukommen, war aber inzwischen in einem Stadium, wo sie sich nicht mehr um ein einvernehmliches Miteinander bemühte. Sie wusste genau, dass es da etwas gab, was Monica ihr gegenüber so feindselig stimmte, konnte sich aber nicht denken, was es war. Da Kathy überzeugt war, dass sie durch ihr Verhalten keinen Anlass für diese Ablehnung gegeben hatte, versuchte sie den Kontakt nur auf das Nötigste und auf Dienstliches zu beschränken. Sie hatte sich nach der anfänglichen Aufsässigkeit von Monica angewöhnt, ihr klar und bestimmt Anweisungen zu geben, vermied es aber, die Chefin zu spielen.
Für die Nachtschicht war Dr. Terno eingeteilt. Als Kathy zur Übergabe auf die chirurgische Station kam, hörte sie, dass es zwischen ihm und Monica ein heftiges Wortgefecht gab. Monica fragte ihn erregt: »Willst du jetzt etwas mit der neuen Ärztin anfangen, mit der du gestern wie ein verliebter Gigolo getanzt hast?« – »Ich glaube nicht, dass ich dir für mein Leben Rechenschaft ablegen muss«, erwiderte Dr. Terno scharf. Kathy wollte nicht lauschen. Obwohl ihr der Inhalt dieser Auseinandersetzung unangenehm war, hielt sie es für besser, das Stationszimmer, wie von ihr zuvor beabsichtigt, zu betreten. Scheinbar ahnungslos grüßte sie und fragte Dr. Terno, ob sie die Stationsübergabe besprechen könnten. Monica verließ wütend und mit errötetem Gesicht den Raum. Kathy konnte an seinem Gesichtsausdruck erkennen, dass er ahnte, dass sie die letzten Worte des Gespräches durch die nur angelehnte Tür mitbekommen hatte. Sie versuchte die peinliche Situation zu übergehen, indem sie mit ihm gleich die Situation im Krankenhaus besprach. Da ihr Kollege ausgesprochen wortkarg wirkte, hielt sich Kathy nach dem Übergabegespräch nicht weiter bei ihm auf und verabschiedete sich mit den Worten: »Ich wünsche Ihnen eine ruhige Nacht. Bis morgen.«
Als sie wieder zuhause war, unterhielt sie sich mit ihren Eltern noch über die Geburtstagsfeier. Sie erfuhr, dass nach ihrem Weggehen Dr. Terno von Lopez provoziert worden war, indem dieser ihn im angetrunkenen Zustand lautstark gefragt hatte, ob er jetzt schon mit dem Cheftöchterchen flirten müsse, um seinen Hals zu retten. Dr. Terno habe dann, ohne ihm diese Frage zu beantworten, sofort die Geburtstagsfeier verlassen. Kathy erzählte, dass sie sich von Lopez gestern sehr bedrängt gefühlt habe, und auch, wie Dr. Terno auf ihre Fragen beim Tanzen reagierte. Ihr Vater wirkte aufgrund ihrer Erzählungen besorgt und warnte sie: »Sei bitte vorsichtig. Wir wissen alle, was wir von Lopez zu halten haben. Er ist ein unverschämter Weiberheld und ein mieser Polizist, vor dem man sich in Acht nehmen sollte. Du wirst mit Sicherheit auch noch Probleme damit haben, seine Annäherungsversuche abzuwehren, da er sich ja offensichtlich sehr für dich interessiert. – Und pass bitte auf, dass du nicht in die Schusslinie von Lopez und Dr. Terno gerätst. Ich habe den Eindruck, dass da Dinge ablaufen, aus denen wir uns lieber heraushalten sollten.«
Kathy war verunsichert: »Ich dachte, Elena und du, ihr wollt Dr. Terno helfen.« – »Kathy, wir können ihm am besten dadurch helfen, dass wir Lopez gegenüber den Eindruck erwecken, dass wir nur rein berufliche Kontakte zu Dr. Terno unterhalten und diese in keiner Weise zu beanstanden sind. Sollte Lopez jedoch glauben, dass wir für Dr. Terno aus irgendwelchen Gründen Partei ergreifen, wird er misstrauisch werden und wir können den ganzen Laden hier dichtmachen.« Während ihr Vater dies sagte, schaute Kathy kurz zu Elena hinüber. Auch sie wirkte besorgt. Kathy schwieg einen Moment, bevor sie fragte: »Hat Dr. Terno eine Affäre mit Schwester Monica?«
Diesmal war es Elena, die ihr die Frage beantwortete: »Ja, da ist vor ein paar Monaten einmal etwas zwischen den beiden gelaufen.« – »Gab es deswegen nie Probleme auf der Station?«, wollte Kathy wissen. Ihr Vater antwortete: »Als mir die Sache zu Ohren kam, habe ich Dr. Terno darauf angesprochen und ihm gesagt, dass ich eine Versetzung von ihm oder Schwester Monica vornehmen würde, wenn die Arbeit in irgendeiner Form darunter leiden sollte, und ich auch von ihm erwarten würde, dass er mich informiert, sobald Probleme auftreten. Weder er noch Dr. Philippo oder gar Schwester Isabell haben mich auf Schwierigkeiten angesprochen. Ich gehe daher davon aus, dass es solche auch nicht gegeben hat oder derzeit gibt.« Elena hatte Kathy aufmerksam beobachtet und fragte amüsiert: »Kathy, warum interessierst du dich so dafür? Hast du dich etwa in den jungen attraktiven Arzt verliebt?«
Kathy hatte solche Gedanken bislang verdrängt, weil sie sich noch nicht wieder in der Lage fühlte, sich auf einen neuen Partner einzustellen, und musste einen Moment nachdenken, bevor sie ehrlich antwortete: »Ich glaube, ich mag ihn, obwohl es viele Dinge gibt, die ich an ihm nicht verstehe. Er ist irgendwie ehrlich, aber gleichzeitig auch verschlossen. – Ich hoffe, dass ich mich nicht noch in ihn verlieben werde. Ich glaube, dann wird mein Leben ziemlich kompliziert.« Fast erleichtert pflichtete ihr der Vater bei: »Ihr wart zwar beim Tanzen ein tolles Paar, aber ich fürchte, du hast recht. Versuche dich lieber nicht in ihn zu verlieben, wenn man das überhaupt ernsthaft beeinflussen kann.« Dr. Barkley hatte es schon immer vermieden, mit Druck Einfluss auf seine Tochter auszuüben, wofür ihm Kathy sehr dankbar war. Er sagte ihr aber dafür immer deutlich seine Meinung und hielt auch mit seinen Ängsten nicht hinter dem Berg, was für Kathy bislang immer eine gute Orientierung war.
Am Sonntag hatte Kathy bis Mittag mit Dr. Terno Dienst. In der letzten Nacht hatte gegen drei Uhr eine Schwangere aufgenommen werden müssen, die an einer Wehenschwäche litt. Trotz des Wehenmittels, das ihr verabreicht worden war, ging die Geburt nur äußerst schleppend voran. Da die Patientin auf Kathy einen sehr verstörten Eindruck machte, schlug sie vor, diese weiter zu betreuen. Dr. Terno zögerte einen kurzen Moment und stimmte schließlich unter der Bedingung zu, dass sie ihn umgehend rufen lassen würde, wenn sich der Zustand der Patientin veränderte.
Kathy setzte sich zu der jungen Frau ans Bett und erfuhr von ihr, dass dies ihre erste Schwangerschaft sei und sie große Angst vor der Entbindung habe. Um sie zu beruhigen, erzählte ihr Kathy, dass ihre Großmutter eine sehr erfolgreiche Hebamme in England gewesen sei und was sie von ihr gelernt habe. Die junge Frau, die Vertrauen schöpfte, war schließlich bereit, von Kathy und ihrem Ehemann gestützt so lange auf dem Stationsflur auf und ab zu gehen, bis die Wehen zu heftig würden. Um die letzten Vorbereitungen für die Geburt zu treffen, ließ Kathy Dr. Terno rufen.
Dieser wirkte erleichtert, dass die Entbindung nun unmittelbar bevorstand, war aber auch irritiert, als ihm Kathy berichtete, dass sie nahezu eine Stunde mit der Patientin über den Flur gewandert sei und diese nun vor dem Bett kniend entbinden lassen wollte, um ihr hierdurch die Geburt zu erleichtern. »Ich dachte immer, die Engländer sind im Kinderkriegen so fortschrittlich. Was Sie vorhaben, ist doch wohl eher die Gebärhaltung von Naturvölkern«, war sein Kommentar zu ihrem Vorhaben, worauf Kathy nur schnippisch antwortete: »Meine Großmutter war in England eine sehr angesehene Hebamme. Sie hat immer die Ansicht vertreten, dass sich der Ablauf einer Geburt allein an Mutter und Kind orientieren solle und nicht daran, welche Behandlungsposition für die Ärzte die bequemste ist.«
Als eine Stunde später alles überstanden war und Mutter und Kind zwar erschöpft, aber ansonsten wohlauf im Bett lagen, war Kathy ausgesprochen zufrieden mit sich und ihrer Arbeit. Dr. Terno hatte sie die ganze Zeit gewähren lassen und ihr assistiert, wo es erforderlich war, ohne weitere belustigende Bemerkungen zu machen. Lediglich als ihr, während sie das Kind auf die Welt holte, der Rock hochrutschte und sie sehr viel Bein zeigte, bemerkte er fast beiläufig: »Ihr Rocksaum macht sich gerade selbstständig.« Kathy, die mit beiden Händen gerade den Säugling umfasste, erwiderte etwas hilflos: »Auf so etwas war ich heute früh beim Anziehen nicht vorbereitet.«
Gegen Mittag wurde Dr. Terno von Kathys Vater abgelöst. Bevor er das Krankenhaus verließ, kam er noch einmal zu Kathy und sagte: »Am Anfang hatte ich ja ein wenig Angst, dass bei der Entbindung etwas schiefgehen könnte, aber dann hatte ich den Eindruck, dass Sie genau wussten, was Sie taten.« Mit einem Grinsen fügte er noch hinzu: »Auf jeden Fall habe ich heute einiges von Ihnen gelernt und auch gesehen.« Kathy, für die Entbindungen schon immer der schönste Teil ihres Arztberufes waren und auch der emotionalste, erwiderte mit einer glücklichen Gelassenheit: »Ich möchte mich heute bei Ihnen bedanken, dass Sie mich bei dieser Behandlung der besonderen Art so tatkräftig unterstützt haben.«
Am Nachmittag hatte Kathy Gelegenheit, mit ihrem Vater über die Geburt zu reden. Sie sagte auch, dass sie sich wünsche, stärker als bislang Schwangere betreuen zu können und Entbindungen durchzuführen. Dr. Barkley machte ihr den Vorschlag, sich einmal mit Elena und der Hebamme aus der Entbindungsstation zusammenzusetzen. Ihm schwebte ein Beratungsprojekt vor, in dem Frauen über Verhütungsmethoden aufgeklärt werden und wo auch Schwangerschaftsbetreuung stattfinden könnte. Von Elena und Dr. Terno habe er erfahren, dass gerade in den Armenvierteln eine völlig unzureichende Geburtenkontrolle stattfinde und dass so das Elend dieser Menschen noch verschlimmert werde. Kathy, die seine Idee ausgesprochen interessant fand, wollte Elena sofort darauf ansprechen.
16.–22.8.1976
Am Montag nahm Kathy, nachdem sie zuvor mit Elena gesprochen hatte, mit der Hebamme Felicitas Lemas Kontakt auf, um mit ihr über ihre Projektpläne zu sprechen. Felicitas war eine kleine, resolute Person, die sehr viel Berufserfahrung hatte und genau wusste, wovon sie sprach. Sie war von Kathys Vorstellungen recht angetan und konnte sich auch vorstellen, dieses Projekt in der Beratungsstelle durchzuführen, in der sie ehrenamtlich tätig war. Sie hatte früher selbst einmal ähnliche Pläne gehabt, konnte dann jedoch keine Ärztin finden, die dieses Projekt unterstützen wollte. Für Felicitas war es einfach wichtig, dass ein Projekt für Frauen auch von Frauen gemacht wurde, weil dann die Akzeptanz am größten wäre. Am Abend besprach Kathy mit ihren Eltern, welche Mittel ihr für das Projekt vom Krankenhaus zur Verfügung gestellt werden würden und in welchem Umfang dies überhaupt möglich sei.
Während der großen Dienstbesprechung am nächsten Tag erwähnte Dr. Barley das Vorhaben seiner Tochter kurz unter »Verschiedenes«. Kathy, die Dr. Terno schräg gegenüber saß, konnte beobachten, wie dieser diese Nachricht nahezu ungläubig zur Kenntnis nahm. Als er zu ihr hinübersah, um sich zu vergewissern, ob er gerade richtig gehört habe, spürte Kathy, dass ihre Pläne nicht gerade seine Zustimmung fanden. Erst am Mittwoch, während des gemeinsamen Dienstes, fand sie Gelegenheit, mit ihm über ihr Projekt zu sprechen. Er begründete seine Ablehnung damit, dass sie zu milieuunerfahren sei, um die Strukturen der Randgruppen dieser Stadt begreifen zu können. Um sie zu überzeugen, formulierte er seine Bedenken noch etwas schärfer: »Wäre ich eine betroffene Frau, würde ich es einfach als Zumutung empfinden, wenn mir eine Ausländerin aus gutem Hause beibringen wollte, wie ich mein Liebesleben im Armenviertel gestalten soll. – Kathy, glauben Sie bloß nicht, dass eine geglückte Geburt aus Ihnen eine perfekte und von allen anerkannte Frauenärztin macht.« Kathy wollte sich trotz seiner harten Worte nicht entmutigen lassen und machte deshalb den Vorschlag, dass er sie mittwochs doch öfter einmal mit in die Armenviertel nehmen sollte, damit sie sich über die Situation dort einen Eindruck verschaffen könnte. Barsch erwiderte er auf ihren Vorschlag: »Die Menschen dort sind keine Tiere im Zoo, die man betrachten und studieren kann. Außerdem habe ich, wenn ich dort bin, auch gar keine Zeit, mich auch noch um Sie zu kümmern.« Sichtbar wütend verließ er das Stationszimmer.
Kathy gab es auf, noch weitere Gespräche mit ihm über dieses Thema zu führen, zumal sein unterkühltes Verhalten ihr gegenüber während des gemeinsamen Dienstes zeigte, dass dies wenig Sinn haben würde. Trotzdem arbeitete sie am Nachmittag unbeirrt gemeinsam mit Elena und Felicitas an den Vorbereitungen für ihr gemeinsames Frauenprojekt. Diese Zusammenarbeit machte allen drei Frauen sehr viel Spaß und ihr Vorhaben nahm langsam Konturen an.
Am Donnerstag bekam Kathy einen Blumenstrauß auf die Station geschickt, an dem sich eine Einladung zum Theaterbesuch befand. Es war von Lopez. Kathy hatte nicht vor, diese Einladung anzunehmen, und rief kurz bei Lopez in dessen Dienststelle an. Sie teilte ihm mit, dass sie sich für die Blumen bedanken wolle, aber die Einladung nicht annehmen könne, da sie viel zu beschäftigt sei und deshalb keine Zeit habe. Als er noch wegen eines anderen Termins verhandeln wollte, unterbrach sie das Gespräch, indem sie ihm sagte, dass sie sich jetzt dringend wieder um ihre Patienten kümmern müsse. Die Blumen wollte sie nicht mit nach Hause nehmen und ließ sie deshalb im Stationszimmer stehen. Dr. Terno, der diese bei Stationsübergabe auf dem Tisch stehen sah, fragte neugierig, ob jemand Geburtstag habe. Kathy antwortete knapp: »Nein, die sind von Lopez.«
Dr. Ternos Gesichtsausdruck wirkte wie versteinert. »Und warum stellen Sie die Blumen dann hierher?« – »Weil ich von ihm keine Blumen zuhause stehen haben möchte und sie zum Wegwerfen einfach zu schade sind. Ist es Ihnen lieber, wenn ich sie ins Schwesternzimmer stelle?« Mit den harschen Worten, dass es ihm egal sei, was sie mit den Blumen ihrer Verehrer mache, verließ er den Raum.
23.–29.8.1976
In den ersten drei Tagen dieser Woche verlief Kathys Dienst mit Dr. Terno reibungslos, aber auch völlig unpersönlich. Jeder ging seiner Arbeit nach und die gemeinsamen Operationen verliefen recht routiniert; sie waren inzwischen ein eingespieltes Team. Am Donnerstagvormittag explodierte in einer Fabrik am Stadtrand ein Kessel, wodurch es zahlreiche Verletzte gab, die auf die Krankenhäuser der Gegend verteilt wurden. Kathy besprach mit Dr. Terno gerade die geplanten Operationen für den kommenden Freitag, als die ersten Schwerverletzten eingeliefert wurden. Als Dr. Terno vom Ausmaß des Unglücks erfuhr, informierte er sofort Dr. Barkley, der umgehend eine Personalverstärkung in der Unfallchirurgie anordnete.
Kathy konnte von den Sanitätern, die die Verletzten einlieferten, in Erfahrung bringen, dass durch die Explosion einige Gebäude der Fabrik Feuer gefangen hatten, wodurch viele der Menschen Brandwunden erlitten. Obwohl jeder verfügbare Mitarbeiter von Dr. Barkley für die Notaufnahmen eingesetzt wurde, herrschte in Kürze der absolute Ausnahmezustand. Bis dahin hatte Kathy noch nie Prioritäten setzen müssen, welcher Patient zuerst behandelt werden sollte und wer trotz großer Schmerzen noch zu warten hatte. Sie hatte gerade einen Verletzten notdürftig verbunden und richtete sich auf, um zu sehen, welcher Patient als Nächster an der Reihe sei, als sie von Dr. Terno angesprochen wurde, ob sie ihm bei einer schwierigen Beinoperation assistieren könne. Kathy nickte. Auch er sah schon ziemlich abgekämpft aus. Gemeinsam bereiteten sie die Notoperation vor. Als sie den Schwerverletzten auf den Operationstisch hoben, sah Kathy seine klaffende Beinwunde. Der junge Mann stand unter Schock, war jedoch ansprechbar. Noch bevor ihm Dr. Terno die Narkose injizieren konnte, klammerte er sich an dessen Ärmel fest und wollte von ihm das Versprechen haben, dass er alles unternehmen werde, um sein Bein zu retten. Dr. Terno versprach es ihm.
Die Operation war äußerst schwierig und die Chancen, dass das Bein wieder funktionstüchtig werden würde, waren gering. Trotzdem bemühten sie sich, eine Amputation zu verhindern. Kathy war überzeugt, dass sich ein anderer Kollege in dieser Situation anders entschieden hätte, und sie war froh darüber, dass sie hier assistieren konnte. Nach der Operation war Dr. Terno mit seiner geleisteten Arbeit unzufrieden, weil er sich von diesem chirurgischen Eingriff mehr erhofft hatte. Sie versuchte, ihm seine Selbstzweifel zu nehmen, indem sie sagte: »Leonardo, Sie haben alles unternommen, um das Bein zu retten. Wenn es jetzt nicht richtig verheilen sollte, müssen Sie sich keine Vorwürfe machen, dass Sie etwas unversucht gelassen haben. Ich finde gut, was Sie getan haben, weil ich an Ihrer Stelle genauso gehandelt hätte.« – »Vielleicht haben Sie recht und wir konnten wirklich nicht mehr für ihn tun. Kathy, ich wollte diese Operation mit Ihnen durchführen, weil ich wusste, dass Sie auch so handeln würden. Ich hatte Angst, dass ich ihn zum Krüppel operieren müsste, und wollte vermeiden, dass ich mich mit einem anderen Kollegen am Operationstisch noch über die Operationsweise auseinandersetzen muss – und ich brauchte hier einfach Ihre Unterstützung.«
Noch bevor sie etwas erwidern konnte, wurde Dr. Terno von einem Kollegen zu einem Patienten gerufen. Als Kathy endlich die Station verlassen konnte, war es schon dunkel. Obwohl sie übermüdet war, schlief sie erst sehr spät ein. Ihr Körper wirkte wie vom Stress vergiftet; sie hatte Kopfschmerzen und die Bilder des Tages wollten ihr einfach nicht aus dem Kopf gehen.
Am nächsten Tag gab es auf der Station wieder sehr viel zu tun, weil die Unfallopfer vom Vortag versorgt werden mussten. Kathy war unausgeschlafen und von der gestrigen Anstrengung noch völlig ausgelaugt. Als sie gerade im Stationszimmer ihre fünfte Tasse Earl Grey trank, um ihren Kreislauf stabil zu halten, fragte Dr. Terno sie, ob sie noch Interesse daran habe, ihn zu begleiten, wenn er in die Armenviertel fahre. Erstaunt fragte sie ihn: »Wie kommt es, dass Sie plötzlich Ihre Meinung geändert haben?« – »Ich habe meine Meinung nicht geändert. Ich weiß aber von Felicitas, dass Sie Ihre Pläne nicht aufgegeben haben. Verstehen Sie es einfach als Dankeschön für Ihre Hilfe gestern während der Operation.« Kathy wollte sich diese Chance auf keinen Fall entgehen lassen und so einigten sie sich darauf, dass sie am nächsten Mittwoch mitfahren würde. Einzige Bedingung war, dass sie sich sehr zurückhalten sollte, weil die Menschen dort auf Fremde oftmals misstrauisch reagierten.
1.9.1976
Kathy verspürte schon den ganzen Vormittag eine leichte Ungeduld. Sie hoffte, dass der Stationsdienst bald beendet sein würde und sie mit Dr. Terno losfahren könne. Sein Verhalten erhöhte diese Spannung noch dadurch, dass er zwischenzeitlich mit keinem Wort mehr erwähnte, dass er die Absicht habe, sie mitzunehmen. Kathy war sich nun nicht mehr so sicher, ob er es tatsächlich noch wolle. Erst nach der Stationsübergabe an Dr. Philippo fragte er sie, ob sie jetzt losfahren könnten.
Auf der Hinfahrt erkundigte er sich zum ersten Mal nach Einzelheiten des Projektes. Über manche Dinge machte er seine Witze, wie man sich über Sexualerziehung eben lustig machen kann. Kathy nahm ihm dies nicht weiter übel. Sie war in einer guten Stimmung und bereit, ihm diese kleinen Gehässigkeiten zu verzeihen.
Sie war noch nie in einem Elendsviertel gewesen und stellte sehr schnell fest, dass ihre Vorstellungen nicht ausgereicht hatten, um sich ein richtiges Bild von dieser Armut, dieser Enge, diesem Dreck und den Kindern mit den viel zu alten Gesichtern zu machen. Wortlos begleitete sie Dr. Terno bei seinen Krankenbesuchen, verfolgt von den misstrauischen Blicken der Bewohner. Sie fühlte sich unwohl, weil sie sah, dass zwischen ihr und diesen Menschen riesige Barrieren waren, die sie nicht zu überwinden wusste. Sie verstand plötzlich, warum Dr. Terno gegen ihr Projekt war, und kam sich furchtbar dilettantisch vor. Zum Glück unterließ er es, ihr noch eine Lektion zu erteilen. Er hatte bemerkt, wie ihr zumute war, und versuchte, sie nach Möglichkeit in die Behandlungen mit einzubinden, sodass sie sich nicht völlig deplatziert vorkommen musste.
Als sie wieder im Auto saßen, fragte Kathy eher kleinlaut: »Ich war ganz schön naiv, nicht wahr?« Er sah sie kurz von der Seite an und antwortete: »Ja, und nicht nur das. Ich finde, dass Sie auch ganz schön bevormundend sind.« Kathy schwieg. Auf der Rückfahrt machte er noch einen Abstecher zum Pfarrer des Bezirkes. Er bat Kathy, im Wagen auf ihn zu warten, weil es nicht lange dauern würde, und verschwand mit seiner Arzttasche und einem Karton im Pfarrhaus. Während Kathy im Wagen saß, überlegte sie, ob man das Projekt anders aufziehen müsste, denn der Bedarf an einer solchen Beratung und Betreuung bestand mit Sicherheit. Sie wusste aber nicht, wie sie bei den Betroffenen erfolgreich für ihr Vorhaben werben könnte. Von Dr. Terno wollte sie keine Hilfe mehr erbitten, weil sie aus seiner Bemerkung geschlossen hatte, dass er nicht verstehen wollte, dass es ihr keineswegs um die Bevormundung dieser Menschen ging, sondern lediglich um freiwillige Hilfsangebote.
Kathy war durch ihre Gedanken zu abgelenkt, um zu bemerken, dass plötzlich ein älterer Mann mit einem Verband am Arm neben dem Wagen stand. Er öffnete die Beifahrertür und bat sie hastig, ihm zu folgen. Als Kathy erstaunt den Grund wissen wollte, antwortete er mit leiser Stimme, dass Dr. Terno nach ihr geschickt habe. Misstrauisch folgte sie dem Mann ins Pfarrhaus. Von dort aus gab es einen Durchgang zur Kirche, in die sie nun geführt wurde. Der Mann ging mit ihr zum Altar. Dort wartete der Pfarrer auf sie. Er schickte den älteren Mann wieder zurück und fasste Kathy am Arm. »Kommen Sie, Leonardo braucht Ihre Hilfe«, sagte er mit gedämpfter Stimme. Kathy war so irritiert, dass sie nicht wusste, ob sie die ganze Situation als bedrohlich empfinden und abwehrend reagieren oder aber seiner Bitte nachkommen sollte.
Als der Pfarrer sie noch einmal aufforderte, entschloss sie sich, ihm in einen kleinen dunklen Raum hinter dem Altar zu folgen, in dessen Fußboden sich eine Luke zum Keller befand. Über eine Leiter gelangten sie in ein feuchtes Kellergewölbe, das nur notdürftig mit Wandfackeln ausgeleuchtet war. Die ersten Eindrücke, die Kathy wahrnahm, waren das leise Stöhnen eines Menschen und der stechende Geruch von Kot und Urin. Im fahlen Licht einer Petroleumlampe konnte sie Dr. Terno erkennen, der sich über einen vor Schmerzen sich krümmenden Patienten beugte, der eine Augenbinde trug. Als Dr. Terno Kathy kommen sah, ging er auf sie zu, zog sie beiseite und sagte eindringlich mit leiser Stimme: »Ich brauche Ihre Hilfe. Bitte stellen Sie jetzt keine Fragen und nennen keine Namen. Sagen Sie am besten kein Wort.« Als er sah, dass Kathy noch zögerte, fügte er rasch hinzu, dass der Verletzte nichts Unrechtes getan habe und dringend ärztlich versorgt werden müsse.